Hamas: nur eine weitere terroristische Organisation?

Jeremy Dewar, Infomail 1235, 1. November 2023

Die Hamas wird von den USA, Kanada, der EU, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Japan und Australien als „terroristische Organisation“ eingestuft. Andere Länder, vor allem Saudi-Arabien, haben ihren militärischen Flügel verboten.

Die rechte Politikerin und britische Innenministerin Suella Braverman erklärte, die Organisation lebe einen „mittelalterlichen Antisemitismus“ und sei „dem Islamischen Staat (ISIS) ebenbürtig“. Dies wird von der Labour-Partei und sogar von einigen Linken, die die Organisation als „faschistisch“ bezeichnen, aufgegriffen.

Vieles soll die Menschen davon abhalten, sich näher mit der Hamas, ihrer Ideologie und Praxis zu befassen. Insbesondere sollen wir pauschal die Botschaft schlucken, dass die Hamas den Gazastreifen diktatorisch regiert und ihre Beziehung zu den Palästinenser:innen im Gazastreifen einseitig und ausbeuterisch ist.

Die Wahrheit ist vielschichtiger und offenbart eine Massenorganisation mit tiefen Wurzeln in der palästinensischen Bevölkerung.

Ursprünge und Ideologie

Die Hamas geht auf eine Initiative des palästinensischen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft zurück, der Anfang der 1980er Jahre zu Zwecken der Bildung, der religiösen Unterweisung und sozialen Wohlfahrt gegründet wurde. Sie wurde im Dezember 1987 gegründet, fünf Tage nachdem die erste Intifada gegen die israelische Besatzung ausbrach. Hamas ist ein Akronym für Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet aber auf Arabisch „Begeisterung“.

Die israelischen Behörden duldeten ihre Aktivitäten zunächst als konservativ-religiöses Gegengewicht zu den säkularen nationalistischen und „marxistischen“ Befreiungsbewegungen und Guerillaorganisationen. Sie war bei weitem nicht die erste bewaffnete palästinensische Widerstandsorganisation. Die säkulare Fatah unter Jassir Arafat und die marxistisch-leninistische Volksfront für die Befreiung Palästinas unter der Führung von George Habasch waren zwischen dem Krieg von 1967 und der Intifada von 1987 die dominierenden Kräfte in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Anfang der 1980er Jahre entstand eine weitere islamistische Gruppe, der Islamische Dschihad.

Nachdem ihre Kämpfer:innen 1982 aus dem Südlibanon vertrieben worden waren, gab die PLO den Guerillakampf auf, den sie in den 1960er und 1970er Jahren geführt hatte, und ihr Prestige sank. Sie beteiligte sich an den Abkommen von 1992, erkannte schließlich den Staat Israel an und verurteilte den „Terrorismus“ als Preis für die Gründung der neuen Palästinensischen Autonomiebehörde. Schon bald verstrickte sie sich in Korruption und Zusammenarbeit mit der israelischen Unterdrückung im Westjordanland und im Gazastreifen.

Nachdem Arafat sowohl den bewaffneten Kampf als auch das Ziel eines einzigen säkularen Staates aufgegeben hatte, entschied er sich für den Schatten der Macht in einem zersplitterten Staat im Westjordanland, der immer noch unter israelischer Militärkontrolle stand. Damit überließ er der Hamas den militanten Widerstand als politisches Geschenk.

Dies wurde durch die Tatsache begünstigt, dass die israelischen Unterdrücker:innen weiterhin an der Schraube drehten, auch bei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die jungen Palästinenser:innen verlangten nach einer wirksamen Widerstandsbewegung, die bereit und in der Lage ist, sich mit der Waffe in der Hand gegen die mörderische Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung durch die IDF zu wehren.

Die Gründungscharta der Hamas aus dem Jahr 1988 erklärte es zur Pflicht aller Muslim:innen auf der ganzen Welt, den palästinensischen Waqf (heiliges Gebiet) „vom Fluss bis zum Meer“ zu verteidigen und zu befreien. Sie benannte „die Juden/Jüdinnen“ als Feind:innen und erklärte, dass nur eine kleine Anzahl von ihnen bleiben dürfe. Ihr Ziel ist eine islamische Gesellschaft, die religiös und sozial konservativ ist. In dieser Hinsicht stellt ihre Ideologie ein Spiegelbild der zionistischen Hardlinerdoktrin dar.

Somit ist die Ideologie der Hamas eine durch und durch reaktionäre, antisemitische Utopie. Ihre Gründungscharta vertritt alle antisemitischen Verschwörungstheorien, wonach die Juden/Jüdinnen hinter jedem Krieg und jeder Revolution stecken, und führt als Beweis die berüchtigte Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, die Protokolle der Weisen von Zion, an. Obwohl sich Sprecher:innen der Hamas davon distanziert haben, wurde es nie aufgehoben und bleibt eine mächtige Waffe in den Händen Israels und seiner Unterstützer:innen.

Denjenigen, die behaupten, die Hamas sei faschistisch und unterscheide sich nicht von ISIS, muss jedoch eine Reihe von Punkten entgegengehalten werden. Erstens ist die Hamas im Gegensatz zu ISIS eine Massenorganisation, die durch ihre Schulen und Universitäten, ihre Krankenhäuser und Wohlfahrtsprogramme und ihre Tausende von Widerstandskämpfer:innen tief in der palästinensischen Gesellschaft verwurzelt ist, insbesondere im Gazastreifen.

ISIS gehört zum takfirischen Zweig des Islamismus, der andere Muslim:innen als Abtrünnige betrachtet, gegen die ein terroristischer Krieg geführt werden kann. Folglich glaubt er daran, den Islam „von oben“ aufzuerlegen, unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung. Die Hamas hingegen glaubt an eine Islamisierung „von unten“ und hat bei vielen Gelegenheiten auf die Bedürfnisse und Bestrebungen ihrer Basis reagiert.

In den seltenen Fällen, in denen lokale Hamaskommandeur:innen versucht haben, strenge islamische Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, sind diese immer gescheitert und haben fast nie den Segen der Führung erhalten. Vielmehr hat sie ihre Vision als an das historische Kalifat angelehnt beschrieben, in dem christliche und jüdische Gemeinschaften toleriert wurden.

Weder ihr Sozialsystem noch ihre Korruptionsfreiheit sind jedoch der eigentliche Grund für die Unterstützung der Massen. Vielmehr ist es ihr Ruf der „Standhaftigkeit“ bei der Verfolgung der ursprünglichen gemeinsamen Ziele aller palästinensischen Bewegungen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr für alle 1948 und 1967 Vertriebenen und ihre Nachkommen. Dennoch ist ihre Bilanz nicht ganz so kompromisslos, wie es den Anschein haben mag, und der Grund dafür ist ihre Abhängigkeit von verschiedenen Staaten der arabischen und islamischen Welt.

Kompromisse seit Oslo

Natürlich weigerte sich die Hamas, an den Gesprächen teilzunehmen, die zu den Osloer Verträgen führten, weil dies die Anerkennung des Existenzrechts Israels bedeuten würde. Aber schon damals gab es in ihren Reihen und ihrer Führung eine Debatte über die Teilnahme, da die Gespräche von den Palästinenser:innen, die eine Art von Staatlichkeit anstrebten, damals massiv unterstützt wurden. In den folgenden Jahren wurde weiter darüber diskutiert, ob man Israel anerkennen und eine Hudna (Waffenstillstand) auf der Grundlage eines vorübergehenden palästinensischen Staates in den Grenzen von 1948 mit Jerusalem als Hauptstadt, dem Abzug der israelischen Truppen und dem Abbau der Siedlungen vereinbaren sollte.

Obwohl sie sich bei den Präsidentschaftswahlen 2005, die Mahmud Abbas von der Fatah gewann, der Stimme enthielt, kandidierte die Hamas bei den allgemeinen palästinensischen Wahlen 2006 und erlangte eine Mehrheit in der Legislative und die Kontrolle über den Gazastreifen. In ihrem Wahlprogramm verzichtete sie auf die antisemitische Sprache ihrer Charta (ohne sie zu verleugnen) und erklärte den zionistischen Staat Israel und nicht „die Juden/Jüdinnen“ zum Feind. Außerdem erkannte sie ihn faktisch an.

Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg stellten die „demokratischen“ imperialistischen Mächte USA und EU die Finanzierung der allgemeinen Palästinensischen Autonomiebehörde ein und leiteten alle Hilfen über das Büro von Abbas weiter. Die Versuche der Hamas, eine Einheitsregierung zu bilden, scheiterten, was zum so genannten Bruderkrieg von 2007 führte, der damit endete, dass die Fatahkräfte aus dem Gazastreifen vertrieben wurden und die Hamas den Streifen beherrschte, den Israel 2005 geräumt hatte, um ihn noch stärker zu blockieren.

Zwei weitere Kriege mit Israel in den Jahren 2008 – 2009 (Operation Gegossenes Blei) und 2014 (Operation Schutzkeil) sowie Einfälle im Jahr 2021 führten zur Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Gazastreifens. In der Zwischenzeit haben Israels Blockade und das Verbot der Organisation als „terroristisch“ durch den westlichen Imperialismus versucht, die Hamas zu isolieren und ruinieren. Heute sind nur noch der Iran und Katar bereit, ihre Führung aufzunehmen und ihr Hilfe und diplomatische Dienste zukommen zu lassen.

