Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Stadtverwaltung Stuttgart: Der Streik ist legal!

Interview mit einer Beschäftigten der Stadtverwaltung, Infomail 1238, 11. Dezember 2023

Die Beschäftigten der Stuttgarter Stadtverwaltung kämpfen seit Wochen für Einkommensverbesserungen. Am 4. Dezember streikten sie für Einkommensverbesserungen im Rahmen der Altersteilzeit und eine Ballungsraumzulage. Das folgende Interview führten wir mit einer Streikenden.

Arbeiter:innenmacht (AM): Hallo, warum habt Ihr am 4. Dezember gestreikt? Der Tarifvertrag TVöD läuft doch noch?

Antwort: Das stimmt. Aber bei der letzten Tarifrunde zum TVöD wurde nicht über das Thema Altersteilzeit entschieden, da ein Abschluss dazu damit verbunden gewesen wäre, eine spätere Tabellenerhöhung zu bekommen. Dies wurde von der Tarifkommission damals abgelehnt.

Dadurch ist man rechtlich beim Thema Altersteilzeit außerhalb der Friedenspflicht und darf dafür streiken. Neben den Beschäftigten in Stuttgart machen auch die in Köln davon Gebrauch. Die Stadt Stuttgart ist gegen den ersten Streikaufruf rechtlich vorgegangen und hat vor Gericht verloren, was schon mal ein wichtiger Erfolg für uns Beschäftigte war.

AM: Es geht also um eine Regelung zur Altersteilzeit?

Antwort: Ja, und um eine Stuttgartzulage: Bei uns in der Betriebsgruppe (BG) ist das Thema Ballungsraumzulage schon länger präsent und es war klar, dass wir es nach der Tarifrunde angehen wollten. Die Stadt München hat ja schon jahrelang eine tarifierte Zulage. In der BG war uns deshalb immer klar, die Zulage wollen wir nur tarifiert. Die Höhe haben wir in der BG diskutiert und haben uns an der Zulage, welche sich die Bürgermeister:innen im März selbst gegeben haben, orientiert: 472,52 Euro im Monat für alle Beschäftigten mehr.

Nachdem wir ja für die Zulage nicht streiken dürfen, haben wir das Streikrecht für die Altersteilzeit genutzt, um das Thema Zulage zu platzieren. Seit Juli haben wir für eine Stuttgartzulage über 7.300 Unterschriften von 11.000 Beschäftigten gesammelt.

AM: Und dann habt ihr losgelegt?

Antwort: Im November war dann der erste Streiktag. Hier wurde der Tag der ersten Lesungen für die Haushaltsberatungen gewählt, da dort der Gemeinderat über das Thema diskutieren und beschließen sollte. Doch der Tagesordnungspunkt wurde verschoben auf den 4. Dezember, also haben wir gestern diesbezüglich nochmal gestreikt. Kurzerhand haben Sie das Thema auf den nächsten Tag, also heute, 5. Dezember, verschoben, was uns alle sehr aufgeregt hat, und wir fanden es auch sehr feige, weil man offensichtlich den Streikenden aus den Weg gehen wollte. Der Streik hat direkt vorm Rathaus und Sitzungssaal stattgefunden.

Doch ver.di hat dann direkt beschlossen, dass wir spontan am Dienstag auch streiken. Das haben wir heute auch getan und der Gemeinderat hat beschlossen, dass es eine Zulage in Höhe von 150 Euro ab 01.07.24 geben solle, aber nicht tarifiert, sondern im Rahmen der Haushaltsbeschlüsse. Das ist eine Klatsche ins Gesicht, da der OB schon vor einigen Monaten angekündigt hat, dass er sich höchstens eine untarifierte Zulage in Höhe von 150 Euro vorstellen kann. Das heißt, unser Streik hat hier an seinem Vorschlag nichts geändert. Ein Gewinn ist nur, dass im nächsten Jahr nochmal über die Tarifierung entschieden werden soll. Anscheinend kann über die Tarifierung nur alle 6 Monate entschieden werden, daher momentan nicht. Was jetzt bzgl. Altersteilzeit beschlossen wurde, weiß ich gar nicht. Ich glaube, über das Thema wurde heute gar nicht gesprochen.

AM: Wie geht es weiter?

Antwort: Die meisten Beschäftigten sind wütend auf den OB. Aufgrund des Ergebnisses treffen wir uns nächsten Montag, den 11.12., wieder in der Betriebsgruppe und diskutieren, wie es weitergeht und ob wir nochmal streiken und wann. Vielleicht im nächsten Jahr erst.

Frage: Kannst du noch was zum Ablauf des Streik sagen?

Antwort: Am Streiktag vom 4.12. gab es eine große Streikversammlung mit offenem Mikro. Das war super, das gab es so während der Tarifrunde TVöD nicht in dieser Form. Die Stimmung war auch sehr gut. Die Beschäftigten im Erziehungs-/Pflegebereich sind einfach komplett am Ende und verzweifelt wegen Überlastung. Die Beschäftigten der Gärtnerei sind komplett unterbezahlt und versuchen, sich mit Nebenjobs über Wasser zu halten. Sie fanden die 470 Euro Zulage im Monat zu wenig – verständlich!

Sonst kamen kaum politische Statements, obwohl bei dieser Versammlung auch politische Gruppen anwesend waren mit ein paar Plakaten oder Flyern.

AM: Was denkst du, wie der Konflikt erfolgreich gewonnen werden kann?

Antwort: Ich finde es schwierig, dieses Thema zuzuspitzen und weiterführende Forderungen zu finden. Es braucht mehr Geld, völlig klar, und ich denke, man könnte in dem Rahmen auch einfach mal Vorschläge machen, woher das Geld kommen soll. Cuno Burne-Hägele, Geschäftsführer von ver.di (Bezirk Stuttgar), ist z. B. auf Stuttgart 21 eingegangen, was ich auch ein gutes Beispiel finde, um zu zeigen, dass Geld da ist.

Wir müssen das auch in der Betriebsgruppe nächsten Montag diskutieren. Die Forderung einer Ballungsraumzulage spielt ja auch bei der Tarifrunde der Länder eine Rolle. Das Teuere in der Stadt sind ja v. a. die Mieten, die dazu führen, dass eine Zulage notwendig wird. Die Forderung, dass der/die Arbeit„geber“:in für die teueren Mieten aufkommen soll, finde ich nicht schlecht, aber eine solche Zulage schließt Personen in anderen Städten aus oder die Leute, die in Stuttgart leben, aber woanders arbeiten. Es braucht ja eigentlich auch eine Zulage wegen Inflation, aber das sollte eigentlich die Tarifrunde ausgleichen,was sie ja nicht getan hat.

Jetzt stellt sich mir die Frage, ob man mit der Forderung einer Zulage einfach dem schlechten Tarifergebnis aus dem Weg geht und versucht, anders an Lohnerhöhungen zu kommen, weil ver.di es in der Tarifrunde verkackt hat, die Reallöhne zu sichern.

AM: Danke Dir, Du hast da wichtige Fragen angeschnitten, die ja auch anderswo gestellt werden. Es braucht wohl noch einige Debatten dazu in ver.di und darüber hinaus. Für Euren Kampf viel Erfolg!




„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löh-ne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen et-was von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Alten-pflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zu-sammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pfle-gefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nie-der?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ einge-setzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entwe-der hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaf-fen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Frei-zeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme spezi-ell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutsch-land. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und da-nach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Men-schen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Bei-spiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Non-Binary in der Schule: Wie ist das so?

Interview mit Flo, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11

Flo ist 15, geht zur Schule – und bevorzugt für sich keine Pronomen. Flo ist nämlich nicht-binär. Wie haben die Schulkolleg*innen reagiert? Gab es Probleme mit Lehrer*innen? Wir haben Flo um Einblicke gebeten. Das Interview führte Aventina Holzer

Wann hattest du erstmals das Gefühl, dass „männlich“ oder „weiblich“ dich nicht wirklich beschreiben?

Man stellt es sich oft bisschen so wie in den Filmen vor, oder? Man steht vorm Spiegel und realisiert, dass man eigentlich lieber einen Penis möchte, oder sich nicht wohl mit Brüsten fühlt. Also so war es bei mir eher nicht. Es waren stattdessen viele unterschiedliche Dinge. Angefangen damit, dass ich mich schon im Kindergarten mit der Unterteilung in männlich und weiblich nicht wohlgefühlt habe. Und dass mich später Leute gefragt haben, ob ich männlich oder weiblich bin. Das hat mich damals schon geärgert. Aber auch Momente wo ich selbst gesehen habe, dass ich ausschaue wie ein Bursche und mich damit plötzlich wohlgefühlt habe.

Wusstest du gleich, dass du non-binary bist?

Nein. Ich habe mir viele Dokus angeschaut, speziell zum Thema inter Personen. Dort wurde das Thema „nicht (nur) Mann und Frau sein“ aufgegriffen. Das habe ich dann auch mit meiner Mutter diskutiert, die das nicht ganz verstanden hat. Ihre Antwort auf meine Frage, ob es noch was anderes als weiblich und männlich gäbe, war „nein!“. Das hat mich damals auch ziemlich enttäuscht und den Gedanken zu meiner eigenen Nicht-Binärität nach hinten geschoben. Später habe ich dann über TikTok und Instagram viele Leute gefunden, mit deren Content ich mich identifiziert habe – und so auch mehr über meine Geschlechtsidentität herausfinden konnte. Wie hat dein Umfeld darauf reagiert? Damit hatte ich viel Glück, weil ich zu dem Zeitpunkt schon politisch aktiv war – damals bei Fridays for Future. Davor habe ich kaum queere Menschen gekannt und dann waren plötzlich alle dort gay. Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass ich nicht-binär bin und konnte das in diesem Rahmen auch zum ersten Mal äußern. Da habe ich mich dann auch zum ersten Mal getraut, meine Pronomen zu sie/er zu ändern (Anm: mittlerweile verwendet Flo keine Pronomen). Meine Eltern waren ein bisschen schwieriger, weil sie das alles nicht kannten.

