Mit Vergesellschaftung gegen die Klimakrise: Eine neue Strategie für die Klimabewegung muss her!

Ein Diskussionsvorschlag der kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION, Infomail 1198, 8. September 2022

Hitzerekorde, Jahrhundertfluten, Waldbrände, Nahrungsmittelknappheit, Trinkwassermangel und Artensterben: Allein in den letzten Monaten haben wir schon einmal einen kleinen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns erwartet, wenn wir die Klimakatastrophe nicht so schnell wie möglich aufhalten. Die nächsten paar Jahre werden ausschlaggebend dafür sein, ob die Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt und das Sterben von Millionen Menschen, Hundertmillionen Arten und die Verödung ganzer Erdregionen noch verhindert werden können. Da die führenden Politiker:innen kein Interesse daran haben (siehe Ergebnisse des G7-Treffens in Elmau), bleibt unsere einzige Hoffnung die globale Klimabewegung. Leider steckt diese hierzulande gerade in einer Krise, die wir uns angesichts der drohenden Katastrophe jedoch nicht leisten können. Mit den Massenaktionen im Großraum Hamburg, den Klimacamps in Leipzig und im Rheinland, dem FFF-Interregionale Sommerkongress und der Großdemo zur Enteignung von RWE & Co in Köln stand der August im Zeichen des Klimaaktivismus, der vielleicht die letzte Chance bietet, noch rechtzeitig aus der Sackgasse der Klimabewegung herauszukommen. Mit diesem Papier möchten wir allen Klimaaktivist:innen, -strukturen und -organisationen von FFF bis „Letze Generation“ eine Strategie zur Diskussion vorschlagen, mit der wir glauben, unseren guten alten Slogan „system change not climate change“ tatsächlich noch verwirklichen zu können.

Dafür versuchen wir, in diesem Papier 3 Fragen zu beantworten:

  • Warum steckt die Klimabewegung in der Krise?
  • Welche strategische Ausrichtung braucht die Bewegung, um daraus zu kommen?
  • Wie lässt sich das praktisch umsetzen?

Warum steckt die Klimabewegung in der Krise?

Zuerst das Positive: Was wir geschafft haben, ist, viele, und zwar wirklich sehr viele Menschen auf die Straße zu bringen und das Klimaproblem damit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu tragen. FFF hat eine ganze Generation von Jugendlichen politisiert und ihnen dazu verholfen, wertvolle politische Kampferfahrungen in selbstorganisierten Strukturen und Aktionen zu machen. Auch wenn die Teilnehmer:innenzahlen der letzten Großmobilisierungen stetig gesunken sind, zählen die Klimagerechtigkeitsaktionen der letzten 3 Jahre nach wie vor zu den größten Veranstaltungen überhaupt. Dennoch dürfen wir die Augen nicht vor dem Offensichtlichen verschließen: Wir haben keine einzige unserer Forderungen durchsetzen können. Millionen von Aktivist:innen haben sich der Bewegung angeschlossen, viel Gegenwind und Repression für ihren Aktivismus geerntet und viel Kraft, Energie und Arbeit in die Bewegung gesteckt. Und was haben wir dafür bekommen? Lausige Klimapakete, folgenlose internationale Konferenzen und eine Menge heißer Luft. Dies führte dazu, dass die Abstände zwischen unseren Aktionen größer und diese selbst kleiner wurden, sich viele von uns frustriert und überarbeitet von der Bewegung zurückgezogen haben.

Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass zu viele von uns daran geglaubt haben, dass die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ auf unser Seite stünde und ein „Green New Deal“, ein grünerer Kapitalismus, möglich wäre. Wir haben es verpasst, mit der gesamten Bewegung eine Debatte darüber zu führen, wie dieser vielzitierte „system change“ denn eigentlich aussehen soll, ob dieser innerhalb des Kapitalismus gelingen kann und welche soziale Kraft ihn mithilfe welcher Aktionsformen durchsetzen sollte. Stattdessen hat sich die Bewegung so stark fragmentiert, dass nun Menschen wie Kathrin Henneberger, Emilia Fester und Nyke Slawik für die Grünen im Bundestag sitzen, während sich die anderen von den Bullen, die im Auftrag dieser Regierung handeln, aus dem Danni oder von der A100 prügeln lassen müssen. Der Großteil von dem, was von der Klimabewegung übrig geblieben ist, ist weißer Hautfarbe und hat einen akademischen Hintergrund (kommt also von Gymnasium/Uni/Hochschule oder hat Akademiker:inneneltern). Die Tatsache, dass die Anzahl der Aktivist:innen zuerst stagniert und dann stetig abgenommen hat, liegt also vor allem auch daran, dass wir es nicht geschafft haben, neue und breite Teile der Gesellschaft außerhalb von klimabewussten Studis und Schülis für unsere Ziele und Aktionen zu gewinnen. Weder FFF noch „Ende Gelände“, „Extinction Rebellion“ oder „Letzte Generation“ haben unsere Forderungen und Aktionen zum Klimaproblem mit den sozioökonomischen Interessen der Millionen von Lohnabhängigen politisch verknüpfen können.

Welche strategische Ausrichtung braucht die Bewegung, um daraus zu kommen?

Es sind die führenden Industrienationen, die Sitz der lediglich 100 Firmen sind, die für über 70 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind. Aus Angst die eigene führende Stellung auf dem Weltmarkt in Gefahr zu bringen, wagt es keine dieser Regierungen, die Profite ihre Klimakillerkonzerne „zu sehr“ durch politische Umweltschutzmaßnahmen zu beschneiden. Der Kampf für die Erhaltung dieses Planeten ist also ein Klassenkampf, bei dem die Seite des Kapitals mit politischer Rückendeckung versucht, ihre Profite zu vermehren, während es unsere Aufgabe sein muss, die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen aufzuhalten. Demzufolge muss es auch die Perspektive der Klimabewegung sein, nicht einen „grüneren“ Kapitalismus zu fordern, sondern den Widerspruch zwischen kapitalistischer Marktlogik und nachhaltiger Lebensweise zu erkennen und aufzuheben. Unser strategischer Partner dafür ist die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Ihre aktuelle Führung aus sozialdemokratischen Parteien und verknöcherten Gewerkschaften steckt mit dem Kapital unter einer Decke und hat nur leere Worte für den Klimaschutz übrig hat. Dennoch ist es ihre besondere Stellung in der kapitalistischen Produktionsweise, die ihr die soziale Macht verleiht, das System aus den Angeln zu heben. Denn wo gestreikt wird, kann kein Profit mehr fürs Kapital produziert werden. Es wird also gezwungen, auf unsere Forderungen einzugehen. Daher müssen wir uns aktiv an die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie wenden, ihre Führung dazu auffordern, den Burgfrieden mit dem Kapital zu brechen und der Ausbeutung sowohl des Menschen als auch des Planeten den Kampf anzusagen.

Verbesserungen statt Verzicht und Verbote

Die Regierung sagt, dass Verbote und individueller Verzicht die Lösung seien für die Energie- und Klimakrise. Bei steigenden Preisen sollen die Leute sparen und die Heizung runterdrehen, vielleicht halt auch ein bisschen frieren. Manche sagen sogar, es sei gut, dass die Preise steigen, dann würde weniger konsumiert. Gleichzeitig werden einige wenige immer reicher und die Regierung beschließt 100 Milliarden, in die Bundeswehr (selbst eine große Klimakillerin) zu pumpen. Wollen wir unsere Klasse auf die Straße bringen, dürfen wir nicht in den Chor der Robert Habecks einfallen, die Frieren für Klima und Demokratie (eigentlich aber für die Interessen des deutschen Kapitals) propagieren. Stattdessen brauchen wir Forderungen, die nicht nur den Klimawandel stoppen, sondern auch mit konkreten Verbesserungen für die Arbeiter:innen verbunden sind:

  • Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Schluss mit DB-Chaos, 9 Euro-Ticket 4ever!
  • Ausbau der erneuerbaren Energien unter Arbeiter:innenkontrolle und kostenlose Deckung eines Grundbedarfs für jede:n!
  • Verstaatlichung der Lebensmittelindustrie, Preise senken und nachhaltige Agrarwende organisieren!

Enteignen, enteignen, enteignen!

Indem wir Energieproduktion, Verkehr oder Landwirtschaft demokratisch organisieren, kontrollieren und planen, entreißen wir sie der egoistischen und widersprüchlichen Marktlogik und können so ein Wirtschaften, orientiert an unseren Bedürfnissen und der Erhaltung des Planeten anstatt an der Vermehrung von Profiten, umsetzen. Dabei lässt sich auch beispielsweise die Spaltung zwischen Klimabewegung auf der einen und Beschäftigten in der Kohle- und Autoindustrie auf der anderen Seite überwinden, denn durch die Vergesellschaftung geht kein einziger Job verloren und da keine Profite für die Chef:innen mehr erwirtschaftet werden müssen, bleibt auch mehr für alle übrig. Neuere Ansätze wie „RWE & Co enteignen“ gehen deshalb bereits in die richtige Richtung und sollten weiter diskutiert und vertieft werden. Gleichzeitig bieten sich so auch neue Potenziale, um Kämpfe zu verbinden: Lasst uns den Immobilienriesen „Deutsche Wohnen“ enteignen, anstatt klimaschädliche und platzraubende Luxuswohnungen zu bauen. Lasst uns das Gesundheitssystem vergesellschaften, denn der Klimawandel produziert nicht nur tödliche Hitzewellen und Pandemien, die Privatisierung der Krankenhäuser hat auch dafür gesorgt, dass die Pflegekräfte am Limit sind und den Kranken nicht mehr genügend Betten zur Verfügung stehen. Lasst uns an der Seite der Widerstandsbewegungen im globalen Süden die Agrar-, Lebensmittel- und Trinkwasserkonzerne vergesellschaften, die aktuell von massiven Preissteigerungen profitieren, während andere hungern. Der Kampf für die Vergesellschaftung der einzelnen Schlüsselbranchen ist dabei nur der erste Schritt in Richtung einer neuen globalen Wirtschaftsweise, die auf der Basis von Nachhaltigkeit, demokratischer Planung und Bedürfnisorientierung die egoistische, klimaschädliche und zerstörerische Profitvermehrung des Kapitalismus hinter sich lässt.

Internationalismus muss

Die westlichen Industrienationen versuchen, sich mit neuen Recyclingverfahren und schicken E-Autos als besonders klimafreundlich darzustellen, während sie ihre Müllberge einfach im globalen Süden abladen und die Menschen in den Kobaltminen schonungslos ausbeuten. Genauso versuchen sie uns nun, ihren Krieg gegen Russland als Rettungsmission für das Klima zu verkaufen. Dabei reden „selbst“ die Grünen schon öffentlich davon, den Kohleausstieg erneut zu verschieben oder sogar in die Atomenergie wieder einzusteigen. An die Stelle des russischen Gases treten RWE-Braunkohle, das den Krieg im Jemen finanzierende saudische Öl und Frackinggas aus den USA, von Ruß kotzenden Flüssiggastankern einmal um die halbe Welt geschippert. Als Klimabewegung können wir uns deshalb nicht einfach aus der Kriegsfrage heraushalten. Es gilt, sich weder auf die Seite Putins noch der NATO zu schlagen, sondern unseren Kampf gegen den Klimawandel als einen gegen das System aus konkurrierenden imperialistischen Nationalstaaten zu führen. Eine große Stärke unserer Bewegung ist dabei ihre internationale Vernetzung. So lässt sich ein internationales System auch nur durch global koordinierten Widerstand bekämpfen.

Wie lässt sich das praktisch umsetzen?