Schlussfolgerung

Der fundamentalistische rechte Flügel Israels, der unter den Regierungen von Benny Gantz und Benjamin Netanjahu gestärkt wurde, bleibt mit der unerschütterlichen Unterstützung durch die USA, sowohl unter Trump als auch unter Biden, die entscheidende Kraft in Israel-Palästina.

Es stimmt nicht, dass die Hamas darauf nur mit Raketen geantwortet hat. In den Jahren 2018 – 2019 kam es zu Massenprotesten entlang der Grenze zum Gazastreifen; israelische Scharfschütz:innen töteten 190 unbewaffnete Demonstrant:innen und verletzten Tausende. Dann, im Jahr 2020, brach die sogenannte Dritte Intifada mit Massendemonstrationen in den Flüchtlingslagern und wichtigsten Städten des Westjordanlandes aus. Natürlich wurde auch diese von den IDF unterdrückt. Im Jahr 2021 kam es zu einem palästinensischen Generalstreik.

Bewaffnete rechte Siedler:innen mit Unterstützung durch die IDF machten das Jahr 2022 zum blutigsten Jahr im Westjordanland seit Jahren, als sie ihre Kontrolle über das Land brutal ausweiteten. Selbst die völlig friedliche BDS-Kampagne wird in westlichen Ländern verboten, während Kritik an Israel unterdrückt oder als „antisemitisch“ stigmatisiert wird.

Kein Wunder, dass der Ruf nach bewaffnetem Widerstand immer lauter wird. Der Aufschwung der Bewegung Löwengrube im Westjordanland in den letzten zwei Jahren (mit Beteiligung der Hamas) spiegelt diese Realität wider. Und deshalb wird der Widerstand auch dann weitergehen und bewaffnet sein, wenn die Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen in diesem Krieg zerstört wird.

Der Ausbruch vom 7. Oktober mag den Plan der USA, Israels und Saudi-Arabiens zur „Normalisierung“ der Beziehungen und zur Wiederherstellung eines größeren Einflusses der USA in der Region gestoppt haben, aber das bleibt ihr Ziel. Die Aktion ermöglichte es rivalisierenden zionistischen Parteiführer:innen auch, ihre Reihen zu schließen und die israelische Bevölkerung zu vereinen, gerade als sich die schwersten Spaltungen in der Geschichte des Staates abzeichneten. Schlimmer noch, sie gab den Zionist:innen Deckung für ihre rachsüchtigen Vergeltungsmaßnahmen und lieferte einen Vorwand, um noch mehr Palästinenser:innen im Westjordanland aus ihren Häusern zu vertreiben, ja sogar die gesamte Bevölkerung zu verjagen, was das erklärte Ziel einiger Mitglieder der Regierung Netanjahu ist.

In den Fehlern der Hamas zeigt sich auch der Fehler im Programm des palästinensischen bürgerlichen Nationalismus, ob säkular oder islamistisch. Auch wenn es die dringenden Bedürfnisse der am meisten unterdrückten Menschen zum Ausdruck bringt, ist es als Strategie auf die Unterstützung durch benachbarte Regime angewiesen, die es dann für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Im Grunde hat die Hamas die fatale stalinistische Etappentheorie, die sich für die verschiedenen PLO-Fraktionen als Sackgasse erwies, nicht überwunden. Stattdessen hat sie ihr lediglich einen islamistischen Anstrich verpasst und die „Volksfront“ durch eine reaktionäre klerikale Diktatur ersetzt.

Nichtsdestotrotz müssen alle Sozialist:innen und konsequenten Demokrat:innen den palästinensischen Widerstand gegen die IDF unterstützen, sofern sie sich der zionistischen Besatzung und dem Apartheidstaat widersetzt. Aber wir können weder das soziale und politische Programm der Hamas noch ihre Kampfmethoden unterstützen, weder eine elitäre Guerillastrategie noch Massaker an hilflosen israelischen Zivilist:innen.

Echte Solidarität mit Palästina bedeutet, für eine radikal andere Strategie einzutreten, deren Elemente sich in den drei Intifadas gezeigt haben: Mobilisierungen mit bewaffneter Selbstverteidigung und Appelle an die umliegende und internationale Arbeiter:innenklasse, sich gegen Israel und den Versuch des Westens zu erheben, die Hamas von der Landkarte zu tilgen, womit sie jede Form des Widerstands meinen, wenn nicht gar das palästinensische Volk als Ganzes.

Wir fordern die Aufhebung der Gesetze, die die Hamas als terroristische Organisation etikettieren. Israel ist der eigentliche Massenterrorist, wie wir heute sehen können. Die riesigen weltweiten Demonstrationen zeigen die breite Unterstützung der Bevölkerung für Gaza und die palästinensische Sache. Diese Mobilisierungen müssen zu direkten Aktionen übergehen, die den Waffen- und Handelsverkehr mit Israel blockieren, einschließlich Streiks der Gewerkschaften, um die israelfreundlichen Regierungen und Politiker:innen zu zwingen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff, Unterkünften, medizinischer Ausrüstung und Hilfsgütern zu ermöglichen. Sie müssen die Forderung nach einer dauerhaften Aufhebung der jahrzehntelangen Belagerung des Gazastreifens und dem Abzug nicht nur der IDF, sondern auch der Kriegsschiffe und Flugzeuge der USA und Großbritanniens beinhalten.

Diese unmittelbaren und strategischen Fragen unterstreichen die Notwendigkeit einer internationalen Partei der Arbeiter:innenklasse, die die Kräfte in Palästina, den umliegenden Ländern des Nahen Ostens und innerhalb Israels selbst vereint, egal wie weit entfernt Letzteres im Moment auch erscheinen mag. Bewaffnet mit der Strategie der permanenten Revolution und der Taktik der Massenaktion können Revolutionär:innen damit beginnen, die Führungskrise zu lösen, die so viele Niederlagen und so viel Leid nicht nur in Palästina, sondern in allen umliegenden Ländern verursacht hat.




An die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften Israel-Gaza: Nein zu Krieg, Zerstörung und Terror!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, 26. Oktober 2023, zuerst veröffentlicht auf www.vernetzung.org, Infomail 1235, 29. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir die Erklärung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften. Auch wenn wir einzelne Formulierungen nicht teilen und für eine klare Unterstützung des palästinensischen Widerstandes eintreten, so halten wir es für einen wichtigen Schritt, dass sich Gewerkschafter:innen klar gegen die Unterstützung der imperialistischen und pro-zionistischen Politik der Bundesregierung und der Vorstände der DGB-Vorstände aussprechen. Vor allem aber halten wir es für wichtig, in den Betrieben und Gewerkschaften gemeinsam für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Palästina-Solidarität und gegen alle Waffenlieferungen an Israel zu kämpfen.

An die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften Israel-Gaza: Nein zu Krieg, Zerstörung und Terror!

Wir kritisieren sehr deutlich die einseitigen offiziellen Erklärungen des DGB und der Einzelgewerkschaften der „Solidarität mit Israel“, die keinerlei Kritik am Vorgehen und der Politik des israelischen Staates gegen die palästinensische Bevölkerung und der aktuellen repressiven Politik durch die Bundesregierung enthalten. Aus der Ablehnung des Hamas-Angriffs, den auch wir verurteilen, wird ein Freibrief für die israelische Regierung. Das vernachlässigt wesentliche Ursachen des Krieges in Palästina/Israel.

Die tiefere Ursache für solche Ereignisse und selbst für die Existenz von Organisationen wie der arbeiter*innen- und frauenfeindlichen Hamas liegt in der jahrzehntelangen Besatzung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung durch den Staat Israel bzw. die Abriegelung und Belagerung des Gaza Streifens, immer neue Vertreibungen aus Jerusalem und im Westjordanland. Gaza wird zu recht von vielen als „Freiluft-Gefängnis“ bezeichnet. Bei unbewaffneten Protesten gegen die Errichtung der Mauer um dieses Gefängnis wurden über 50 Menschen vom israelischen Militär erschossen, darunter Sanitäter:innen und Journalist:innen. Laut Statistik der UNO wurden in der Zeit von 2008 bis vor den Angriff 308 Israelis und 6407 Palästinenser:innen getötet.

Die Reaktion der Hamas, auf Terror mit Terror zu reagieren, führt zu weiteren Opfern in der Zivilbevölkerung, zur Eskalation und verbaut den Weg, für den wir als Gewerkschafter:innen stehen: Für die Einheit aller Kolleg*innen – egal welcher Nationalität, Religion oder Geschlecht und gegen jede nationale oder rassistische Spaltung!.

Die Reaktion des Staats Israel – die völlige Abschottung des Gaza-Streifens, die Bombardierung und der zu erwartende Einmarsch der israelischen Armee – führt zu erneutem Leid der palästinensischen Bevölkerung, zu tausenden Toten, Vertreibung und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Wir fordern ein sofortiges Ende dieser Angriffe und ein Ende der Unterstützung durch die Bundesregierung. Wir sind entsetzt, dass die Bundesregierung sich sogar gegen eine Waffenruhe ausgesprochen hat.

Wir stehen an der Seite der Masse der Bevölkerung auf beiden Seiten, die um ihr Leben, ihre Sicherheit oder ihre Angehörigen bangen. Unsere Gedanken sind bei ihnen.

Wir fordern von unseren Gewerkschaften:

  • Kampf für die Aufhebung aller Verbote und demokratischer Rechte hierzulande, die sich gegen diejenigen richten, die ihre Stimme gegen das Töten der Zivilbevölkerung in Gaza erheben. Für Meinungs- und Versammlungsfreiheit!

