Historische Kämpfe gegen den Krieg

Romina Summ, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Vietnamkrieg

Beginnend mit dem offiziellen Eintritt der USA in den Vietnamkrieg im August 1964 kam es international zu breiten Protesten, auch in Deutschland. Entstanden war die Bewegung zunächst durch Student:innenorganisationen. Die bekannteste war sicherlich die SDS (Students for a Democratic Society), welche sich aus radikalen pazifistischen Gruppen der Antiatombewaffnungsbewegung heraus entwickelte. Angeschlossen hatten sich neben Hippies, liberalen Bürgerrechtler:innen, Akademiker:innen auch Kunstschaffende. Wesentlich beteiligt und um einiges militanter als die „Make Love Not War“-Bewegung waren Frauenorganisationen wie die „Women Strike for Peace (WSP)“, welche sich zunächst erfolgreich gegen Atombombentests einsetzte. Gegründet wurde diese nach einem am 1. November 1961 stattgefundenen eintägigen Streik unter dem Slogan „End The Arms Race Not The Human Race“, an dem schätzungsweise 50.000 Frauen in 60 US-Städten teilgenommen hatten. Der Streik verlief sehr erfolgreich und löste in weiterer Folge eine große Dynamik aus. Die WSP wurde ins Leben gerufen und zog noch mehr Frauen in den Kampf gegen die Bedrohung durch Atomkriege und zur sofortigen Beendigung von Atomtests. Als die WSP bereits nach knapp zwei Jahren mit dem Inkrafttreten des Vertrags über das begrenzte Verbot von Atomtests einen bedeutenden Sieg verbuchen konnte, wurde der Vietnamkrieg zum Hauptanliegen der Bewegung. Initiativen wie „The Jeannette Rankin Brigade“ (1968) brachten Aktivisten:innen zusammen, die sich für Frauenbefreiung, Antirassismus, Armutsbekämpfung und Antikriegspolitik einsetzten. Einige Mitglieder der WSP nahmen sogar an Treffen mit dem Vietkong (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams; NFB) in Nordvietnam teil. Sie trugen durch die Organisation dieser Proteste und der daraus entstandenen gesellschaftlichen Ablehnung entscheidend dazu bei, dass die US-Regierung in Nordvietnam keine Atomwaffen einsetzte und sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Vietkong verschob.

Innerhalb der Antikriegsbewegung gab es allerdings eine große Zersplitterung und keine gemeinsame Dachorganisation. So hatte man zwar ein gemeinsames Ziel, es wurde aber heftig über die anzuwendenden Mittel diskutiert. Die Bewegung, welche von bürgerlichen Kräften dominiert war, konnte jedoch durch den breiten gesellschaftlichen Protest enormen innenpolitischen Druck auf die damalige US-Regierung aufbauen. Diese sah sich 1969 gezwungen, die Zahl ihrer Bodentruppen in Nordvietnam zu minimieren, von rund 480.000 auf 335.000, bis sie 1973 nach dem Abschluss eines Waffenstillstandes (Pariser Abkommen) mit Nordvietnam komplett abgezogen wurden. Zusätzlich wurden eine Reform des Einzugsverfahrens ins Militär durchgesetzt sowie die Wehrpflicht aufgehoben. Dies alles führte zu einer der verheerendsten Niederlagen des US-Imperialismus und einem Sieg der vietnamesischen Befreiungsarmee.

Irakkrieg

Bald 20 Jahre ist es her, als die bis dahin größte Antikriegsbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Am 15. Februar 2003 gingen in mindestens 650 Städten weltweit zwischen 25 und 30 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den durch die USA geführten Irakkrieg zu protestieren. Diese Bewegung zeichnete sich besonders durch das Ausmaß der Beteiligung in den westlichen Staaten aus, wo Regierungen den Krieg entweder duldeten oder die USA sogar direkt unterstützten. Getragen wurde die Bewegung von Friedensgruppen, Kirchen, NGOs und Gewerkschaften. Ebenso gab es an Schulen zahlreiche Streiks gegen den Krieg. Auch innerhalb dieser Antikriegsbewegung spielten Frauen wieder eine zentrale Rolle. So hatten beispielsweise am 8. März 2003, dem Internationalen Frauentag, tausende in verschiedenen US-Städten gegen den Irakkrieg demonstriert. Aufgerufen hatte die Organisation „Code Pink: Women for Peace“.

Die Bewegung versuchte, in den einzelnen Ländern durch Proteste und zivilen Ungehorsam (wie Sitzblockaden auf dem Stützpunkt der US-Airbase in Frankfurt) innenpolitischen Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben, um damit eine Kriegsbeteiligung zu verhindern. Die Bewegung erreichte, dass sich viele Länder nicht aktiv am Krieg beteiligten, da sie den Widerstand innerhalb der Gesellschaft gegen den Krieg kannten und weitere Proteste befürchteten. Auch verfolgte die Europäische Union unter Führung von Deutschland und Frankreich andere geopolitische Interessen. Dennoch wollte sie keine Eskalation mit den USA riskieren. So gewährleistete Deutschland beispielsweise Transporte und den Schutz von US-Militär. Auch genehmigte sie der NATO sogenannte Überflugrechte über dem Bundesgebiet.

Erster Weltkrieg und Beginn der Februarrevolution

Nachdem in Russland viele Männer für den ersten Weltkrieg von 1914 – 1917 eingezogen wurden, waren Frauen gezwungen, in den Fabriken zu arbeiten, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Gleichzeitig wurden die Arbeitsbedingungen schlechter. Die Preise stiegen und es herrschte ein Mangel an Waren. Am internationalen Frauentag, dem 23. Februar/8. März 1917 organisierten Arbeiterinnen einen großen Streik mit rund 90.000 Teilnehmer:innen in den Fabriken von St. Petersburg, um gegen den imperialistischen Krieg und seine verheerenden Folgen zu protestieren. Obwohl Streiks verboten waren und die Arbeiter:innenbewegung starker Repression ausgesetzt war, organisierten Arbeiterinnen aus dem Wyborger Bezirk in den dort ansässigen Textilfabriken illegale Treffen unter den Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“. Sie entschieden sich zu streiken, zogen zu tausenden auf die Straßen und forderten unter den Slogans „Brot, Land, Frieden“ sowie „Gebt uns unsere Männer zurück“ weitere Arbeiterinnen und Männer in nahegelegenen Fabriken zur Teilnahme auf. Diese Aktion war äußerst erfolgreich. Bereits um 10 Uhr waren rund 27.000 Arbeiter:innen am Streik beteiligt. Diese Zahl stieg im Verlauf des Tages auf über 50.000 Menschen an. In den darauffolgenden Tagen umfasste die Streikwelle gar 240.000 Arbeiter:innen. Die Februarrevolution war ausgebrochen.

Dabei spielte die SDAPR-Frauenzeitung „Rabotniza“ und deren Redaktion, welche aus den Organisatorinnen des Streiks bestand, eine wesentliche Rolle. Unter ihnen die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die deutlich machte, dass der Krieg, welcher auf dem Rücken der Arbeiter:innen geführt wird, mit Mitteln des Klassenkampfes bekämpft werden muss und es dafür eine Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem Kampfprogramm gegen den Kapitalismus braucht. Entsprechend traten sie für Forderungen ein, die sich nicht auf nationale Interessen beschränkten, sondern im Interesse der Klasse waren, wie der 8-Stunden-Tag, die Vergesellschaftung der Wäschereien und höhere Löhne.




Irak: As-Sadr bereitet blutige Konterrevolution vor

Jeremy Dewar, Infomail 1095, 17. März 2020

Die
revolutionäre demokratische Protestbewegung des Irak, die am 1. Oktober 2019
begann, steht vor ihrer bisher größten Bewährungsprobe, da der
Interimspremierminister Mohammed Allawi ankündigen lässt, dass seine Regierung
den Aufstand beenden will.

SchülerInnen und
StudentInnen haben die Bewegung mit einer Welle von Streiks, die zur
Annullierung des gesamten akademischen Jahres zu führen drohte, sowie mit
Besetzungen von Plätzen angeführt, einschließlich des symbolischen Tahrir-Platzes
(„Befreiungsplatz“) in Bagdad. Aber die Bewegung ist in den neun südlichen und
zentralen Provinzen mit schiitischer Mehrheit sowie in anderen Zentren des
Aktivismus in Basra und Nasariya weit verbreitet.

Die Repression
war brutal und blutig. Über 550 DemonstrantInnen (und 13 Sicherheitskräfte)
wurden von Armee und Polizei getötet, unterstützt von Mitgliedern der
schiitischen al-Haschd asch-Scha‘bi-Milizen, der iranisch beeinflussten
Volksmobilisierungseinheiten (PMU). Schätzungsweise 25.000 wurden verletzt.

In jüngerer Zeit
haben die „blauen Hüte“, Mitglieder der Saraya al-Salam-Miliz
(Friedenskompanien, Mahdi-Armee) des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr,
die die Protestierenden vor den von Iran unterstützten Milizen schützten, bis
sie die Seite wechselten, ebenfalls Protestierende getötet. Insbesondere
wendeten sie sich nach dem gescheiterten Millionen-Menschen-Marsch von as-Sadr
gegen sie, als die DemonstrantInnen ein Restaurant auf dem Tahrir-Platz
eroberten, in dem sich der Radiosender der Bewegung befand.

Psychologie der
Protestierenden

Die Psychologie
der Protestierenden muss im Zusammenhang damit verstanden werden, dass die
Hälfte der 40 Millionen EinwohnerInnen des Irak unter 21 Jahre alt ist. Das
heißt, sie kennen nur die sektiererische Regierung des Irak nach der
US-Invasion. Sie sind ebenso wütend auf den Iran wie auf den US-Imperialismus,
weil sie die Infrastruktur des Landes zerstören, das politische System
korrumpiert und öffentliche Dienstleistungen und Arbeitsplätze vergeudet haben.

Aus diesem Grund
gibt es auch eine starke Voreingenommenheit gegenüber politischen Parteien, da
diese alle in die Korruption verwickelt sind, die ein unvermeidliches
Nebenprodukt des politischen Systems der Machtteilung ist. Dabei teilen sich
sunnitische, schiitische und kurdische Parteiblöcke im Parlament die Beute und
belohnen ihre AnhängerInnen mit Posten und Geld.

Ein
Protestierender erklärte dazu: „Wenn wir einen Führer hätten, dann wäre diese
Bewegung schon vor langer Zeit zu Ende gewesen. Es ist leicht für eine/n
FührerIn, von den Kräften, gegen die er/sie kämpft, kompromittiert oder
kooptiert zu werden“.

Eine andere
Person stellte ihre Ziele so dar: „Heute bedrohen die DemonstrantInnen das
Finanzimperium der Parteien. Das Volk will eine Volksregierung, und das bedroht
die [Parteien] …, da sie dann nicht in der Lage sein werden, [es] zu
berauben“.

Ein weiteres
wichtiges Merkmal der Bewegung ist die herausragende Beteiligung von Frauen. Am
14. Februar, als Antwort auf as-Sadrs Tweet, dass die Protestierenden getrennt
werden sollten, widersetzte sich ein Frauenmarsch ihm mit den Sprechchören:
„Stoppt die Diskriminierung von Frauen, stoppt die Geschlechtertrennung!“

Eine ältere
Anhängerin erklärte die Tiefe des Wandels und sagte, dass diese jüngeren Frauen
„all diese Stammesnormen, die religiöse Fatwa [Rechtsauslegung], die Hegemonie
der männlichen Mentalität gegen sie gebrochen haben. Dies ist eine neue Ära, in
der wir leben“.

Aus all diesen
Gründen, neben der wachsenden Krise und Armut, mit der die neue Generation
konfrontiert ist, bleiben die Protestierenden entschlossen, für ihre
Forderungen zu kämpfen: für Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistungen,
gegen die Korruption der Regierung, für den Rückzug aller ausländischen Mächte
aus dem Irak und für demokratische, freie Wahlen und ein Ende der
sektiererischen Aufteilung der Posten.

Der Aufstieg von
as-Sadr

Der Einfluss von
Muqtada as-Sadr nimmt seit über 15 Jahren stetig zu. Er wurde als Anführer der
Mahdi-Armee bekannt, die es mit den US-amerikanischen und britischen
Invasionstruppen zunächst in Basra und ab 2004 auch weiter entfernt aufnahm.
Nachdem er zunächst versucht hatte, sich mit den sunnitischen GegnerInnen der
US-InvasorInnen zusammenzuschließen, wandte er seine Kräfte in einem
sektiererischen Konflikt, der auf allen Seiten Gräueltaten sah, gegen die
SunnitInnen.

Er befehligt
eine große Zahl irakischer SchiitInnen, zunächst wegen seines verehrten Vaters,
des Großajatollahs Muhammad Sadiq as-Sadr, dessen Widerstand gegen Saddam
Hussein 1999 zu seiner Ermordung führte, aber zunehmend auch wegen seines
eigenen politischen und militärischen Gewichts. Er ist jedoch nicht der
mächtigste Kleriker im Irak.

Großajatollah
Ali as-Sistani, der nur selten politisch interveniert und dann meist auf der
Seite der Protestbewegung steht, ist sein Vorgesetzter. Muqtada studiert jedoch
in Ghom, im Iran, um selbst Ajatollah zu werden. Tatsächlich verlässt er den
Iran in diesen Tagen nur selten; zuletzt wurde er Ende Oktober in Nadschaf
gesehen. Als er von den DemonstrantInnen feindselig empfangen und als Teil des
korrupten Establishments wahrgenommen wurde, kehrte er schnell nach Ghom
zurück.

Ab 2011 nahm er
sowohl über seinen parlamentarischen Block als auch über seiner Bewegung ergebene
Minister an der Regierung teil. Gleichzeitig unterstützte er (seit 2011 spontan
ausgebrochene) Proteste gegen dieselbe Regierung, in der er so etwas wie ein
Königsmacher geworden ist. Im Jahr 2014, als Sistani die IrakerInnen aufrief,
gegen ISIS (heute: Islamischer Staat) zu den Waffen zu greifen, wurde die
Mahdi-Armee als „blaue Hüte“ wiedergeboren.

Die derzeitige
Bewegung hat as-Sadr jedoch Probleme bereitet. Die Jugendlichen haben den
Schutz seiner Saraya al-Salam-Miliz vor der Unterdrückung durch die Regierung
und die vom Iran unterstützten Kräfte unter der Führung von General Qasem
Soleimani, dem Chef der Quds-Truppe des Korps der Islamischen Revolutionsgarden
des Iran, akzeptiert, aber sie haben seine politischen Interventionen und seine
„Charta der Reformrevolution“ nicht begrüßt.

Sadrs Versuch,
die Bewegung durch einen „Millionen-Menschen-Marsch“ im Januar zu
hegemonisieren, wurde weithin als Fehlschlag angesehen. So erklärten
Protestierende: „Dieser Marsch ist anders als das, was die Straße will. Er
unterstützt das gegenwärtige politische System im Land, er ist nicht gegen es“.

Jüngste
Ereignisse, wie der Marsch der Frauen, der as-Sadrs Versuchen, die
Geschlechtertrennung in der Bewegung einzuführen, trotzte, haben bestätigt, dass
sein einst mächtiger Einfluss auf der Straße schwindet. Sogar einer seiner
Kleriker, gefangen zwischen den DemonstrantInnen und den blauen Hüten, rief
aus: „Ich werde den Turban aus Liebe zum Irak und zur Stadt Nasiriya und zu den
RevolutionärInnen abnehmen, und ich bin bei den IrakerInnen“.

Ablehnung des
Ausverkaufs

Die politische
Ermordung von Soleimani und des PMU-Führers Abu Mahdi Al-Muhandis am 3. Januar
auf dem Flughafen von Bagdad hat die politische Landschaft dramatisch
verändert. Sadr ist nicht zuletzt ein gerissener Opportunist und hat dabei die
Gunst des Augenblicks erkannt. Er hatte seine Unterstützung dafür, dass der
Iran eine offensichtliche Rolle in der irakischen Innenpolitik spielt, längst
aufgegeben und bezeichnet sich nun als irakischer Nationalist.

Nun, da der Iran
einen schweren Schlag für seine Ambitionen im Land erlitten und selbst mehrere
Führer durch den Angriff verloren hatte, waren die PMU zu Kompromissen bereit.
Nach dem Rücktritt des provisorischen Premierministers Abd al-Mahdi Ende
Oktober 2019 war der Weg frei für das Wiederauftauchen von Mohammed Allawi,
einem ehemaligen Minister im Kabinett der Regierung von Nuri al-Maliki von 2006
bis 2010.

Zunächst einmal
bot Sadr Anfang Januar eine „vereinigte Widerstandsfront“ mit den vom Iran
unterstützten Milizen an und bildete sie, natürlich unter seiner Führung. Dann
unterstützte er Allawi, der am 1. Februar als Interimspremier die Macht
übernahm.

Gleichzeitig
leitete er geheime Gespräche mit Allawis Vertretern und den Führern der
PMU-Milizen ein; ein Abkommen, das um den 1. Februar in Ghom ausgehandelt
wurde. Es scheint, dass keine iranischen Regierungsvertreter anwesend waren.
Die Nachricht über seinen Inhalt verbreitete sich schnell, nicht zuletzt wegen
der großmäuligen Milizenführer.

Allawi selbst
kündigte am 14. Februar die bevorstehende Bildung einer neuen Regierung an, die
seiner Meinung nach „unabhängig“ und mit „kompetenten und unparteiischen
Leuten, ohne die Intervention irgendeiner politischen Partei“ besetzt sein
würde.

Er hat auch
Arbeitsplätze, ein Ende der Korruption und Neuwahlen versprochen sowie, die
Mörder der DemonstrantInnen vor Gericht zu bringen und alle ausländischen
Streitkräfte vom irakischen Territorium zu entfernen, um die Protestierenden zu
beschwichtigen oder zumindest zu spalten.

Wenn dies das
Zuckerbrot ist, dann liegt die Peitsche buchstäblich in den Händen der blauen
Hüte, die sich „vom Bock zum Gärtner verwandelt“ haben, indem sie sich gegen
ihre ehemaligen Verbündeten wandten und die DemonstrantInnen angriffen, um die
zu vertreiben, die as-Sadr als „Eindringlinge“ und „AnstifterInnen“ bezeichnet.

Die Abmachung
zwischen as-Sadr und Allawi ist ein riesiger Betrug. Ein vom Iran unterstützter
politischer Führer sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Middle East Eye:
„[Allawi] ist schwächer als Abd al-Mahdi, und sie wählten ihn gerade deshalb,
weil er schwach ist. Es ist ihm nicht erlaubt, echte Korruptionsakten zu
öffnen, und seine Regierung ist nicht befugt, strategische Entscheidungen zu
treffen, einschließlich der Entfernung ausländischer Truppen aus dem Irak.“

Darüber hinaus
will die Regierung Allawi offenbar die Integration der PMU-Milizen in die
irakische Armee vorantreiben – ein Schritt, der zu Recht die Protestierenden,
die durch ihre Hand Folter, Vergewaltigung und Schlimmeres erlitten haben,
empören wird.

Die
DemonstrantInnen müssen die Bewegung, die kürzlich in ihrem schiitischen
Kernland nachgelassen hat, rasch wieder aufbauen und die Proteste in Mossul,
Falludscha und Ramadi, die sich im vergangenen Herbst erhoben haben, wieder
aufnehmen. Sie sollten auch versuchen, die Gewerkschaften zu einer aktiveren
Unterstützung zu zwingen. Die LehrerInnen haben an der Seite ihrer Schülerinnen
und Schüler einen längeren Streik durchgeführt, aber auch die ÖlarbeiterInnen
müssen zu einem Arbeitskampf bewegt werden.