Die Klimacamps in Leipzig und im Rheinland, aber auch der Interregionale Sommerkongress in Darmstadt bieten gute Möglichkeiten dafür, einen solchen Strategiewechsel zu diskutieren. Die Klimacamps könnten als Vorbereitung dafür dienen, eine Klimaaktionskonferenz vorzubereiten, in der alle Teile der Klimabewegung durch wähl- und abwählbare Delegierte repräsentiert sind. Die Wähl- und Abwählbarkeit der Delegierten ist dabei besonders zentral, um die Verselbstständigung von Führungspersonen zu verhindern (danke für nichts, Luisa … ) und eine basisdemokratische Kontrolle von unten zu gewährleisten. Die rassistischen Vorfälle innerhalb der Klimabewegung haben außerdem die Notwendigkeit aufzeigt, die Frage der Verschränkung von strukturellem Rassismus, (Neo-)Kolonialismus und Klima auf die Tagesordnung zu stellen sowie auch bewegungsinterne Schutzräume für POCs zu schaffen. Der Charakter einer solchen Konferenz sollte darauf ausgerichtet sein, ein gemeinsames Aktionsprogramm zu verabschieden, in dem wir uns auf gemeinsame Forderungen und Aktionen einigen. In der Vergangenheit ging es auf Klimacamps und -konferenzen häufig um Vernetzung, Spiel & Spaß sowie interessante Workshops. Das ist auch nicht verkehrt, jedoch sollte im Zentrum der basisdemokratische Beschluss eines verbindlichen Aktionsprogramms stehen, damit wir als Klimabewegung nach einer solchen Konferenz gestärkt auf dasselbe Ziel zugehen.

Um den oben beschworenen Druck auf Sozialdemokratie und Gewerkschaften praktisch aufzubauen, sind neben offenen Briefen auch Aktionen vor Gewerkschaftszentralen, Betriebstoren oder zu Parteiversammlungen nötig.

Gleichzeitig müssen wir anfangen, unser Aktionsprogramm auch dort unter die Leute zu bringen, wo wir uns tagtäglich aufhalten: in unseren Schulen, Unis und Betrieben. Vor Ort müssen wir Basiskomitees aufbauen, die kontinuierlich Arbeit zum Klimaproblem machen und diese mit den sozialen Problemen vor Ort verknüpfen. Statt sich nur unter Gleichgesinnten zu bewegen, lohnt es sich, durch Mobilisierungen, Vollversammlungen und kleineren Aktionen vor Ort die Debatte zu anderen Leuten zu tragen und unsere Themen sichtbarer zu machen. Das sorgt für eine stetige Auseinandersetzung und befähigt gleichzeitig viele von uns, sich mehr einzubinden. Vor allem ist die Hemmschwelle, sich einzubringen, für viele dort wesentlich geringer. Lasst uns Vollversammlungen und Veranstaltungen an unseren Schulen und Unis organisieren, auf denen wir gemeinsam mit den Belegschaften und Gewerkschaften diskutieren! Gleichzeitig sollten wir als Schüler:innen, Studis und Aktivist:innen Streikversammlungen und Streikposten von Beschäftigten besuchen, um unsere Solidarität auszudrücken und gemeinsame Schnittstellen im Kampf für eine bessere Welt auszuloten.




Schulen und Kitas: gewappnet für das beginnende Schuljahr?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 267, September 2022

Die Sommerferien sind in den meisten Bundesländern zu Ende. Die Schüler:innen und Lehrkräfte sind zurück in ihren Schulen, die Kinder und Erzieher:innen in ihren Kitaeinrichtungen. In einer perfekten Welt würden nun alle gestärkt und erholt in ein neues Jahr voller Wissenszuwachs und Entwicklungssprünge starten. Stattdessen stapeln sich die Probleme: die Angst vor einer neuen Coronawelle im Herbst und Winter, der hohe Personalmangel an Lehrkräften bzw. Erzieher:innen wie auch fehlende Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, um die psychischen Belastungen der Coronapandemie – mit der noch viele Kinder und Jugendliche zu kämpfen haben – sowie die Lernrückstände aufholen zu können.

Fehlende Investitionen

Es ist nichts Neues, dass unser Bildungssystem mit seinen unterschiedlichen Bereichen nicht gut ausfinanziert ist. Die Fortbildungen lassen zu wünschen übrig und die Gebäude benötigen nicht nur mit Hinblick auf bessere Lüftungsanlagen eine Sanierung. Anstatt auf Investitionen dürfen wir uns mit auf kommende Kürzungen gefasst machen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann gibt in Baden-Württemberg rhetorisch denn Weg vor, in dem er größere Klassenteiler vorschlägt oder von Kolleg:innen in Teilzeit eine Stunde Mehrarbeit verlangt. Das grüne Außenministerium lässt schon Taten folgen und kürzt die Mittel des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für rund 6.000 Stipendien. Darüber hinaus wurde in Verhandlungen rund um den Berliner Haushalt lange darüber gesprochen, an drei Posten im Bildungshaushalt zu sparen: 1) an der Schulbauoffensive sollten 136 Millionen Euro eingespart werden, 2) an der Lehrkräftefortbildung 16,5 Millionen Euro und 3)  sollten 5 – 10 Millionen Euro für sogenannte „multiprofessionelle Teams“ (z B. Zusammenarbeit zwischen Erzieher:innen und Lehrkräften mit Schulsozialarbeiter:innen und -psycholog:innen) gekürzt werden. Diese Kürzungen wurden trotz überraschenden Steuermehreinnahmen von 300 Millionen Euro diskutiert und vorgeschlagen. Argumentiert werden sie wie auch fehlende und notwendige Mehrinvestitionen mit allgemeinen Haushaltseinsparungen, die aufgrund des erneut ausgesprochenen Ziels der schwarzen Null durch die Ampelkoalition durchgeführt werden müssten.

Verhinderte Kürzungen in Berlin!?

In der Hauptstadt haben die angekündigten Kürzungen gepaart mit den Steuermehreinnahmen zu einem Aufschrei einiger Initiativen und Organisationen im Bildungsbereich geführt. Die Berliner Initiative „Schule muss anders“, die auch durch die GEW Berlin unterstützt wird, thematisierte die Kürzungen und organisierte eine Mahnwache dazu. Gleichzeitig sprachen sich auch die Bildungspolitiker:innen der drei Regierungsparteien in Berlin (darunter Philipp Dehne von der Linkspartei, der auch in „Schule muss anders“ aktiv ist) gegen die Kürzungen aus und wandten sich an ihre Fraktionsspitzen, um diese zum Einlenken zu bewegen. Schlussendlich könnten sich die Akteur:innen in Berlin über die Rücknahme der Mehrzahl der angekündigten Kürzungen freuen.

Einerseits muss aber die Frage gestellt werden, ob sie wirklich erfolgreich verhindert oder nur nach hinten geschoben wurden. Die schon angesprochene Rhetorik in anderen Bundesländern sowie Bereichen des Bildungssystems und der notwendigen Haushaltseinsparungen werden weitere Einsparungen sehr wahrscheinlich machen. Deshalb muss die Frage der Aktionsform in Berlin näher unter die Lupe genommen werden. Waren eine Mahnwache sowie ein Brief der Bildungspolitiker:innen an die Fraktionsspitzen genug, um die Kürzungen zu verhindern?

Vergegenwärtigen wir uns die allgemeine politische Situation, befindet sich die rot-grün-rote Landesregierung wie alle anderen und die Bundesregierung in einer Situation, in der sie inmitten hoher Kriegsausgaben, einer historischen Inflation und Energiepreissprüngen das kapitalistische System verwalten müssen. In einer Zeit, in der offen von möglichen sozialen Unruhen im Herbst gesprochen wird, die Koalitionsverhandlungen in Berlin alles andere als rund über die Bühne gingen und mit dem Volksentscheid „DeutscheWohnen & Co. enteignen“ schon eine wichtige, soziale Frage in der Hauptstadt von der Koalition mit Füßen getreten wird, kann sich diese mit einem weiteren Wortbruch im Bildungssystem nicht noch weiter gegen ihre Basis und Wähler:innen stellen.

Möglich war dieses Zugeständnis im Bildungsbereich aber nur, weil die Steuermehreinnahmen von 300 Millionen Euro als Verhandlungsbasis zur Verfügung standen. Wäre dieses Geld nicht vorhanden gewesen, hätten „wir alle“ in Berlin den Gürtel auch im Bildungsbereich noch enger schnallen müssen. Solche Zeiten drohen uns durch die massiven Militärausgaben in Zeiten des Ukrainekrieges, der u. a. für die imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals geführt wird.

Um uns für kommende Angriffe im Bildungssystem zu wappnen, müssen wir unsere Kämpfe als solche gegen alle kommenden Kürzungen verstehen. Hierfür benötigen wir eine bundesweite Bewegung der Arbeiter:innenklasse gegen die Inflationsauswirkungen und bevorstehende Sparmaßnahmen, ob im Bildungs-, Gesundheits- oder anderen Bereichen des „Sozialstaates“. Die Organisation einer bundesweiten Aktionskonferenz, um vereinzelte Proteste und Initiativen zusammenzuführen, stellt die Aufgabe der Stunde für große Organisationen wie die DGB-Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien dar. Notwendig hierfür ist ein Bruch mit der Sozialpartner:innenschaft sowie den unterschiedlichen Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien.




Der Handlungsspielraum ist nicht besonders groß

Interview mit Freddy von [’solid] Berlin-Nord, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

GAM: Hey, cool, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. Vielleicht stellst du dich erstmal kurz vor?

Hey, danke für die Einladung. Ich bin Freddy, 24 Jahre alt, und eine der Sprecher:innen der Linksjugend [’solid] Berlin-Nord. Beruflich bin ich Erzieherin. Seit 5,5 Jahren bin ich in der Linksjugend [’solid] Berlin aktiv, in drei verschiedenen Basisgruppen nacheinander. Ich bin erst vor ungefähr einem Jahr in die Linkspartei eingetreten, aber mache dort nichts und denke auch, dass ich  bald wieder austreten werde.

GAM: [’solid] Berlin-Nord hat im letzten halben Jahr immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Warum ist das so? Welche Rolle habt ihr in [’solid] Berlin?

Am Anfang hatten wir gar nicht den Plan, eine revolutionäre Opposition innerhalb der Linksjugend aufzubauen, das hat sich aber dann irgendwie so entwickelt dadurch, dass sich unsere Mitglieder auch weitergebildet haben und uns viele Positionen innerhalb des Verbandes auffielen, denen wir nicht zugestimmt haben. Die Linksjugend [’solid] ist ja sehr pluralistisch ausgelegt, d. h. aus jeder linken oder linksliberalen Strömung, die man sich vorstellen kann, gibt es dort Leute. Wir haben auch nicht als Basisgruppe immer die gleiche Meinung, aber die meisten Leute verstehen sich schon explizit als Kommunist:innen, das macht auch noch mal einen Unterschied. Durch Anträge bei Landesvollversammlungen oder allgemein Diskussionsbeiträge haben wir in letzter Zeit versucht, auf unsere Positionen aufmerksam zu machen. Wir wollen aber auch nicht nur bei Papierbeschlüssen stehenbleiben, sondern versuchen, unsere Positionen auch auf die Straße zu tragen. Ich habe den Eindruck, dass auch einige andere Berliner Basisgruppen wie z. B. die Linksjugend Friedrichshain einen „Linksrutsch“ hingelegt haben.

GAM: [’solid] Berlin hat sich seit der letzten Landesvollversammlung (LVV) als Gesamtorganisation weiter nach links bewegt. Woran liegt das? Und was sind deine Perspektiven, Wie man das fortführen kann?

Auf jeden Fall gibt es in der Basis eine große Offenheit für linke Positionen, wie die Beschlüsse der letzten LVV gezeigt haben. Ich denke, dass es jetzt wichtig ist, sich nicht auf den Beschlüssen auszuruhen, sondern diese offensiv zu vertreten und zu verteidigen und sie auch zu nutzen, um z. B. die Linkspartei herauszufordern.

GAM: Auf der letzten LVV wurden auch Teile des Landessprecher:innenrats (LSPR) neu gewählt. Wie stehst du zum gegenwärtigen LSPR? Was sollte man an der Struktur des LSPR verändern, wenn überhaupt?

Meiner Meinung nach muss man da stark zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gremiums und dem Gremium an sich und seiner Funktion unterscheiden. Ich war auch zwei Jahre lang im LSPR und es ist ein enormer Druck, der da auf einem lastet, auch von der Seite der Linkspartei. Das ist politisch so gewollt. So wurden während des Wahlkampfs zur Abgeordnetenhauswahl einmal mehrere Mitglieder, zum Glück nicht ich, abends von jemandem aus der Partei angerufen und angeschrien, weil der Person etwas, ich glaube es war ein Post, nicht gepasst hatte. Es wurde, sowohl von der Partei als auch von anderen Mitgliedern des Jugendverbandes, die schon lange dabei waren und denen man vertraut hat, suggeriert, dass wir als LSPR-Mitglieder die Vernünftigen seien und die Basismitglieder versuchen sollten, im Zaum zu halten, also darauf achten, dass kein schlechtes Licht auf die Linkspartei geworfen wird. Zusätzlich wird betont, dass man seine eigene Position zurückstellen soll. Der sogenannte Pluralismus in Partei und Jugendverband wird oft als etwas sehr Positives dargestellt. Die Beschlüsse, die der LSPR trifft, sollen möglichst so sein, dass niemand etwas gegen sie hat. Man steht da, wie gesagt, unter einem sehr großen Druck. Ich habe auch opportunistisch gehandelt, als ich im LSPR war, und ich glaube, das ist gerade das Gefährliche. Egal mit welchen Plänen und welchen Werten man sich in das Gremium wählen lässt, am Ende macht es eigentlich gar keinen so großen Unterschied, wer genau da drin sitzt.

Die LSPR-Mitglieder werden dazu benutzt, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaube, vielen ist das auch nicht bewusst. Trotz meiner zwei Amtszeiten habe ich lange gebraucht, um das zu merken.

Und dazu arbeiten die Linksjugend [’solid] und damit auch ihre Gremien sehr bürokratisch. Es werden umständliche und intransparente Wege gewählt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig wird oft suggeriert, dass im Grunde alles basisdemokratisch sei.

GAM: Wie stellt du dir revolutionäre Praxis innerhalb eines reformistischen Jugendverbandes vor?

Ich denke, dass es sehr schwer ist, eine revolutionäre Praxis innerhalb von reformistischen Strukturen zu haben und diese konsequent durchzusetzen. Wichtig ist es, das Gespräch mit verschiedenen Leuten zu suchen und zu versuchen, ihnen aufzuzeigen, was die Probleme sowohl mit den Standpunkten der Linkspartei als auch dem Organisationsprinzip sind. Zu der Struktur des Verbandes und des LSPR habe ich ja schon etwas gesagt. Ich glaube, ein zusätzliches Problem ist die Kommunikationskultur. Vor ein paar Jahren war die damalige Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, als Rednerin bei unserer Landesvollversammlung eingeladen. Damals war ich total geschockt, dass einige Leute ihr kritische Nachfragen gestellt haben. Ich fand das total gemein und dachte: „Sie ist doch auch nur ein Mensch und niemand kann seinen Job perfekt machen“. Ich glaube, dass viele so denken und das auch genau so gewollt ist. Es wird oft als anstößig angesehen, politische Diskussionen öffentlich auszutragen. Man soll alles mit sich selber ausmachen oder im Hinterzimmer klären.

Das ist aber ein strukturelles Problem einer reformistischen Partei und kein Problem, das sich ändern kann, wenn die Leute lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Zudem sind wir finanziell von der Linkspartei abhängig, was auch eine gewisse politische Abhängigkeit bedeutet.

Nachdem der Landesvorstand der LINKEN Berlin erst gedroht hatte, uns die Gelder zu streichen, müssen nun Summen ab 500 Euro einzeln beantragt werden. Davor hatten wir ein jährliches Budget, über das wir frei verfügen konnten. Das ist natürlich immer noch sehr viel Geld, aber eben nicht gemessen an dem, was die Linkspartei für den Jugendverband aufwenden könnte und würde, wenn er politisch gefügsamer wäre.

Zusätzlich zu den Konflikten und den Maßregelungen durch die Linkspartei kommen noch die Konflikte mit dem überwiegend sozialdemokratischen Bundesverband der Linksjugend [’solid] hinzu. Viele Gliederungen dort hegen eine starke Abneigung, z. T. schon leidenschaftlichen Hass, gegen die Berliner Sektion, da die Beschlüsse ihnen zu links sind und sie z. B. auch ein Problem damit haben, dass wir uns für Solidarität mit Palästina aussprechen.

Das sind also viele Widrigkeiten, mit denen wir als kleine revolutionäre Opposition zu kämpfen haben.

Wir können versuchen, Leute zu bilden, wir können Gespräche mit Menschen führen, wir können auch coole Aktionen machen. Dennoch sind wir dadurch eingeschränkt, dass wir Teil einer reformistischen Organisation sind.

GAM: Treptow-Köpenick ist aus dem Berliner Landesverband von [’solid] ausgetreten. Was ist deine Meinung dazu?

Die Spannungen zwischen Treptow-Köpenick und dem Rest des Landesverbandes haben sich schon lange abgezeichnet. Diese Gruppe vertrat aus meiner Sicht viele Positionen, die nicht mal als linksliberal zu bezeichnen sind. So baten sie den Landesverband der Linkspartei öffentlich, der Linksjugend [’solid] die Gelder zu kürzen, da ihnen die auf der Landesvollversammlung demokratisch gefällten Beschlüsse nicht gefielen. Auch setzten sie eine Ablehnung der NATO mit „Putinsolidarität“ gleich und distanzierten sich von palästinensischen Demonstrationen. Ich finde es gut, dass die Linksjugend Treptow-Köpenick aus der Linksjugend [’solid] rausgegangen ist. Einige der Mitglieder, die nicht auf der Linie der Gruppe waren, sind nun in andere [’solid]-Basisgruppen gegangen.

GAM: Seit der Bundestagswahl geht es ziemlich steil abwärts mit der Linkspartei. Im Saarland wurden 10 % verloren. Ramelow argumentiert für die Wehrpflicht. In Bremen fordert man Waffenlieferungen. Was ist da los und welche Perspektive siehst du für die Partei?

Eines der großen Probleme der Linkspartei sehe ich darin, dass sie letzten Endes leider doch eine bürgerliche Partei ohne ein einheitliches politisches Programm ist. Zudem ist der Parteiapparat sehr bürokratisch. Das sieht man z. B. auch gut an #linkemetoo. Sexualisierte Gewalt gibt es wahrscheinlich in den meisten Organisationen und Gruppen, aber dass sich eine Klasse von Berufspolitiker:innen ausbildet, die sich über Seilschaften an der Spitze halten möchte, da sie finanziell von ihren Mandaten abhängig ist, ist ein krasses Problem. Das steht Aufarbeitung von z. B. sexualisierter Gewalt im Wege, aber führt auch dazu, dass kein echter Austausch möglich ist und viele Debatten nichts bringen, da sowieso immer die gleichen Leute in den führenden Positionen bleiben werden. Aber auch zu versuchen, Marxist:innen in führende Positionen in Linkspartei oder der Linksjugend [’solid] zu bekommen, kann kein Ausweg sein. Selbst wenn die bürokratischen Prozesse nicht verhindern würden, dass sich wirklich Dinge ändern und zudem revolutionäre Mehrheiten in Gremien erreicht würden, wäre das in meinen Augen kein wirklicher Sieg. Dadurch, dass Partei und Jugendverband sehr viele verschiedene linke Strömungen beinhalten, würden dann getroffene Entscheidungen nicht konsequent vertreten und wahrscheinlich in der nächsten Wahlperiode gleich wieder revidiert werden. Die Linkspartei ist natürlich keine marxistische Partei. Aktuell würde ich auch in Frage stellen, ob sie eine Arbeiter:innenpartei ist. Dafür fehlt meiner Meinung nach eine Abgrenzung zu anderen bürgerlichen Parteien. Die Linkspartei schiebt mit ab, die Linkspartei positioniert sich nicht konsequent antimilitaristisch, die Linkspartei ist in Berlin an der Verschleppung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beteiligt. Ich glaube, dass die Linkspartei in den nächsten Jahren nach und nach immer mehr an Wähler:innen verlieren wird, und ich finde es absolut nachvollziehbar, wenn Leute sie nicht wählen.

GAM: Abschließend: Was sollten Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] jetzt tun? Wie könnt ihr unterstützt werden?

Ich glaube, das Wichtigste ist, die Widersprüche in der Linkspartei und ihrer Bürokratie aufzuzeigen, was ja die meisten revolutionären Gruppen bereits machen. Zudem freuen wir uns über Solidaritätsbekundungen, z. B. in Form von Unterstützung bei Aufrufen wie zuletzt dem offenen Brief unserer Basisgruppe gegen die geplanten Geldkürzungen von Seiten des Landesvorstandes der Berliner Linkspartei. Wie ich schon dargelegt habe, glaube ich nicht, dass der Handlungsspielraum von Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] besonders groß ist. Man kann die Linkspartei und die Öffentlichkeit mit den Fehlern der Strukturen konfrontieren, was wir ja auch bereits tun. Es ist aber meiner Ansicht nach verschwendete Energie, wenn man sich über Jahre hauptsächlich auf den Fraktionskampf innerhalb der eigenen Organisation konzentriert bzw. eher konzentrieren muss. Dieser ergibt nur Sinn, solange man Mitglieder vom Apparat loslösen und für ein revolutionäres Programm gewinnen kann.

Mittelfristig wären Revolutionär:innen in der Linkspartei und der Linksjugend, denke ich, besser beraten, sich revolutionären Organisationen anzuschließen.

GAM: Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Euren Kampf!




SDAJ-Konferenz: Kein Schritt zur Antikriegsbewegung

Jonathan Frühling, REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf http://onesolutionrevolution.de/,Infomail 1185, 25. April 2022

Am Samstag, den 23. April 2022, lud ein von der SDAJ geführtes Bündnis, bestehend aus u. a. DIDF, [‚solid], ver.di Jugend, GEW Jugend und Naturfreundejugend zu einer Antikriegskonferenz von Jugendlichen ein. Revolution beteiligte sich mit Genoss_Innen aus verschiedenen Städte daran, auch wenn wir – wie eine Reihe anderer linker Gruppen – nicht in die Vorbereitung involviert worden waren.

Da die SDAJ ihre gesamte Mitgliedschaft mobilisierte, waren ca. 250 Leute anwesend, was sehr beachtlich war. Insgesamt begrüßen wir diesen Vorstoß und haben uns deshalb gerne daran beteiligt. Allerdings hat die Konferenz am Ende mehr den desaströsen Opportunismus der SDAJ zur Schau gestellt, als dass sie die Antikriegsbewegung praktisch oder theoretisch vorangebracht hätte.

Expert:innenvorträge und Workshops

Zu Beginn gab es sogenannte „Expert:innenvorträge“ z. B. von der LINKEN und einem ehemaligen IG Metall-Vorstandsmitglied. Das war zwar zum Teil interessant, allerdings konnten uns diese Leute mit ihrem lauwarmen Reformismus keine Antworten auf Krieg, Aufrüstung und imperialistische Unterdrückung liefern. Es schloss sich eine Workshopphase an, in der relativ frei diskutiert werden konnte. Allerdings war auch hier der Fokus vor allem auf Deutschland gerichtet. Dort brachten unsere Genoss_Innen ein, dass wir uns unbedingt zur NATO und zum Krieg in der Ukraine positionieren müssen, was von der SDAJ kategorisch zurückgewiesen wurde. Am Ende kam eine Frau aus dem Vorstand der SDAJ sogar auf uns zu und hat gesagt, es wäre unsolidarisch, wenn wir das vor dem großen Podium ansprechen würden, weil sich ja die Organisator_Innen im Vorfeld schon geeinigt hatten, dazu zu schweigen!

Die Resolution

Zum Schluss wurde eine Resolution verabschiedet. Sie war allerdings politisch extrem schwach. Es gab KEINE (!) Einschätzung der aktuellen (Welt-)Lage, sondern nur ein paar antimilitaristische Forderungen. Diese sind zwar unterstützenswert, aber fokussieren sich nur auf Deutschland. Zudem reichen sie nicht dazu aus, einer Antikriegsbewegung der Jugend Handlungsorientierung zu geben, zumal sie sich um alle internationalen Fragen drücken. Folgende Worte fanden überhaupt keine Erwähnung: Arbeiter_Innenklasse, Gewerkschaft, Streik, NATO, Russland, (Anti-)Kapitalismus, Imperialismus. Das alleine sollte Beweis genug dafür sein, wie unzureichend die Resolution ist.

Aufgrund unserer Intervention in der Workshopphase fühlte sich der Vorstand der SDAJ dazu genötigt, vor der Diskussion zur Resolution anzukündigen, dass man bitte nichts zu dem Ukrainekrieg sagen soll! Es gebe dazu keine Einigung unter den Gruppen und deshalb hätten die Organisator:innen im Vorfeld beschlossen, die Frage auszuklammern! Als von uns und der MLPD-Jugendorganisation Rebell Anträge zu den Themen imperialistische Aggression, NATO und einem Bezug zur Arbeiter:innenklasse eingebracht wurden, wurde einem unserer Genoss:innen sogar kurzzeitig das Mikrophon aus der Hand gerissen! Die Anträge wurden dann von der Protokollantin zum Teil gar nicht notiert oder mit der Begründung „Es hat ja jemand dagegen gesprochen“ einfach nicht in die Resolution aufgenommen. Eine demokratische Abstimmung zu den gestellten Anträgen fand einfach nicht statt! Diese bürokratische Vorgehensweise war wirklich eine Schande. Da das beschämende Verhalten der SDAJ-Führung offen vor dem gesamten Plenum passiert ist, bleibt zu hoffen, dass das nicht nur uns übel aufgestoßen ist.

Auch praktisch sah es nicht rosiger aus. Die beachtliche Größe dieser Konferenz wurde nicht dazu genutzt, Aktionen wie z. B. dezentrale Aktionen an dem Tag, an dem im Bundestag über den 100-Mrd.-Sonderetat der Bundeswehr abgestimmt wird, zu planen. Stattdessen blieb es bei einem folgenlosen „Beteiligt euch an Aktionen zum 8. Mai (Tag der Befreiung) und zum 1. September (Antikriegstag)!“

Die Tatsache, dass für dieses zentrale Papier nur 20 Minuten für Diskussion, Anträge und Abstimmung geplant waren, zeigt, dass ein demokratischer Prozess zur Erstellung einer Resolution von Anfang an nicht gewünscht war.

Fazit

Die Konferenz hätte dazu genutzt werden können, um die drängenden Fragen zum Thema Krieg und Frieden unserer Zeit zu diskutieren. Es ist so wichtig, dass wir unsere Analysen und Forderungen austauschen und diskutieren. Nur wenn wir verstehen, was gerade passiert und wieso, können wir programmatische Antworten finden und um dieses Programm eine schlagkräftige Bewegung formieren.

Das Argument, dass man alle strittigen Punkte ausklammert und z. B. nicht die NATO kritisiert, damit ver.di die Resolution unterstützt, ist feiger Opportunismus und blockiert den Aufbau einer kämpferischen Antikriegsbewegung. Wie sollen wir die Millionen Gewerkschaftsmitglieder und Jugendlichen von unseren Positionen überzeugen, wenn wir sie ihnen nicht mitteilen und einladen, darüber zu diskutieren?

Leider bleibt zu sagen, dass die Konferenz keinen Schritt in Richtung einer Jugendbewegung gegen Krieg setzte. Am Ende sind wir alle nach Hause gefahren und konnten uns nicht einmal denken: „Schön, dass wir mal drüber geredet haben.“ Denn selbst das war von den Organisator_Innen nicht gewünscht.




#LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1185, 18. April 2022

Der SPIEGEL-Artikel „Entweder wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht“ und unzählige Tweets unter dem Hashtag #LinkeMeToo sorgen für Aufregung. Es wird von Missbrauchsvorfällen berichtet innerhalb des hessischen Landesverbandes der Linkspartei sowie der Linksjugend. Unter den zehn Betroffenen, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, ist auch eine Person, die zum Zeitpunkt der Vorfälle 2017/18 minderjährig war. Besonders sticht dies heraus, da mehrere Betroffene sagen, dass führende Mitglieder von den Vorfällen gewusst, aber nichts getan hätten – darunter auch Janine Wissler, aktuelle Bundesvorsitzende der Linkspartei. Ein paar Worte zur beginnenden Debatte.

Sexualisierte Gewalt in linken Strukturen

Zuerst muss klar gesagt werden: Lasst uns bitte nicht schockiert tun! Sexismus und sexualisierte Gewalt sind niemals „das Problem der anderen“. Sie sind Alltag in der gesamten Gesellschaft. Politik und linke Strukturen bilden keine Ausnahme. Sie sind keine Inseln der Freiheit, wo alle unbefangen miteinander leben können.
Das ist auch logisch. Wir alle sind von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, verinnerlichen dementsprechend Rollenbilder sowie Stereotype, die nicht einfach so verschwinden. Gerade in großen Organisationen sind unterschiedliche Wissens- und Bewusstseinsstände normal, auch, weil neue und neu politisierte Menschen hinzukommen. Entsetzt zu sein, dass „so etwas überhaupt jemals passieren konnte“, ist Teil des Problems. Es geht davon aus, dass es sichere Räume geben könne, aus denen ein für alle Mal rückständige Ideen und Verhalten verbannt sein könnten. Das gibt es leider nicht. Gleichzeitig sorgt diese Annahme auch dafür, dass gewaltausübende Personen (Täter:innen) es leichter haben, sich aus der Anklage zu ziehen. Denn wenn es so unglaublich, so unfassbar ist, dass Gewalt stattgefunden hat, ist es auch leichter, Betroffenen nicht zu glauben, zu zweifeln und keine Schritte zur Klärung einzuleiten.

Lasst uns deswegen sagen: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Probleme der Gesellschaft und deswegen ist die Linke nicht frei davon. Das senkt die Hemmschwelle für Betroffene, sich zu erkennen zu geben, und bricht mit der Schweigekultur. Die Frage ist nicht, ob es die Übergriffe überhaupt gibt, sondern welche Strukturen aufgebaut werden, um dagegen anzugehen.

Stellungnahmen und Konsequenzen

Der hessische Landesvorstand hat am 15. April eine kurze Stellungnahme herausgegeben. In dieser wird davon gesprochen, dass dieser Ende November 2021 Kenntnis erlangte und begonnen hat, auf allen Ebenen das Geschehene aufzuarbeiten. Perspektivisch sollen Vertrauenspersonen eingesetzt sowie ein Workshop zur Sexismussensibilisierung organisiert werden. Im Statement der Bundespartei, ebenso vom 15. April, wird klar gemacht: „Patriarchale Machtstrukturen finden sich überall in der Gesellschaft. DIE LINKE ist davon nicht ausgenommen.“ Ebenso wird festgehalten, dass der Parteivorstand im Oktober 2021 die Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gegründet hat, um Menschen, die innerhalb der LINKEN Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen oder Diskriminierung machen, beratend zur Seite zu stehen. Im SPIEGEL wird dies zwar erwähnt, näher beleuchtet wird die Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses Gremiums aber nicht. In den Fokus gestellt wird dafür ein Handout zu den „Vorwürfen sexualisierter Gewalt“ – geschrieben von einem mutmaßlichen Täter.

Es ist gut, dass es die Schritte gegeben hat. Der Kritikpunkt, der intern aufgearbeitet werden muss, lautet: Warum braucht es für die Einrichtung solcher Dinge erst den öffentlichen Druck von Betroffenen? Welche Annahmen hat es gegeben, dass diese nicht schon früher eingeleitet wurden?

Als Antwort auf die Artikel hat auch der Jugendverband einen offenen Brief verfasst, den bisher 500 Mitglieder unterschrieben haben. In diesem werden u. a. gefordert:

  • Transparente und lückenlose Aufklärung aller Vorfälle.
  • Verpflichtende Awarenessstrukturen, deren Mitglieder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Partei stehen oder Abgeordnete sind.
  • Verpflichtende Seminare zum Thema Awareness und Feminismus für Funktionär:innen und Angestellte.
  • Finanzielle Unterstützung durch DIE LINKE für alle Betroffenen, wenn sie juristische oder auch psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Eine Vertrauensperson für Mitarbeitende von Partei, Mandatsträger:innen und Fraktionen, die von Sexismus, verbalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Dies sind unterstützenswerte Forderungen. Die Aufarbeitung scheint begonnen zu haben und die Forderung nach Strukturen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Funktionen stehen, ist enorm wichtig. Auf weitere Punkte, die sinnvoll sein könnten, gehen wir im späteren Teil des Artikels ein. Zuerst wollen wir uns jedoch mit einer anderen Frage beschäftigen:

Rücktritt als Lösung?

Ebenso wird in dem offenen Brief auch der Rücktritt aller beteiligten Personen gefordert – ob sie nun selber Täter:in sind oder die Taten anderer gedeckt haben. Dazu soll an der Stelle gesagt werden: Ein Wechsel von Personen bedeutet nicht immer, dass der Umgang sich verbessert und nachhaltige Strukturen geschaffen werden. Vielmehr kommt es auf Einsicht an. Damit ist nicht gemeint, dass alle, die jetzt aufschreien, aus dem Schneider sind. Das heißt: Jene, die beiseite treten, die offen Fehler eingestehen, jene, die den Raum für Aufklärung freimachen, sollten bedacht werden – denn es ist ein Zeichen, mit den Strukturen brechen zu wollen. So hat Janine Wissler selbst eine Stellungnahme verfasst, in der sie zu den aufgeworfenen Fragen des SPIEGEL Stellung bezieht und klarmacht, dass sie nicht wusste, dass es sich für die Betroffene um eine Grenzüberschreitung gehandelt hat. Ob diese ausreichend ist oder nicht, sollte eine Kommission entscheiden – nicht nur bei ihr, sondern allen, die involviert waren. Besagte Kommission sollte aus FLINTA-Mitgliedern bestehen, die unabhängig vom Parteiapparat sind und die verschiedenen politischen Strömungen der Partei repräsentieren. Auch kann so verhindert werden, dass solche Fälle für politische Machtkämpfe um Posten benutzt werden können.
Aber Achtung: Das Problem bei Awarenessstrukturen und Meldestellen liegt immer darin, dass diese nur so effektiv sind wie das Bewusstsein der Leute dort selber. Denn ein Problem, warum Diskriminierungen totgeschwiegen werden und man auf soviel Widerstand bei der Aufklärung stößt, sind die unklaren Konsequenzen. Wer Angst hat, für jeden Fehler abgestraft zu werden, wird das Beste versuchen, diese Fehler unter den Teppich zu kehren, insbesondere wenn Einkommen und Karriere davon abhängig sind. Das ist an der Stelle kein Appell für einen Freifahrtschein für Täter:innen und jene, die sie schützen. Es ist ein Appell dafür, künftig mit den Konzepten von Transformative Justice zu arbeiten, wo es Sinn macht.

Der Kampf für Verbesserung ist ein gesamtgesellschaftlicher

Viele Dinge müssen geschehen. Die Diskussion in DIE LINKE und [‚solid| könnte so einen Beitrag leisten im Kampf gegen Sexismus und Gewalt in der Linken und in der Arbeiter:innenbewegung. Aber wie? Gesamtgesellschaftlich brauchen wir einen anderen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zuerst braucht es eine politische Kampagne, die konkrete Verbesserungen erkämpft. Forderungen, die dringend notwendig sind:

1. Flächendeckende Meldestellen für sexuelle Gewalt!

Für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt.

2. Finanzielle Unterstützung für Betroffene!

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

3. Öffentliche Untersuchungen und Verfahren unter Kontrolle der Betroffenen und der Arbeiter:innenbewegung!

Die ersten beiden Forderungen wären im Hier und Jetzt einfach umzusetzen. Die dritte ist nicht so einfach, aber die substantiellste. Solange der bürgerliche Polizei- und Justizapparat die Untersuchungen und Rechtsprechung beherrscht, werden Verbesserungen immer wieder an diesen Strukturen scheitern oder bestenfalls auf halbem Wege steckenbleiben. Es braucht daher vom Staatsapparat unabhängige Untersuchungskommissionen sowie von den Betroffenen gewählte Richter:innen. Diese sollten mehrheitlich aus Frauen und geschlechtlich Unterdrückten zusammengesetzt sein.

Ebenso sollten sie für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden und Untersuchenden sind. Im Zuge dessen könnte auch das Sexualstrafrecht überarbeitet werden und festhalten, dass das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ eine sinnvolle Grundlage wäre. Warum? Dies liegt dem Ansatz zu Grunde, dass Polizei und Staat zum einen kein materielles Interesse an der Verfolgung solcher Vorwürfe hegen. Zum anderen sind diese Formen wesentlich fortschrittlicher, als wenn jede/r für sich alleine bestimmt, was richtig ist und nicht. Ausführlicher leiten wir das in diesem Artikel her: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/kampf-gegen-sexuelle-gewalt-abseits-des-staates-gegen-oder-mit-ihm/

Und in linken Strukturen?

Der Kampf für so eine Kampagne ist essentiell. Denn linke Strukturen sind aus sich heraus nicht nur meist zu schwach, dauerhafte und professionelle Hilfe für Betroffene zu gewährleisten – was es diesen wiederum erschwert, wieder in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Sie können und sollen auch keinen Ersatz die Herstellung allgemeiner gesellschaftlicher Rechte im Kampf gegen Unterdrückung bilden. Doch das heißt nicht, dass man bis dahin nichts tun kann. Präventionsarbeit durch beispielsweise regelmäßige Debatten über sexuellen Konsens sind ein Beispiel – unabhängig davon, ob es Übergriffe gegeben hat oder nicht. Dabei braucht es das Verständnis, insbesondere für männlich Sozialisierte, dass ein Ausbleiben eines Ja keine Zustimmung ist. Nur Ja heißt Ja und aktives Nachfragen ist nicht nur nett, sondern notwendig. Zudem braucht es eine Sensibilisierung für den Umgang mit Machtverhältnissen wie Alter, Herkunft oder auch Stellung in der eigenen Gruppe. Für weiblich sozialisierte Menschen macht es Sinn, sich dessen bewusst(er) zu werden und zu lernen, wie die eigenen Bedürfnisse artikuliert werden können. Darüber hinaus braucht es eigene Treffen – Caucusse – für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen, die sich über Missstände innerhalb von linken Strukturen austauschen und Veränderungen einfordern.

DIE LINKE hat sicher Mist gebaut. Aber sie hat die Chance, ja die Pflicht, ihre Politik zu ändern. Sie verfügt über die Ressourcen, eine Kampagne zu starten, wie sie hier umrissen ist. Das würde nicht nur den Betroffenen am ehesten gerecht werden. Es kann auch dafür sorgen, dass DIE LINKE mal wieder irgendeinen ernstzunehmenden Kampf führt, was zur Zeit sicher keine/r behaupten kann.




Linksjugend [‘solid] Berlin: Liebknecht oder Lederer

Gastbeitrag von Dan Kedem (Mitglied der Linksjugend [‘solid] Berlin) und Tim Jonat, ursprünglich erschienen auf Klasse gegen Klasse, Infomail 1184, 12. April 2022

Am Sonntag tagte die 31. Landesvollversammlung der linksjugend [‘solid] Berlin. Eine rechte Wende im Verband wurde zwar abgewandt, aber jetzt gilt es den Linkskurs jenseits von Beschlüssen umzusetzen.

Nach einem letzten Mobilisierungsversuch der Parteibürokratie vor Tagungsbeginn startete die 31. Landesvollversammlung der linksjugend [‘solid] Berlin mit unklaren Mehrheitsverhältnissen. Unter anderem wurden Nachwuchskarrierist:innen aus den sogenannten Jugend-Basisorganisationen (Einheiten der Parteibürokratie) mit dem Ziel mobilisiert, rechte Mehrheiten zu sichern und einen reformistischen, an die Parteibürokratie angepassten Kurs innerhalb des Jugendverbandes wiederherzustellen. Die Parteibürokratie hat sich mehrmals über den Kurs des Jugendverbands unzufrieden gezeigt und hat den Wunsch auch öffentlich geäußert (neben zahlreichen Distanzierungen), den Jugendverband wieder auf Kurs bringen zu wollen. Paul Schlüter zum Beispiel, seinerseits Mitglied des Parteivorstands der LINKE Berlin, war als „aktives“ Mitglied bei der Mitgliederversammlung dabei. Formell ist seine Mitgliedschaft durch Zahlung des Mitgliedsbeitrags zwar aktiv, gesehen hat man ihn auf solid Veranstaltungen aber noch nie. Spekulieren kann man nur, ob er von Klaus Lederer persönlich mobilisiert wurde.

Zur Einleitung der Tagung startete diese mit Grußworten der Abgeordneten Katalin Gennburg und Ferat Ali Kocak, welche beide für eine starke Linke und eine „widerständige“ Jugendorganisation appellierten. Gennburg forderte allerdings auch, dass Deutsche Wohnen und Co. enteignen (DWE) unbedingt in die Expert:innenkommission des Senats gehen sollten, nachdem dieser die Forderungen der Initiative von ⅔ der Sitze in der Kommission ignorierte und alles dafür tat, den Volksentscheid zu zermürben. Sie hat den Eindruck gemacht, der Parteijugend einreden zu wollen, dass wirklich an eine Umsetzung mit SPD und Grünen gearbeitet wird, und biederte sich insoweit an die Parteiführung an, dass sie das Gesagte von Katina Schubert am vergangenen Wochenende zu einem möglichen Austritt aus der Koalition, falls DWE nicht umgesetzt wird, wiederholte. Zum Krieg in der Ukraine hatte sie im Gegensatz zu den anderen Grußworten gar nichts zu sagen, obwohl sie alleine fast so lang gesprochen hat wie die anderen beiden zusammen.

Schlussendlich folgte ein Grußwort der Jugendorganisation REVOLUTION, die die starke Zusammenarbeit mit der Solid gegen Rassismus, die Immobilienwirtschaft und für einen starken Antimilitarismus begrüßten. Es folgten starke Appelle an den Jugendverband, welcher sich von seinem reformistischen Kurs abwenden und endlich revolutionäre Positionen vertreten müsse. Dafür sei es auch notwendig, sich der Mutterpartei zu stellen, denn DIE LINKE steht dem revolutionären Anspruch des linken Solid-Flügels diametral entgegen und praktiziert eine bürgerliche Politik, die der Sozialdemokratie identisch ist. Die Solid müsse einen Trennstrich zwischen der eigenen und der bürgerlichen Politik machen und einsehen, dass selbst Reformen immer von Arbeiter:innenkämpfen und eben nicht von Parlamenten ausgingen. Wir hoffen, dass REVOLUTION bereit ist, den Kampf gegen die verräterische Politik der LINKEn mit der Solid aufzunehmen und sie dabei zu unterstützen.

Nach diesem starken Schlusswort ging es in die allgemeine Tagesordnung über.

Wie üblich wurde mit einer rechten Mehrheit im Landesverband das Stimmrecht und dieses Mal auch das Wahlrecht für Sympathisant:innen (passive Mitglieder sowie nicht-Mitglieder des Verbandes) beschlossen, nachdem durch administrative Vorgänge einige Anmeldungen schief gingen und nicht genau klar war, wer aktives Mitglied und wer Sympathisant:in ist. Aufgrund dessen war es noch undurchsichtiger, wie die einzelnen politischen Lager verteilt waren.

Nach einer beschlossenen Generalüberholung der Satzung wurde von Seiten des rechten Flügels des Landessprecher:innenrats versucht, ein weiteres bürokratisches Mittel innerhalb des Landesverbandes durchzusetzen: ein sogenannter Basisgruppenrat, der einzelnen Delegierten weitreichende Befugnisse geben und die rechte Mehrheit unter den Basisgruppen gegen die nach links orientierte Mehrheit im Landesvorstand ausspielen sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt – ein weiterer guter Schritt für das linke Lager im Landesverband, denn so kann bisher zumindest garantiert werden, dass die rechte Mehrheit im Landesverband keine Beschlüsse eines linken Landesvorstands aufheben kann.

Die eigentlich wichtigen Punkte dieser Landesvollversammlung waren allerdings die Nachwahl der freigewordenen Stellen im Landesvorstand der Solid sowie die inhaltliche Antragsphase.

Linke Anträge für Enteignung, gegen Krieg und Aufrüstung

Begonnen wurde mit einem Antrag, der einen Kernteil einer jeden revolutionären Übergangsprogrammatik ausmacht: nämlich die Ablehnung von Entschädigungszahlungen und die Expropriation (Enteignung) der Expropriateur:innen. Im Antrag wird folgendes festgehalten:

  • Ablehnung der Entschädigung
  • Stellung des nationalisierten Eigentums unter Arbeiter:innenkontrolle
  • Verbindung der Frage der Enteignung mit der Frage nach der politischen Macht
  • Ablehnung des bürgerlichen Formalismus, das heißt: der Kampf um die Vergesellschaftung kann sich nicht auf Instrumente einer bürgerlichen Verfassung berufen und deren Umsetzung durch eine bürgerliche Regierung

Zur Überraschung des linken Lagers wurde dieser Antrag, nach starkem Einwand von Rechten, welche sich auf das Grundgesetz beriefen und für eine Entschädigung plädierten, mit einer ⅔-Mehrheit angenommen.

Der nächste Antrag aus dem linken Flügel, welcher den Rausschmiss von Agent:innen des Kapitals aus der Partei DIE LINKE forderte, wurde mit 45 Prozent Ja- zu 45 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Dieser forderte auch den Aufbau einer Partei nach den folgenden Organisationsprinzipien:

  • Funktionär:innen und Mandatsträger:innen für die Partei DIE LINKE verdienen nur einen Arbeiter:innenlohn und sind verpflichtet, den Rest ihres Gehalts an Streikkassen und andere vom Staat unabhängigen Organisationen der Klasse weiterzugeben
  • Die jederzeitige Abwählbarkeit aller Funktionsträger:innen und Mandatsträger:innen
  • Rechenschaftspflichtigkeit gegenüber den unteren Ebenen der Partei
  • Maximale Amtszeitbegrenzung auf zwei Legislaturen

An dieser Abstimmung wurde ersichtlich, dass die Lager auf der Versammlung ungefähr gleichmäßig verteilt waren. Wären allerdings ein Paul Schlüter aus dem Landesvorstand oder Nachwuchskarrierist:innen aus den Jugend-BOs nicht geschickt worden, hätte der eigentliche Jugendverband – zumindest auf Landesebene – sehr wohl ein Interesse an einer antibürokratischen Arbeiter:innenpartei. Die Mutterpartei ist sich jedoch für nichts zu schade und versucht zu sabotieren, wo es nur geht.

Wofür die Stimmen des rechten Lagers nicht genügten, war der nächste Antrag, welcher den sofortigen Austritt der LINKEn Berlin aus der Regierung fordert. Die Bedingungen, welche an eine Fortsetzung der Regierungsbeteiligung geknüpft waren, sind nicht umsetzbar und werden tagtäglich von der Linksfraktion verraten. Deshalb war für die Mehrheit des Jugendverbandes klar, dass die Partei aus der Regierung heraus muss. Ein weiterer Erfolg für das revolutionäre Lager.

Die Forderungen waren:

  •  Sofortige Umsetzung von Deutsche Wohnen und co. enteignen
  •  Sofortiger Abschiebestopp in der rassistischen Migrationspolitik
  •  Sofortiger Abbruch des Autobahnausbaus der A100
  •  Sofortiger Stopp der Ausschreibungen für die S-Bahn-Privatisierung
  •  Einführung des kostenlosen ÖPNVs in Berlin

Zum Anfang der Versammlung wurde klar, dass im Landessprecher:innenrat die Priorisierung der Anträge kontrovers diskutiert wurde. Dies wurde spätestens deutlich, als mehrere mehr oder weniger unkontroverse Anträge zu Verbandsinterna wie dem öffentlichen Auftreten, eine Logoänderung und die Streichung des Sonderzeichen im Namen aneinandergereiht wurden. Nach einer erfolgreichen Änderung der Geschäftsordnung wurde der Antrag zur Neupositionierung des Berliner Landesverbandes zur Situation in Israel und Palästina vorgezogen. Die Debatte schien zunächst sehr heikel zu werden, schließlich umfasste dieser Antrag mehrere Forderungen, die vom Bundesverband und Partei als inakzeptabel angesehen werden und Positionen, die in der Vergangenheit zu Ausschlussforderungen führten. Folgende Forderungen waren im Antrag enthalten:

  • Unterstützung einer sozialistischen Ein-Staaten-Lösung auf dem Gebiet des historischen Palästinas
  •  Anerkennung Israels als Apartheidstaat
  •  Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen
  •  Benennung des Zionismus als reaktionäre und nationalistische Ideologie
  •  Teilnahme des Berliner Landesverbandes an Nakba-Woche

Widerstand kam wieder von der Linken Aktion Lichtenberg, welche den Antragstellenden „Inkompetenz“ unterstellte, da der Zionismus als nationalistische Ideologie gewertet wurde. Das israelische Apartheidregime wurde ebenfalls in der Debatte verneint. Ebenso kam Gegenwind von einer Bundessprecherin, welche darauf hinwies, dass dieser Antrag laut Bundesverbandsbeschluss als antisemitisch einzustufen sei. Die Spaltungslinie zum Bundesverband wurde an diesem Antrag besonders deutlich. Die traditionellen Argumentationsmuster der proimperialistischen Bundesführung, welche sich zur Rechtfertigung ihrer Positionen auf die sogenannte Kollektivschuldthese beruft, zogen bei der Berliner Basis jedoch am Ende gar nicht. Mit großer Überraschung wurde der Antrag nämlich mit absoluter Mehrheit angenommen. Ein großer Erfolg für den revolutionären Flügel von Solid Berlin, da sie nach heftigstem Widerstand innerhalb eines Solid-Verbands eine Mehrheit hinter ihrer Position zur Situation in Israel und Palästina versammeln konnten. Diese Position wird in Deutschland nur von einer handvoll Organisationen vertreten, entspricht jedoch der anerkannten Mehrheitspositionierung von sozialistischen Gruppen weltweit.

Der letzte zu behandelnde Antrag des Tages sollte ebenfalls einer aus dem linken Lager, gegen Krieg und Aufrüstung, sein. Nach einer relativ unkontroversen Debatte – nur die kernrechte Fraktion hatte wieder einmal etwas dagegen – wurde auch dieser Antrag mit absoluter Mehrheit angenommen. Somit positioniert sich die Solid Berlin klar gegen Putins Angriffskrieg, stellt sich aber auch klar gegen Sanktionen und Waffenlieferungen. Ebenso wird die Zerschlagung der NATO und die Umstellung der Rüstungs- auf zivile Produktion gefordert. Der Antrag richtete sich vor allem an die Linkspartei, die sich immer mehr dem deutschen Kriegstaumel anschließt. Am Wochenende waren vor allem Genoss:innen aus Nord-Berlin sowie der Basisgruppe „ROSA“ aus Steglitz-Zehlendorf bei der Antikriegsdemo in Berlin zahlenmäßig gut vertreten, was auf ein breites Mobilisierungspotential für diesen Beschluss schließen lässt. Vor allem hier wird es darauf ankommen, den Druck auf den Landesvorstand aufrechtzuerhalten, beziehungsweise notfalls auch durch öffentliche Kritik größere Mobilisierung durch den gesamten Landesverband zu erwirken.

Weitere Anträge, welche vom linken Flügel kamen – wie zum Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, zur Nichtanerkennung des Bundessprecher:innenrats, zur Abschaffung der Polizei oder zum Rauswurf der Gewerkschaft der Polizei aus dem deutschen Gewerkschaftsbund -, wurden gar nicht erst behandelt, da diese durch reformistische Kräfte im Landessprecher:innenrat nach ganz hinten geschoben wurden. Dies stellt ein weiteres beliebtes Mittel von rechten Strömungen dar, um unbeliebte Themen gar nicht erst behandeln zu müssen.

Nachwahlen zum Landessprecher:innenrat

Bei den Wahlen wurde es nicht minder spannend, doch mit relativ deutlichen Mehrheiten wurden drei neue Genoss:innen in den Landessprecher:innenrat gewählt. Die Bilanz: Eine rechte Wende wurde zwar abgewendet, jedoch behält der Landesvorstand insgesamt einen linksreformistischen Charakter, obwohl zwei dem revolutionären Flügel nahestehende Genoss:innen gewählt wurden. Ein relativer Erfolg war es, dass Nachwuchsbürokrat:innen der Basisgruppe „Linke Aktion Lichtenberg“ (LiA) verhindert wurden, die unter anderem Sanktionen gegen Russland befürworten und die Position vertreten, es sei egal, wenn an diesen die Zivilbevölkerung leidet. Diese Basisgruppe, die im Übrigen eine der größten Fraktionen zur Landesvollversammlung stellte, vertritt ebenfalls die Positionen, dass es in der Ukraine und vor allem in der ukrainischen Armee keine Faschist:innen gäbe und dass die Linksjugend Berlin sich zum Grundgesetz bekennen solle.

Die Wahlergebnisse lassen vorerst darauf schließen, dass in der restlichen Legislaturperiode des Landessprecher:innenrats kein großer Rechtsdrift ansteht, sodass getroffene Beschlüsse, wie das Kooperationsverbot mit bürgerlichen Parteijugenden oder eine Kampagne gegen das Tesla-Werk, mit der Forderung, das dieses entschädigungslos enteignet und unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt gehört, in Teilen des Gremiums Gehör finden. An dieser Stelle soll der Appell an alle linken Mitglieder des Rats gehen, dass wir darauf zählen, die Beschlüsse ernst zu nehmen und den Kampf um diese in die Partei, den Bundesverband und den Landessprecher:innenrat selber hineinzutragen und diese Übergangsforderungen auch öffentlich zu vertreten. Die revolutionären Genoss:innen sollten sich im Klaren darüber sein, dass der LSp:R als bürokratisches Gremium ein Bremsklotz ist, sodass ein gewisser Anpassungsdruck besteht, sich in die bürokratischen Strukturen des Verbandes sowie der Partei hinein zu integrieren. Der Anspruch revolutionärer Genoss:innen innerhalb der linksjugend [‘solid] Berlin ist es, dafür zu kämpfen, in der Perspektive eine leninistische Organisation aufzubauen. Dies schaffen wir nur mit Klarheit des Programms, welches zusammen in Opposition mit revolutionär-sozialistischen Verbündeten umgesetzt werden soll. Die Bildung einer solchen Fraktion innerhalb des Verbandes sowie der Partei sollte oberste Priorität haben und die linken Mitglieder des LSp:Rs dürfen sich dabei nicht vom reformistischen Alltag der Partei zermürben lassen. Im Zweifelsfall kann dies auch nur mit dem Bruch der reformistischen Parteiführung geschehen.

Wie weiter?

Doch was genau bedeutet das alles für die Solid Berlin und für die Linksjugend im Allgemeinen?

Zunächst wurde neben den Genoss:innen aus Nord-Berlin eine Basis für Grundzüge eines revolutionären Programms gefunden. Diese Basis stützt sich eben nicht nur auf eine Basisgruppe, sondern auf die Unterstützung durch andere Genoss:innen des Landesverbandes, die den zum rechten Bundesverband entgegengesetzten Kurs befürworten und sich vom offenen Kampf nicht abschrecken lassen. Das ist erstmal begrüßenswert, doch jetzt kommt es darauf an, als revolutionäre Minderheit diese programmatische Grundlage in eine Oppositionsplattform umzuwandeln, damit der neugewählte, mehrheitlich linksreformistische Landessprecher:innen bei der Umsetzung eben dieser Beschlüsse zu Genüge unter Druck gesetzt wird.

Revolutionär:innen bei der Linksjugend müssen alles dafür tun, dass diese Übergangsforderungen, welche von der Basis beschlossen und legitimiert worden sind, nach außen in der Öffentlichkeit vertreten werden. Der revolutionäre Flügel mag zahlenmäßig eine Minderheit darstellen, jedoch wurde sein Programm mehrheitlich von anderen Genoss:innen befürwortet. Es gilt jetzt, diese Basis für ein anderes Organisationsprinzip zu gewinnen und einen unversöhnlichen Kampf gegen Bundesverband und Partei aufzunehmen, welcher nicht davor zurückschreckt, sich auf die eigene Legitimation zu berufen. Ebenso darf sich dieser Kampf nicht hinter bürokratisch-administrativen Formalien verstecken, Konflikte in der Öffentlichkeit nicht austragen zu wollen. Die Partei ist nach wie vor auf den Jugendverband als Karriereschmiede angewiesen und hat ohne diesen zwar noch die Jugend-BOs, allerdings sind diese für linke Kräfte noch unattraktiver als die Solid an sich. Zu einem gewissen Grad toleriert sogar eine rechte Führung, wie die der Berliner Linkspartei, linke Beschlüsse des eigenen Jugendverbandes, da diese radikale Kräfte in gewohnte und eng gesetzte Bahnen lenkt und mit dem Verweis auf die formelle Unabhängigkeit zur Partei als linke „Spinnereien“ einer Handvoll Jugendlichen abgetan werden können. Die Partei behält sich auch immer vor, dem Jugendverband den Geldhahn zuzudrehen, falls durch bürgerliche Medien ein unerträgliches Ausmaß an Druck erwirkt wird.

Die revolutionäre Minderheit darf sich nicht mit einer formell linken Beschlusslage zufrieden geben. Es muss jeden Tag in der Partei, im Verband und in der Öffentlichkeit um dieses Programm gekämpft und dieses schonungslos nach Außen vertreten werden. Zentristischen Kräften in anderen Verbänden muss gezeigt werden, dass es weder um Posten oder Mehrheiten im Bundesverband geht, sondern um eine alternative Plattform bzw. Opposition, die die bürokratischen Strukturen der Linksjugend und rechte Hegemonie tagein tagaus demaskiert.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Klasse gegen Klasse (https://www.klassegegenklasse.org/) veröffentlicht.




Klimastreik am 25. März: Auch der Hauptfeind des Klimas steht im eigenen Land

Arbeiter:innenmacht-Flugblatt, Infomail 1182, 25. März 2022

Um die schlimmsten Klimafolgen abzuwenden, müsste der globale CO2-Ausstoß bis 2030 um 45 % reduziert werden – aber aktuell zeigt er eine steigende Tendenz. Das legt der aktuelle IPCC-Bericht Nr. 6 akribisch dar. Die Prognosen sind düster und werden konkreter, vergangene Vorhersagen zu Ausmaß und Folgen der Erderwärmung werden von der Realität überboten. Die Diskrepanz zwischen einem für die Menschheit zerstörerischen Eingriff in unseren planetaren Lebensraum und dem Fehlen angemessener Maßnahmen zur Abschwächung der Schäden ist offenkundig, sie verweist auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch: Die Kapitaleigentümer:innen und ihre Regierungen sind nicht fähig und willens, eine Politik zu verfolgen, die mit den natürlichen Lebensvoraussetzungen der Menschheit kompatibel ist.

Drohende Katastrophe

Die drohende Klimakatastrophe ist nur eine Facette eines kaputten und krisenhaften Systems; nur eine der von Menschen entfesselten Gewalten gegen Menschen. Das haben auch viele Klimaaktivist:innen in den letzten Wochen zum Ausdruck gebracht, indem sie die Proteste gegen den russischen Einmarsch unterstützt haben. Auch FFF verbindet den heutigen Klimastreik mit dem Antikriegsprotest.

Die Ampel-Koalition dagegen nimmt den Krieg zum Anlass, das größte Aufrüstungsprogramm der Geschichte der BRD durchzusetzen und nutzt die Klimakrise zynisch, um ihre Kriegsvorbereitung als Wohltat für die Menschheit zu präsentieren. Die bislang uneingelösten Versprechungen einer grünen Transformation erhalten nun einen neuen Zweck, indem gesagt wird, die Abkehr von russischen Energieträgern diene nicht nur der „nationalen Sicherheit“, sondern auch dem Klimaschutz. Grün ist das neue Patriotisch. Gas aus Russland fließt allerdings erstmal weiter – nur mit der Dankbarkeit dafür ist es vorbei.

Krieg, Profit, Imperialismus

Öl und Gas aus Nicht-Russland ist dagegen plötzlich gefragter denn je. Die OPEC erhöht die Förderquoten, und das liegt nicht daran, dass Katar, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate ein Gütesiegel für Demokratie und Frieden besäßen, sondern dass Marktanteile neu zu verteilen sind und der Preissprung an den Ölbörsen dabei auch hohe Gewinne verspricht. All das bedeutet nicht, dass russisches Öl im Boden bleiben muss – es findet zu erheblichen Preisnachlässen neue Abnehmer u. a. in Indien und China.

100 % (erneuerbare) Energie aus Deutschland geht nicht von heute auf morgen. Daher geht es der Regierung auch nicht darum, wie wir rasch auf Öl und Gas verzichten können. Vorgeblich soll dreckiges, blutiges und klimaschädliches Diktatorengas aus Russland durch grünes Demokratiegas mit Menschenrechtssiegel ersetzt werden, das vorzugsweise aus Nahost oder auch in den USA importiert wird. Eigentlich geht es also darum, die Handelsbeziehungen des deutschen und europäischen Kapitals der neuen Realität anzupassen, in der Russland eine feindliche Militärmacht ist. Gas soll weiterhin verlässlich zu uns strömen, und nicht versiegen, etwa wenn der Feind uns im ungünstigsten Moment den Hahn zudreht. Außenministerin Baerbock erwägt sogar einen späteren Kohleausstieg, weil das der Preis sei, den „wir“ für Putins Krieg bezahlen müssten.

Autokratisch oder demokratisch ist nicht das Erdgas, sondern höchstens der Staat jener Kapitalist:innenklasse, die es fördert. Das Gas ist vor allem eine Ware, die Profit verspricht. Zur Zeit wird es auch zum Instrument der Machtausübung, also zur Waffe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt – der Rest ist moralische Reinwaschung imperialistischer Machtpolitik. Die von FFF Deutschland aufgestellte Forderung nach einem Handelsboykott entspricht daher der Logik zwischenstaatlicher imperialistischer Konflikte, indem sie voraussetzt, auf der „richtigen“ Seite des Konflikts zu stehen. Damit werden die Ziele der Bewegung den Interessen des deutschen Kapitals untergeordnet und ein gemeinsamer Kampf in West und Ost gegen Krieg und Klimakrise verhindert.

Das Problem kommt daher, dass in der bürgerlichen Strömung der Klimabewegung die Vorstellung vorherrschend ist, dass richtige Klimapolitik nur die Frage richtiger Einsicht und konsequenten Handelns sei. Die Vorstellung einer „objektiv vernünftigen“ Klimapolitik führt jedoch weg von Klimastreik und Kampfaktionen, die die Systemlogik von Kapital und Regierung in Frage stellen. Dabei bräuchten wir gerade diese – und keinen Schulterschluss mit den Klimakiller:innen und Kriegstreiber:innen der Ampel-Koalition.

Klimakampf bedeutet Kampf gegen das Kapital – gegen den Hauptfeind im eigenen Land:

  • Entschädigungslose Verstaatlichung der Energie- und Rüstungsindustrie unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse!
  • Gesamtgesellschaftlich geplante Transformation zu gesellschaftlich nützlichen und klimaneutralen Produkten!
  • Nein zu Putins Angriffskrieg, Nein zur NATO-Intervention! Nein zu Sanktionen, Nein zur Aufrüstung der Bundeswehr!
  • Streiks und Blockadeaktionen zur Verhinderung von russischen wie auch NATO-Waffentransporten in die Ukraine oder an die NATO-Ostgrenze!



Situation von trans Personen an Schulen

Theo Morello & Ella Mertens (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10

Die Schule ist ein Ort, an dem wir uns alle täglich aufhalten müssen. Für manche trans Personen ist das jedoch Tag für Tag eine Qual. Stell dir vor, du stehst vor den beiden Schultoiletten und blickst von der einen zur anderen! Auf welche sollst du gehen? Was, wenn irgendwer kommt und Fragen stellt, warum du jetzt genau diese Toilette benutzt? Ist es nicht einfacher zu warten, bis du zu Hause bist? Tausende Gedanken, dabei geht’s nur darum, wo mensch auf Toilette geht. Doch das ist nicht alles: Sportunterricht, Klassenfahrten, der Biounterricht, selbst in Musik – überall kommt die starre Einteilung in Mädchen und Jungen vor. Überall wirst du daran erinnert, dass du anders bist als die anderen. Hinzu kommen veraltetes Lehrmaterial und eben Mitschüler_Innen und Lehrpersonal. Klar gibt es viele, die einen unterstützen, sobald man sich geoutet hat. Es gibt Lehrer_Innen, die die Namen nicht verwechseln und Mitschüler_Innen, die das tun. Aber es gibt eben auch die anderen, die Witze über einen machen, mobben und einem/r nicht glauben wollen.

Ein paar Zahlen

Generell sind trans Personen häufiger von Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und Ausgrenzung betroffen. Im Alter sind z. B. bi- und homosexuelle Menschen häufiger von Armut bedroht als Heterosexuelle. So liegt bei Männern im Alter von 60 bis 90 Jahren die Armutsquote bei Bi -und Homosexuellen um sechs Prozentpunkte höher als bei heterosexuellen Männern (12 Prozent zu 6 Prozent). Als „Armutsgrenze“ gilt dabei 60 Prozent des Nettoeinkommens. Bei Frauen in dieser Altersgruppe ist ebenfalls ein Gefälle zu verzeichnen. Frauen, die sich als homo- oder bisexuell identifizieren, haben mit rund 1750 Euro durchschnittlich 10 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung als Frauen mit heterosexueller Orientierung (rund 1950 Euro).

Die Zahlen stammen aus dem Deutschen Alterssurvey und sind nun in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen zur sozialen Lage von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland veröffentlicht worden. (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/gruene-kritisieren-tatenlosigkeit-des-bundes-altersarmut-unter-queeren-menschen-deutlich-groesser/27089984.html)

Und in der Schule? Positiv ist es, dass für die Änderung des Namens im Klassenbuch oder in Schulausweisen keine rechtlich verbindliche Vornamensänderung erforderlich ist. Die Berliner Senatsverwaltung empfiehlt sogar, dass man trans Personen mit dem selbstgewählten Namen ansprechen sowie die gewünschten Personalpronomen verwenden sollte. Und sonst? 2014 beteiligten sich über 5.000 Jugendliche an einer Umfrage des Deutschen Jugendinstitutes, die sich an LGBTIA+-Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren richtete. Knapp die Hälfte der befragten jungen Trans gab an, an Bildungs- und Arbeitsorten beschimpft, beleidigt oder lächerlich gemacht worden zu sein. Etwa 10 % wurden körperlich angegriffen oder verprügelt. Die Befragten gaben ferner an, dass nur etwa die Hälfte der Lehrer_Innen offen gezeigt habe, dass Schimpfwörter nicht geduldet werden. Die Befragten erzählten weiter, dass etwa die Hälfte der Lehrkräfte gelacht hat, als Witze über LGBTIA+ gemacht wurden, oder sich direkt über Jugendliche, die sich nicht „typisch weiblich/männlich“ verhielten, lustig machte. (https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Broschuere_ComingOut.pdf)

Was dagegen tun?

Uns aufs Leben vorzubereiten – im Kapitalismus. Deswegen werden in der Schulstruktur und im Schulalltag auch Rassismus und Sexismus mehr oder weniger bewusst reproduziert. Das macht den Kampf gegen Transphobie an der Schule nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. Konfrontiert man Lehrer_Innen oder Mitschüler_Innen mit ihren Äußerungen, wird man selten ernst genommen. Außerdem ist es mehr als anstrengend, jeden Tag mit Menschen zu verbringen, die die eigene Identität in Frage stellen. Je mehr Ablehnung man erlebt, umso mehr stellt man auch sich selbst in Frage. Deswegen ist’s leichter, sich der Diskriminierung zu stellen, wenn man nicht alleine ist. Eine gute Möglichkeit dazu bietet die Gründung eines Schulkomitees. Im Gegensatz zur institutionellen Schüler_Innenvertretung können dort alle mitmachen, die möchten. Zudem sind wir in diesem Rahmen nicht vom autoritären Schulgesetz abhängig und können uns deswegen politisch positionieren. Im Rahmen eines solchen Komitees ist es dann auch leichter, Aktionen zu starten: zum Beispiel Plakataktionen, wo Kommentare, die man in der Schule abbekommen hat, nochmal aufgeschrieben oder Informationen über trans Identitäten sowie Unterdrückung aufgezeigt werden. Auch ist es sinnvoll, Veranstaltungen zu organisieren, bei denen man gemeinsam mit Mitschüler_Innen über aktuelle Themen diskutieren kann. Beispielsweise über die Wurzeln des Christopher Street Day oder LGBTIA+-Diskriminierung in anderen Ländern, da diese im Unterricht oftmals zu kurz kommen oder erst gar nicht thematisiert werden. Ebenso kann man in so einem Rahmen auch für konkrete Verbesserungen wie geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleiden, eine Antidiskriminierungsmeldestelle oder die Mitbestimmung über die Rahmenlehrpläne eintreten. Gibt’s Stress oder geht es darum, sich gegen diskriminierende Lehrer_Innen oder Schulstrukturen zu wehren, ist es auch besser, gemeinsam aktiv zu sein: Ob offene Briefe an Schüler_Innenvertretung oder Öffentlichkeit, gemeinsame Protestkundgebungen oder gar Vollversammlungen zu dem Thema – zusammen organisiert’s sich leichter.

Das Problem an der Wurzel packen

Trotzdem muss uns klar sein, dass Transphobie keine Frage der Bildung ist. Man kann sie nicht wegerziehen. Es gibt nämlich auch Teile der Gesellschaft, die aktiv von dieser Spaltung profitieren. Um Transphobie also in die Geschichtsbücher zu verbannen, müssen wir sie an der Wurzel packen: dem Kapitalismus. Der Ursprung der Diskriminierung von LGBTIA+ liegt nämlich in der geschlechtlichen Arbeitsteilung der bürgerlichen Familie. Diese Familienkonstellation besteht aus einem Mann, der arbeiten geht und die Familie ernährt, und eben aus einer Frau, die den Haushalt schmeißt und die Kinder erzieht. Bestenfalls kann diese dann Teilzeit arbeiten und etwas dazu verdienen. Klar, das erscheint jetzt erstmal nur als Klischee, es wird jedoch durch konservative Politiker_Innen, religiöse Institutionen, Medien oder Werbung tagtäglich reproduziert.

Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die überwältigende Reproduktionsarbeit der Arbeiter_Innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge, denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich“ scheint, dass Männer In Fabrik oder Büro arbeiten und Frauen die Hausarbeit verrichten.

Also warten wir auf das Ende der Diskriminierung?

Natürlich nicht. Wir müssen im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen kämpfen und diese mit dem Kampf gegen das ausbeuterische System verbinden. In den letzten Jahren konnten schon einige Errungenschaften erkämpft werden, auch ist die gesellschaftliche Akzeptanz von trans und inter Personen in den letzten Jahren leicht gestiegen. Allerdings ist diese Entwicklung mit Vorsicht zu genießen. Zum einen sind noch längst nicht alle Rechte erstritten worden, zum anderen ist auch ein Rollback in Bezug auf Geschlechterrollen zu beobachten. Der politische Rechtsruck, der international verbreitet ist und in Deutschland seinen Ausdruck im Erstarken der AfD findet, stellt eine große Gefahr für die Errungenschaften der LGBTIA+-Bewegung dar. Wir wollen gemeinsam für eine Gesellschaft eintreten, in der alle Menschen ungeachtet ihres biologischen oder gesellschaftlichen Geschlechts gleichberechtigt und gefahrenfrei leben können.

Daher fordern wir:

  • Kampf der Diskriminierung an Schule, Uni und im Betrieb! Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen trans Personen und LGBTIA+: Für breite Aufklärungskampagnen und Selbstverteidigungskomitees der Unterdrückten in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter_Innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!
  • Das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft (auf Rechtsdokumenten, bei Zugang zu Gesundheitsversorgung und Versicherungsleistungen usw.)!
  • Recht auf Nutzung der sanitären Einrichtungen, die dem angegebenen Geschlecht der Trans Persone entsprechen, sowie der Einrichtung von geschlechtsneutralen sanitären Einrichtungen und Umkleiden!
  • Kostenlose gesundheitliche Beratung und operative, geschlechtsangleichende Behandlung, wenn dies von der betroffenen Person gewünscht wird, auch für Jugendliche! Für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper!



Frankreich: LehrerInnenstreik gegen die desorganisierende Schulpolitik der Regierung

Marc Lassalle, Infomail 1176, 18. Januar 2022

Weniger als hundert Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. April haben die französischen LehrerInnen massiv, entschlossen und sehr kämpferisch gestreikt. Am 13. Januar fanden mit Unterstützung von zehn Gewerkschaften mehr als 136 Demonstrationen statt, bei denen etwa 80 000 Lehrkräfte auf die Straße gingen und die meisten Schulen geschlossen blieben.

Auch die Zahlen der Streikbeteiligung sind historisch: rund 75 Prozent des Lehrpersonals an den Grundschulen und 62 Prozent an den weiterführenden Schulen – so viel wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die LehrerInnen haben gestreikt und sind auf die Straße gegangen, um ihre tiefe Wut über die absurden Maßnahmen der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der in den letzten Tagen sprunghaft angestiegenen Zahlen der Epidemie – etwa 300.000 neue Fälle pro Tag – hat die Regierung beschlossen, die Schulen so weit wie möglich offen zu halten. Ironischer Weise verfolgen die LehrerInnen, die Gewerkschaften und die Elternorganisationen das gleiche Ziel wie die Regierung: Sie wollen die Schulen ebenfalls offen halten, aber nicht auf die gleiche Weise und nicht zu den gleichen Bedingungen!

Bürokratische, chaotisch, gefährlich

Innerhalb von weniger als einer Woche änderte die  Regierung ihre angekündigten Gesundheitsvorschriften dreimal (seit dem Start von Covid insgesamt 19 Mal), wobei die erste Änderung genau am Vorabend der Wiedereröffnung der Schulen nach den Weihnachtsferien veröffentlicht wurde. Zunächst wurden die Eltern verpflichtet, ihre Kinder dreimal zu testen, wenn sie mit einer infizierten Person in Kontakt gekommen waren. Der Unterricht wurde ohne Vorwarnung geschlossen, die Testergebnisse mussten überprüft, die Eltern kontaktiert werden. Viele LehrerInnen waren selbst krank. Eltern und Kinder standen bei kaltem Wetter stundenlang Schlange, um die Tests in Apotheken durchführen zu lassen: Das Gefühl eines absurd kafkaesken Systems, das von einer unfähigen Bürokratie (des)organisiert wurde, verbreitete sich noch schneller als das Virus und löste den Streik auf der Ebene der Beschäftigten aus.

Ein Lehrer erzählt: „In meiner Klasse wurden in einer Woche elf von 25 Kindern positiv getestet. Trotzdem bleibt die Klasse offen. Ich muss mit den Abwesenheiten der SchülerInnen, ihrer schrittweisen Rückkehr, mit MEINEN Masken, MEINEM Laptop, MEINEM Internetanschluss und meinem erschreckend niedrigen Lohn jonglieren.“

Ein anderer berichtet: „Nach zwei Jahren der Epidemie haben wir gerade erst durchsichtige Masken erhalten, die das Lippenlesen für die ersten Klassen ermöglichen, was wir vor mehr als einem Jahr beantragt haben. Wir haben hier keine/n SchulpsychologIn oder Schularzt/ärztin mehr, wir haben keine chirurgischen Masken. In meiner Schule können wir Masken nur dank der Spenden der Eltern kaufen!“

Diese Situation ist natürlich nicht auf die Schulen beschränkt, auch wenn die Spannungen dort am größten sind. Seit Beginn der Epidemie hat die Regierung alle Entscheidungen im Rahmen von „Verteidigungsräten“ mit einer Handvoll hochrangiger MinisterInnen von oben nach unten getroffen. Einmal hat sich Präsident Macron über die Ratschläge der medizinischen ExpertInnen einfach hinweggesetzt und eigenmächtig entschieden, umgeben von einem kleinen Kreis von Ja-SagerInnen, die ihn als „ersten Epidemiologen Frankreichs“ rühmten.

Die Situation ist sicherlich schwierig, denn es stellt sich die Frage, ob eine Klasse beim ersten Covid-Fall geschlossen werden sollte und welche Art von Tests für die Wiederaufnahme einer/s SchülerIn erforderlich sind. Die Gewerkschaften, die Lehrerinnen und die Eltern vertreten nicht unbedingt dieselben Positionen. Sie teilen jedoch zwei grundlegende Forderungen, und das gab dem Streik seine Stärke.

Forderungen

Erstens: Die Regierung darf nicht einfach von oben herab Gesundheitsvorschriften erlassen, ohne die praktischen Bedingungen vor Ort und die Meinungen der Betroffenen zu berücksichtigen. Zweitens darf sich die Debatte nicht auf die Frage „Testen oder Schließen der Klasse“ beschränken. Die Regierung kann keine Regeln aufstellen, ohne den Beschäftigten im Bildungswesen und den Eltern die Mittel an die Hand zu geben, um die Schulen unter guten und sicheren Bedingungen offen zu halten. Die Streikenden fordern FFP2-Hochfiltermasken, die Messung des CO2-Gehalts in den Schulen und Belüftungssysteme zur Luftauffrischung. Außerdem wollen sie die Einstellung von Vertretungen als Ersatz für die krankheitsbedingt ausfallenden LehrerInnen sowie von anderen Hilfskräften in den Schulen erreichen.

Die Regierung war sich der großen politischen Bedeutung dieses Streiks und der enormen öffentlichen Unterstützung hierfür bewusst und versprach noch am selben Tag 5 Millionen FFP2-Masken und die Einstellung von 3 300 zusätzlichen Lehrkräften. Wie die außergewöhnlichen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft in den letzten zwei Jahren gezeigt haben, können plötzlich Milliarden von Euro gefunden werden, wenn es nötig ist, und es gibt keinen Grund, warum die LehrerInnen, Kinder und Jugendlichen nicht unter grundlegend gesunden Bedingungen lernen können sollten.

Angriffe auf öffentliches Schulsystem

Die Wut der Lehrerinnen und Lehrer wurde jedoch nicht nur dadurch geschürt. Sie streikten auch gegen den Minister für nationale Bildung, Jean-Michel Blanquer. Er ist für verschiedene Angriffe auf das öffentliche Schulsystem verantwortlich, darunter eine Gegenreform der Sekundarstufe, die den Sektor tiefgreifend desorganisiert und geschwächt hat.

Blanquer hat die LehrerInnen verächtlich behandelt und erklärte in den letzten Tagen, dass „der Streik das Schulsystem noch mehr stören wird“ oder, noch zynischer, dass „man nicht gegen ein Virus streiken kann“. Darüber hinaus hat er eine rechtsgerichtete Kampagne gegen Universitäten und AntirassistInnen im Namen der „Laicité“ (des Laizismus) gestartet, die immer mehr zum Deckmantel für Islamophobie wird, indem er den „Linksislamismus“ an den Universitäten anprangert und die „faschistischen“ Fehler der UNEF, der StudentInnenvereinigung, ankreidet, weil sie Möglichkeiten und Räume für getrennte Versammlungen nur für die rassisch Unterdrückten organisiert hatte, und erklärt, dass „die Kleidung des Hidschab in unserer Gesellschaft nicht willkommen ist“.

Auch jenseits von Blanquer und dem Bildungssektor herrschen in der französischen Gesellschaft die gleichen Befehle von oben nach unten und die gleiche Geringschätzung der ArbeiterInnen Seit zwei Jahren stehen die Krankenhäuser im Kampf gegen  Covid an vorderster Front, ohne dass die Regierung viel getan hätte. Die Mittel für die Krankenhäuser und die Löhne des Pflegepersonals wurden nicht wesentlich aufgestockt, was dazu geführt hat, dass 20 Prozent der Krankenhausbetten wegen Personalmangels geschlossen sind. In der Zwischenzeit hat die Regierung sogar ihre Politik des Abbaus des öffentlichen Gesundheitssektors und der Schließung von Krankenhäusern fortgesetzt. Das gleiche Fehlen elementarer Schutzmaßnahmen gilt auch für andere Sektoren wie Verkehr, Reinigung, Geschäfte, Restaurants, öffentlich zugängliche Büros usw.

Die ArbeiterInnen haben also viele gute Gründe zu streiken, um ihre Kontrolle über die Hygienevorschriften auf allen Ebenen durchzusetzen, vom Arbeitsplatz bis zu den Schulen und Stadtvierteln. Der LehrerInnenstreik verkörpert die erste große progressive Aktion in Frankreich zum Thema Covid. Er kann und sollte über die Schulen hinaus ausgedehnt und verallgemeinert werden. Er könnte zu einer wichtigen Kraft bei den kommenden Präsidentschaftswahlen werden und die widerliche rassistische und chauvinistische Propaganda hinwegfegen. Dies könnte zu einem Sammelpunkt für alle ArbeiterInnen werden, die von den Lügen der PolitikerInnen angewidert sind, aber durch die Passivität der Gewerkschaften und die Zersplitterung und Kapitulation der offiziellen linken Parteien desorganisiert wurden.




USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.