  • Gewerkschaftliche Aktionen gegen jede Waffenlieferung!

  • Kampf gegen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus

  • Offene, demokratische und konstruktive Diskussion in den Gewerkschaften, keine Ausgrenzungen und Diskussionsverbote!

Die Gewerkschaften müssen alle Ansätze für demokratische Massenbewegungen in der Region gegen Krieg, Besatzung, Unterdrückung und Ausbeutung und den Aufbau gewerkschaftlicher Organisationen von Arbeiter*innen und Jugendlichen unterstützen. Diese können, indem sie zusammenkommen, die nationale Spaltung nur von unten und im Kampf für ihre gemeinsamen Interessen überwinden.

Die Welt gerät nicht nur im Nahen Osten in eine immer schlimmer werdende Spirale von Kriegen, Handelskriegen und multipler Krise. Die arbeitende Klasse verliert bei jedem dieser Kriege, egal welche Seite ihre Regierungen unterstützen. Sie braucht daher eine unabhängige Klassenposition in den Konflikten, die die gemeinsamen Interessen der Arbeiter*innen unabhängig von ihrer Nationalität und Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Es ist auch nötig, eine gesellschaftliche Perspektive jenseits des auf Profitmaximierung und Konkurrenz basierenden Kapitalismus zu entwickeln, denn dieser schafft so immer wieder Unterdrückung und Kriege.




Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Offener Brief in Solidarität mit Elisa Baş, Infomail 1234, 21. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen offenen Brief in Solidarität mit Elisa Baş. Wir rufen zur Unterzeichnung des offenen Briefs auf. Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com

Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Solidarität mit der Bundespressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, gegen die Diffamierungen der Springer-Presse!

Unter der Überschrift »Klima-Aktivistin schockt mit Vorwurf gegen Juden« versuchen die BILD-Zeitung und andere Springer-Medien, die Pressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, als »geschichtsvergessen« und »geschmacklos« darzustellen. Der gleichlautende Artikel von Julian Loevenich erschien zuerst in der Berliner Tageszeitung (B.Z.)[1]. Eine Stunde später dann auch in der BILD-Zeitung[2]. Einen Tag nach dem BILD-Artikel übernahmen die Redaktionen von Focus Online[3] und Express aus Österreich die in der BILD geäußerten Vorwürfe.

Elisa Baş teilte auf ihrem Instagram-Account eine Kritik an Aussagen des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. In einem Gast-Kommentar für die BILD-Zeitung hatte dieser geschrieben: »Die Barbaren sind unter uns.« und »Es muss sich etwas tun.«[4] Auf dem Bild zum Kommentar ist eine Frau zu sehen, die eine palästinensische Fahne schwenkt.

Elisa Baş hatte den Artikel mit dem folgenden Kommentar einer anderen Person geteilt: »In Deutschland herrscht eine Pogrom-Stimmung gegen Palästinenser:innen und Schuster heizt sie an.«

Aus dieser geteilten Kritik konstruiert nun der BILD-Redakteur Julian Loevenich folgenden Vorwurf: »Besonders geschichtsvergessen und geschmacklos ist Baş „Pogrom“-Vorwurf, weil Juden während der Nazi-Zeit bei Pogromen ermordet wurden. Die Klima-Aktivistin rückt damit den Präsidenten des Zentralrats der Juden in die Nähe der Nationalsozialisten.«

Elisa Baş hat sich stets klar und deutlich gegen Antisemitismus sowie allgemein jede Form von Rassismus positioniert. Die Vorwürfe sind eine bodenlose Frechheit. Im Anschluss an die Berichterstattung werden von unterschiedlichen Personen Forderungen nach einem Rücktritt erhoben.

Wir stellen fest:

  1. Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Hetze und Rassismus nicht. Wir lehnen die Rücktrittsforderungen gegen Elisa Baş ab. Die Klimabewegung darf sich nicht spalten lassen. Der Angriff auf Elisa Baş ist ein Angriff auf alle, die sich für eine klimagerechte Welt einsetzen. Wir stehen angesichts der Diffamierungs-Kampagne als Menschenrechts- und Klimaaktivist:innen jüdischer, muslimischer und anderer Herkunft gemeinsam hinter der Fridays-for-Future-Bundespressesprecherin Elisa Baş. Die gefährliche Stimmungsmache der BILD-Zeitung gegen eine junge Klima-Aktivistin muss sofort beendet werden!
  2. Der Presserat muss BILD & BZ in die Schranken weisen und die Hetze gegen Palästinenser:innen stoppen!
  3. Der Begriff der »Barbaren« diente schon in der Antike zur Entmenschlichung unter Sklaverei und rechtfertigte ebenso die Kolonialgeschichte.[5] Dass die BILD-Zeitung und andere an diese rassistische Tradition anknüpfen, ist verantwortungslos und schürt eine hetzerische Stimmung.
  4. Die Kritik an Schuster, er heize mit seinen Aussagen eine »Pogrom-Stimmung« gegen Palästinenser:innen an, hat nichts mit Antisemitismus oder Geschichtsvergessenheit zu tun. Der Begriff »Pogrom« ist älter als der Nationalsozialismus und findet auch in anderen Kontexten weitläufig Verwendung. So definieren der Duden und die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff als »gewalttätige Aktionen, Übergriffe und Ausschreitungen gegen (ethnische, nationale, religiöse etc.) Minderheiten oder politische Gruppierungen.«[6] Die israelische Zeitung Ha‘aretz bezeichnete beispielsweise den Siedlerangriff auf das palästinensische Dorf Huwara als Pogrom.[7] Elisas Aussagen richten sich an keiner Stelle auch nur ansatzweise gegen jüdische Menschen oder jüdisches Leben.

#keineBarbaren #SolimitElisa

Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com


[1] https://www.bz-berlin.de/berlin/fridays-for-future-elisa-bas-juden

[2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/sprecherin-von-fridays-for-future-klima-aktivistin-schockt-mit-vorwurf-gegen-jud-85762668.bild.html

[3] https://www.focus.de/politik/ausland/nahost/klimaaktivistin-macht-juden-vorwuerfe-fridays-for-future-sprecherin-schockt-mit-wirrer-genozid-nachricht_id_226258300.html

[4] https://www.bild.de/politik/kolumnen/politik-inland/josef-schuster-zum-terror-in-israel-die-barbaren-sind-unter-uns-85744098.bild.html

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-06/rassismus-ideologie-nationalsozialismus-rassentheorie-antike-mittelalter-genetik/seite-2?

[6]https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/296465/pogrom/

[7] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-03-04/ty-article/.premium/israeli-settlers-threaten-another-hawara-pogrom-on-saturday-night/00000186-ad5d-de2a-a1ee-af5f092f0000




Bundestag auf Kriegskurs – Nein zur Kriminalisierung der Palästina-Solidarität!

Martin Suchanek, Infomail 1233, 14. Oktober 2023

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in einer Regierungserklärung. „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas (und aller anderen palästinensischen Organisationen), ihre Kämpfer:innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung, der zur Vernichtung jedes Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser:innen bringen soll. „Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser:innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Verdrehung der Ursachen

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser:innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht voll von Israel übernommen und kontrolliert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär:innen haben wir diese immer abgelehnt. Wir treten für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist:innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der Ausbruch der Palästinenser:innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung. Er war und ist Teil des palästinensischen Widerstandes.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen daher keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Solidarität mit Palästina!

Dies setzt aber voraus, dass sich Revolutionär:innen angesichts des israelischen Angriffs und in einer Situation, in der die gesamte palästinensische Nation und jeder Widerstand dämonisiert wird, klar auf die Seite der Unterdrückten stellen. So notwendig eine linke Kritik an der Hamas als reaktionärer, islamistischer, antisemitischer Kraft ist, so wichtig ist es auch, ihrer medialen Dämonisierung entgegenzutreten. Es ist zionistische und westliche Kriegspropaganda, die Hamas und deren Agieren in Gaza mit dem Islamischen Staat gleichzusetzen. Die Hamas ist weder eine faschistische Kraft noch hat sie in Gaza ein „faschistisches“ Regime errichtet.

Das ändert nichts an ihrem zutiefst reaktionären Charakter. Natürlich haben ihre Führungen und Funktionär:innen die Verwaltung des Mangels unter ihrer Regie auch zur Bereicherung benutzt. Das unterscheidet sie aber nicht von anderen klerikalen und nationalistischen „Regimen“. Die Hamas ging natürlich auch repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor – aber sie gestattete auch andere Gruppierungen des Widerstandes auf ihrer rechten wie linken (PFLP, DFLP) Seite.

Mit der Dämonisierung der Hamas sollen ein barbarischer Angriffskrieg – des Tötens bis zum letzten Mann! – und massive Repression in Ländern wie Deutschland legitimiert werden. Dabei werden alle Kämpfenden, alle Palästinenser:innen, die auch nur ihre Stimme erheben, pauschal zu „Hamas“ oder „Hamasunterstützer:innen“ erklärt.

Die Existenz anderer politischer Kräfte, insbesondere der palästinensischen Linken, wird solcherart dementiert. Auch sie erscheinen nur noch als „Hamas“. Nachdem alle Kämpfer:innen Hamas sind, werden alle auch gleich zu Dschihadisten und „Terroristen“ im Stile des Islamischen Staates. Der nationale Befreiungskampf wird so zu einem religiösen uminterpretiert, die palästinensische Bevölkerung wird rassistisch als „unzivilisierte“, „barbarische“ Meute diffamiert.