Wie lief dein Outing in der Familie?

Ich war ur nervös als ich ihnen gesagt habe, dass ich keine Pronomen mehr verwende und nur bei meinem richtigen Namen genannt werden möchte. Die nächsten eineinhalb Jahre hatten wir viele Gespräche darüber und ich wurde tausendmal ge-deadnament und misgendert. Das hat auch immer wieder intentional gewirkt. Meine Oma und Tante waren dann relativ cool. Sie haben auch begonnen, keine Pronomen für mich zu verwenden und neue Begriffe für Nichte/Neffe, Enkel/Enkelin zu erfinden. In der Schule wurde mein Coming-out hingegen zum Großteil ignoriert. Vor allem weil die Leute es nicht so richtig verstanden haben, einige haben es aber auch ganz gut akzeptiert.

Wie geht es dir dir mit dem Umgang mit deiner Geschlechtsidentität in der Schule?

Naja, da ist das Namens-Ding. Wenn Lehrer*innen die „richtigen“ Namen verwenden. Mein Name ist auf keiner Liste geändert – und darum weigern sich einzelne Lehrpersonen, meinen Namen zu lernen. Eine meinte sogar, dass wir uns jetzt ja nicht erwarten sollen, dass sie unsere neuen Namen oder diese „komischen Pronomen“ lernt. Und beim Elterngespräch wurde von manchen Lehrer*innen das Thema die ganze Zeit auf Transidentität gelenkt, statt darüber zu reden, weswegen das Gespräch eigentlich stattfindet – meiner Noten. Leute gehen davon aus, dass trans Personen einfach ein allgemeines Thema sind, über das alle jetzt plötzlich reden können und mitentscheiden, was ihre körperliche Selbstbestimmung angeht. Jede*r hat eine Meinung dazu und jede trans Person muss auch immer sofort darüber diskutieren.

Wie fühlst du dich, wenn du so darüber ausgefragt wirst?

Schüler*innen sind oft verwirrt – was auch voll ok ist. Jede*r sollte nachfragen, wenn man sich bei etwas nicht sicher ist. Aber viele Leute stellen auch sehr persönliche Fragen über Transitions, die einer cis Person nie gestellt werden würden. Meine Schule selbst ist aber zum Glück eigentlich eh sehr queer geprägt. Transmaskuline Menschen können etwa bei den Burschen mitturnen zum Beispiel. Es wäre sicher an vielen anderen Schulen viel schlimmer. Trotzdem fühlt man sich als trans Person oft als Vorführexemplar.

Was hättest du dir in der Schule als Unterstützung gewünscht?

Eine Vertrauensperson, die beim Thema ausgebildet ist, wäre sehr wichtig. Die Person sollte sich auskennen, weil man sich sonst immer erklären muss und die Hürde dann sehr hoch ist, sich an diese Person zu wenden. Am Anfang wäre es auch wichtig von der Lehrer*innen-Seite aus auch zu fragen, wie die Eltern dazu stehen und das mitein-zubeziehen. So kann vermieden werden, trans Personen in unangenehme Situationen zu bringen oder auch ein Coming Out zu erzwingen.

Würde eine Thematisierung im Unterricht helfen?

Gibt es sowas aktuell? Thematisierung von trans-Identität im Unterricht ist momentan meistens freiwillig. Es heißt „wir können darüber reden, wenn es Leute interessiert“ und wenn es dazu kommt, ist es nicht besonders informiert. Es ist doch nicht nur eine Interessensfrage, es gibt so viel Falschinformation in den Medien – da braucht es eine Fixierung im Lehrplan! Schulungen zu dem Thema wären auch eine gute Sache, sonst werden queere Schüler*innen die ganze Zeit als Lexikon verwendet.

Hast du Tipps an Lehrer*innen und Mitschüler*innen, wie man am besten mit einem Coming Out umgeht?

Die eigenen Pronomen sagen hilft auf jeden Fall mal, es ist zum Beispiel cool, wenn Lehrer*innen das im Rahmen von Vorstellungsrunden aufbringen. Es ist nämlich nervig, immer selbst auf Lehrer*innen zukommen zu müssen. Fragen zu der Person und Geschlechtsidentität zu stellen, ist voll ok. Aber man sollte sich vielleicht zuerst fragen: „Kann man es googeln?“, oder: „Sind manche Fragen doch zu intim? Würdest du die einer cis Person wirklich genauso stellen?“. Zum Beispiel Fragen zu Genitalien und zum Sexualleben. Aber Fragen stellen ist natürlich schon auch sehr wichtig, speziell, wenn man Probleme beim Verstehen von Pronomen hat. Man vertut sich am Anfang, das ist nicht so tragisch, man sollte sich einfach selbst korrigieren, weitermachen und nicht voll das Drama draus machen. Das bringt sonst trans Menschen nur in eine unangenehme Situation und lenkt vom eigentlichen Thema ab. Wichtig ist eben auch, dass Information nur weitergegeben werden, wenn explizit darum gebeten wird – zum Beispiel im Rahmen von Coming-outs. Oft heißt es, nicht-binär zu sein, sei ein Jugend-Trend.

Können cis-Personen helfen, dagegen aufzuklären?

Auf jeden Fall! Wenn diese Diskussion aufkommt und man als cis Person das Gefühl hat, dass die trans Person sich eh gut auskennt, macht es trotzdem Sinn sich in die Diskussion einzuschalten. Sonst bleibt es immer an trans Personen hängen diese Diskussionen zu führen und man fühlt sich sehr alleine.

Was sind gute Argumente dagegen?

Zum Beispield, dass das Wort „nicht-binär“ zwar relativ neu ist, aber das Konzept nicht. Die Geschichte ist voll mit trans Personen und auch in den Medien gibt es einige Leute, die sich nicht wohlfühlen mit der Geschlechtsbinärität, wie sie momentan aufrechterhalten wird. Als ältere Person kann man sich sicher auch zurückerinnern an Leute, die nicht reingepasst haben in die Binärität von männlich und weiblich, die sich damit nie speziell assoziiert haben oder die vielleicht auch schon früh wussten, dass ihr biologisch zugeschriebenes Geschlecht nicht dazu passt, wie sie sich fühlen. Jetzt gibt es eben Wörter dafür.

Wie stark werden non-binary-Menschen generell heutzutage diskriminiert?

Bis heute gibt es keine gesetzliche Gleichstellung. Stigmatisierung ist immer noch ein Thema, war aber früher auch noch viel stärker. Im Kontext von der Aids-Krise sind unglaublich viele queere Menschen gestorben und da die Gesellschaft früher noch viel homophober und transphober war, waren viel weniger queere Leute bereit, sich zu outen oder überhaupt lang genug am Leben. Das hat sich mit der Zeit verändert bzw. verändert sich immer noch. Bevor man solche Aussagen trifft, wie, dass es sich um einen „Trend“ handelt, sollte man erstmal nachdenken, warum gerade jetzt Menschen sich wohl genug fühlen ihre Identität öffentlich zu diskutieren. Und natürlich gibt es durch das Internet auch mehr Zugang zu Informationen und Möglichkeiten sich anonym Ratschläge und Unterstützung zu holen. Das ist einfach eine neue Art zu kommunizieren und sie bringt auch viele neue Möglichkeiten, mit der Welt in Interaktion zu treten. Und eigentlich ist es schön, dass jetzt viel mehr Menschen zu ihrer Identität finden und zu ihr stehen können.

Über Flo

Flo ist Akivist*in beim Jugendrat und Schüler*in in Wien. Flo ist seit ein paar Jahren politisch aktiv und engagiert sich einerseits in der Klimabewegung, aber auch gegen Kapitalismus und für eine befreite Gesellschaft. Der Jugendrat ist eine politische Organisation von jungen Menschen, die sich aus der Fridays for Future Bewegung gegründet hat. Klimagerechtigkeit ist ein zentraler Grund für seine Gründung. Klimagerechtigkeit kann aber nur erreicht werden, indem man mit dem kapitalistischen System bricht, welches nur nach Profitgier Entscheidungen trifft. Deshalb ist der Jugendrat auch unabhängig von politischen Parteien, um radikal für unsere Zukunft kämpfen zu können.




Iran-Proteste: „Anfangs emotional – jetzt politisch“

Interview der Liga für die Fünfte Internationale mit Ali Rezaei, einem Iranischen Sozialisten, Infomail 1205, 18. November 2022

LFI: Wir möchten unser Mitgefühl ausdrücken. Wir wissen, dass viele Menschen, und fast alle Sozialist:innen, im Iran einen geliebten Menschen verloren haben oder um einen solchen fürchten. Wie fühlst Du Dich, wenn Du jetzt Tausende von Menschen siehst, die sich auf den Straßen des Irans wehren?

AR: Das iranische Volk kämpft gegen einen barbarischen Klerus, dessen Brutalität die Jugend, die Frauen, die Arbeiter:innen, die Armen, die Liberalen, die Progressiven, die Sozialist:innen und alle, die einen anderen Standpunkt vertreten, mit Blut getränkt hat. In jeder Stadt, ja in jeder Familie, gibt es Beispiele von Menschen, die nicht nur Unterdrückung und Gewalt, sondern auch den Tod erlebt haben. Der Klerus hat das Leben zu einer Qual gemacht.

Dies ist keine gewöhnliche Bewegung, sondern der Hass gegen den Klerus ist explodiert. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat eine Revolution ausgelöst, in der Frauen eine zentrale Position eingenommen haben und Student:innen ebenfalls sehr wichtig sind. Sie haben in den Bewegungen der Vergangenheit immer eine entscheidende Rolle gespielt. Die iranische Gesellschaft hat die Herrschaft des Klerus abgelehnt.

Die Ermordung von Mahsa hat die Angst zerschlagen. Ursprünglich war es emotional, aber jetzt ist es politisch, eine Bedrohung für das Regime, das die Massen seit vier Jahrzehnten unterdrückt hat. Die Bewegung hat das einfache Volk geeint. Es scheint, dass das Ende dieses repressiven Regimes möglich ist. Das treibt den Kampf voran und hat Kurd:innen, Belutsch:innen, Araber:innen sowie die Arbeiter:innen und Armen mit einbezogen.

Die Revolte, die sich an Universitäten und Schulen ausgebreitet hat, ist ermutigend. Früher waren es Aktivist:innen, die hofften, dass diese dunkle Nacht ein Ende haben würde. Jetzt wird diese Stimmung von der gesamten Gesellschaft geteilt, die sich weigert, dieses Scharia-System zu akzeptieren. Unterdrückung und Tyrannei werden nicht länger geduldet, die Menschen kämpfen dagegen und für die Freiheit.

LFI: Mahsa ist ein Symbol für die Brutalität der Sittenpolizei und die Unterdrückung des kurdischen Volkes. Jetzt ist sie auch zu einem Band geworden, das den Widerstand wieder zusammengeführt hat. Wie hat sich der Tod von Mahsa auf Dich ausgewirkt?

AR: Ihr richtiger Name ist nicht Mahsa Amini. Im Iran darf man keine kurdischen Namen verwenden. Ihr richtiger Name ist Jina. Das zeigt, wie stark die nationale Unterdrückung im Iran ist. Die Art und Weise, wie Demonstrant:innen nach der Vergewaltigung eines belutschischen Mädchens getötet wurden, zeigt das wahre Gesicht dieser islamistischen Regierung. Ob unter dem Schah oder dem Klerus, in den Gebieten der unterdrückten Nationen kamen immer extreme Formen der Unterdrückung vor, Rückständigkeit und Armut. Aber es gab auch Widerstand, manchmal bewaffnet. Türk:innen, Kurd:innen, Araber:innen und Belutsch:innen sind in dieser Bewegung vereint, und die Slogans gegen die nationale Unterdrückung und das herrschende Regime vereinen die Bewegung.

Für die iranischen Staatsbürger:innen ist das Regime des Klerus seit Jahrzehnten eine Falle. Im Rahmen dieser Bewegung gegen die Ermordung von Mahsa droht vielen jungen Frauen und Student:innen die Inhaftierung. Viele wurden sogar bereits brutal ermordet. Tod der Diktatur! Sie ist eine Blutsaugerin! Die Fundamente dieses Systems stehen in dem Blut, das diese berüchtigte religiöse Diktatur vergossen hat. Wir alle sind Jina. Die Solidarität mit dieser Revolution gibt uns Hoffnung. Ich appelliere an die Frauen und Arbeiter:innen in aller Welt, diesen Kampf gegen die Unterdrückung, die die schlimmste Dekadenz des kapitalistischen Systems und des Imperialismus hervorgebracht hat, weiterhin zu unterstützen.

LFI: Wir hören Berichte über eine neue Generation junger iranischer Frauen, die sich weder dem Staat noch seiner Ideologie beugen.

AR: Die Haltung des klerikalen Regimes war für Frauen schon vor diesem Mord unerträglich geworden. Die Geschichte der Frauenbewegungen im Iran ist bewundernswert. Es gab bereits ein Gefühl der Macht, aber der Tod von Mahsa verwandelte dies in eine Revolution.

Die Frauen akzeptieren den Hidschab und andere Einschränkungen nicht. Jugendliche und Student:innen, die eine wichtige Rolle spielen, sind für die Mullahs schwer zu kontrollieren. Hass und Wut wachsen. Einer der Hauptgründe dafür ist neben den Einschränkungen und der Unterdrückung die Wirtschaftskrise. Der jungen Generation wurde die Hoffnung genommen, und ihre einzige Möglichkeit ist der Kampf.

Die Situation ist jetzt ganz anders. Eine große Mehrheit der Bevölkerung will die Mullahs loswerden. Frauen spielen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung, aber jetzt schließen sich alle Schichten der Bewegung an. Selbst religiöse Menschen hassen diese Regierung jetzt, was bedeutet, dass die Wurzeln des klerikalen Regimes hohl geworden sind und seine Basis sehr schwach ist.

LFI: Kannst du uns etwas über die Mentalität dieser neuen Generation erzählen, von der wir alle hoffen, dass sie der Garant für zukünftige Freiheit sein wird?

AR: Junge Menschen machen mehr als 60 Prozent der iranischen Gesellschaft aus. Sie tragen nicht die Last vergangener Niederlagen und stehen in Kontakt mit der modernen Welt, auch wenn es viele Probleme gibt und die Situation sehr kompliziert ist. Inflation und Arbeitslosigkeit haben jedoch alle Schichten der Gesellschaft erfasst. Auch die Mittelschicht ist davon stark betroffen, und deshalb umfasst die Bewegung verschiedene Schichten.

Andererseits ist die Popularität der Mullahs auf einen Tiefpunkt gesunken, und es wird immer schwieriger, diese Jugendlichen zu kontrollieren. Sie sind wütend über die Demütigung, der sie, insbesondere die Frauen, ausgesetzt sind. Die Gesellschaft liegt bereits so sehr im Würgegriff, aber es werden noch mehr Einschränkungen auferlegt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Frauen werden nicht nur gedemütigt, sie werden gewaltsam verhaftet und verschwinden, und auch die Familienmitglieder werden gedemütigt. Das ganze System basiert auf Angst und Unterdrückung, und die Jugend akzeptiert es nicht mehr.

LFI: Wie reagieren die Sittenpolizei und das Regime auf diese junge Generation? Kannst Du uns etwas über die Praktiken der Sittenpolizei und das Leid, das sie verursacht, erzählen?

AR: Der iranische Staat und seine Institutionen waren früher in der Lage, jeden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken. Seit 2009 wurden verschiedene Bewegungen durch die brutale Repression, das Verschwinden-Lassen, die Verhaftungen und die Massaker der Welayat-e-Faqih-Bande (Statthalterschaft des Rechtsgelehrten), der mörderischen sogenannten Wächter:innen der Revolution und anderer niedergeschlagen. Die Unterdrückung der Kurd:innen und Belutsch:innen ist besonders extrem.

Schon vor Covid trug die anhaltende Wirtschaftskrise zu einem starken Anstieg von Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit bei. Gegenwärtig leben mehr als 40 Prozent der iranischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Ermordung von Jina Mahsa Amini löste den allgemeinen Widerstand aus, aber die Ursachen für diese Revolution waren bereits vorhanden. Die Brutalität des Staates hat nicht abgenommen, aber jetzt ist es nicht mehr der Kampf einer einzelnen Schicht. Auch religiöse Menschen wollen ihn loswerden. Die Mehrheit wird dieses System nicht akzeptieren und will einen Ausweg. Die Tapferkeit der Frauen und Studentinnen ist eine Ohrfeige für das Regime. Trotz der Tatsache, dass Massaker, Verhaftungen und das Verschwinden-Lassen von Personen an der Tagesordnung sind, hält dies die Moral der Bewegung aufrecht. Obwohl die vorherige Generation Angst um ihre Kinder hat, gibt ihr Mut auch den Eltern Hoffnung.

LFI: Wir hören von neuen Netzwerken unter radikalen Student:innen und innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Wie effektiv sind sie und welche Rolle haben sie vor Ort gespielt?

AR: Die Protestbewegung brach spontan aus, aber es existiert eine Koordination, die nicht nur durch Internetaufrufe kommuniziert wird. Es besteht auch eine lokale Koordination. Die Menschen sprechen über die aktuelle Situation bei den Protesten und diskutieren auch die Strategie für Aktionen. Student:innen  an den Universitäten unterhalten Netzwerke, die die Autorität der Mullahs ablehnen. Es gibt Organisationen der Arbeiter:innenklasse, die Proteste und Streiks organisieren. Alle diese Organisationen spielen eine wichtige Rolle, aber das Fehlen einer Führung, die einen landesweiten Wandel erzwingen kann, ist jetzt noch deutlicher zu spüren. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat den Iran geeint, aber es gibt Widersprüche, und wir brauchen eine Strategie, die die Mullahs zurückdrängen und die Revolution weiter voranbringen kann.

LFI: Was bedeutet die Wirtschaftskrise? Wie stehen die Aussichten für die Linke?

AR: Die Wirtschaftskrise hat im Iran Verwüstungen angerichtet, die Preise für die Grundbedürfnisse sind um mehr als 60 Prozent gestiegen. Die Mittelschicht ist ruiniert und die Bedingungen für die Arbeiter:innen sind schrecklich. Berichte über die Korruption der Mullahs stehen auf der Tagesordnung. Fabriken werden geschlossen, in der Ersatzteilproduktion sind 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Menschen im Iran haben auch die Nase voll von der Interventionspolitik des Mullah-Regimes in anderen Ländern, die ihr Leben immer weiter von der Welt isoliert. Sie alle beteiligen sich an der Revolution „Frau. Leben. Und Freiheit“. Alle sehen die Lösung der Wirtschaftskrise im Tod der Diktatur. Die Situation ist sehr schwierig, es gibt keine besonders starke Strömung. Begrenzt kommt sogar Unterstützung von Liberalen und Anhänger:innen des ehemaligen Schahs, aber es ist auch Raum geschaffen für sozialistische Ideen. In wirtschaftlicher Hinsicht haben die Sozialist:innen eine Perspektive für das Ende des Mullah-Regimes, die Freiheiten und ein Ende der wirtschaftlichen Unterdrückung bringt.

LFI: Hat die Bewegung auch die industriellen Zentren des Irans erreicht? Schließlich müssen die Inflation und die allgemeine Krise viele Menschen und Familien aus der Arbeiter:innenklasse an den Rand treiben. Welche Forderungen beziehen sich konkret auf die Klassenfrage?

AR: Der Kampf entwickelt sich in der Arbeiter:innenklasse, und sie nimmt an den Protesten teil, aber viele ihrer Anführer:innen wurden verhaftet. Die Arbeiter:innenklasse beteiligt sich in verschiedenen Städten daran, insbesondere die Lehrer:innen sind in dieser Hinsicht sehr aktiv. In Teheran sind die Busfahrer:innen mobilisiert, und die Tankwagenfahrer:innen haben am 19. Oktober in Solidarität mit dem Protest gestreikt. Die Arbeiter:innen der Röhrenwerke, des Stahlkomplexes Neyriz Ghadir, der Mehrschar-Raffinerie, der petrochemischen Gesellschaft und der Raffinerie in Abadan, der petrochemischen Gesellschaft auf der Insel Hengham, der petrochemischen Gesellschaft in Buschehr und des Gaskondensatfeldes in Südparas streiken und protestieren in Solidarität mit den Demonstrant:innen. Die Verhaftung der Anführer:innen hat jedoch zu Schwierigkeiten geführt.

Trotz der Einschränkungen im Internet nehmen die Proteste nicht ab. Die Menschen sind immer noch über verschiedene alternative Quellen miteinander verbunden. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber aufgrund der Widersprüche des Imperialismus eröffnen sich auch Chancen, und viele junge Menschen erstellen Links, die Videos und andere Botschaften verbreiten. Die Regierung greift jedoch immer wieder an. Verschiedene Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen und es kam zu erfolgreichen Arbeitsniederlegungen, aber das generelle Problem dieser Revolution ist immer noch das einer kollektiven Führung. Ein Generalstreik ist wichtig, aber er muss bis zum Ende des Mullah-Regimes andauern. Dies erfordert die Bildung von Fabrik- und Betriebsräten sowie Verteidigungskomitees. Ohne sie ist die staatliche Repression unvermeidlich, und es ist nicht möglich, es mit ihr aufzunehmen.

LFI: Ist es richtig zu sagen, dass alle, die sich an dem derzeitigen Kampf beteiligen, den Sturz des Regimes wollen?

AR: Die Bewegung will mehr als nur Reformen, sie will das Ende des Mullah-Regimes. Es ist ein starker Geist, der die Menschen aktiv hält. Trotz aller Unterdrückung sind die Menschen nicht bereit, sich mit weniger zufriedenzugeben als mit dem Sturz der Regierung. Die Unterdrückung ist jedoch sehr hart. Und die Demonstrant:innen müssen vor den Mörder:innengarden und anderen reaktionären Kräften geschützt werden. Die Demonstrant:innen widersetzen sich diesen Kräften, aber das muss organisiert werden.

Alle wollen das Ende dieser Regierung, aber das Fehlen einer nationalen Führung bedeutet, dass es keine klare Strategie gibt, und das ist eine gefährliche Situation. Wenn die Regierung stürzt, werden die Reformist:innen versuchen, sich als Alternative zu präsentieren, auch wenn sie im Moment wenig Unterstützung genießen. Dann gibt es auch noch die Pahlavi-Anhänger:innen des alten Schah-Regimes. In einer solchen Situation kann es auch zu einer gewissen Unterstützung durch die Bevölkerung kommen, aber das ist nicht die Alternative, für die die Menschen kämpfen. Unserer Meinung nach ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung wichtig, die die Arbeiter:innen durch die Bildung von Räten demokratisch vereinen kann, und Wahlen unter deren Kontrolle sind unerlässlich. Das sozialistische Programm ist die einzige Lösung, die der Barbarei der Mullahs ein Ende setzen und auch eine breitere Demokratie bringen kann. Es wendet sich gegen das kapitalistische System und den Imperialismus, was bedeutet, dass die Ressourcen des Irans genutzt werden können, um das Leben des Volkes zu verbessern, anstatt den Interessen der herrschenden Klasse untergeordnet zu werden.

LFI: Was sind die führenden politischen Kräfte in der Oppositionsbewegung? Welche Klasse führt die Bewegung an? Welche Rolle spielt die Arbeiter:innenklasse als politische Kraft?

AR: Dies begann als eine „spontane“ Bewegung. Schon vor der Ermordung von Jina Mahsa Amini waren alle Zutaten vorhanden, aus denen diese Bewegung entstanden ist. Sie umfasst Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und verschiedene Vereinigungen unterstützen sie. Sie ist auch in den kurdischen und belutschischen Gebieten zu finden und zieht die verwüstete Mittelschicht an. Das Einzige, was sie eint, ist die Opposition gegen die Regierung.

Der Einfluss der Jugend in dieser Bewegung ist sehr groß und vor allem die Studentinnen sind sehr aktiv, trotz aller Unterdrückung, Gewalt und Mordes. Die Liberalen hoffen auf Demokratie. Sie wollen sich wieder mit der Welt verbinden, stehen der Regionalpolitik des Staates kritisch gegenüber und wollen ein freies Leben führen. Ein Leben in Ketten ist für sie nicht akzeptabel. Die reformistische Führung ist nicht dominant, aber viele derjenigen, die Hoffnungen in den Reformismus setzen, sind aktiv.

Es gibt Platz für die Linke und sie ist auch aktiv. Die Gewerkschaften beteiligen sich an den Protesten. Zwar wird gestreikt, doch müssen diese Maßnahmen zu einem landesweiten Streik und dem Sturz der Regierung ausgebaut werden. Es muss eine sozialistische Alternativbewegung geben, denn dieses System hält keine Lösung für die Menschen im Iran parat. Die Möglichkeit der Vorherrschaft der Konterrevolution ist unter diesen Umständen nicht völlig auszuschließen.

LFI: Wie können die Frauen der Arbeiter:innenklasse und die Arbeiter:innenklasse als Ganzes nicht nur in den Vordergrund der Straßenkämpfe treten, sondern die Führung im Kampf für die Nachfolge des Regimes übernehmen? Wie können sie die Vorkämpfer:innen für eine sozialistische Republik werden? Gibt es Kräfte, die versuchen, die beginnende demokratische Revolution dauerhaft zu machen?

AR: Trotz aller Repression und Gewalt sind die Mullahs immer noch nicht in der Lage, die Revolution zu kontrollieren. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Situation nicht ewig andauern kann. Jetzt ist ein unbefristeter Generalstreik notwendig, der deutlich macht, dass die wirkliche Macht in der Gesellschaft bei der Arbeiter:innenklasse liegt und sie das System stoppen kann. Die Linke hat wenig politischen Einfluss auf die Bewegung, aber es gibt viele Möglichkeiten für sie in dieser Revolution. Wenn sie nur der bestehenden Bewegung hinterherlaufen würde, könnte das Ergebnis ins Leere laufen, denn selbst wenn das Regime der Mullahs stürzt, könnte die Macht an jene Kräfte (reformistische, prowestliche, Pahlavi) übergehen, die nichts für die Arbeiter:innen und die Armen des Irans tun werden und auch nicht die vollen Freiheiten für die Frauen und die Demokratie bringen würden.

Wir brauchen eine klare sozialistische Alternative, die eine verfassunggebende Versammlung fordert und eine Arbeiter:innenregierung anstrebt, deren Programm das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung anerkennt. Nur das kann diese Bewegung zum Erfolg führen. Es braucht eine revolutionäre Kraft im Iran, die für die Strategie der Permanenten Revolution kämpft und glaubt, dass das Ende des Mullah-Regimes und der Kampf für demokratische Freiheiten im Iran mit der Befreiung vom Imperialismus und dem Ende des Kapitalismus verbunden ist. Eine solche Kraft befindet sich in einem frühen Stadium, aber sie hat die Möglichkeit, ihr Programm zu präsentieren.

LFI: Was wären die ersten Dinge, die Sozialist:innen umsetzen würden, wenn sie nach dem Sturz des Mullah-Regimes das Sagen hätten?

AR: Die Abschaffung des Hidschabs und aller anderen Gesetze gegen Frauen, vollständige demokratische Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung für unterdrückte Nationen, die vollständige Trennung des Staates von der Religion und die vollständige Beendigung der Hilfe für religiöse Institutionen, die Beendigung der regionalen Intervention und die Einführung einer Planwirtschaft, so dass das Ziel der Wirtschaft nicht darin besteht, Profite für die Bürokratie und die kapitalistische Klasse zu erwirtschaften, sondern alle Ressourcen für die Verbesserung des Lebens der Arbeiter:innen und armen Menschen zu verwenden. Dies ist im bestehenden Staat unmöglich, daher ist die Abschaffung des bestehenden Staates und die Errichtung eines Arbeiter:innenstaates, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird, notwendig.




„Die Blockadehaltung des Senats ist eine absolute Unverschämtheit!“

Interview mit Clara, Berliner Lehrerin, geführt von Christian Gebhardt, Neue Internationale 269, November 2022

Beim letzten Warnstreik gingen 3.500 Kolleg:innen auf die Straße, um ein Zeichen zu setzen, dass es ihnen mit der Forderung nach einem Tarifvertrag Gesundheitsschutz ernst ist. Wir haben eine der Streikenden zu dieser Tarifauseinandersetzung interviewt.

NI: Hallo Clara, erzähl unseren Leser:innen doch kurz etwas von dir.

Clara: Moin, ich bin Clara und Lehrerin an einer Sekundarstufe in Berlin-Mitte. Neben meinem Beruf als Lehrerin bin ich noch gewerkschaftlich in der Jungen GEW Berlin aktiv und interessiert an einer aktiven Gewerkschaftsarbeit.

NI: Ich arbeite selbst als Lehrkraft an einer Berufsschule in Baden-Württemberg und wir lesen gerade immer wieder etwas von euren Streikaktionen für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz (TV-G). Berichte uns doch kurz von dieser Initiative.

Clara: Der Arbeitskampf rund um den TV-G hat bisher zu mehreren Warnstreiks mit bis zu 3.500 streikenden Kolleg:innen geführt. Der Hauptfokus liegt hier auf der tariflichen Festschreibung der Klassengrößen. Eine Studie der GEW zur Arbeitsbelastung hat diesen Faktor als einen der Hauptpunkte für die Arbeitsbelastung von Lehrkräften herausgearbeitet. Bisher setzt der Senat mittels Verwaltungsvorschriften ohne verbindliche Absprachen mit uns Lehrkräften die Klassengrößen fest. Eine tarifliche Festlegung würde diese Vorgehensweise aushebeln.

NI: Lässt sich der Senat überhaupt auf Verhandlungen oder Diskussionen ein?

Clara: Kurz gesagt: nein! Der Senat schiebt die Verantwortung auf die Tarifgemeinschaft der Länder ab. Berlin ist Teil dieser Gemeinschaft, die die Tarifverhandlungen führt. Da diese jedoch die Diskussion um einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz abgelehnt haben, sieht sich der Senat in Berlin nicht in der Pflicht, Diskussionen mit uns zu führen oder gar ein Angebot auf den Tisch zu legen. In Wechselunterrichtsphasen während der Coronapandemie haben wir Kolleg:innen jedoch praktisch erfahren, wie effektiv Unterricht in kleineren Lerngruppen ist. Die Blockadehaltung des Senats ist eine absolute Unverschämtheit, wir sind stinksauer!

NI: Auffallend bei der Tarifauseinandersetzung ist, dass die GEW sich ausschließlich auf Schulen konzentriert. Gibt es Gründe, wieso nicht auch andere prekäre Bildungseinrichtungen wie Kitas mit einbezogen werden?

Clara: Diese Entscheidung empfinde ich auch als total unverständlich. Gerade in unserer Jungen-GEW-Gruppe haben wir ebenfalls Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen, die regelmäßig von den gleichen Belastungen und vom Druck berichten, größere Gruppen zu betreuen. Gerade während der Coronapandemie war und ist es normal, dass eine Person auch mal zwei Gruppen parallel betreuen muss, da eine Kolleg:in kurzerhand ausgefallen ist. Die GEW argumentiert, dass der Kampf nun erst einmal exemplarisch für die Lehrkräfte geführt werden soll und dann auf andere Berufsgruppen übertragen werden kann. Dies kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, da wir für unsere Forderungen eigentlich viel effektiver streiken und streiten könnten, wenn wir alle Betroffenen mit ins Boot holen würden. Alle im Bildungsbereich tätigen Kolleg:innen haben die gleichen Probleme und benötigen somit die gleichen tariflichen Absicherungen.

NI: Wenn die GEW nur für Teilbereiche streiten möchte, wie macht sich das dann in ihrer Mobilisierung bemerkbar?

Clara: Die Mobilisierung wird eigentlich ganz klassisch von oben organisiert. Die Gewerkschaftsführung ruft zum Streik auf und die Vertrauenspersonen versuchen, dafür an ihren Einrichtungen zu mobilisieren. Darüber hinaus wird die GEW selbst aber nicht aktiv. Sie organisiert wenig bis keine Diskussionsveranstaltungen, um mit Kolleg:innen direkt in Kontakt zu kommen oder Basisstrukturen aufzubauen, die den Streik selbst organisieren und in die Hand nehmen. Gerade dieses Element aus dem Streik der Pflegekräfte hier in Berlin hatte sich sehr positiv auf die Mobilisierung an den Krankenhäusern ausgewirkt. Warum die GEW-Vorstände sich daran kein Beispiel nehmen, kann ich mir nur so erklären, dass sie an einer aktiven Einbindung der Basis kein Interesse haben bzw. nicht wissen, wie diese funktionieren soll.

NI: Wenn ich in meinen eigenen Pausen an der Schule die GEW-Pinnwand anschaue, lacht mich schon seit gut zwei Schuljahren ein Plakat an, auf dem kleinere Klassen gefordert werden. Diese Forderungen wurde ja jetzt nicht gerade neu erfunden. Wie bewertest du das Vorgehen der GEW, um die Ziele der Initiative nun auch wirklich mal zu erreichen?

Clara: Die Blockadehaltung des Senats hat gezeigt, dass die Strategie der Warnstreiks nicht genügend Druck aufbaut, um den Senat zu Verhandlungen zu bewegen. Aus meiner Sicht sollte hier die GEW ihre Schlagzahl erhöhen und mehr Streiks mit weniger Abständen organisieren. Es sollte das Ziel sein, diese in einen Erzwingungsstreik zu verwandeln. Die Vorbereitungen und notwendigen Abstimmungen für einen solchen Erzwingungsstreik könnten jetzt schon parallel zu den häufigeren Warnstreiks durchgeführt werden. Gleichzeitig sollte der alleinige Fokus auf die Schulen aufgehoben werden. Auch wenn dies die Tarifverhandlungen eventuell verkompliziert, sollten wir unsere eigene Kampfkraft nicht schon im Vorhinein selbst einschränken. Alle Kolleg:innen auf die Straße!

Zu guter Letzt sollte sich die GEW ein Beispiel an den Organisationsstrukturen der Krankenhausbewegung in Berlin nehmen. Sie sollte aktiv den Aufbau von Basisstrukturen vorantreiben, die nicht nur für das Verteilen von Flyern und Aufhängen von Plakaten dienen sollten, sondern selbst über die Inhalte und die Koordinierung des Streiks diskutieren und abstimmen sollten. Nur so können wir erreichen, dass wir Kolleg:innen entscheiden, wann Verhandlungen abgebrochen, wann zum Streik aufgerufen und unter welchen Bedingungen wir im positiven Falle den Streik auch wieder abbrechen wollen.

Meine Erfahrungen in vorherigen Kampagnen haben aber gezeigt, dass der GEW-Vorstand seine Kontrolle hier nicht gerne aus der Hand gibt. Mobilisierungen vor Ort werden gerne „basisdemokratisch“ delegiert. Die Inhalte und Entscheidungen werden aber nicht aus der Hand gegeben. Wir benötigen daher basisoppositionelle Strukturen innerhalb der Gewerkschaft, die sich für solche Methoden und Perspektiven der Tarifauseinandersetzung einsetzen und, wenn nötig, sich mit unseren Vorsitzenden darüber streiten.

NI: Vielen Dank für das Gespräch und deine Einblicke in die derzeitige Auseinandersetzung rund um den TV-G. Sollten Leser:innen am Aufbau einer Basisopposition innerhalb der GEW zusammen mit Clara Interesse haben, könnt ihr euch gerne bei uns melden. Wir vermitteln gerne einen Kontakt.




„Wir werden sie zermürben“

Interview mit einem streikenden Rechtsanwalt, Alex Rutherford, Workers Power (Britannien), Infomail 1196, 20. August 2022

Während die industrielle Militanz in Großbritannien zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ansteigt, haben sich die Strafrechtsanwält:innen der Streikwelle angeschlossen. Workers Power sprach mit Saul Brody, einem streikenden Anwalt aus Manchester, über die Bedeutung des Streiks, die Probleme im Strafrechtssystem und die Auswirkungen dieser Probleme auf die Betroffenen. Eine ausführliche Analyse des Streiks wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

WP: Könntest du etwas zum Hintergrund des Streiks sagen und wie er bisher verlaufen ist?

SB: Der Streik ist das Ergebnis eines Streits über die Höhe der Gebühren für die Arbeit in der Strafrechtshilfe. Wir haben am 27. Juni mit den Streikmaßnahmen begonnen. Wir beteiligen uns an dem Streik als Einzelmitglieder der Criminal Bar Association (CBA).

In der ersten Woche haben wir am Montag nicht gearbeitet, dann haben wir den Streik um einen Tag pro Woche ausgeweitet. Als er fünf Tage erreicht hatte, begannen wir, jede zweite Woche eine ganze Woche lang zu streiken. Außerdem nehmen wir derzeit keine Rücksendungen an [1].

Einige Anhörungen werden noch durchgeführt, insbesondere solche, bei denen es um eine schutzbedürftige Person geht und es ungerecht wäre, sie nicht durchzuführen. Alle, sowohl die älteren als auch die jüngeren Anwält:innen, nehmen die Belastung gemeinsam auf sich. Wir werden so lange fünf Tage arbeiten, dann fünf aussetzen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Wir halten zusammen, um die Zukunft der Strafrechtsanwält:innen zu sichern.

WP: Welche Probleme haben zum Streik der Anwält:innen geführt?

SB: Der Streik ist eine Folge der chronischen Unterfinanzierung – die Mittel für das Strafrechtssystem wurden in den letzten 10 Jahren um 28 % gekürzt. Junioranwält:innen leiden am meisten darunter. In den ersten fünf Jahren liegt das Durchschnittsgehalt eines/r Anwält:in in Strafsachen bei nur 12.000 Pfund und damit unter dem Mindestlohn.

Die Anwaltskammer für Strafrecht hat im letzten Jahr 300 – 400 Juniorratgeber:innen verloren. Es gibt keine neuen Bewerber:innen – es gibt zwar viele, aber es sind nicht unbedingt die besten Leute. Viele der besten Anwält:innen gehen aufgrund der stark gestiegenen Honorare in den Wirtschaftsbereich. Einige Leute können immer noch im Strafrecht arbeiten, aber sie müssen entweder sehr engagiert oder sehr wohlhabend sein.

Einige Mainstreamzeitungen haben über diese Themen berichtet. Aber niemand berichtet über die ungerechtfertigten Verzögerungen für Opfer, Zeug:innen und Richter:innen – sie sind unzumutbar lang. Die Situation führt zu einem Chaos in den Gerichten. Prozesse, die 2018 begannen, sind noch immer nicht abgeschlossen. Es wird nicht besser, es wird schlimmer.

Dies ist nicht auf das COVID zurückzuführen, sondern auf den chronischen Mangel an Gerichten, Richter:innen und Verteidiger:innen. Das Justizministerium hält es nicht für vorrangig, die Gerichtsgebäude in Ordnung zu bringen, was das gesamte System weiter belastet.

Das gesamte Budget für Strafrechtshilfe ist winzig – weniger als 1 Milliarde Pfund pro Jahr. Vergleicht das mit den 17 Mrd., die durch Betrug verlorengehen. Diese werden in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt, so dass die Öffentlichkeit über die Effizienz des Strafrechtssystems belogen wird.

Viele Zeug:innen und Opfer werden mehrfach vor Gericht geladen und sagen: „Ich komme nicht wieder, ich war schon dreimal hier, habe mir Urlaub genommen und komme nicht wieder“. Der Regierung gefällt das, denn es führt dazu, dass die Strafverfolgung eingestellt wird, was den Druck auf das System verringert, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

Dies gilt vor allem für Vergewaltigungsfälle, bei denen die Opfer regelmäßig wegen Problemen mit dem System aussteigen.

Die Unterfinanzierung stellt auch eine Gefahr für die Vielfalt dar. Dies wirkt sich auf unterdrückte Minderheiten aus, die nicht die Möglichkeit haben, das Wagnis einzugehen, sich als Anwalt/Anwältin für Strafrecht zu bewerben. Dies führt unweigerlich zu einem Beruf voller weißer, männlicher Mittelschichtangehöriger.

Wir werden regelmäßig aufgefordert, auf Vielfalt zu achten, um Menschen zu gewinnen, die repräsentativ für die Gemeinschaft in diesem Land sind. Strafrecht kann nicht nur ein Hobby reicher Männer sein – wir brauchen Strafverteidiger:innen mit unterschiedlichem Hintergrund.

WP: Was sind die Forderungen des Streiks?

SB: Wir fordern eine Erhöhung der Gebühren für die Strafverteidigung um 25 %. Die Regierung bietet 15 % an, hat aber gesagt, dass dies nicht für den Rückstau an bestehenden Fällen gilt. Das würde bedeuten, dass niemand mehr alte Fälle anfassen will – die Gehaltserhöhung muss für alle Fälle von jetzt an gelten.

Strafverteidiger:innen opfern regelmäßig ihre Zeit, um das System zum Funktionieren zu bringen. Für vieles, was wir tun, werden wir nicht bezahlt. Die Vergütungssätze sind einfach so schlecht. Auf meiner Ebene gibt es einige gut bezahlte Fälle, die einen Ausgleich schaffen, aber die jüngeren Rechtsanwält:innen bekommen das nicht. Mir persönlich geht es gut, aber hier geht es um die Zukunft der Anwaltschaft.

Es ist eine furchtbare Situation, weil ich Mandant:innen habe, über die nicht verhandelt wird. Wir alle wollen arbeiten. Die CBA hat versucht, Justizminister Dominic Raab zum Zuhören zu bewegen, aber natürlich kann er jetzt einfach die Schuld für den Rückstand auf uns schieben, weil wir streiken.

WP: Wie kann der Streik eurer Meinung nach erfolgreich sein?

SB: Wir werden sie zermürben; wir werden nicht aufgeben. Die Lebenshaltungskostenkrise hat die Menschen an den Abgrund gebracht – viele müssen sich auf ihre Ersparnisse verlassen oder sich verschulden, um über die Runden zu kommen.

Die Wahrheit ist, dass es in der Strafgerichtsbarkeit nicht viele fett verdienende Anwält:innen gibt. Wir wenden uns an die breite Masse, nicht an die wenigen Spitzenleute.

Es hat einige Demonstrationen gegeben – ich habe bisher an zweien teilgenommen. Es gab einige Erwähnungen in der Presse und Unterstützung von einigen Abgeordneten. Wir befinden uns derzeit in einer sehr schwierigen Situation, weil keine/r der Politiker:innen in der Tory- (Konservative) oder sogar in der Labour-Partei sagen will, dass sie die Strafverteidiger:innen unterstützen. Die Wahl der Tory-Führung wird uns einen Haufen Idiot:innen bescheren, die nicht wissen, wie man das Land regiert. Wir werden schon etwas erreichen. Wir stecken derzeit in der Frage fest, ob das Gehaltsangebot für rückständige Fälle gelten wird. Wir brauchen auch ein indexiertes Gehaltssystem, das von einem unabhängigen Gremium kontrolliert wird, da unsere Gehaltserhöhungen im Moment vollständig von der Regierung kontrolliert werden. Die Lohnkürzungen sind zu weit gegangen.




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Der Handlungsspielraum ist nicht besonders groß

Interview mit Freddy von [’solid] Berlin-Nord, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

GAM: Hey, cool, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. Vielleicht stellst du dich erstmal kurz vor?

Hey, danke für die Einladung. Ich bin Freddy, 24 Jahre alt, und eine der Sprecher:innen der Linksjugend [’solid] Berlin-Nord. Beruflich bin ich Erzieherin. Seit 5,5 Jahren bin ich in der Linksjugend [’solid] Berlin aktiv, in drei verschiedenen Basisgruppen nacheinander. Ich bin erst vor ungefähr einem Jahr in die Linkspartei eingetreten, aber mache dort nichts und denke auch, dass ich  bald wieder austreten werde.

GAM: [’solid] Berlin-Nord hat im letzten halben Jahr immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Warum ist das so? Welche Rolle habt ihr in [’solid] Berlin?

Am Anfang hatten wir gar nicht den Plan, eine revolutionäre Opposition innerhalb der Linksjugend aufzubauen, das hat sich aber dann irgendwie so entwickelt dadurch, dass sich unsere Mitglieder auch weitergebildet haben und uns viele Positionen innerhalb des Verbandes auffielen, denen wir nicht zugestimmt haben. Die Linksjugend [’solid] ist ja sehr pluralistisch ausgelegt, d. h. aus jeder linken oder linksliberalen Strömung, die man sich vorstellen kann, gibt es dort Leute. Wir haben auch nicht als Basisgruppe immer die gleiche Meinung, aber die meisten Leute verstehen sich schon explizit als Kommunist:innen, das macht auch noch mal einen Unterschied. Durch Anträge bei Landesvollversammlungen oder allgemein Diskussionsbeiträge haben wir in letzter Zeit versucht, auf unsere Positionen aufmerksam zu machen. Wir wollen aber auch nicht nur bei Papierbeschlüssen stehenbleiben, sondern versuchen, unsere Positionen auch auf die Straße zu tragen. Ich habe den Eindruck, dass auch einige andere Berliner Basisgruppen wie z. B. die Linksjugend Friedrichshain einen „Linksrutsch“ hingelegt haben.

GAM: [’solid] Berlin hat sich seit der letzten Landesvollversammlung (LVV) als Gesamtorganisation weiter nach links bewegt. Woran liegt das? Und was sind deine Perspektiven, Wie man das fortführen kann?

Auf jeden Fall gibt es in der Basis eine große Offenheit für linke Positionen, wie die Beschlüsse der letzten LVV gezeigt haben. Ich denke, dass es jetzt wichtig ist, sich nicht auf den Beschlüssen auszuruhen, sondern diese offensiv zu vertreten und zu verteidigen und sie auch zu nutzen, um z. B. die Linkspartei herauszufordern.

GAM: Auf der letzten LVV wurden auch Teile des Landessprecher:innenrats (LSPR) neu gewählt. Wie stehst du zum gegenwärtigen LSPR? Was sollte man an der Struktur des LSPR verändern, wenn überhaupt?

Meiner Meinung nach muss man da stark zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gremiums und dem Gremium an sich und seiner Funktion unterscheiden. Ich war auch zwei Jahre lang im LSPR und es ist ein enormer Druck, der da auf einem lastet, auch von der Seite der Linkspartei. Das ist politisch so gewollt. So wurden während des Wahlkampfs zur Abgeordnetenhauswahl einmal mehrere Mitglieder, zum Glück nicht ich, abends von jemandem aus der Partei angerufen und angeschrien, weil der Person etwas, ich glaube es war ein Post, nicht gepasst hatte. Es wurde, sowohl von der Partei als auch von anderen Mitgliedern des Jugendverbandes, die schon lange dabei waren und denen man vertraut hat, suggeriert, dass wir als LSPR-Mitglieder die Vernünftigen seien und die Basismitglieder versuchen sollten, im Zaum zu halten, also darauf achten, dass kein schlechtes Licht auf die Linkspartei geworfen wird. Zusätzlich wird betont, dass man seine eigene Position zurückstellen soll. Der sogenannte Pluralismus in Partei und Jugendverband wird oft als etwas sehr Positives dargestellt. Die Beschlüsse, die der LSPR trifft, sollen möglichst so sein, dass niemand etwas gegen sie hat. Man steht da, wie gesagt, unter einem sehr großen Druck. Ich habe auch opportunistisch gehandelt, als ich im LSPR war, und ich glaube, das ist gerade das Gefährliche. Egal mit welchen Plänen und welchen Werten man sich in das Gremium wählen lässt, am Ende macht es eigentlich gar keinen so großen Unterschied, wer genau da drin sitzt.

Die LSPR-Mitglieder werden dazu benutzt, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaube, vielen ist das auch nicht bewusst. Trotz meiner zwei Amtszeiten habe ich lange gebraucht, um das zu merken.

Und dazu arbeiten die Linksjugend [’solid] und damit auch ihre Gremien sehr bürokratisch. Es werden umständliche und intransparente Wege gewählt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig wird oft suggeriert, dass im Grunde alles basisdemokratisch sei.

GAM: Wie stellt du dir revolutionäre Praxis innerhalb eines reformistischen Jugendverbandes vor?

Ich denke, dass es sehr schwer ist, eine revolutionäre Praxis innerhalb von reformistischen Strukturen zu haben und diese konsequent durchzusetzen. Wichtig ist es, das Gespräch mit verschiedenen Leuten zu suchen und zu versuchen, ihnen aufzuzeigen, was die Probleme sowohl mit den Standpunkten der Linkspartei als auch dem Organisationsprinzip sind. Zu der Struktur des Verbandes und des LSPR habe ich ja schon etwas gesagt. Ich glaube, ein zusätzliches Problem ist die Kommunikationskultur. Vor ein paar Jahren war die damalige Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, als Rednerin bei unserer Landesvollversammlung eingeladen. Damals war ich total geschockt, dass einige Leute ihr kritische Nachfragen gestellt haben. Ich fand das total gemein und dachte: „Sie ist doch auch nur ein Mensch und niemand kann seinen Job perfekt machen“. Ich glaube, dass viele so denken und das auch genau so gewollt ist. Es wird oft als anstößig angesehen, politische Diskussionen öffentlich auszutragen. Man soll alles mit sich selber ausmachen oder im Hinterzimmer klären.

Das ist aber ein strukturelles Problem einer reformistischen Partei und kein Problem, das sich ändern kann, wenn die Leute lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Zudem sind wir finanziell von der Linkspartei abhängig, was auch eine gewisse politische Abhängigkeit bedeutet.

Nachdem der Landesvorstand der LINKEN Berlin erst gedroht hatte, uns die Gelder zu streichen, müssen nun Summen ab 500 Euro einzeln beantragt werden. Davor hatten wir ein jährliches Budget, über das wir frei verfügen konnten. Das ist natürlich immer noch sehr viel Geld, aber eben nicht gemessen an dem, was die Linkspartei für den Jugendverband aufwenden könnte und würde, wenn er politisch gefügsamer wäre.

Zusätzlich zu den Konflikten und den Maßregelungen durch die Linkspartei kommen noch die Konflikte mit dem überwiegend sozialdemokratischen Bundesverband der Linksjugend [’solid] hinzu. Viele Gliederungen dort hegen eine starke Abneigung, z. T. schon leidenschaftlichen Hass, gegen die Berliner Sektion, da die Beschlüsse ihnen zu links sind und sie z. B. auch ein Problem damit haben, dass wir uns für Solidarität mit Palästina aussprechen.

Das sind also viele Widrigkeiten, mit denen wir als kleine revolutionäre Opposition zu kämpfen haben.

Wir können versuchen, Leute zu bilden, wir können Gespräche mit Menschen führen, wir können auch coole Aktionen machen. Dennoch sind wir dadurch eingeschränkt, dass wir Teil einer reformistischen Organisation sind.

GAM: Treptow-Köpenick ist aus dem Berliner Landesverband von [’solid] ausgetreten. Was ist deine Meinung dazu?

Die Spannungen zwischen Treptow-Köpenick und dem Rest des Landesverbandes haben sich schon lange abgezeichnet. Diese Gruppe vertrat aus meiner Sicht viele Positionen, die nicht mal als linksliberal zu bezeichnen sind. So baten sie den Landesverband der Linkspartei öffentlich, der Linksjugend [’solid] die Gelder zu kürzen, da ihnen die auf der Landesvollversammlung demokratisch gefällten Beschlüsse nicht gefielen. Auch setzten sie eine Ablehnung der NATO mit „Putinsolidarität“ gleich und distanzierten sich von palästinensischen Demonstrationen. Ich finde es gut, dass die Linksjugend Treptow-Köpenick aus der Linksjugend [’solid] rausgegangen ist. Einige der Mitglieder, die nicht auf der Linie der Gruppe waren, sind nun in andere [’solid]-Basisgruppen gegangen.

GAM: Seit der Bundestagswahl geht es ziemlich steil abwärts mit der Linkspartei. Im Saarland wurden 10 % verloren. Ramelow argumentiert für die Wehrpflicht. In Bremen fordert man Waffenlieferungen. Was ist da los und welche Perspektive siehst du für die Partei?

Eines der großen Probleme der Linkspartei sehe ich darin, dass sie letzten Endes leider doch eine bürgerliche Partei ohne ein einheitliches politisches Programm ist. Zudem ist der Parteiapparat sehr bürokratisch. Das sieht man z. B. auch gut an #linkemetoo. Sexualisierte Gewalt gibt es wahrscheinlich in den meisten Organisationen und Gruppen, aber dass sich eine Klasse von Berufspolitiker:innen ausbildet, die sich über Seilschaften an der Spitze halten möchte, da sie finanziell von ihren Mandaten abhängig ist, ist ein krasses Problem. Das steht Aufarbeitung von z. B. sexualisierter Gewalt im Wege, aber führt auch dazu, dass kein echter Austausch möglich ist und viele Debatten nichts bringen, da sowieso immer die gleichen Leute in den führenden Positionen bleiben werden. Aber auch zu versuchen, Marxist:innen in führende Positionen in Linkspartei oder der Linksjugend [’solid] zu bekommen, kann kein Ausweg sein. Selbst wenn die bürokratischen Prozesse nicht verhindern würden, dass sich wirklich Dinge ändern und zudem revolutionäre Mehrheiten in Gremien erreicht würden, wäre das in meinen Augen kein wirklicher Sieg. Dadurch, dass Partei und Jugendverband sehr viele verschiedene linke Strömungen beinhalten, würden dann getroffene Entscheidungen nicht konsequent vertreten und wahrscheinlich in der nächsten Wahlperiode gleich wieder revidiert werden. Die Linkspartei ist natürlich keine marxistische Partei. Aktuell würde ich auch in Frage stellen, ob sie eine Arbeiter:innenpartei ist. Dafür fehlt meiner Meinung nach eine Abgrenzung zu anderen bürgerlichen Parteien. Die Linkspartei schiebt mit ab, die Linkspartei positioniert sich nicht konsequent antimilitaristisch, die Linkspartei ist in Berlin an der Verschleppung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beteiligt. Ich glaube, dass die Linkspartei in den nächsten Jahren nach und nach immer mehr an Wähler:innen verlieren wird, und ich finde es absolut nachvollziehbar, wenn Leute sie nicht wählen.

GAM: Abschließend: Was sollten Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] jetzt tun? Wie könnt ihr unterstützt werden?

Ich glaube, das Wichtigste ist, die Widersprüche in der Linkspartei und ihrer Bürokratie aufzuzeigen, was ja die meisten revolutionären Gruppen bereits machen. Zudem freuen wir uns über Solidaritätsbekundungen, z. B. in Form von Unterstützung bei Aufrufen wie zuletzt dem offenen Brief unserer Basisgruppe gegen die geplanten Geldkürzungen von Seiten des Landesvorstandes der Berliner Linkspartei. Wie ich schon dargelegt habe, glaube ich nicht, dass der Handlungsspielraum von Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] besonders groß ist. Man kann die Linkspartei und die Öffentlichkeit mit den Fehlern der Strukturen konfrontieren, was wir ja auch bereits tun. Es ist aber meiner Ansicht nach verschwendete Energie, wenn man sich über Jahre hauptsächlich auf den Fraktionskampf innerhalb der eigenen Organisation konzentriert bzw. eher konzentrieren muss. Dieser ergibt nur Sinn, solange man Mitglieder vom Apparat loslösen und für ein revolutionäres Programm gewinnen kann.

Mittelfristig wären Revolutionär:innen in der Linkspartei und der Linksjugend, denke ich, besser beraten, sich revolutionären Organisationen anzuschließen.

GAM: Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Euren Kampf!




Elbit und israelische Kriegswirtschaft zerschlagen: Boykottiert Waffenproduktion und Transport

Interview mit Dr. Stavit Sinai, Akivistin von Palestine Action, Infomail 1150, 19. Mai 2021

Palestine Action ist ein in Großbritannien ansässiges Netzwerk für direkte Aktionen, das für die Beendigung der britischen Unterstützung der israelischen Apartheid eintritt. Es fordert eine Einstellung der Zusammenarbeit mit Israels Kriegsindustrie und -wirtschaft. Die jüngsten Aktivitäten richteten sich daher gegen Elbit Systems Ltd., ein israelisches Rüstungs- und High-Tech-Unternehmen. Angesichts der tödlichen Bombardements auf Gaza haben die AktivistInnen ihre Anstrengungen deutlich verstärkt. So markierten und besetzten sie Einrichtungen von Elbit mit dem Ziel, die Produktion zu stoppen, Bewusstsein zu schaffen und kollektive Aktionen zu initiieren, wie sie zuletzt bei den italienischen HafenarbeiterInnen in Livorno gesehen wurden. Die Liga für die Fünfte Internationale unterstützt diese Aktionen voll und ganz. Wir rufen ArbeiterInnen und linke Organisationen dazu auf, sich solchen Bemühungen anzuschließen und sie zu unterstützen. Das Interview führte Georg Ismael.

ArbeiterInnenmacht: Am 12. Mai beteiligtest du dich an der Aktion gegen Elbit in Oldham. Was hofftest du zu erreichen?

Stavit Sinai: Es gibt eine unmittelbare Dringlichkeit, die tödliche Produktion in der Ferranti-Anlage in Oldham zu stoppen. Das Leben der Menschen im Gaza-Ghetto hängt unmittelbar von der Zerstörung der Produktionskapazitäten Elbits und anderer solcher Firmen ab. Unser Hauptziel bei der Aktion war es, Elbits Fabrik des Todes zu deaktivieren. Genauso wichtig ist es jedoch, das Bewusstsein für ihre kriminellen Bestrebungen zu schärfen und die Unterstützung der britischen Regierung und der britischen Rüstungsindustrie bei diesen Verbrechen aufzuzeigen. Unser Ziel ist es, Elbit Systems Unternehmung in Großbritannien vollständig zu beenden.

ArbeiterInnenmacht: Warum hast du dich persönlich entschieden, aktiv zu werden?

Stavit Sinai: Als privilegierte Israelin konnte ich nicht einfach zusehen, wie die Bomben über Gaza abgeworfen werden. Ich könnte wegen meiner Handlungen vor Gericht gestellt werden. Aber wenn ich nicht handle, bleibt das Leben der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, der Westbank und dem Palästina von 1948 in großer Gefahr. Ich hoffe, dass sich uns mehr Menschen anschließen und ihr Schweigen brechen werden. Das gilt besonders für Israelis, deren Schweigen meiner Meinung nach eine direkte Unterstützung für Israels Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.

ArbeiterInnenmacht: Was macht Elbit zu einem so wichtigen Ziel eurer Aktionen?

Stavit Sinai: Elbit ist Israels größter privater Waffenkonzern, der an Israels Angriffen auf die palästinensische Bevölkerung verdient. Sein größter Einzelkunde ist das israelische Verteidigungsministerium (IMOD) und als solches ist es einer der größten Waffenhersteller der Welt.

Aber darüber hinaus hat Elbit Systems eine massive internationale Reichweite. Das Unternehmen verkauft 80 % seiner Ausrüstung außerhalb Israels. Daher gefährdet es nicht nur das Leben der PalästinenserInnen, sondern bedroht die Integrität der Menschheit.

ArbeiterInnenmacht: Kannst du uns mehr über Elbits Aktivitäten in Großbritannien erzählen, z. B. Elbit „liefert“?

Stavit Sinai: Elbit hat zehn Standorte in Großbritannien, darunter 4 Waffenfabriken. Es beliefert das israelische Militär mit etwa 85 % seiner Killerdrohnen. Diese Drohnen terrorisieren die Menschen in Gaza. Die israelische Armee setzt sie zur täglichen Überwachung und für regelmäßige Angriffe ein. Elbit produziert auch Munition und Komponenten für alle israelischen Kampfflugzeuge. Auch die israelischen F-16-Kampfjets sowie die Apache- und Cobra-Angriffshubschrauber sind mit Elbit-Ausrüstung ausgestattet. Sie wurden wiederholt eingesetzt, um zivile Gebiete, Häuser und Flüchtlingslager anzugreifen, was zu Tausenden von Opfern im Libanon, im Westjordanland und im Gazastreifen führte. Viele der Häuser, die derzeit in Gaza zum Einsturz gebracht werden, wurden höchstwahrscheinlich von Elbit-Waffen getroffen.

Aber Elbit bringt nicht nur Gebäude zum Einsturz, es schafft auch Mauern. So ist Elbit einer der Hauptlieferanten des elektronischen Zaunsystems für die Apartheidmauer im Westjordanland. Kürzlich wurde der Konzern beauftragt, die neue unterirdische Mauer um den blockierten Gazastreifen zu errichten, was es noch schwieriger macht, Lebensmittel oder Zement über die Tunnelsysteme zu importieren, um die Menschen zu ernähren oder das Zerstörte wieder aufzubauen.

Im Jahr 2018 kaufte Elbit IMI Systems, den einzigen Lieferanten der IDF für kleinkalibrige Munition. Also werden nicht nur die Drohnen am Himmel von Elbit hergestellt, auch die Kugeln, die von israelischen ScharfschützInnen verschossen werden, stammen von diesem Unternehmen. IMI Systems ist bekannt dafür, Streumunition zu produzieren, und deshalb haben sich Unternehmen von Elbit getrennt.

Allerdings sind die Gewinne des Unternehmens in die Höhe geschnellt, nachdem seine Ausrüstung bei dem brutalen Angriff auf Gaza 2014 eingesetzt wurde, was dem Unternehmen half, Verträge mit Militärs auf der ganzen Welt zu schließen. Dies ist einer der Gründe, warum die Rüstungsindustrie und Regierungen in Großbritannien, Deutschland und anderswo mit Elbit zusammenarbeiten wollen. Sie wollen sich Zugriff auf die modernen Zerstörungsmitteln des 21. Jahrhunderts sichern, die durch das ständige Töten der PalästinenserInnen getestet und der Welt vorgeführt wurden. (Siehe: https://palestineaction.org/stop-elbit/)

ArbeiterInnenmacht: Ist die Resonanz, die du dir erhofft hast, eingetreten?

Stavit Sinai: Wir freuen uns über ein wachsendes Interesse und positive Reaktionen. Aber natürlich sind wir nicht zufrieden und werden es auch nicht sein, bis wir eine absolute Abschaltung von Elbit Systems und das Ende der unmenschlichen Bombardierungen von ZivilistInnen, auch in Gaza, erreicht haben. Allein in den letzten zehn Tagen starben hunderte Menschen, einschließlich Kindern und Babys. Wie kann man da zufrieden sein?

ArbeiterInnenmacht: Es sollte ein Prozess gegen Palestine Action wegen einer früheren Aktion gegen Elbit in Großbritannien stattfinden. Der Prozess ist verschoben worden. Warum ist das so?

Stavit Sinai: Ein Prozess würde eine wunderbare Gelegenheit bieten, Elbits Todesfabrik und Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entlarven, und würde einen ernsthaften Imageschaden für dieses grauenhafte Unternehmen, das Elbit Systems ist, bedeuten. Die britische Regierung weiß das. Deshalb wird der Prozess verschoben.

ArbeiterInnenmacht: Was können britische ArbeiterInnen tun, um eure Sache zu unterstützen?

Stavit Sinai: Oldham, wo wir eine Aktion durchgeführt haben, hat eine lange Geschichte politischer ArbeiterInnenkämpfe. Während der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei organisierten ArbeiterInnen in Oldham kollektiven Widerstand gegen diese. Sie weigerten sich, Baumwolle zu verarbeiten, die von afrikanischen SklavInnen geerntet wurde. Wir würden uns wünschen, dass die ArbeiterInnen sich an diese Geschichte erinnern und sie heute in Aktionen umsetzen. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen einem wirtschaftlichen Boykott Israels und dem Widerstand gegen die Apartheid in all ihren Formen.

ArbeiterInnenmacht: Wie würde das praktisch aussehen?

Stavit Sinai: Praktisch sollte das bedeuten, dass die Gewerkschaften in Großbritannien ihren Beschluss, BDS praktisch zu unterstützen, mit allem Nachdruck umsetzen. Sie sollten dem Beispiel der italienischen HafenarbeiterInnen folgen, sie sollten Streikposten vor Firmen wie Elbit organisieren, und sie sollten Proteste, ja sogar politische Streiks organisieren, um die britische Regierung zu zwingen, ihre Unterstützung für den israelischen Staat einzustellen. Es kann getan werden. Hunderttausende, die auf den Straßen Großbritanniens protestieren, zeigen, dass viele Menschen damit hinter uns stehen. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Gewerkschaften auf der Grundlage ihrer früheren politischen Entscheidungen Maßnahmen ergreifen.

ArbeiterInnenmacht: Aber dazu ist oft ein gewisser Druck nötig, oder?

Stavit Sinai: Es erfordert auch ein Beispiel, dem die Menschen folgen können. Letzte Nacht besetzte Palestine Action das Elbit-Gelände in Leicester. Am Morgen wurde die Feuerwehr hinzugezogen, um die Polizei bei der Räumung des Geländes und des Daches zu unterstützen. Schließlich schritt die Feuerwehrgewerkschaft von Leicester ein und forderte die Feuerwehrleute zum Rückzug auf. Die Feuerwehrleute zogen wieder ab. Vor der Fabrik hatten sich dutzende BürgerInnen versammelt, um ihre Unterstützung zu zeigen.

ArbeiterInnenmacht: Ist so etwas auch in Deutschland möglich? Immerhin gibt es eine lange Tradition linker Aktivitäten, die Rüstungskonzerne wie Krupp oder Thyssen ins Visier nehmen.

Stavit Sinai: Unmöglich ist das nicht. Aber in Deutschland ist es schwieriger angesichts der blinden deutschen Unterstützung der israelischen Kolonisierung und Apartheid. Das muss sich also ändern. Tatsächlich ist es kein Zufall, dass in Deutschland Elbit Systems in der Nähe des Bundestages angesiedelt ist. Elbit Systems arbeitet unter der Schirmherrschaft des deutschen Staates. Zum Beispiel wurden die gleichen Drohnen, die in Gaza morden, vom Deutschen Bundestag bestellt, um die Fortress Europe (Festung Europa) vor Flüchtlingen zu schützen. Es bestehen symbiotische Beziehungen zwischen Elbit Systems und den deutschen Behörden. Welch eine bittere Ironie der Geschichte, dass der rassistische israelische Staat heute Waffen an Deutschland liefert!