Jede Spaltung
entlang religiös-sektiererischer Linien wird aufgegriffen, nicht nur vom Iran,
sondern auch von den USA, deren militärische FührerInnen über eine Teilung des
Landes und die Einnahme der Provinz al-Anbar unter ihre Obhut diskutieren.

Es müssen echte
Aktionskomitees aus VertreterInnen der gesamten ArbeiterInnenklasse und der
Jugend gebildet werden, möglicherweise aus den Versammlungen der besetzten
Plätze heraus, und sie müssen national vereint werden.

Trotz des
gerechtfertigten Hasses auf „Führer“ und „politische Parteien“ kann nur eine
vereinte Bewegung, die ihre eigenen AnführerInnen wählt, die reaktionäre
Koalition, mit der sie derzeit konfrontiert ist, besiegen. Aber innerhalb einer
solchen Bewegung muss eine revolutionäre Partei gebildet werden, die in der
Lage ist, die unmittelbaren wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen zu
einem Programm zusammenzuschweißen, das auf einen Übergang zum Sozialismus
hinweist.

Es ist
unwahrscheinlich, dass as-Sadr und Allawi in naher Zukunft in der Lage sein
werden, „die Demonstrationen zu beenden“, wie sie gedroht haben. Dennoch
funktioniert die Repression letztendlich, es sei denn, sie wird durch einen
organisierten und entsprechend bewaffneten Widerstand desorientiert,
demoralisiert und besiegt. Das ist die Aufgabe des Tages.




Hände weg vom Iran! Stoppt die US-Attacken!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1083, 6. Januar 2020

Die Ermordung
des iranischen Generalmajors Qasem Soleimani in Bagdad auf Befehl von
US-Präsident Donald Trump hat ein gefährliches neues Kapitel für den Nahen und
Mittleren Osten aufgeschlagen. Als Chef der Quds-Einheiten, einer
Unterabteilung der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC, Pasdaran), und
strategischer Architekt von Irans ständig wachsendem Netzwerk internationaler
Milizen, Verbündeter und Anlagen war Soleimani nicht nur eine mächtige Figur im
iranischen Regime, sondern auch ein Königsmacher in weiten Teilen des Nahen und
Mittleren Ostens. Mit dieser dreisten Verletzung des internationalen Rechts hat
Trump die gesamte Region, wenn nicht sogar die Welt, an den Rand eines Krieges
gebracht.

Soleimanis
Ermordung war eine ernsthafte Eskalation einer laufenden Konfrontation zwischen
den US-amerikanischen und iranischen Streitkräften. Anfang dieser Woche
beschuldigten die USA Soleimani, einen Einbruchsversuch irakischer Milizen in
die US-Botschaft und den Militärstützpunkt in Bagdad inszeniert zu haben. Der
Angriff auf die Botschaft wurde zwei Tage zuvor durch US-Luftangriffe auf die
vom Iran unterstützte Kata’ib-Hisbollah (Hisbollah-Brigaden) provoziert, bei
denen nach Angaben irakischer Sicherheits- und Milizquellen 25 Kämpfer getötet
und 55 weitere verwundet wurden. Diese Luftangriffe waren wiederum eine
Reaktion auf die Tötung eines amerikanischen Militärbeauftragten durch
Kata’ib-Hisbollah-Raketen.

RegierungsvertreterInnen
und AußenpolitikexpertInnen auf der ganzen Welt sind sich einig in ihrer
Analyse des veränderten Charakters des Angriffs, wobei der ehemalige Chef des
britischen Auslandsgeheimdienstes Sir John Sawers die Tötung Soleimanis als
„Kriegshandlung“ bezeichnet hat. US-Außenminister Mike Pompeo versuchte zu
behaupten, das Attentat sei eine Präventivmaßnahme zum Schutz des unmittelbar
gefährdeten US-Personals gewesen, aber US-Präsident Trumps Aussage auf Twitter
vor dem Angriff war unverblümter: „Der Iran wird für verlorene Leben oder
Schäden in unseren Einrichtungen voll verantwortlich gemacht. Sie werden einen
sehr GROSSEN PREIS bezahlen! Dies ist keine Warnung, es ist eine Drohung.
Frohes neues Jahr!“

Eine gefährliche
Krise

Während nur
wenige BeobachterInnen mit diesem speziellen Angriff gerechnet zu haben
scheinen, eskalieren die Spannungen zwischen den USA und dem Iran seit Jahren,
die sich häufig durch Stellvertreterkonflikte in den Nachbarländern,
einschließlich Irak und Syrien, abspielen. Als drittgrößter Ölexporteur der
OPEC und strategischer politisch-ökonomischer Rivale des von den USA
unterstützten Saudi-Arabien und ihres regionalen Gendarmen Israel hat der Iran
einen blutigen Kampf geführt, um die schwächelnde US-Hegemonie auszunutzen und
sich als expandierende Regionalmacht zu behaupten. Seit über einem Jahrzehnt
hat der Iran seinen Einfluss durch den Aufbau loyaler schiitischer Milizen
ausgebaut, die Assads mörderisches Regime unterstützt und ihre Macht im Irak
konsolidiert haben.

Trump hat
seinerseits deutlich gemacht, dass er den iranischen Einfluss durch eine
aggressivere Außenpolitik zügeln will. Schon bald nach seinem Amtsantritt
kündigte er den von seinem Vorgänger ausgehandelten amerikanisch-iranischen
Nuklearvertrag, der die gegen das iranische Regime verhängten Strafsanktionen
mit dem Versprechen, sein Atomprogramm abzuschaffen, gemildert hatte. Trump
ersetzte den Deal durch noch härtere Sanktionen, forderte andere Länder auf,
dem Beispiel zu folgen, und unterstützte Saudi-Arabien energisch in seinem
Stellvertreterkrieg mit dem Iran im Jemen. Auf die schraubstockartigen
Verschärfung der US-Sanktionen reagierte der Iran schließlich mit Angriffen auf
den internationalen Schiffsverkehr in der Straße von Hormus,
Flugkörperangriffen auf saudische Ölanlagen und schließlich den
Raketenangriffen auf US-Militärstützpunkte, die die Ereignisse auslösten und zu
der aktuellen Krise führten.

Die Behauptung
von Trump und seinen BeamtInnen, dass der Drohnenangriff, der Soleimani tötete,
ein gerechtfertigter Präventivschlag war, ist eine völlig unhaltbare
Entschuldigung für die Provokation. Der Iran hat die Aktion zu Recht als „einen
Akt des internationalen Terrorismus“ verurteilt, und sein oberster Führer
Ajatollah Ali Khamenei (Chamene’i) hat geschworen, in gleicher Weise zu
reagieren. Die meisten ExpertInnen sind sich einig, dass der Iran nicht mit
einem direkten Angriff auf US-Militärstützpunkte oder -schiffe zurückschlagen
wird, sondern sich eher für eine „kalibrierte“ Reaktion wie weitere Angriffe
auf saudische Öleinrichtungen, Blockaden in der Straße von Hormus oder Angriffe
auf Schlüsselanlagen von US-Verbündeten wie Katar oder den Vereinigten
Arabischen Emiraten entscheiden wird. Angesichts der wahrscheinlichen Folgen
ist es nicht im unmittelbaren Interesse des Iran, einen offenen Krieg mit den
USA auszulösen.

Es besteht
jedoch die reale Gefahr, dass die Reaktionen beider Seiten außer Kontrolle
geraten werden. Der Iran steht unter erheblichem Druck, energisch zu reagieren.
Seine angeschlagene Wirtschaft hat eine wachsende inländische Protestbewegung
angeheizt, die ein Ende des korrupten und repressiven Regimes fordert. Auch
Trump muss sich für die Präsidentschaftswahlen Ende diesen Jahres in Stellung
bringen, da die Wolke der Amtsenthebungsanklage über seiner Regierung hängt.
Aggressive US-Verbündete, von Israel bis Saudi-Arabien, ganz zu schweigen von
Trumps eigenem juckenden Abzugsfinger, können den Konflikt auf unvorhersehbare
Weise beeinflussen. Die Weltwirtschaft befindet sich bereits am Rande einer
Rezession. Ihr stagnierender Kern nach 2008 wurde durch Trumps Handelskriege
weiter geschwächt und eine Ölkrise könnte sie über den Rand drängen und eine
globale Wirtschaftskrise auslösen, die den innenpolitischen Druck noch weiter
erhöhen würde. Die Logik der Eskalation hat den Konflikt bisher beherrscht, und
die Spannungen, die ihn im In- und Ausland antreiben, werden dafür sorgen, dass
dies so bleibt. Wie schon 1914 könnten scheinbar geringfügige Aktionen
schließlich die Machtbalance zerstören und einen verheerenden globalen Konflikt
entfachen.

Imperialismus
und Sektierertum

Soleimani war
eine Hauptzielscheibe des US-Imperialismus. Er war der Stratege der Demütigung
Israels im Libanonkrieg 2006 und hat die iranischen Interventionen in Syrien
und im Irak, die den iranischen Einfluss auf Kosten der USA erweitert haben,
angezettelt. Aber kein/e AntiimperialistIn sollte um Soleimani weinen, der das
Blut von Tausenden an seinen Händen hatte. Er spielte eine wesentliche Rolle
bei der Stabilisierung des blutbefleckten Assad-Regimes und stellte Mittel für
das unerbittliche Massaker an pro-demokratischen Bewegungen im Irak und im
Iran, bei dem Hunderttausende getötet wurden, zur Verfügung.

Bei allem Lob
von Trump für die Demokratiebewegung im Iran hat seine Provokation dem
iranischen Regime den perfekten Vorwand gegeben, sie zu unterdrücken und
Massenproteste gegen die USA zu mobilisieren, um seine wackeligen Grundlagen zu
stützen. Die Quds-Truppen von Soleimani sind zweifellos eine reaktionäre Kraft,
ebenso wie die irakischen schiitischen Milizen, und das reaktionäre iranische
Regime versucht, sich als die dominierende Macht im Mittleren Osten zu
etablieren, aber es bleibt ein halbkolonialer Staat, der von einer Kette
regionaler Verbündeter des US-Imperialismus umzingelt ist. Die Hauptangreiferin
in diesem ungleichen Kampf sind die USA, unterstützt von ihren israelischen,
saudischen und anderen reaktionären Verbündeten.

Es war die
US-Besatzung des Irak, die einen beispiellosen Anstieg der sektiererischen
Gewalt anheizte und das korrupte sektiererische Regierungssystem dort
etablierte. Dieses war das Ziel der inspirierenden, Konfessionen übergreifenden
Demokratiebewegung, die in den letzten Wochen auf die Straße ging. Die
Provokation von Trump wird sich negativ auf diese Bewegung auswirken, indem sie
die sektiererischen Spannungen verschärft, das Versinken in einen neuen
Bürgerkrieg möglich macht und die Spannungen mit Israel, das selbst an der
Bombardierung iranischer Militärziele im Iran und in Syrien beteiligt ist, verstärkt.
Die USA haben immer noch über 5.000 SoldatInnen im Irak und haben jetzt über
3.000 weitere entsandt. Donald Trump hat nicht nur deutlich gemacht, dass die
USA sich jeder Entscheidung der irakischen Marionettenregierung widersetzen
würden, die Stationierung der US-Basen im Land zu beenden, sondern hat dem Irak
auch mit drastischen Sanktionen gedroht, sollte es Versuche geben, die
Entfernung seiner US-„UnterstützerInnen“ zu erzwingen.

Wie das Blutbad
in Syrien zeigt, hat die US-Intervention nichts mit Demokratie oder der
Überwindung des Sektierertums in der Region zu tun, ihr einziges Ziel ist die „Stabilität“
ihrer Vorherrschaft, sind also die immensen Profite, die sie dem Nahen und
Mittleren Osten entzieht, und ist geopolitische Macht, die daraus erwächst.
Nachdem sie Terrain an Russland, den Iran und ihre Verbündeten in Syrien
verloren hat, ist sie entschlossen, ihre Macht im Nahen und Mittleren Osten
wieder zu behaupten, indem sie einen „Regimewechsel“ im Iran durch Sanktionen,
Attentate und Drohungen, 52 oder mehr „Ziele“ im Land zu bombardieren,
erzwingt. Zu dieser Strategie gehört auch, den seit Jahrzehnten von ihrer
„Befreierin“ verwüsteten Irak im Grunde genommen zu einem kolonialen Satus
herabzudrücken. Diese regionale Strategie ist selbst Teil des Versuchs
Washingtons, dem wachsenden militärischen und geostrategischen Einfluss der
russischen und chinesischen ImperialistInnen entgegenzuwirken. Während alle
„Großmächte“ einen direkten Zusammenstoß vermeiden wollen, könnten die Angriffe
und die offene Kriegsdrohung gegen den Iran in eine globale Konfrontation
umschlagen.

In dieser
Situation präsentieren sich die europäischen Mächte Deutschland, Frankreich,
Großbritannien und die EU als Kräfte der „Mäßigung“. In einer gemeinsamen
Erklärung vom 5. Januar riefen Merkel, Macron und Johnson alle Seiten zur
„äußersten Zurückhaltung“ auf. „Es ist jetzt entscheidend zu deeskalieren“,
warnten sie. Während dies die USA enttäuschte, sind europäische oder UN-Aufrufe
zur „Zurückhaltung“ auf beiden Seiten nur eine heuchlerische Farce.

Die ArbeiterInnenklasse
und die Antikriegsbewegungen sollten keine Hoffnung oder Vertrauen auf diese
„weicheren“ ImperialistInnen setzen, auch nicht auf China oder Russland, noch
sollten sie die Augen vor dem reaktionären Charakter des iranischen Regimes und
seiner Rolle in Syrien oder im Irak verschließen. Sie müssen jegliche Hoffnung
auf US-demokratische PolitikerInnen wie Elizabeth Warren aufgeben, die sagte,
dass sie „noch“ nicht davon überzeugt sei, dass bewaffnete Angriffe angebracht
seien. Solche „KritikerInnen“ können nur allzu leicht zu den KriegshetzerInnen
von morgen werden.

Es waren die
Antikriegs-Demonstrationen in den USA am Wochenende und die massenhafte
Empörung in der halbkolonialen Welt, die den Weg nach vorne zeigten: Millionen
gegen die US-Aggression zu sammeln, für die Aufhebung der Sanktionen und den
Rückzug aller imperialistischen Truppen und Stützpunkte aus dem Irak und der
gesamten Region jetzt!

Wir rufen alle
Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die linken, sozialdemokratischen und Labour-Parteien,
die Gewerkschaften, die linken und antiimperialistischen Organisationen auf,
sich zu vereinen und zu mobilisieren, um die US-Aggression und die Attacken
jetzt zu stoppen!

Wir fordern:

  •  Kein Krieg mit dem Iran!
  • US-, britische Truppen und NATO-Verbände raus aus dem Nahen und Mittleren Osten! Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran!
  • Nieder mit der religiös-sektiererischen irakischen Regierung!
  • Sieg für die irakische Revolution!
  • Vorwärts zu den Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!



Libanon, Irak – blüht der Arabische Frühling wieder auf?

Dilara Lorin, Infomail 1077, 14. November 2019

Ägypten, Irak, Libanon – hier gehen die Menschen
seit Wochen massenhaft und militant auf die Straße, weil sie ihre schlechte
Lebenssituation nicht mehr hinnehmen! Die Arbeitslosenzahl ist sehr hoch, vor
allem unter den Jugendlichen, und gleichzeitig stiegen in Libanon und Irak die
Steuern. Libanon ist im arabischen Raum dafür bekannt, dass auf viele Produkte
nicht nur Steuern erhoben, sondern diese immer wieder mal erhöht werden. Diesmal
sollte wieder eine Steuererhöhung kommen, wie auf Internet, WhatsApp etc. Und
genau das wollten die Menschen nicht mehr hinnehmen. Diesmal aber entfacht dies
eine Massenbewegung, an der sich die große Mehrheit der Bevölkerung beteiligt.
Unzählige Videos und Bilder dokumentieren, wie die großen Plätze überfüllt
wurden. Selbst in den Seitenstraßen beteiligten sich die EinwohnerInnen, so
dass zeitweise ganze Städte oder Wohngebiete vollzählig an den Protesten
teilnahmen. Dabei werden die Rufe nach mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und
Demokratie immer lauter. Gleichzeitig sind die Massen wütend auf die Korruption
und die Aufteilung der Pfründe nach religiösen/sektiererischen Linien unter den
wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes. Während sich die Taschen
der Reichen füllen, werden jene der Armen noch leerer gemacht.

Ähnlich auch im Irak. Die Worte eines
Demonstranten zeigen deutlich, wie groß der Hass auf die Bourgeoisie und ihre
Parteien ist: „Diese Männer repräsentieren uns nicht. Wir wollen keine Parteien
mehr. Wir möchten nicht, dass jemand in unserem Namen spricht.“

Die DemonstrantInnen bestritten jegliche
Verbindungen zu Parteien und Milizengruppen, denn diese sehen sie auch als Teil
der zahlreichen Probleme an. In der südlichen Stadt im Irak Nasiriya haben
DemonstrantInnen Büros von 6 politischen Parteien angezündet. Diese hatten
versucht, die Situation auszunutzen.

Irak – die militantesten Demonstrationen seit
Jahren

Der Irak ist der fünftgrößte Ölproduzent der
Welt, aber die Bevölkerung bekommt von diesem „Reichtum“ nichts mit aufgrund
der massiven Korruption der Regierung und Verwaltung. 22 % der Bevölkerung
leben laut den Vereinten Nationen in absoluter Armut und 25 % der
Jugendlichen sind laut der Weltbank arbeitslos, die Dunkelziffer liegt noch
viel höher. Seit 17 Jahren gibt es gravierende Korruption und Ungerechtigkeit
im Irak, und auch der Sieg über den „Islamischen Staat“ (IS) vor zwei Jahren,
welcher von der USA so sehr gefeiert wurde, veränderte nichts an der
Lebenssituation der IrakerInnen.

Die Massenarbeitslosigkeit, das Fehlen der
wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und die brutale Gewalt des Staates
gegen die DemonstrantInnen bewegte Tausende auf die Straße. Im Bezirk Sadr City
von Bagdad, wo 3,5 Millionen Menschen leben, wurde die Demonstration brutal
niedergeschlagen. Insgesamt wurden in den Protesten im ganzen Land bis zu 300
Menschen getötet und bis zu 6.000 verletzt. Die Regierung hat den Zugang zu
WhatsApp und Facebook eingeschränkt, um die Mobilisierungen zu stoppen.

Die Protestierenden verlangen den Sturz von
Premierminister Adil Abd al-Mahdi. Die irakischen Regierungen sind seit 2003 im
Grunde in Koalitionen rivalisierender Parteien, um die Ressourcen des Landes zu
plündern. Und die Forderungen der Massen gehen noch weiter, sie verlangen mehr
Mitbestimmung, sie sprechen sich gegen das Mullah- Regime aus, welches bis
heute viele wichtige Teile der irakischen Politik koordiniert und es werden
Rufe laut wie: „Iran raus raus, Bagdad bleibt frei.“

Vor allem die Jugend, die seit zwei Jahrzehnten nichts
gesehen und erlebt hat außer Krieg, Terror, Verelendung, Arbeitslosigkeit und
Armut findet sich in den ersten Reihen der Demonstrationen, Streiks und
Besetzungen.

So entstanden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad
nach einer Woche der Proteste Formen der Selbstorganisation. Es gibt freies
Essen und Strom. Street Art zeigt den Geist der Massen. Eines der höchsten
Gebäude am Tahrir-Platz, in welchem sich
ein türkisches Restaurant befand, wurde besetzt und ist zum Symbol der
andauernden Proteste im Land geworden.

Am vergangenen Wochenende haben die ArbeiterInnen
von Basra den Hafen der Stadt und die Ölfelder bestreikt.

Und der Staat versucht mit allen Mitteln, die
Protestierenden zu unterdrücken. Mit Tränengas und Scharfschützen der Polizei
versuchen sie, die Menschen auf den Straßen zu zerstreuen.

Bis jetzt hat die Regierung zwei verzweifelte
Pakete von sozialen Reformen versprochen. Aber wenn einmal die Massen
entschlossen sind, die korrupte Bande von PolitikerInnen, Geistlichen und Gelehrten
loszuwerden, ist es unwahrscheinlich, dass solche schwachen Abhilfemaßnahmen
die Dinge für lange Zeit zum Schweigen bringen. Die nächste Konfrontation und
weitere Zuspitzung sind vorprogrammiert.

Libanon

Auch hier finden Massenproteste gegen Korruption
einerseits sowie gegen die klientelistische Aufteilung des Landes und den
politischen Einfluss entlang konfessioneller Linien andererseits statt. Auf den
Straßen von Beirut hört man sogar den Slogan „Klasse gegen Klasse“, auch wenn
die Bewegung insgesamt nicht nur von den proletarischen, sondern auch den
kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung getragen wird.

Und auch im Libanon sehen wir, dass wie in der
Arabischen Revolution die Straßen und Plätze besetzt wurden, auch wenn das Land
– anders als Irak, Syrien, Ägypten oder Libyen – keine Diktatur war.

Das Land an der Mittelmeerküste ist jedoch tief
verschuldet. Die Staatsverschuldung erreicht 150 % der
Wirtschaftsleistung. Aber auch im Libanon sind wichtige Dienstleistungen nicht
bis kaum vorhanden. Es gibt keine Züge oder öffentlichen Nahverkehr. Für
Stunden fällt auch die Stromversorgung immer wieder aus. Die Menschen in Beirut
bekommen ihr Wasser per Lastwagen und aufgrund der seit 2015 nicht mehr
funktionierenden Müllentsorgung verschmutzt die Küste am Beiruter Flughafen,
weil hier der Müll am Strand abgelagert wird. Vor allem die sehr hohe Armuts-
und Arbeitslosenrate brachte die Massen zu Hunderttausenden auf die Straße: 37 %
der Jugendlichen sind arbeitslos. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen beträgt
die Arbeitslosenrate 25 %. Außerdem leben rund 28,5 % der Menschen
unterhalb der Armutsgrenze und am stärksten sind die Geflüchteten im Libanon
betroffen. Dabei ist anzumerken, dass im Land bis zu 1,5 Millionen Geflüchtete
leben. 65 % der Geflüchteten aus Syrien fristen ihr Dasein unterhalb der
Armutsgrenze so wie 65 % der palästinensischen Flüchtlinge und 89 %
der palästinensischen Flüchtlinge, die aus Syrien kamen.

Als weitere Steuern auf die Nutzung von WhatsApp
kommen und die ArbeiterInnen und Jugendlichen wieder zur Kasse gebeten werden
sollten, reichte es der Bevölkerung. An vorderster Front stehen oft Jugendliche
und Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, die es satt haben, dass durch die
starke Elitenbildung und Korruption mehr Geld den Reichsten und PolitikerInnenfamilien
zugutekommt, diese dann in riesigen Villen mit Swimmingpool leben, während mehr
als 3,2 Millionen Menschen in vollkommener Armut leben (Bevölkerungsanzahl
insgesamt 5,9 Millionen).

Der Präsident das Landes, Michel Aoun, kündigte
an, den Libanon mit einem 3-Punkte-Plan aus der wirtschaftlichen und sozialen
Krise zu führen. Zuvor hatte schon Hariri, der Premierminister, Reformen
angekündigt. Aber alle diese vorgeschobenen Maßnahmen konnten die Massen bislang
nicht täuschen. Saad Hariri trat schließlich am 29. Oktober nach massenhaften
Protesten zurück.

Er hatte seinen Rücktritt angekündigt, nachdem
die schiitische Hisbollahmiliz und die Amal-Bewegung, eine konservative und
populistische Partei der SchiitInnen im Libanon, ein Protestcamp zerstört und
die DemonstrantInnen auf dem Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut verprügelt
hatten. Die Hisbollah präsentierte sich in der Vergangenheit zwar oft als
„soziale Kraft“ und Vertreterin der Armen, aber sie ist selbst eine wichtige
Stütze des herrschenden Systems. Während ihr Vorsitzender Nasrallah verbal zu
Beginn „Verständnis“ für die Proteste bekundete, so lehnte er doch den
Rücktritt Hariris ab. Die Hisbollah stellt nicht nur eine wichtige Verbündete
des Iran und des Assad-Regimes in Syrien dar, sie ist auch eine der wichtigsten
politischen Kräfte im Land, verfügt über eigene militärische Stärke und
kontrolliert wichtige Transportknotenpunkte wie Flughafen und Häfen. Die
schiitische Miliz rief ihre AnhängerInnen dazu auf, an den Protesten nicht
teilzunehmen, nachdem in den von ihr beherrschten Stadtteilen Beiruts und in
den Hochburgen im Süden des Landes Menschen ebenfalls gegen Korruption und
Misswirtschaft auf die Straße gingen.

Über konfessionelle Grenzen hinaus

Der politische Einfluss im Land war seit seiner
Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht immer unter verschiedenen
konfessionell verankerten Parteien aufgeteilt und umkämpft. Umso
beeindruckender ist es, dass heute die Menschen unabhängig von ihrer religiösen
Zugehörigkeit Seite an Seite für eine revolutionäre Erneuerung kämpfen. Trotz
aller Gewalt, mit der man gegen die Demonstrierenden vorgeht, lassen sich die
Menschen nicht unterdrücken und mundtot machen. Vor allem Generalstreiks legten
und legen weiterhin viele Produktionsstätten des Landes lahm. Man lernt aus den
Fehlern des Arabischen Frühlings und Gewerkschaften sind mit an der vordersten
Front dabei. Und nicht nur die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in
Gewerkschaften verdeutlicht das Potential. Teilweise zeigten die Aktionen auch
antikapitalistischen Charakter. So wurde die Losung „Nieder mit dem Kapital“ von
den Demonstrationen durch die Straßen von Beirut getragen, bis es die Bankiers
und politischen FührerInnen hören konnten.

Seit Wochen sieht man, wie Beirut und Tripoli
brennen und es auf den Hauptstraßen keinen Platz mehr gibt, da sie von Menschen
überfüllt sind. Am 13. November wandte sich Präsident Aoun an die DemonstrantInnen
und erklärte, dass er eine TechnokratInnen-Regierung gründen werde. Wer damit
nicht einverstanden sei, solle in ein anderes Land auswandern. Dies zeigt das
zynische Gesicht dieses Staates und den Unwillen der Herrschenden, einen
Schritt auf die demonstrierenden Massen zuzugehen. Am gleichen Tag starb Alaa
Abou Fakher, ein Mitglied der progressiven Sozialistischen Partei, bei einer
Straßenblockade in Beirut. Er ist der erste Märtyrer der aufkommenden Rebellion
im Libanon.

Eins wird in diesen Protesten deutlich: Die
Menschen sind bereit, mit ihrem Leben dafür zu kämpfen, dass es Veränderungen
gibt, die ihren Interessen entsprechen und nicht derjenigen, die alles besitzen
und die ArbeiterInnenklasse ausbeuten und verelenden lassen.

Im Irak wie im Libanon erheben die Massen
politisch-demokratische und soziale Forderungen – es kommt darauf an, diese zu
verbinden und zu bündeln. Heute bilden demokratische Ziele – Abschaffung des
Klientelismus, der Korruption, Verfassungsreform – den Kern der Forderungen auf
den Straßen. RevolutionärInnen müssen diese z. B. durch die Forderung nach
verfassunggebenden Versammlungen aufgreifen und mit der Errichtung von
Kampforganen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten – Aktionsräten,
Selbstverteidigungsorganen – verbinden. Auf diesem Weg könnte die
Massenbewegung zu einer revolutionären Bewegung werden, wo der Kampf für
demokratische und soziale Rechte mit dem für eine sozialistische Umwälzung
verbunden wird.

Perspektive

Es scheint, als sei der Arabische Frühling nach
einer langen Eiszeit der Konterrevolutionen und Diktaturen wieder erblüht, als
würden Länder wie Ägypten, Irak oder der Libanon von einer neuen Welle der
Revolutionen erfasst. Die Massen zeigen ihre Widerständigkeit auf den Straßen,
sie besetzen wichtige Straßen und Transportknotenpunkte. Die ArbeiterInnen
streiken mehrere Tage und legen die Produktionen des Landes lahm. Vor allem die
Streiks, Massendemonstrationen und Besetzungen der Straßen und Gebäude zeigen
die Macht der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, und dass, wenn sie
einmal den Schleier des Kapitalismus und Nationalismus überwunden haben, auch
die Korruption und Misswirtschaft erkennen.

Es bleibt die Frage, ob sie aus den Fehlern des
im Jahr 2010 aufkommenden Arabischen Frühlings lernen und eine Strategie sowie
eine Führung finden, um eine Revolution angehen zu können, die die Macht in die
Hände der unteren und unterdrückten Klassen legt und eine demokratische
Organisierung der ArbeiterInnenklasse gewährleistet, um es auch den
KonterrevolutionärInnen wie den Generälen und Staatsoberhäuptern und dem
Imperialismus unmöglich zu machen, diese Revolution zu zerschlagen.

Wir rufen zur internationalen Solidarität mit
all jenen auf, die auf den Straßen von Bagdad und Beirut kämpfen. Was wir
brauchen, ist eine unabhängige, massenhafte und militante Organisierung der unterdrückten
und ausgebeuteten Klassen, um die Staatsapparate des Nahen Ostens, deren Grenzen
mit dem Lineal der ehemaligen Kolonialmächte gezogen wurden, zu zerschlagen und
eine Sozialistische Föderation des Nahen Osten auszurufen – von Rojava bis Palästina,
von Libanon bis Irak.




Der lange erwartete irakische Frühling?

Dave Stockton, Infomail 1075, 2. November 2019

Der Irak ist
wieder einmal Schauplatz massiver Proteste. In der Hauptstadt und in den südlichen
Städten wurden Demonstrationen mit tausenden TeilnehmerInnen durch Tränengas
und von Polizeischarfschützen mit scharfer Munition zerstreut. Eine riesige Kundgebung
in Sadr City in Bagdad – einem Bezirk mit 3,5 Millionen EinwohnerInnen – wurde
brutal aufgelöst. UN-BeamtInnene in der Stadt haben „einen sinnlosen Verlust
von Menschenleben“ verurteilt. Nachrichtenagenturen haben berichtet, dass
bisher etwa 200 Menschen getötet und 7.000 verletzt wurden. Die Regierung hat
den Zugang zu Facebook und WhatsApp in einem vergeblichen Versuch, die
Mobilisierungen zu stoppen, eingeschränkt.

Die Probleme,
die den Ausbruch de Wut ausgelöst haben, sind die Massenarbeitslosigkeit und
das Fehlen der grundlegendsten öffentlichen Dienste: dies im siebzehnten Jahr,
seit die amerikanischen und britischen Streitkräfte das Regime von Saddam
Hussein gestürzt haben. So entsetzlich das totalitäre Regime des Diktators auch
war, die „Freiheit“, die die westlichen Verbündeten mit ihren Panzern und „Schock
auslösenden und Furcht gebietenden Bomben“ brachten, bedeutete sozialen
Zusammenbruch, endlosen Krieg und außergerichtliche Morde.

Die Ereignisse
zeigen, dass der Sieg über IS, den „Islamischen Staat“, der vor zwei Jahren von
den Vereinigten Staaten von Amerika lautstark verkündet wurde, wenig oder gar
nichts dazu beigetragen hat, das Leben der BürgerInnen des Landes zu
verbessern.

Korruption und
Ungerechtigkeit

„Es sind 16
Jahre Korruption und Ungerechtigkeit“, gibt die britische Zeitung „Guardian“
die Äußerung von Abbas Najm, einem 43-jährigen arbeitslosen Ingenieur, bei
einer Demonstration wieder. DemonstrantInnen streiten jegliche Verbindungen zu
Parteien oder Milizen ab, die sie als Teil der vielen Probleme des Landes
betrachten. In der Tat, in der südlichen Stadt Nasiriyah verbrannten
Protestierende die Büros von sechs politischen Parteien, die versucht hatten,
die Situation für sich zu nutzen. Berichte deuten darauf hin, dass die
Intervention des schiitischen Klerikers Moktada al-Sadr nicht willkommen ist.
Ein Demonstrant wird zitiert mit den Worten: „Diese Männer vertreten uns nicht.
Wir wollen keine Parteien mehr. Wir wollen nicht, dass jemand in unserem Namen
spricht.“

Der Irak, der fünftgrößte
Ölproduzent der Welt, leidet unter der grassierenden Korruption von Regierung
und Verwaltung, während seine 40 Millionen Menschen unter schrecklichen Bedingungen
leben: 22 Prozent leben nach UN-Zahlen in absoluter Armut und Entbehrung. Laut
Weltbank sind 25 Prozent der jungen Menschen arbeitslos.

Dies, ebenso wie
der Einsatz von scharfer Munition gegen die Menge, hat die Proteste zu einer
Bewegung gemacht, die den Sturz der Regierung von Ministerpräsident Adil Abd
al-Mahdi fordert. Irakische Regierungen seit 2003 sind Koalitionen, in denen
konkurrierende Parteien zusammenarbeiten, um die Ressourcen des Staates zu plündern.
In vielerlei Hinsicht erinnert diese Bewegung an die Anfänge des Arabischen Frühlings,
dem der Irak aufgrund der anhaltenden Kriegsführung weitgehend „entkommen“ ist.

Als Reaktion
darauf hat die Regierung verzweifelt zwei Pakete sozialer Reformen versprochen,
aber sobald die Massen entschlossen sind, die korrupte Bande von
PolitikerInnen, Klerikern und Generälen loszuwerden, werden solche schwachen
Mittel die Lage wahrscheinlich nicht lange beruhigen.

Die Ereignisse
im Irak und die anhaltenden Proteste in ganz Ägypten gegen die brutale Diktatur
des Generals Abd al-Fattah as-Sisi zeigen, dass die Millionen junger Menschen
in der Region, deren Frühling durch den eisigen Frost der Konterrevolution in
all diesen Ländern zunichtegemacht wurde, immer wieder von einem tiefen sozioökonomischen
Druck und der Sehnsucht nach Freiheit zur Revolte angetrieben werden.

Die eigentliche
Frage ist, ob sie die Strategien und die Führung finden können, um eine
Revolution zu machen, die ihnen Macht in die Hände legt, eine
ArbeiterInnendemokratie schafft und eine Konterrevolution durch die Generäle,
KapitalistInnen und den Imperialismus unmöglich macht.




Referendum in Kurdistan – Für das Recht auf Selbstbestimmung

Svenja Spunck, Infomail 967, 19. Oktober 2017

Die irakische Armee hält seit einigen Tagen Kirkuk wieder in ihrer Hand. Natürlich geht es zum einen um handfeste ökonomische Ressourcen, nämlich die Kontrolle über das Erdöl der Region. Die Besetzung der Stadt ist zugleich ein offener Schlag gegen das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes – nicht nur im Irak, sondern im gesamten Nahen und Mittleren Osten.

Bei der Neuordnung der Region unter Aufsicht der imperialistischen – vor allem der USA, Russlands und der EU – wie auch der regionalen Mächte gilt vor allem eines als unantastbar: die nach dem Ersten Weltkrieg von den Großmächten gezogenen Grenzen.

Auch wenn die Peschmerga-Kämpfer Kirkuk recht rasch und ohne großen Widerstand geräumt haben, lässt das Unabhängigkeitsreferendum keinen Zweifel, dass die Mehrheit der Bevölkerung Irakisch-Kurdistans nach staatlicher Unabhängigkeit strebt und nicht mehr gewillt ist, unter der Herrschaft eines wie auch immer gearteten reaktionären Regimes in Bagdad zu leben.

Zugleich offenbaren die aktuellen Auseinandersetzungen auch, dass es der Führung der irakischen KurdInnen weniger um das Selbstbestimmungsrecht der Masse der Bevölkerung – der ArbeiterInnen- und Bauernschaft – geht, sondern vor allem um ihre eigenen Geschäftsinteressen und Herrschaftsansprüche.

Es ist kein Zufall, dass die von den beiden bürgerlich-reaktionären Parteien DPK (Demokratische Partei Kurdistans) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) kontrollierten Einheiten zu keinem gemeinsamen Vorgehen bei der Verteidigung kurdischer Interessen fähig waren, rasch die Stellungen verließen, während lokale kurdische Milizen und KämpferInnen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) ihre Posten in kurdischen Dörfern oder Wohngebieten nicht aufgaben.

Bevor wir uns den aktuellen Hindergründen des aktuellen Referendum zuwenden, ist es jedoch auch notwendig, sich noch einmal die Geschichte der Unterdrückung der KurdInnen vor Augen zu halten.

Imperialismus und Unterdrückung

Die KurdInnen sind nach wie vor die größte Nation ohne eigenen Staat. Nachdem der Vertrag von Lausanne (1923) den Vertrag von Sèvres (1920) nach dem Ersten Weltkrieg ersetzt hatte und die koloniale Aufteilung des Nahen Ostens beschlossen wurde, wurde das einst als Kurdistan geplante Gebiet zwischen der Türkei, Syrien, Irak und Iran aufgeteilt. Heute leben zwischen 20 und 30 Millionen KurdInnen auf der ganzen Welt verstreut.

Der Kampf um ein kurdisches Staatsgebiet ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Aufteilung der Welt im Stadium des Imperialismus funktioniert. So sind es nicht die Menschen einer Region selbst, die darüber entscheiden dürfen, zu welchem Staatsgebiet sie gehören wollen, sondern es sind die imperialistischen Nationen und ihre Handlanger, die ihnen das Recht auf Selbstverwaltung und nationale Selbstbestimmung verwehren, wo es gegen deren Interessen spricht. Das kurdische Volk blickt zurück auf eine lange Geschichte der Unterdrückung, des Krieges und auch des Versagens und des Verrats durch die eigene politische Führung. Die Aufteilung auf die vier Nationen führte nicht nur zu unterschiedlicher ökonomischer Entwicklung der kurdischen Gebiete, sondern brachte auch verschiedene politische Führungen hervor.

Die weitreichendsten Rechte haben sich zur Zeit die KurdInnen in Syrien und im Nordirak erkämpft. Im letzteren Staat verfügen sie über ein eigenes Parlament und militärische Streitkräfte (Autonome Region Kurdistan). Verglichen mit den umliegenden Gebieten haben sie auch eine relative lange Phase der wirtschaftlichen Stabilität durchgemacht, einen gewissen gesellschaftlichen Wohlstand und stabilere politische Verhältnisse errungen. Damit unterscheidet sich die Autonomieregion wesentlich von den kurdischen Gebieten der Osttürkei und Nordsyriens, die wirtschaftlich unterentwickelt sind beziehungsweise unter Kriegswirtschaft agieren. Auch zum Zentralirak, dessen Staatsapparat im Krieg, unter der darauf folgenden US-Besatzung und später bei den Angriffen des Islamischen Staates fast vernichtet wurde, hegt die kurdische Regierung lange Zeit ein pragmatisches Verhältnis und kann es sich erlauben, die Regeln mitzubestimmen.

Politik Barzanis

Wichtigstes Thema sind hierbei natürlich die Kontrolle über und der Verkauf von den Erdölreserven, den drittgrößten der Welt, welche sich auf kurdischem Territorium befinden. Um möglichst hohe Profite damit zu erzielen und möglichst wenig an die Zentralregierung abgeben zu müssen, kooperiert die Barzani-Regierung mit Erdogan in der Türkei. So wurde eine zum türkischen Hafen Ceyhan führende Pipeline gebaut, um das Öl zu verschiffen, ohne es durch den Irak leiten zu müssen. Unter solchen Bauprojekten leidet zugleich auch die kurdische Bevölkerung in der Osttürkei, deren Dörfer, Natur und Kulturerbe dafür zerstört werden.

Am Beispiel der Kooperation zwischen Erdogan und Barzani kann man exemplarisch das gespaltene Verhältnis innerhalb der kurdischen Nation erkennen. Nicht nur die umfassenden Möglichkeiten türkischer Unternehmen im Nordirak bieten Vorteile für den türkischen Staat, der gleichzeitig die eigene kurdische Bevölkerung unterdrückt, sondern auch die Möglichkeit für die türkische Armee, unbehelligt Stellungen der PKK im Nordirak bombardieren zu können, ohne dafür von Barzani belangt zu werden. Anders sieht es jedoch bei den Provinzen Mossul und Kirkuk aus. Diese werden historisch von türkischen Nationalisten, wie sie heute am stärksten von der MHP vertreten werden, als türkisches Staatsgebiet („82. und 83. Provinz“) beansprucht.

So beteiligte sich die türkische Armee an dem Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“ in Mossul nicht in erster Linie, um gegen die Islamisten zu vorzugehen, sondern meldete damit auch einen Anspruch auf Kontrolle über dieses Gebiet an. Der Kampf um Mossul ist bis heute nicht entschieden, obwohl die Mehrheit der dortigen BewohnerInnen zum kurdischen Gebiet gehören möchte. Vor allem um Kirkuk ist die Konkurrenz besonders groß, da dies mit Abstand die erdölreichste Provinz ist. Für die Bevölkerung dort, mehrheitlich AraberInnen und TurkmenInnen, bedeutet dies den Zwang, sich der jeweils vorherrschenden Macht unterzuordnen. Bis 2014 war dies der Zentralirak, danach der IS, dann waren es die KurdInnen, jetzt kommt wieder die irakische Armee. Der Großteil identifiziert sich jedoch weder mit den einen noch den anderen. Dennoch steht ein Selbstbestimmungsrecht für sie nirgends zur Debatte.

Warum das Referendum vom September?

Obwohl der kurdischen Bevölkerung im Nordirak bereits 1970 eine Teilautonomie zugesichert wurde, dauerte es noch bis 1992, bis das erste Regionalparlament gegründet wurde. Ende der 80er Jahre litt die kurdische Bevölkerung unter dem Iran-Irak-Krieg und den Angriffen des Regimes von Saddam Hussein. Das bekannteste Beispiel ist der Giftgasangriff auf die Kleinstadt Halabdscha im Jahr 1988, bei dem rund 5000 Menschen ermordet wurden. Massaker wie dieses trugen dazu bei, dass sich die politische Führung unter dem Barzani-Clan während des Irakkrieges auf Seiten der USA stellte und dies bis heute verteidigt.

Das erste nicht-bindende Referendum über die Unabhängigkeit vom Irak fand am 30. Januar 2005 statt. 99,9 % stimmten für die Lostrennung. Interessant hierbei ist, dass auch die weiterhin dem Irak zugerechnete Provinz Kirkuk offiziell mit fast 100 % dafür und lediglich 181 Personen dagegen stimmten. Im August 2017, als über die Teilnahme am Referendum abgestimmt wurde, boykottierten dort ansässige AraberInnen und TurkmenInnen allerdings die Wahl.

Mit dem Ausbruch der weltweiten Krise 2008, den Revolutionen im arabischen Raum, der dauerhaften Destabilisierung des irakischen Zentralstaates und dem Aufkommen des Islamischen Staates verschlechterte sich auch die Lage der KurdInnen im Irak. Vor allem der Ölpreisverfall wirkte sich massiv auf die Region aus, da 95 % der Einnahmen der Regierung aus dem Ölgeschäft stammen. Ausländische Investoren zogen sich zurück und Infrastrukturprojekte wurden vor ihrer Fertigstellung gestoppt. Auch die Zivilbevölkerung äußerte ihren Unmut in Protesten, die sich gegen die schlechte wirtschaftliche Lage und massive Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor, bei Beamten und AkademikerInnen richteten. Doch diese Proteste wurden verboten, politische Oppositionelle bedroht und in die Passivität gezwungen. Einige sozialistische AktivistInnen sahen sich sogar gezwungen, das Land zu verlassen. Im Rahmen dieser Ereignisse muss das Referendum vom 25. September gesehen werden. Es ist nicht nur ein Ausdruck des Unabhängigkeitswunsches vom Irak, sondern auch ein nationalistisches Projekt der DPK und des Barzani-Clans, um ihren eigenen Führungsanspruch zu verfestigen.

Seit 2011 gab es Proteste gegen die Korruption der beiden herrschenden Parteien DPK und PUK sowie für mehr Pressefreiheit und den Ausbau der öffentlichen Versorgung.

Seitdem der IS das erdölreiche Kirkuk eroberte und auch die kurdische Hauptstadt Erbil bedrohte, wuchs außerdem verständlicherweise das Bedürfnis nach mehr Sicherheit. Statt jedoch konsequent mit den erfolgreichen KämpferInnen der YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten) und PKK gemeinsam die Stellungen des IS anzugreifen, ließen sich die Peschmerga zwar von der Bundeswehr und anderen NATO-Armeen finanzieren und trainieren, beteiligten sich jedoch kaum am Kampf gegen den IS.

Die Bedrohung durch den IS verwandte der Präsident Masud Barzani vielmehr als Vorwand, um seine eigentlich beendete Amtszeit immer wieder zu verlängern. Dagegen sprachen sich seine Gegner von der PUK und der Gorran-Partei (Bewegung für Wandel) aus. Gorran führte die Proteste gegen das korrupte Bündnis aus DPK und PUK an, ging jedoch auch immer wieder Bündnisse mit der PUK gegen die DPK und den herrschenden Barzani-Clan ein. Seit sie die undemokratische Amtsverlängerung von Barzani kritisierten, wurden die Minister, die zu Gorran gehören, aus Erbil ausgewiesen und der parteieigene Fernsehsender geschlossen. Gorran sowie eine kleinere islamistische Partei Komal (Islamische Gemeinschaft in Kurdistan) erklärten das Referendum für verfassungswidrig und forderten eine Verschiebung.

Trotz aller bisherigen Konflikte zwischen den zwei größten Parteien DPK und PUK erreichte Barzani ohne Zweifel das Ziel, eine Einheit zu schaffen, die durch das Referendum zusammengehalten wird. Die PUK hatte bisher im Unterschied zur DPK immer stärker für eine Lostrennung statt nur für ein autonomes Gebiet plädiert. Dass Barzani nun diesen Schritt gegangen ist, drückt aus, dass er zum einen vor dem tatsächlichen Ende seiner Amtszeit noch einmal die nationalistische Populismustrommel rührt und sich in die Geschichte der KurdInnen als Held einschreiben lassen will. Zum anderen blieb der PUK wohl nichts anderes übrig, als sich voll und ganz auf die Seite der DPK und des Referendums zu stellen, da es sich hierbei um ihre eigene politische Linie handelt.

Das illustriert wieder einmal, dass der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht für die Führungen einer unterdrückten Nation vor allem ein Mittel zum Kampf für die Interessen der Klasse oder Fraktion einer Klasse darstellt, die repräsentieren.

Bedrohung durch kurdische Selbstbestimmung

Warum stellt nun die potentielle Lostrennung des kurdischen Autonomiegebietes eine scheinbar große Bedrohung für die umliegenden Staaten Türkei, Iran und Irak, aber auch für die USA dar? Die Integrität des Irak spielt aus zwei Gründen eine wichtige Rolle. Zum einen geht es um den formalen Status eines Staates im Nahen Osten, der durch Grenzziehung auf den Reißbrettern der britischen und französischen Imperialisten entstanden ist, um ihre Macht in der Region zu definieren. Würde nun jemand dieses System antasten und neue oder gar keine Grenzen (!) fordern, würde eine Machtfrage gestellt werden, die das Selbstbestimmungsrecht der dort lebenden Nationen auf den Tisch bringt. Der heute dort vorherrschende US-Imperialismus sieht es nicht gerne, wenn seine Entscheidungsgewalt in Frage gestellt wird. Warum stellt sich dessen Vasall Israel dann nicht auch gegen die KurdInnen, sondern ist einer der weniger Unterstützer der Unabhängigkeit, könnte man sich fragen. Der zionistische Staat handelt aus Eigeninteresse an der Schwächung des Irak und des Iran, zu der die Unabhängigkeit in der Tat führen würde. Zum anderen ist die Lostrennung aber auch eine Bedrohung, da sie ein Erstarken der kurdischen (Unabhängigkeits-)Bewegung in der gesamten Region in Gang bringen könnte, was zu einem kurdischen Staat in Syrien, einer Spaltung der Türkei und einem Angriff auf die Regierung im Iran führen könnte.

Die überwiegende Mehrheit der pro-kurdischen Parteien in der Türkei unterstützt das Referendum und betont, dass das Recht auf Selbstbestimmung „mit allen Mitteln verteidigt“ würde (Osman Baydemir, HDP, Demokratische Partei der Völker). Lediglich die DBP (Demokratische Partei der Regionen, Nachfolgerin der BDP, Partei des Friedens und der Demokratie) erhob Einspruch gegen die Gründung eines kurdischen Nationalstaates, da dies ihrer Parteipolitik widerspreche. In der Tat hat es die DBP auch in der Türkei bereits aufgegeben, das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen in Form eines Staates zu verteidigen, wenn diese das fordern würden. Auch die Schwesterpartei der PKK in Syrien, die PYD (Partei der Demokratischen Union), unterstützte formal das Recht auf ein Referendum in Kurdistan, obwohl sie selbst nach wie vor im Konflikt mit der DPK steht. Immer wieder hört man von der Blockade der Grenze zwischen Kurdisch-Irak und Kurdisch-Syrien, wodurch KämpferInnen, Waffen und Medizin nicht geliefert werden können, was den Kampf der YPG/YPJ erschwert. Die Einigkeit im Referendum wird jedoch keine dauerhafte Lösung für den Konflikt zwischen DPK und PYD sein können.

Der Ausgang des Referendums mit rund 93 Prozent Ja-Stimmen und einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent ist eindeutig. Trotz des Boykotts der TurkmenInnen und AraberInnen in Kirkuk hat sich die große Mehrheit für ein eigenständiges Kurdistan und die Lostrennung vom Irak entschieden. Für Barzani und seine DPK stellte das zweifellos einen Sieg dar.

Der Vormarsch der irakischen Armee und die Einnahme Kirkuks zeigen jedoch auch, dass seine Strategie auch eine Form des politischen Abenteuertums verkörpert, wo der Wunsch nach Selbstbestimmung für schlecht vorbereitete Manöver herhalten muss. Selbst ob Barzani wirklich die Unabhängigkeit anstrebt, ist zweifelhaft. Das Referendum ist für ihn zweifellos ein Mittel, nicht nur in der kurdischen Region, sondern auch im Verhältnis zu den Nachbarstaaten mehr Mitspracherecht bei der Neuordnung des Irak und des Nahen Ostens rauszuschlagen. Eine nicht minder abenteuerliche und verräterische Politik betreibt die Führung der PUK, die einerseits Peschmerga-KämpferInnen nach Kirkuk schickte (und als erste wieder abzog), zum anderen aber auch den irakischen Präsidenten stellt, der sich bis heute nicht vom Vorgehen „seiner“ Armeen und schiitischer Milizen in Kirkuk distanziert hat.

Reaktionen

Die Reaktionen auf das Referendum zeigen, wie es nun in der Region weitergehen könnte, auch für andere kurdische Gebiete. Ohne erbitterten Kampf wird es zu keinem eigenen Staat der KurdInnen kommen, wird das Selbstbestimmungsrecht seine Schranke an den Interessen der imperialistischen und Regionalmächte finden.

Die irakische Armee und mit ihr verbündete schiitische, vom Iran gestützte Milizen haben in kurzer Zeit Kirkuk unter ihre Kontrolle gebracht und damit gezeigt, dass sie Barzanis Kontrolle über die Region und erst recht über die Öleinnahmen zurechtstutzen wollen.

Mit dem Vormarsch der Armee und der Milizen sind zehntausende KurdInnen aus der Stadt und Region geflohen. Die vollmundigen Versprechungen der DPK (und der PUK), Kirkuk und die Bevölkerung mit allen Mitteln zu verteidigen, haben sich als zynische Versprechen selbstgefälliger Reaktionäre entpuppt. Wie schon im Kampf der EzidInnen (JesidInnen) in Shingal (Sindschar) lassen sie die bedrohte Bevölkerung feige im Stich.

Die Repression von Seiten des Zentraliraks nimmt auch auf anderem Gebiet zu. Ein irakisches Gericht erließ am 11. Oktober einen Haftbefehl gegen Mitglieder der Wahlkommission, da diese verfassungswidrig gehandelt hätten. Weder irakische Sicherheitskräfte noch das Militär, haben jedoch (schon) die Erlaubnis, im kurdischen Gebiet zu agieren.

Außerdem versucht die Regierung in Bagdad, den Handel mit Erdöl über die KurdInnen zu unterbinden, und forderte die Türkei und den Iran auf, ihre Grenzen zu schließen. Das Ergodan-Regime hat auch prompt darauf regiert. Auf einer Kabinettssitzung am 16. Oktober wurde ein Flugverbot in den Nordirak beschlossen. Die Kontrolle des Grenzübergangs Ibrahim Khalil zur Türkei soll von der Autonomen Region Kurdistan auf die irakische Zentralregierung übergehen. Außerdem hat die Türkei dem Irak militärische Unterstützung in der Region Kirkuk zur Bekämpfung der PKK angeboten.

Hinzu kommt, dass auch der kurz vor dem militärischen Ende stehende „Islamische Staat“ die Situation auszunutzen versucht und einige Dörfer in der Nähe von Kirkuk zumindest zeitweilig wieder unter seine Gewalt gebracht hat.

Die DPK verkündete in dieser Situation, am 1. November Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchführen zu wollen. Bisher ist jedoch noch unklar, ob diese in der Tat stattfinden werden und ob Barzani, wie er selbst sagte, wirklich nicht mehr zu den Wahlen antreten würde. Wenn der Angriff des IS bisher als Vorwand galt, um das Parlament aufzulösen und sogar die bürgerliche Demokratie einzuschränken, könnten ebenso die Drohungen des Irak als Grund dienen, um die Wahlen in letzter Minute zu vertagen.

USA und der Westen

Für die USA und ihre Verbündeten ist die „Einheit des Irak“ letztlich nicht verhandelbar. Doch der „Konflikt“ kommt ihnen äußerst ungelegen, sind doch beide, die kurdische Regionalregierung und die irakische Regierung, Peschmerga und irakische Armee „Verbündete im Kampf gegen den IS“. Nachdem dieser praktisch vor der Vernichtung steht, entbrennt der Kampf unter den „Verbündeten“ umso heftiger. Hinzu kommt, dass der Einfluss der Iran im irakischen Staat enorm zugenommen hat.

So versucht sich US-Präsident Trump – ansonsten um markige Sprüche nicht verlegen – mit Formelkompromissen: „Wir haben seit langem ein gutes Verhältnis zu den Kurden und wir stehen auch an der Seite des Irak. Auch wenn wir uns da niemals hätten einmischen dürfen. Und wir ergreifen nicht Partei.“

Partei ergreifen die USA jedoch – allein schon, indem sie die Staatsgrenzen des Irak für sakrosankt erklären, das Referendum „selbstverständlich“ nicht anerkennen und das Vorrücken der irakischen Armee als „Missverständnis“ herunterspielen.

Ebenso kritisiert die EU die Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Waffen, die z. B. Deutschland an die Peschmerga geliefert hat, dürften nur im Kampf gegen den IS, sicher nicht zur Selbstverteidigung gegen eine von den USA wieder hochgerüstete und weit besser bewaffnete irakische Armee verwendet werden.

Daher hoffen die westlichen Imperialisten (und auch Russland), dass die kurdische Führung einer „Verhandlungslösung“ zustimmt – notfalls, indem sie auch mit wirtschaftlichem Druck dazu genötigt wird.

Wie weiter?

Die aktuelle Lage im Nordirak und der Kampf um Kirkuk zeigen, dass das kurdische Selbstbestimmungsrecht eine der Schlüsselfragen der gesamten Region darstellt. Sie zeigen aber auch, dass die Politik der DPK und PUK nur im Desaster enden kann.

Die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung – einschließlich des Rechts auf Gründung eines eigenen kurdischen Staates – muss dabei ein Ausgangspunkt für alle InternationalistInnen, für alle RevolutionärInnen sein. Alles andere kann nur bedeuten, dass imperialistische oder nationalistische Unterdrücker bestimmen, wie weit das politische Recht der KurdInnen geht oder nicht. Umstrittene Regionen wie z. B. die Provinz Kirkuk sollten in diesem Rahmen selbst entscheiden können, ob sie sich einem kurdischen Staat anschließen wollen oder nicht. Das kann weder durch „historische“ Ansprüche eine kurdischen Führung bestimmt werden noch durch die Panzer der irakischen Regierung und ihre schiitischen Milizen. Sie müssen sich aus Kirkuk zurückziehen. Die Sicherheit in der Stadt muss von multi-nationalen Milizen unter Kontrolle der Bevölkerung organisiert werden, um so Übergriffe von allen Seiten oder eine Rückkehr des sog. „Islamischen Staates“ zu verhindern.

Um einer möglichen Zerstückelung der Region entgegenzutreten, sollte die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes mit dem Kampf für eine Föderation der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens verbunden werden.

Das Selbstbestimmungsrecht bildet jedoch nur einen Rahmen für den Kampf gegen die Unterdrückung einer Nation. Es löst keinesfalls die Frage, welche Klasse, welches gesellschaftliche Regime in einem Staat oder einer Föderation herrschen sollen.

Die bürgerlichen, reaktionären, in der Regel mit dem US-Imperialismus verbundenen Parteien wie PUK und DPK betrachten das Selbstbestimmungsrecht letztlich nur als Faustpfand für ihre Profitinteressen, ein Referendum als Plebiszit, um dann mit dem „Mandat“ des Volkes tun zu können, was sie wollen.

Wer die Abstimmung über die Unabhängigkeit ernst nimmt, der sollte ebenfalls erkennen, dass dabei keineswegs über die Staatsform abgestimmt wurde. Unser Ziel ist es nicht, ein autokratisches, aber unabhängiges Kurdistan zu schaffen, dessen Regierung korrupt und unkontrollierbar ist, sondern den Grundstein zu legen für den Klassenkampf um die politische Macht im Staat.

Daher treten wir für die Einberufung und Wahl einer Konstituierenden Versammlung in der autonomen Region ein. Um zu verhindern, dass die Opposition und vor allem die ArbeiterInnenklasse und die Bauern im Zuge einer solchen Kampagne eingeschüchtert oder unterdrückt werden, darf die Kontrolle über die Einberufung einer solchen Versammlung nicht der Autonomieregierung, nicht DPK und PUK überlassen werden. Vielmehr sollte diese in die Hände von Komitees der ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen gelegt werden.

Die kurdischen Massen haben dabei aber noch ein weiteres Problem. Keine einzige kurdische Partei ist eine Partei, die sich auf die Lohnabhängigen stützt, keine ist eine echte ArbeiterInnenpartei. Es ist an der Zeit, die Proteste gegen DPK und PUK von einer echten sozialistischen ArbeiterInnenpartei aus zu organisieren und diese anzuführen. Nur so kann ein gemeinsamer Kampf gegen die Unterdrückung der kurdischen Nation in allen Staaten geführt und der Grundstein im Kampf für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen Osten gelegt werden.