Eine erste Aufgabe von Internationalist:innen und Antiimperialist:innen in Deutschland und allen westlichen Ländern besteht angesichts der konzertierten Hetze darin, sich dieser demokratisch-imperialistischen Ideologie und Verkehrung entgegenzustellen.

Nein zur rassistischen Kriminalisierung!

Eine zweite, damit verbundene besteht in der Solidarität mit den Palästinenser:innen und ihrem Widerstand gegen dessen Kriminalisierung. Bundestag und Regierung unterstützen Israel im Krieg nicht nur mit Waffen und Propagandalügen, sie verschärfen auch die Repression.

Das ist natürlich nicht neu. Schon seit Jahren finden sich palästinensische Organisationen auf den „Terrorlisten“ der EU und Deutschlands, sind ihre Organisationen verboten, ihre demokratischen Rechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit – massiv eingeschränkt. Sie können nicht offen auftreten, ihre Politik, Programmatik und Strategie darlegen oder verteidigen, sondern sind vielmehr gezwungen, in einer Art Sklav:innensprache ihre Überzeugungen verklausuliert vorzutragen.

Regelmäßig werden außerdem seit Jahren in Berlin und anderen Städten propalästinensische Demonstrationen und Kundgebungen über Wochen verboten; willkürlich werden Aktivist:innen festgenommen.

All das zielt schon seit Jahren darauf, alle politischen Strömungen des palästinensischen Volkes – insbesondere auch die Linken – zum Schweigen zu bringen.

Nun stehen wir, angesichts des Krieges gegen Gaza, vor einer neuen dramatischen Eskalation der Diffamierung und Repression.

  • Gegen Hamas soll ein Betätigungs- und gegen das Gefangenenhilfsnetzwerk Samidoun ein Vereinsverbot vom Innenministerium verhängt werden. So kann jede weitere organisatorisch-politische Tätigkeit unter Strafe gestellt werden.

  • In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden in den letzten Tagen festgenommen. Eine Verlängerung ist durchaus möglich und könnte über Wochen andauern.

  • Verboten sind außerdem auch zahlreiche Parolen des Befreiungskampfes, die als „antisemitisch“ diffamiert werden. Auch das Zeigen der palästinensischen Fahne wird kriminalisiert. Generell wird jede „israelkritische“ Äußerung als „Antisemitismus“ gebrandmarkt oder in dessen Nähe gerückt.

  • An Berliner Schulen wurde das Tragen der Kufiya, das Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ oder einer Landkarte von Israel in den Farben Palästinas verboten.

  • Nachrichtendienste und Provokateur:innen werden verstärkt gegen alle Unterstützer:innen Palästinas eingesetzt werden.

  • Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslimen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei antizionistischer oder antiimperialistischer Aktivität. Der antiislamische Rassismus tritt neuerdings unter dem Deckmantel der Solidarität mit Israel auf – und verharmlost zugleich den Antisemitismus der Rechten und imperialistischen, weißen Chauvinismus.

Und die deutsche Linke und Arbeiter:innenbewegung?

Bis auf recht wenige internationalistische und antiimperialistische Gruppierungen ergreift die deutsche Linke und bürokratisch geführte Arbeiter:innenbewegung, wenn auch wenig verwunderlich, die Seite des Unterdrückers. Wie SPD und LINKE stimmen auch die Gewerkschaftsspitzen in den Chor der Israelsolidarität ein und unterstützen das Massaker an den Palästinenser:innen.

Der Aushebelung demokratischer Rechte, Demonstrationsverboten und der Bespitzelung durch die Geheimdienste stimmen sie entweder zu oder sie hüllen sich in vornehmes Schweigen oder Relativierungen von Unterdrückten und Unterdrückenden.

Gegen den Strom!

In der aktuellen Lage müssen wir gegen den Strom von Hetze und Diffamierung ankämpfen. Das heißt, klare Kante gegen alle Vereins- und Versammlungsverbote zu zeigen und gegen den immer offeneren antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus in Deutschland Stellung zu beziehen. Wir unterstützen alle Aktionen und Kampagnen der linken und antiimperialistischen Kräfte, gemeinsam und koordiniert dagegen Protest und Widerstand zu organisieren.

  • Nein zu allen Demonstrationsverboten! Nein zum Verbot palästinensischer Organisationen und Vereine, ihrer Fahnen und Symbole! Nein zu allen Verboten an Schulen und im öffentlichen Raum!

  • Schluss mit der Kriminalisierung von Menschen, die für Palästina demonstrieren! Einstellung aller Verfahren und aller Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen!

Dies muss Teil des Kampfs für eine breite, auch von der Arbeiter:innenbewegung unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina sein. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass die proisraelische Stimmungslage in Deutschland nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!



Nein zur israelischen Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

Dave Stockton, Infomail 1233, 9. Oktober 2023

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer:innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an.

Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist:innen, sowohl in den Straßen der Stadt als auch von Jeeps aus, die auf dem Lande unterwegs waren. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat:innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen und töteten 200 Palästinenser:innen in einer Operation, die die IDF „Eiserne Schwerter“ nennt. Mindestens 410 Palästinenser:innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler:innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, während die Weltöffentlichkeit abgelenkt ist.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger:innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist:innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis, darunter auch IDF-Reservist:innen, gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist:innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden (natürlich nur gegen israelische Bürger:innen, nicht die Palästinenser:innen). Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger:innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner:innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefangenenlagers Gaza.

Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt, vor allem bei den Operationen „Gegossenes Blei“ 2008/09 und „Protective Edge“ im Jahr 2014. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler:innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner:innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser:innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte von Zivilist:innen und die Fedajin des Bataillons „Löwengrube“ getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands, vor allem in Nablus und Huwara, wurden Zivilist:innen und ihre jungen Verteidiger:innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler:innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner:innen von ihrem Land vertrieben.

All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln. Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser:innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist:innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nicht kompromissbereit wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern und das Volk seiner Heimat zu berauben. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen selbsternannten Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück. Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der extremen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität umfassen, vorausgesetzt, dass es keine Privilegien für beide gibt. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land und die Ressourcen gemeinsam genutzt werden, in dem für die Bedürfnisse der Massen und nicht für den Profit der Wenigen produziert wird, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter:innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser:innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




NATO-Erweiterung: Auferstehung des Militarismus

Robert Teller, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Noch Ende 2019 galt die NATO dem französischen Präsidenten Macron als hirntot. Trump drohte mit der Kürzung von US-Mitteln und sogar dem Austritt aus dem Kriegsbündnis. Der Krieg in der Ukraine lässt all das in Vergessenheit geraten und wird als Gelegenheit genutzt, neue Fakten zu schaffen. Binnen kurzer Zeit wurde, wenn auch nicht ohne Friktionen, der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in Angriff genommen.

Bestandsaufnahme der Expansion

Dieser wurde bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni 2022 eingeleitet. Die Verabschiedung durch die beiden Beitritts- und sämtliche NATO-Mitgliedsländer wurde im Falle Finnlands bis April 2023 abgeschlossen. Im Falle Schwedens wird eine endgültige Einigung im Herbst diesen Jahres erwartet. Die Aufnahmen markieren eine Wende nach einer jahrzehntelangen Politik zumindest formeller Unabhängigkeit von geopolitischen Machtblöcken – der NATO, dem Warschauer Pakt und von Russland und dessen Bündnispartner:innen.

Nicht zuletzt sollte die jüngste Expansion der NATO auch die politische Botschaft aussenden, dass die Zeit des Manövrierens zwischen den imperialistischen Machtblöcken in Ost und West der Vergangenheit angehört, jedes Land sich entscheiden muss, auf welcher Seite es steht. Durchkreuzt wurde dieses Verdikt durch die Türkei, die eine strategische Ambivalenz gegenüber Russland als Druckmittel einsetzen konnte, um von Schweden und Finnland das Versprechen einer verschärften Repression gegenüber der PKK-Bewegung zu erhalten. Nach ihrer Drohung, die Beitritte zu blockieren, erhält die Türkei nun zugleich Rückendeckung für ihre militärischen Ziele in Rojava und im Nordirak.

Zwar fand unter dem Deckmantel ihrer Unabhängigkeit in den beiden skandinavischen Ländern schon lange – und verstärkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR – eine Zusammenarbeit mit der NATO statt. Im Falle Schwedens beinhaltete dies auch die Teilnahme an NATO-Manövern und die Ausrichtung von Waffensystemen auf NATO-Standards. Die „Blockfreiheit“ beruhte immer auf der zentralen Prämisse, dass einer NATO-Mitgliedschaft faktisch nichts im Wege steht. Als Nicht-NATO-Mitglied sind Finnland – und Schweden als wichtigste Truppenstellerin – zudem schon seit 2008 Teil der „Nordic Battlegroup“ der EU.

Finnland praktizierte während des Kalten Kriegs eine Art „Schweizer Modell“, das eine Eingliederung in das westliche Militärbündnis vor allem dadurch vermied, dass eine eigenständige Verteidigung gegen eine mögliche Invasion auch ohne Beteiligung verbündeter Streitkräfte als glaubhaftes Abschreckungsszenario vorbereitet wurde, was ebenso ein vergleichsweise großes Heer an Reservist:innen erforderte wie das Primat der „Landesverteidigung“ auf allen Ebenen, also die Durchdringung aller Institutionen und ihre Vorbereitung auf ihre jeweiligen Aufgaben im Kriegsfall. Der wichtige Unterschied zur Schweiz ist jedoch, dass im Falle Finnlands nur die Sowjetunion als Kontrahentin in Frage kam.

Dennoch unterwarfen sich beide Länder bis 2022 nicht der NATO-Beistandspflicht und konnten daher nicht in NATO-Operationspläne, die im Fall einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion bzw. mit Russland aktiviert werden können, eingebunden werden. Aus Sicht der NATO soll der Beitritt genau dies ermöglichen – das Schließen der nördlichen Flanke gegenüber Russland durch Einbeziehung der finnischen und schwedischen Streitkräfte. Laut Berichten wurde diese Integration auf dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2023 durch Verabschiedung eines detaillierten Verteidigungsplans für Nordeuropa vollzogen, der auch die Einrichtung eines regionalen Hauptquartiers in den USA vorsieht – wie auch die Verabschiedung regionaler Verteidigungspläne und Hauptquartiere für Mittel- und Südeuropa.

Ausdehnung in Osteuropa

Militärisch wird die Neuaufnahme von Schweden und Finnland die Dominanz der NATO über die Ostsee weiter festigen, die im Falle einer größeren Konfrontation mit Russland strategisch bedeutsam wäre. Zur Vorbereitung auf ein solches Szenario dient bereits seit 2004 die „gemeinsame Luftraumüberwachung“ im Baltikum, die durch ein Rotationssystem aller NATO-Mitgliedsstaaten ein jederzeit einsatzbereites Kontingent an Abfangjägern in den baltischen Staaten in Einsatzbereitschaft hält. Insbesondere Deutschland betrachtet die Kontrolle der Seewege vom Nordatlantik über die Nordsee bis zur Ostsee als eine Kernaufgabe und hat zunehmend seine Marinekapazitäten auf dieses Einsatzgebiet ausgerichtet.

Eingeleitet wurde die Osterweiterung der NATO im Grunde schon mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 wurde nicht nur die Bundesrepublik um die ehemalige DDR erweitert, sondern auch das NATO-Gebiet. Zugleich versicherten jedoch damals die westlichen Führungsmächte gegenüber der Sowjetunion, dass eine weitere Ausdehnung der Allianz nicht vorgesehen sei. Von diesen Versprechen wurde, wie vorauszusehen, nichts gehalten. Allerdings dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis die NATO-Ausweitung 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns neuen Schwung erhielt. Dies fällt nicht zufällig mit der Rekonsolidierung des russischen Imperialismus als globalem Konkurrenten unter Putin zusammen und seiner klaren Bestimmung als strategischen Gegner der USA, während die europäischen führenden Mächte damals eine andere Strategie verfolgten.

Unter dem Schlagwort der „Open Door Policy“ wurde die Aufnahme weiterer Staaten ins Auge gefasst. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2020 14 Länder Osteuropas als Neumitglieder aufgenommen, darunter 9 ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts, vier Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien) sowie Albanien. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland hat im Juni 2023 zugesagt, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zur Zeit sind rund 40.000 NATO-Truppen in Osteuropa stationiert.

Aufrüstung im Pazifikraum

Auch wenn die aktuellen Diskussionen sich auf den Ukrainekrieg konzentrieren, ist der geopolitische Einfluss im „Indopazifik“ – kurz gesagt im Umkreis von China – ein strategisches Kernanliegen der USA und zentral im übergeordneten imperialistischen Hauptkonflikt zwischen den ihnen und China. Im NATO-Strategiedokument von 2022 schlägt sich dies auch in der Formulierung nieder, dass „Entwicklungen im Indopazifik die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen“ und daher die NATO ein Interesse an dieser Region habe.

Seit 2022 nehmen Japan, Australien und Südkorea mit ihren Delegationen an NATO-Gipfeln teil. Die USA haben Anfang 2023 die Zustimmung der philippinischen Regierung (auf Grundlage eines schon seit 2014 bestehenden Abkommens) zur Einrichtung von vier neuen Militärstützpunkten erreicht, die einen direkten Zugang zu dem Teil des Westpazifiks ermöglichen, der neben China (dort unter der Bezeichnung „South China Sea“) auch von Vietnam („Östliches Meer“), den Philippinen („West Philippine Sea“) und teils von Indonesien („North Natuna Sea“ nach dem zu Indonesien gehörenden Natuna-Archipel) beansprucht wird und letztlich im Zentrum der „Indopazifik“-Debatten steht. Auch Joe Bidens Staatsbesuch in Vietnam Mitte September 2023 unterstreicht das Interesse des US-Imperialismus, sich in der Region zu verankern.

Gemeinsame Manöver von US-Streitkräften mit Australien, Japan und den Philippinen fanden zuletzt im August 2023 im Westpazifik statt. Unabhängig davon laufen seit 2009 jährliche Übungen der US- und indonesischen Streitkräfte, an denen sich in den vergangenen beiden Jahren auch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan, Singapur und Australien beteiligten. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch enge US-Verbündete wie Japan, Südkorea und Singapur enge wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und nicht bereit sind, sich in eine einseitige Abhängigkeit zu begeben.

Geschichte der NATO

All dies verdeutlicht, wie sehr sich die NATO seit dem Kalten Krieg verändert hat. Allerdings gibt es keinen Grund, dabei ihre Vergangenheit zu verklären. Seit ihrer Gründung 1949 bildet sie eine Allianz der mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt, verpflichtet zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Hegemonie.

Zur Zeit ihrer Gründung bedeutete dies die konterrevolutionäre Stabilisierung einer Nachkriegsordnung vor allem in Europa – also die Wiedererrichtung der bürgerlichen Nationalstaaten. Diese sollten sowohl über den kapitalistischen Weltmarkt als auch über politische und militärische Allianzen in einen globalen Einflussraum unter Führung der USA eingebunden werden.

Vor allem erforderte dies die Entwaffnung der Arbeiter:innenklasse, die den wichtigsten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet hatte. Diese angestrebte Nachkriegsordnung wurde ideologisch verklärt zum Reich der selbstbestimmten demokratischen Nationen. Dies war jedoch immer ein Hohn, wie schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen auch solch demokratische Musterschüler wie der „Estado Novo“ – das Portugal unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar – oder Kolonialreiche wie Frankreich gehörten. Die Botschaft an den Rest der Welt war, dass ein Land, sofern es sich für die „richtige“ Seite entschieden hatte, auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der USA hoffen konnte.

Auch wenn die Sowjetunion der Hauptgegner des imperialistischen Projekts werden musste, konnte die konterrevolutionäre Stabilisierung nicht ohne Mithilfe der stalinistischen Bürokratie erzielt werden. Die Aufteilung Osteuropas – wie unter den Siegermächten vereinbart – setzte voraus, dass die mit der UdSSR verbündeten stalinistischen Parteien ihre Aktivitäten und Programmatik so anpassten, dass sie mit den außenpolitischen Zielen der Kreml-Bürokratie verträglich waren, also der Kampf für proletarische Revolution und gegen die imperialistische Militärmaschinerie in der westlichen Sphäre „nicht länger auf der Tagesordnung“ stand. Die NATO indes machte durch die Aufnahme der BRD, ihre Wiederbewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium den Krieg gegen die Sowjetunion in Mitteleuropa zu dem realistischen Bedrohungsszenario, das sie zur „Eindämmung des Kommunismus“ für geboten hielt.

Veränderte Doktrin nach Kaltem Krieg

Das Selbstverständnis der NATO als „Verteidigungsbündnis“ war schon immer eine Lüge, die über ihren eigentlichen Zweck – die Durchsetzung und Absicherung imperialistischer Hegemonie – hinwegtäuscht. Der Wegfall des Hautgegners durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war daher zwar Anlass für allerlei chauvinistischen, bürgerlich-demokratischen Siegestaumel, nicht aber für eine Auflösung der NATO. Sie wurde vielmehr neu ausgerichtet für eine Welt, in der kein kohärenter Machtblock mehr der Durchsetzung ihrer Ziele im Weg steht. Vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege und der Bürger:innenkriege in der ehemaligen sowjetischen Peripherie rückte nun die Fähigkeit zu schnellen globalen, auch präventiven Militärinterventionen in den Fokus. Der NATO-Gipfel in Madrid 1997 erklärte solche Einsätze auch ohne UNO-Mandat für legitim und dehnte den möglichen Einsatz von Atomwaffen weit über die Abschreckungsdoktrin des Kalten Kriegs aus. Von der Eindämmung Russlands ist die NATO hingegen nie abgekommen – sie wurde lediglich verkauft als Verwirklichung neu erlangter Souveränität der neu aufgenommenen Staaten.

Vor dem Hintergrund der neuen Doktrin folgte der Angriff auf Afghanistan (2001) und den Irak (2003). Die 2000er Jahre zeigten auch die Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz durch Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs, die sich am deutlichsten in einer (wenn auch inkonsequenten) deutschen Opposition zur Irakinvasion ausdrückten, eine eigenständigere europäische Bündnisformation zu etablieren. Kernfrage dieser Spaltungslinie war, ob der deutsche und französische Imperialismus als eigenständiger Block einen gleichberechtigten Platz neben den USA beanspruchen kann.

Eng damit verbunden war die Idee, Russland einen Platz in der zweiten Reihe der imperialistischen Mächte zuzugestehen, es in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einzubinden (also sein militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren) und zugleich dem deutschen Imperialismus einen verlässlichen Konkurrenzvorteil durch stetig verfügbare fossile Energie zu Preisen unter Weltmarktniveau zu verschaffen. In dieser Frage war auch die deutsche Bourgeoisie bis zuletzt gespalten. Erst die russische Invasion der Ukraine vermochte es, in hier Klarheit zu schaffen und zugleich Schröder und Merkel – unbestritten verdiente Veteran:innen der deutschen Sache – als „bei Lichte betrachtet“ geblendete Naivlinge, weil Putinversteher:innen, zu entlarven. Erwähnt sei noch, dass eines der wichtigsten „Friedensargumente“ der reformistischen Linken – die Kritik, NATO bzw. Regierung seien nicht „ernsthaft“ genug auf die russischen Sicherheitsanliegen eingegangen – im Wesentlichen eine Verteidigung des deutschen Imperialismus von gestern gegen den von heute liefert.

NATO-Doktrin 2022

Die 2022 neu gefasste NATO-Doktrin beschreibt Russland als militärische Hauptbedrohung, die den Aufbau eines neuen, „glaubhaften“ Abschreckungspotentials erfordert. China wird vor allem durch seine Wirtschaftsmacht und seinen Griff nach strategischen Rohstoffvorkommen als Hauptfeind für NATO-Interessen ausgemacht. Dem Land werden aber auch explizit „böswillige“ und „undurchsichtige“ Absichten unterstellt, die die „regelbasierte internationale Ordnung“ untergraben würden. Erklärtes Ziel der NATO-Doktrin ist die Vorbereitung auf einen „High Intensity“-Krieg gegen „nuklear bewaffnete Konkurrent:innen“, also Russland und China.

Schon in den 2000er Jahren hatte die NATO gemäß ihrer globalen Strategie eine sog. „schnelle Eingreiftruppe“ (NRF) geschaffen. Diese umfasste zu Beginn des Ukraine-Krieges rund 40.000 Soldat:innen, die innerhalb kurzer Zeit einsetzbar sein sollten. Dies entsprach der Doktrin, die Interessen der NATO-Mitglieder auch außerhalb des Bündnisgebietes rasch umsetzen zu können, vorzugsweise als Ordungsmacht in halb-kolonialen Ländern.

Mit der zunehmenden Konfrontation mit Russland und seit dem Ukraine-Kriegs veränderte sich die Lage. So schlug NATO-Generalsekretär Stoltenberg im Sommer 2022 auf dem Gipfel von Madrid vor, die NRF massiv auszubauen. Sie soll auf mindestens 300.000 vergrößert werden, also fast verzehnfacht. Außerdem geht es bei den meisten dieser Truppen nicht um den Einsatz irgendwo auf der Welt, sondern vor allem gegen den altem und neuen Hauptfeind Russland. So sollen z. B. Teile der deutschen Kontingente der Eingreiftruppe gemäß dem sog. New Force Modell in Deutschland stationiert bleiben, aber ständig bestimmten Ländern oder Territorien als Einsatzgebiet zugeordnet sein.

Mit der Umstellung geht auch eine massive Ausweitung der Verteidigungsbudgets auf allen Ebenen einher. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind hier sicher nur ein erster Teil, die Armee, Verteidigungspolitiker:innen und Expert:innen trommeln längst für mehr.

Ausweitung und Planung

Schließlich umfassten die Ausweitung und das Testfeld Ukraine nicht nur einen massiven Export, sondern auch eine Erneuerung der Waffenbestände der NATO-Armeen weltweit. In Europa werden neue Systeme angeschafft. Die Armeen werden – anders als noch vor einigen Jahren, wo sie auf einen Kernbestand an rasch einsatzfähigen, kleinen Interventionstruppen konzentriert werden sollten – wieder zu großen Streitkräften, die gegen eine imperialistische Macht im Landkrieg siegen können. Daher auch wieder neue Kampfpanzer, schweres Gerät, moderne Luftwaffen usw.

Schließlich bedeutet das auch, dass die Bundeswehr und andere NATO-Armeen nicht nur andere, sondern auch mehr Soldat:innen brauchen. Der Beruf soll daher attraktiver, die Werbung an Schulen verbessert werden. Hilft das alles nichts (was durchaus sein kann), steht früher oder später die Wiedereinführung der Wehrpflicht, der „Schule der Nation“ ins Haus.

Wie bekämpfen?

Eine Haltung zur imperialistischen Kriegsmaschinerie einzunehmen, bedeutet in erster Linie, sich zu deren Zielen, zu den Interessen des eigenen Imperialismus überhaupt zu positionieren, also eine Klassenposition zum imperialistischen Staat einzunehmen. Als Revolutionär:innen lehnen wir nicht nur die gewaltsamen Mittel ab, mit denen imperialistische Staaten ihre Einflussräume erobern und verteidigen – sondern bereits ihren Anspruch, die Welt in Sphären ökonomischer, politischer und militärischer Kontrolle unter sich aufzuteilen, selbst wenn dies am Verhandlungstisch geschieht.

Andererseits erkennen wir das Recht halbkolonialer Länder an, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Das entscheidende Moment bilden dabei der Klassencharakter der kämpfenden Kriegsparteien und die Klasseninteressen, die sie wirklich verfolgen. Die entscheidende Aufgabe einer Antikriegsbewegung liegt darin, eine Bewegung aufzubauen und eine soziale Basis zu gewinnen, die die militärischen Pläne der Imperialist:innen tatsächlich durchkreuzen können, statt sie nur moralisch zu kritisieren. Und das heißt vor allem, eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die auch in den Betrieben gegen die Kriegstreiber:innen vorgehen kann. Das bedeutet auch antimilitaristische Arbeit in der Armee und unter einfachen Soldat:innen.

Der revolutionäre Antimilitarismus unterscheidet sich dabei grundsätzlich vom kleinbürgerlichen Pazifismus der „alten“ Friedensbewegung, die unbestritten auf eine lange Geschichte des Protests gegen Aufrüstung und Kriegseinsätze zurückblickt. Der Krieg, der sich nun vor unseren Augen abspielt, lässt sie jedoch ratlos zurück. Als Beispiel hierfür kann ein Redebeitrag von Gerhard Trabert zum Antikriegstag in Stuttgart genannt werden, der von DIE LINKE anschließend veröffentlich wurde. Er gesteht gleich zu Beginn zu, dass mehr Militärausgaben „eventuell notwendig“ seien, um „sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen“. Ob dies eine Zustimmung zum 100-Milliarden-Programm und zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke ist, bleibt bewusst im Unklaren, denn der Rest des Beitrags ist eine Predigt für die christliche „Feindesliebe“.

In der Rivalität verschiedener imperialistischer Mächte oder Blöcke ergreifen wir keine Seite. Dieser revolutionäre Defätismus entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, die von imperialistischen Mächten angegriffenen Nationen zu verteidigen. Während wir im gegenwärtigen Krieg das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen gegen den russischen imperialistischen Überfall anerkennen (und somit auch ihr Recht, sich die Mittel zur Verteidigung zu beschaffen), lehnen wir jede Unterstützung der Politik und der Kriegsziele Deutschlands und der NATO kategorisch ab.

Letztere Position wiederum hindert uns nicht daran, innerhalb der Ukraine die Politik der Selenskyj-Regierung zu bekämpfen, die bereit ist, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine den Kriegszielen der westlichen „Partner:innen“ unterzuordnen. Es hindert uns auch nicht daran, die nationalen und demokratischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, einschließlich etwa des Rechts auf Lostrennung für die Krim, auf die Tagesordnung zu setzen. Deren Verwirklichung stehen jedoch vor allem die Interventionen beider imperialistischen Machtblöcke im Weg.

Wir bekämpfen jede Aufrüstung von Bundeswehr und NATO, wie wir auch grundsätzlich jedes Militärbudget dieser Staaten und ihrer Bündnisformationen ablehnen. Angesichts der engen Verknüpfung der NATO-Expansions- und Aufrüstungspläne mit der militärischen Unterstützung der Ukraine (etwa in Form von „Ringtausch“-Programmen) lehnen wir auch die Forderung nach Waffenlieferungen des NATO-Lagers an die Ukraine und jede Zustimmung zu diesen in den Parlamenten ab. Aus dem gleichen Grund lehnen wir auch alle Formen von Wirtschafts- und Handelssanktionen der imperialistischen Staaten ab. Jede Unterstützung ihrer „Verteidigungs-“ und iMilitärausgaben würde letztlich einer politischen Unterstützung des deutschen Imperialismus gleichkommen. Denn im Kampf um die Neuaufteilung der Welt stellt dieser für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland den Hauptfeind dar.




Die objektive Basis der sozialistischen Revolution

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 1, Sommer 1989

Das zwanzigste Jahrhundert wurde in einem Ausmaß Zeuge von Kriegen, Krisen und wirtschaftlicher Stagnation, das es in der Menschheitsgeschichte bisher nicht gegeben hat. Aber es hat auch ein noch nie dagewesenes Wachstum der Produktivkräfte gegeben. Diese herausstechenden Merkmale bezeugen alle die gleiche Tatsache: Der Kapitalismus ist in sein letztes Stadium eingetreten, die Epoche des Imperialismus. In dieser Epoche hat der Kapitalismus seine Zerstörung der Relikte früherer Produktionsweisen fortgesetzt und hat all die verschiedenen Ökonomien auf dem Erdball in einen großen Weltmarkt zusammengezogen. Gleichzeitig hat er jedoch die Unausgeglichenheit und Ungleichheit der Nationen zu ihrem höchsten vorstellbaren Punkt entwickelt. Eine Handvoll imperialistischer Mächte dominiert die große Mehrheit der kapitalistischen Länder und beutet sie aus. Diese sind daher in verschiedenem Ausmaß zu Rückständigkeit und Unterordnung verurteilt.

Auf seiner imperialistischen Stufe ist der Kapitalismus durch eine heftige, weltweite Konkurrenz zwischen den riesigen Monopolen gekennzeichnet. Dies drückt sich in der Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten aus, deren Wirtschaft von diesen Monopolen kontrolliert wird. Die historische Tendenz des Falls der Profitrate treibt jedes Monopol zur weiteren Konzentration von Kapital und in immer größerem Maßstab zum Kapitalexport. Diese Kräfte haben zur Schaffung einer weltweiten Arbeitsteilung und zur Integration des Weltmarktes geführt. Dennoch bleibt die Welt in eine Reihe von Nationalstaaten aufgeteilt. Ihre herrschenden Bourgeoisien versuchen andauernd, Vorteile auf Kosten ihrer Rivalen zu erreichen. Die Widersprüche zwischen diesen Tendenzen zur Integration und jenen zum Konflikt führen zu wirtschaftlichen Krisen, langen Perioden der Stagnation, Kriegen und Revolutionen. Dies demonstriert auf klarste Weise, daß, obwohl in den Produktivkräften selbst eine Kapazität für unbeschränkte Expansion steckt, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse – Privateigentum und Produktion für Profit – wie eine Fessel auf diese Kräfte wirken.

In großen Gebieten auf unserem Planeten wurde der Kapitalismus gestürzt, andererseits kostet seine Erhaltung anderswo das Leben von dutzenden und sogar hunderten Millionen Menschen in lokalen oder Weltkriegen; der Hunger fordert weiterhin zahllose Opfer in einer Welt, in der Lebensmittel“überschüsse“ verbrannt werden. Dies bezeugt die Tatsache, daß der Kapitalismus schon lang von seiner frühen Entwicklungsphase, als er ein relativ progressives System war, in seine letzte Phase übergegangen ist, in der er absolut reaktionär wurde – kurz gesagt, in jene Epoche, in der sein Todeskampf stattfindet.

Die Frage, die sich der Menschheit stellt, ist, ob der Imperialismus alle Klassen in den gemeinsamen Ruin ziehen wird oder ob die Arbeiterklasse die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine neue gesellschaftliche Ordnung führen kann; eine Ordnung, in der die demokratisch geplante Produktion für den Bedarf, die auf dem Gemeineigentum aufbaut, die Aussicht auf eine klassen- und staatenlose Welt eröffnet. Die objektiven Vorbedingungen dafür gibt es schon lange: Technologie, Wissenschaft, die Produktionsmittel und ein Millionen zählendes Weltproletariat.

Zweimal in diesem Jahrhundert, 1914-23 und 1939-47, wurde der Kapitalismus in solch akute weltweite Erschütterungen gestoßen, daß sein Ende in greifbarer Nähe schien. Zweimal haben seine eigenen Rivalitäten und Widersprüche das Schreckgespenst seiner eigenen Vernichtung durch das Proletariats erweckt. Bei zahllosen anderen Gelegenheiten hat das Proletariat einzelner Länder versucht, die Rechnung mit ihren Ausbeutern zu begleichen.

Doch bis jetzt hat das Proletariat eine Führung, die fähig wäre, die Aufgabe der Weltrevolution zu vollenden, nicht gefunden oder war nicht in der Lage, sich diese zu erhalten. Vor 1914 versammelte die Sozialistische Internationale eine weltweite Massenbewegung der Arbeiterklasse um sich, doch erlitt sie Degeneration und Verrat, noch bevor sie eine zentralisierte Führung schaffen konnte, die notwendig für einen Sieg in den herannahenden revolutionären Krisen gewesen wäre. Nur kurz, und zwar zwischen 1917 und 1923, besaß die internationale Arbeiterklasse eine solche Führung in Gestalt des Weltzentrums der Kommunistischen Internationale (Komintern). Die bürokratische Degeneration der UdSSR und der Triumph des Stalinismus beraubten das Proletariat dieser Führung. Will das Proletariat von weiteren Krisen und einem dritten und möglicherweise letzten, weltweiten Holocaust verschont bleiben, muß es sich auf die Lehren aus den vergangenen Fehlern und Erfolgen stützen und wieder in die Offensive gehen. Auf seinem Erfolg beruht die Zukunft der Menschheit.

Nur dank des Verrats der Führung der Weltarbeiterklasse konnte die imperialistische Epoche in den 20er, 30er und 40er Jahren dem drohenden Untergang entgehen. Im Zweiten Weltkrieg führte die stalinistische und sozialdemokratische Irreführung, Obstruktion und sogar Unterdrückung der Arbeiterklasse im Gefolge der Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten zur Abschlachtung von mehr als fünfzig Millionen Menschen.

In den imperialistischen Kernländern wurde die Arbeiterbewegung im Namen der Erlangung der Demokratie und des Weltfriedens davon abgehalten, mit ihrem Klassenfeind die Rechnung zu begleichen. In den Halbkolonien hat die Bourgeoisie den Bewegungen der Arbeiter und armen Bauern die Notwendigkeit einer längeren Entwicklungsetappe unter der Hegemonie der nationalen kapitalistischen Klasse gepredigt.

Doch bald nach dem Zweiten Weltkrieg brach in Osteuropa, China und Südostasien die stalinistisch inspirierte, utopische Koexistenz mit dem vom Imperialismus unterstützten lokalen Kapitalismus zusammen. Das Ergebnis war die Schaffung von Arbeiterstaaten, in denen eine parasitäre Bürokratie, die unfähig und unwillig war, eine Planwirtschaft in Richtung Sozialismus zu entwickeln oder die sozialistische Revolution auf eine internationale Ebene auszuweiten, von Beginn an die politische Macht an sich gerissen hatte. Diese Niederlagen des Proletariats und seiner Verbündeten, die von deren eigenen (Irre-)Führern eingefädelt worden waren, eröffneten für den Imperialismus die Möglichkeit einer ganzen, neuen Periode der wirtschaftlichen Expansion, einer Periode, die in merklichem Kontrast zu den Widersprüchen der Zwischenkriegsperiode stand.

Die „Drei Welten“ der Nachkriegsära

Die weitreichende Neuaufteilung der Welt war das Ergebnis eines veränderten Kräfteverhältnisses. Die USA, die ökonomisch schon vor dem Ersten Weltkrieg die stärkste imperialistische Macht gewesen waren, erreichten endlich nicht nur über die geschlagenen Imperialismen, Deutschland und Japan, sondern auch über die alten Kolonialmächte, Britannien und Frankreich, die Welthegemonie. Der „Preis“ für diesen Sieg war jedoch der „Verlust“ von Osteuropa und später von China, Nordkorea und Vietnam.

Die rivalisierenden Kolonialreiche der ersten Phase der imperialistischen Epoche machten einer Dreiteilung der Welt Platz. Die USA dominierten die Welt der großen und kleinen imperialistischen Mächte; Nordamerika, Westeuropa und den westlichen Rand der pazifischen Staaten von Japan bis Australien. Hier gab es antikommunistische, bürgerlich-demokratische Regimes, gestützt auf eine Arbeiterbürokratie, die in der „aristokratischen“ Oberschicht des Proletariats verwurzelt war. Sie führten einen „Kalten Krieg“ gegen die UdSSR und ihre Verbündeten und kämpften um die Sicherung der imperialistischen Ausbeutung der halbkolonialen Welt.

Nachdem die Sowjetunion die Bildung von degenerierten Arbeiterstaaten in der Mehrheit ihrer Nachkriegsbesatzungszonen kontrolliert hatte, beherrschte sie einen Block, zu dem China und Nordkorea hinzukamen. In jedem dieser Länder führten stalinistische Fünfjahrespläne zu einem anfänglichen Wachstum des Proletariats und zu einer gewissen Verbesserung der schrecklichen Bedingungen, die der Imperialismus hervorgebracht hatte. Trotz des stalinistischen Schmarotzertums, der Mißwirtschaft und der bürokratischen Diktatur über Arbeiter und arme Bauern erhöhte der wirtschaftliche Fortschritt das Ansehen des Stalinismus, besonders in der kolonialen und halbkolonialen Welt. Spätere stalinistische Siege, wie Vietnam und Kuba, verstärkten diese Tendenz.

In der unterentwickelten „Dritten Welt“ erreichten antikoloniale, nationale Befreiungsbewegungen formale politische Unabhängigkeit ihrer Staaten von den alten Kolonialmächten, jedoch fanden sie ihre Länder der Hegemonie der USA unterworfen. Die abhängige, nationale Bourgeoisie versuchte, ob in Form militärischer Diktaturen oder konservativer demokratischer Regimes, die Bedingungen für die Überausbeutung zu erhalten. Manche halbkoloniale Regimes benutzten die wachsende ökonomische und politische Macht des „sowjetischen Blocks“ und, indem sie dessen Hilfe suchten, schufen sie sich Raum für Manöver mit den imperialistischen Mächten. Doch wurde solche Hilfe nur in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus gegeben. Eine Reihe von regional einflußreichen halbkolonialen Regimes wurde ökonomisch und militärisch vom Imperialismus aufgebaut, um als seine Gendarmen in jenen Gebieten zu handeln, wo eine direkte imperialistische Intervention zu gefährlich oder zu kostspielig gewesen wäre. So sind die Halbkolonien und ihre herrschenden Klassen von verschiedenen Graden der Unabhängigkeit oder Unterordnung gezeichnet, ebenso wie es in deren ökonomischer Entwicklung verschiedene Grade der Entwicklung oder Rückständigkeit gibt.

Trotzki bemerkte in seinem Übergangsprogramm, daß „die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren“. Diese Aussage ist Teil einer richtigen, perspektivischen Analyse der 1930er Jahre, die in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gipfelten. Doch hält keine konjunkturelle oder periodische Charakterisierung für einen unbegrenzten Zeitraum. Gerade die Katastrophe des Krieges setzte viele der explosiven Widersprüche, die zum Weltkrieg geführt hatten, frei und löste sie. Erstens entschärften die imperialistische Bourgeoisie und der Stalinismus die explosive Bedrohung ihrer eigenen Herrschaft in den Jahren 1943 bis 1947. Zweitens brachte die massive Zerstörung von Kapital und Arbeit im Krieg günstigere Ausbeutungsverhältnisse für den Kapitalismus mit sich. Tatsächlich diente der Ausbruch des Krieges als Katalysator für die Anwendung der wissenschaftlichen Entwicklungen der Vorkriegszeit, die dazu benutzt werden konnten, nach dem Krieg einen großen Markt für Konsumgüter zu schaffen. Atemberaubende Fortschritte in der Anwendung von Wissenschaft und Technologie erhöhten die Produktivität der Arbeit außerordentlich.

Die USA ging aus dem Krieg als die dominante Macht am Weltmarkt hervor. Die praktische Auflösung der kolonialen Reiche Frankreichs und Britanniens erlaubte ein Vorherrschen des Freihandels zum Vorteil der USA. Unter diesen Bedingungen war der US-Imperialismus fähig, eine ökonomische Weltordnung auf der Basis der Überlegenheit des Dollars und unter Kontrolle seiner Agenturen – IWF, Weltbank und GATT – herzustellen. Zusammengenommen bedeuteten diese Faktoren, daß für eine ganze Periode die nationale Aufsplitterung des Weltmarktes teilweise überwunden wurde. Die US-Kapitalexporte flossen in alle Ecken der kapitalistischen Welt und ermöglichten Superprofite in der neu entstehenden, halbkolonialen Welt, doch entwickelten sie auch die Produktivkräfte von neuem.

In einer Reihe von stärkeren und schwächeren imperialistischen Mächten kennzeichneten „Wirtschaftswunder“ den Boom der 50er und 60er Jahre. Selbstverständlich war das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung weiterhin wirksam. Die lange Boomperiode, in der die zyklischen Krisen flach und die Aufschwünge stark und dauerhaft waren, wirkte sich auch auf die halbkoloniale Welt aus. Perioden fieberhafter Industrialisierung, extensiver Agrarreformen und Verstädterung, die von Stagnation und Krise gefolgt waren, haben die letzten vierzig Jahre gekennzeichnet. Doch mit Ausnahme von Südafrika hat diese stockende Entwicklung nicht zum Einholen der imperialistischen Länder geführt. Denn eigentlich war die Entwicklung einer komplexen, internationalen Arbeitsteilung untergeordnet, die von riesigen Monopolen diktiert wird. Deren groß angelegte produktive Investitionen folgten ihrem Verlangen nach Rohstoffen, Nahrungsmitteln und billigen Arbeitskräften. Diese Entwicklung eines in sich verknüpften Weltmarktes überwand regionale Isolation und Besonderheiten, indem das Schicksal weitgehend getrennter Ländern miteinander verbunden wurde. Gleichzeitig wurden die schreienden Ungleichheiten und das krasse Ungleichgewicht zwischen der imperialistischen und der imperialisierten Welt verschärft. Gewaltige Bevölkerungsverschiebungen ereigneten sich und schufen große Immigrantengemeinden in den imperialistischen Ländern. Die Schicksale der einzelnen Länder und der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen in ihnen ist stärker miteinander verbunden als je zuvor.

Die einseitige und äußerst abhängige wirtschaftliche Entwicklung der halbkolonialen Länder führte zwar zu Verstädterung, doch im allgemeinen nicht zu einer gleichzeitigen Industrialisierung. In Südamerika, Afrika und Asien übertreffen die sich ausweitenden Slumstädte in ihrer Größe die Industriestädte der imperialistischen Länder. Die Landwirtschaft, die vom westlichen Agrobusiness oder von reichen Farmern nur für ferne Märkte entwickelt wurde, vermag nicht, auch nur die grundlegenden Bedürfnisse der ländlichen und städtischen Massen zu befriedigen. Rücksichtslose Plünderungen der natürlichen Ressourcen und die skandalöse Vernachlässigung der ländlichen Infrastruktur und der Konsumbedürfnisse der Subsistenzbauern führten in Afrika und Asien zu schrecklichen Hungersnöten, Überschwemmungen und Seuchen, die nicht die Folge natürlicher Krisen sind, sondern der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch nur die elementarsten Bedürfnisse von drei Vierteln der Weltbevölkerung zu erfüllen. Etwa 800 Millionen Menschen leben in kapitalistischen Nationen, die dabei versagen, die Produktion der lebensnotwendigen Güter dem Bevölkerungswachstum anzupassen.

Die meisten Halbkolonien waren nicht fähig, ein bürgerlich- demokratisches Regime zu stabilisieren, da ihre wirtschaftliche Entwicklung auf einem äußerst niedrigen Niveau verläuft und sie dem Imperialismus ein zermürbendes Tribut zahlen müssen. Die lokalen herrschenden Klassen und ihre bürokratischen und militärischen Büttel, die von den US-Botschaften und dem CIA unterstützt und begünstigt wurden, haben wiederholt Putsche organisiert, um blutige Militärdiktaturen zu errichten – Guatemala 1954, Indonesien 1965, Chile 1973 und Argentinien 1975.

Auf weltpolitischer Ebene machte die Struktur der interimperialistischen Rivalitäten, die für die Periode vor 1914 und die Zwischenkriegsjahre typisch war, nach 1947 einem Kampf zwischen drei Teilen der Welt Platz. Die degenerierten Arbeiterstaaten versuchten durch groß angelegte Bewaffnungsprogramme derBedrohung durch den Imperialismus, einschließlich der durch einen Atomkrieg, entgegenzutreten und ihre Existenz zu sichern. Dies lud den Planwirtschaften dieser bisher rückständigen Länder eine enorme Last auf. Außerdem versuchten die degenerierten Arbeiterstaaten verschiedene nationale Befreiungsbewegungen und halbkoloniale Regimes, die im Konflikt mit dem Imperialismus standen, im weltweiten Kräftegleichgewicht auf ihre Seite zu ziehen. Das Ziel dieser Politik war nicht der Sturz der imperialistische Herrschaft als Weltsystem, sondern dieses zu bremsen und zu zwingen, mit den stalinistischen Bürokratien auf Dauer zu koexistieren. In der Karibik und in Zentralamerika, im Nahen Osten, im südlichen Afrika und in Südostasien unterstützten die UdSSR und China stalinistisch oder auch nicht-stalinistisch geführte nationale Befreiungsbewegungen in der reaktionären und utopischen Absicht, sie in kapitalistischen Grenzen zu halten. Im Fall von Kuba, Kambodscha und Vietnam entstanden gegen den Willen von Moskau und Peking, wenn auch mit deren widerwilliger Hilfe, neue degenerierte Arbeiterstaaten. Trotz Perioden erhöhter Spannungen (der erste Kalte Krieg, die kubanische Raketenkrise und der neue Kalte Krieg in den 80er Jahren) brachen offene militärische Konflikte mit imperialistischen Kräften nur in der halbkolonialen Welt aus.

Während des langen Booms herrschte in den imperialistischen Ländern eine längere Periode relativen gesellschaftlichen Friedens. Dieser gründete sich auf steigende Reallöhne, beinahe Vollbeschäftigung und, zumindest in Europa, auf ein beispielloses Sozialleistungssystem. Die sozialdemokratischen und Labour-Bürokratien banden die proletarischen Massenorganisationen an den Imperialismus. Aufgrund der diktatorischen Regimes in den Arbeiterstaaten und der zutiefst reformistischen Politik der „kommunistischen Weltbewegung“ übte der Stalinismus in den meisten imperialistischen Ländern wenig Attraktivität auf das Proletariat aus. Das Ansehen des Kapitalismus schien unantastbar.

In der halbkolonialen Welt war die Lage anders. Die wirtschaftliche Entwicklung löste die alten Produktionsweisen auf und vermehrte die Klasse der sozialistischen Revolution – das Proletariat – gemeinsam mit seinen potentiell revolutionären Verbündeten anderer unterdrückter Klassen – den armen Bauern und Bäuerinnen, den städtischen Kleinbürgern und dem Subproletariat. Das Ansehen der UdSSR, