Intersektionalität: Richtige Fragen, falsche Antworten

Katharina Wagner, Neue Internationale 228, Mai 2018

Intersektionalität gewinnt vor allem in der feministischen Bewegung und vielen linken Strömungen immer mehr an Bedeutung. Auch Wirtschaft und Werbebranche haben sie mittlerweile für sich entdeckt, um Produkte besser bewerben und verkaufen zu können. Doch was ist darunter eigentlich zu verstehen?

Was bedeutet Intersektionalität?

Laut Wikipedia beschreibt Intersektionalität das Überschneiden verschiedener Diskriminierungen, wie beispielweise nach Geschlecht, sexueller Ausrichtung oder „Rasse“, in einer Person. Diese addieren sich aber nicht einfach, sondern führen zu völlig neuen individuellen Unterdrückungsverhältnissen [1]. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, vergleichen wir die Situation einer schwarzen heterosexuellen mit der einer weißen homosexuellen Frau. Beide werden aufgrund verschiedener zusammenwirkender Persönlichkeitsmerkmale Opfer von Unterdrückung. Allerdings ist die jeweilige individuelle Situation der beiden Betroffenen eben nicht dieselbe, auch wenn beide in zweifacher Hinsicht (bezogen auf die oben erwähnten Diskriminierungskategorien) unterdrückt werden.

Die Intersektionalität beansprucht also, ein Werkzeug zu liefern, mit dessen Hilfe der Fokus auf das jeweilige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird und gleichzeitig die Wechselwirkungen der einzelnen sozialen Kategorien analysiert werden können [2].

Diese Methode knüpft in mancher Hinsicht an die Triple-Oppression-Theorie (Dreifach-, Race-Class-Gender-Unterdrückung) an, welche in den 80er/90er Jahren entwickelt wurde. Diese geht von drei Unterdrückungsverhältnissen (Rassismus, Sexismus und Ausbeutung) aus, die, miteinander verwoben, die Gesellschaft prägen.

Innerhalb des Konzepts Intersektionalität existiert eine Vielzahl von Diskriminierungskategorien. Zu den wichtigsten und unstrittigsten gehören dabei, wie bereits erwähnt, „Rasse“, Geschlecht und Klasse. Des Weiteren werden, je nach dem/r jeweiligen TheoretikerIn, zusätzliche Kategorien wie beispielsweise Alter, Körper (darunter wird vor allem Gesundheit und Attraktivität verstanden), Religion, Nationalität sowie gesellschaftlicher Entwicklungsstand hinzugefügt, sodass man auf über 14 verschiedene Kategorien kommt. Doch damit nicht genug, wird auch an dieser Zahl noch Kritik geübt. Um auch ja keine Kategorie auszuschließen, wird häufig am Ende noch ein „etc.“ angehängt. Judith Butler schreibt in Ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, dass aus ihrer Sicht die Kategorisierungen eines Subjekts nie vollständig sein können [3]. Zudem stellt sich die Frage, ob alle Kategorien gleich gewichtet sein sollten und wer überhaupt entscheidet, welche Bedeutung Unterdrückungsverhältnissen beigemessen und welche unberücksichtigt werden dürfen/sollten [4].

Ursprung der Intersektionalität

Um zu ihren Anfängen zu gelangen, müssen wir bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Bereits 1851 stellte die amerikanische Frauenrechtlerin Sojourner Truth die Frage „And ain´t I a woman?“ und kritisierte das damals noch fehlende Stimmrecht für Frauen ebenso wie Rassismus und Klassenprivilegien innerhalb der damaligen Frauenbewegung. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts formierte sich in den USA eine feministische Bewegung schwarzer Frauen, die die sog. „re-visionist feminist theory“ schuf, welche allerdings aufgrund starker Diskriminierung in der Gesellschaft kaum wahrgenommen wurde. Im Jahre 1974 kam es schließlich zur Gründung des „Combahee River Collective“ in Boston, initiiert von schwarzen, lesbischen und sozialistischen Feministinnen. 1977 wurde von ihnen die Erklärung „A Black Feminist Statement“ veröffentlicht, um deutlich zu machen, dass sie sich von der damaligen feministischen Bewegung nicht repräsentiert fühlten, welche von heterosexuellen Frauen der Mittelschicht dominiert wurde.

Die bekanntesten Wegbereiterinnen der nordamerikanischen Intersektionalitätsbewegung sind sicher die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young und die Rechtswissenschaftlerin Martha Minow. Sie gehen davon aus, dass anhand gruppenbezogener Identitätspolitiken wichtige Impulse zur Überwindung gesellschaftlicher Diskriminierungen geschaffen werden können. Werden die jeweiligen Differenzen dagegen ausgeklammert und nicht beachtet, führt dieser Umstand langfristig zu einseitiger Diskriminierung innerhalb von verschiedensten Bewegungen. Sehr deutliche Beispiele für diese These liefern zum einen die „Black Consciousness“-Bewegung, einseitig dominiert von schwarzen Männern, und zum anderen die damalige Frauenbewegung, welche, wie bereits erwähnt, von weißen Frauen des (klein)bürgerlichen Spektrums gelenkt wurde.

Auch in Deutschland entwickelte sich in den 1880er Jahren erste Kritik an der Eindimensionalität der feministischen Bewegung, vorgebracht von Clara Zetkin. Sie verwies auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen Geschlecht und Klasse und kritisierte gleichzeitig, dass einzig die Interessen der bürgerlichen Frauen im Zentrum der damaligen Frauenbewegung standen. Als in den 1970er/80er Jahren der Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen §218 StGB geführt wurde, waren Frauen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen in der damaligen feministischen Bewegung nicht repräsentiert. Tatsächlich wurde die besondere Diskriminierungssituation dieser Frauen nicht berücksichtigt, ging es ihnen doch in erster Linie nicht um den Kampf für legalisierte Abtreibung, sondern darum, ihr Kind behalten zu können/dürfen, denn schließlich waren bis in die 1990er Jahre Zwangssterilisationen ohne Einwilligung der Betroffenen erlaubt.

Wegbereiterinnen der Intersektionalitätsbewegung in Deutschland waren hauptsächlich Migrantinnen, Frauen mit Beeinträchtigungen sowie schwarze deutsche und jüdische Frauen. Sie verwiesen immer wieder auf spezifische Probleme, welche von der feministischen Bewegung marginalisiert wurden. Dazu zählten zum einen Anerkennung weiblicher Asylgründe wie sexistische Verfolgung und Vergewaltigungen, aber auch die Übernahme von Reproduktionsarbeiten in deutschen Haushalten. Für Frauen mit Beeinträchtigungen ging es zusätzlich um den Kampf für Barrierefreiheit und für gleichwertige Strafen bei sexuellen Übergriffen.

Tatsächlich benutzt wurde der Begriff Intersektionalität schließlich erstmals im Jahre 1989 von der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, welche dieses Konzept aufgrund juristischer Fallanalysen entwickelte. Sie bediente sich hierbei der Metapher „Straßenkreuzung“, um deutlich zu machen, dass Diskriminierungen aus verschiedenen Richtungen erfolgen und sich dabei überschneiden können. Allerdings sollte hierbei die Theorie nicht auf die Metapher reduziert werden, ist sie doch um einiges vielfältiger. Vor allem sollte nicht der Trugschluss erfolgen, dass die einzelnen Diskriminierungen außerhalb der Straßenkreuzung getrennt voneinander existieren, geht es doch in der Intersektionalität in erster Linie darum, eindimensionale Sichtweisen auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überwinden.

Kritik an der Intersektionalität

Kritik an diesem theoretischen Werkzeug gibt es viel und aus verschiedenen Richtungen. Zum einen kommt Kritik aus der soziologischen Wissenschaft selbst. Diese bezieht sich zumeist auf die Anzahl der Kategorien und die Möglichkeit, in deren Folge regelrechte Diskriminierungshierarchien aufzustellen. Eine Kritik speziell im deutschsprachigen Raum richtet sich direkt gegen die Gender-Studies, welche die Theorie lediglich auf die oben beschriebene Metapher „Straßenkreuzung“ reduzieren. D. h. sie gehen davon aus, dass die einzelnen Diskriminierungskategorien getrennt voneinander und somit isoliert existieren.

Auch gibt es zusätzlich Kritik seitens der Betroffenen selbst. So kritisieren z. B. MigrantInnen die nicht ausreichende Berücksichtigung des Kolonialismus oder des gegenwärtig stärker werdenden Eurozentrismus, welcher internationale Arbeitsteilung und Ausbeutung vernachlässigt. Zudem wird die Intersektionalitätsforschung zunehmend von weißen AkademikerInnen betrieben. Theoretische Impulse von Personen mit Migrations-, Exil- oder Diasporahintergrund werden meist abgewertet oder schlicht verleugnet.

Aber auch wir als MarxistInnen müssen die Intersektionalität kritisch hinterfragen und auf Schwachstellen und kritische Punkte deutlich hinweisen. Denn zunächst erscheint die Intersektionalität als ein progressiver Ansatz zur Befreiung der Unterdrückten, gibt sie ihnen doch eine Stimme innerhalb der Gesellschaft. Allerdings wird die Klassenfrage in allen Befreiungskämpfen schlicht verdeckt und verschleiert. Klasse wird innerhalb der Intersektionalität lediglich als eine unter vielen Diskriminierungskategorien angesehen.

Kapitalismus und Unterdrückung

Tatsächlich wird Kapitalismus nicht als eine spezifische Gesellschaftsform und Produktionsweise analysiert, von welcher Diskriminierungen ein unlösbarer Bestandteil sind, sondern einzig und allein als ökonomisches Unterdrückungsinstrument der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Dies bedeutet im Klartext, dass innerhalb dieser Theorie keinerlei Anerkennung dafür besteht, dass Kapitalismus Unterdrückungsformen und Diskriminierungen erst schafft bzw. vorhandene stets weiter reproduziert, umformt und für sich nutzt.

MarxistInnen sehen Klassenherrschaft als das bestimmende geschichtliche Moment seit Ende der Urgesellschaft an, somit als letztlich ausschlaggebend für die Auswirkungen in Bezug auf Diskriminierung und Unterdrückung. Die Überwindung der einzelnen Unterdrückungsverhältnisse ist folglich erst nach der vollständigen Abschaffung der Klassenherrschaft möglich. Die essentielle Kraft für eine Revolution, also den kompletten Sturz des Kapitalismus, geht von der ArbeiterInnenklasse als Ganzer aus. Doch genau hier liegt ein weiteres Problem der Intersektionalität. Diese Ideologie ist entstanden, um Erfahrungen von Menschen, die von mehreren Diskriminierungen betroffen sind, angemessen zu berücksichtigen und geht dieses Problem auf zwei unterschiedliche Arten an. Zum einen wird die jeweilige Basis der vorgeschlagenen Organisationsformen immer enger definiert, was zu einem kaleidoskopischen Trenneffekt nach den einzelnen „intersektionalen Identitäten“ führt, und zum anderen werden wichtige Punkte zu Fragen einzelner Individuen innerhalb einer breiten Bewegung reduziert. Dies bedeutet in der Praxis, dass man sich immer weiter weg vom Kollektiv und hin zu individuellen Identitäten bewegt, was eine Vereinigung der gesamten ArbeiterInnenklasse erschwert.

Alternative

Daher sollten MarxistInnen diese Theorie nicht unterstützen, sondern ihre eigenen Methoden einsetzen, um Sexismus, Rassismus, Homophobie und weitere Unterdrückungsformen zu bekämpfen, welche auch in linken Organisationen, Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen auftreten können. Wir treten daher für gesonderte Treffen, sog. Caucuses, ein, um unterdrückten Gruppen die Möglichkeit zu geben, Fragestellungen im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Unterdrückungssituation zu erörtern, kollektive Lösungen zum Kampf gegen Unterdrückung zu finden und dementsprechende Maßnahmen direkt der jeweiligen Mitgliedschaft bzw. der Führung vorzulegen. Denn wenn die politischen Forderungen einer Organisation zu diesen Fragen nur von denjenigen aufgegriffen werden, die unter den bestimmten Unterdrückungssituationen leiden, bricht dies nicht mit der „Hierarchie der Unterdrückung“, sondern manifestiert diese. [5]

Wie beim Eintreten für das nationale Selbstbestimmungsrecht muss die Arbeiterinnenklasse in ihrer Gesamtheit den Kampf gegen alle Unterdrückungsformen führen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den Blick auf den grundlegenden Klassenantagonismus erschweren und damit das Kampfpotenzial als gesamte Klasse durch deren Spaltung schwächen. Dies ist ein gänzlich entgegengesetztes Herangehen als das der TheoretikerInnen des Feminismus, der Triple Oppression und des Intersektionalismus, die eine letztlich willkürliche unterschiedliche Benotung der Auswirkungen einzelner Unterdrückungsformen auf das jeweilige Individuum vornehmen.

Endnoten

[1] Wikipedia, Intersektionalität

[2] Walgenbach, Katharina (2012): Intersektionalität – eine Einführung; http://portal-intersektionalitaet.de/ theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/

[3] Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.

[4] Degele, Nina/Winker, Gabriele (2007): Intersektionalität als Mehrebenenanalyse; http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/degelewinker/

[5] http://www.workerspower.co.uk/2013/ 11/intersectionality-not-the-basis-for-the-liberation-struggle/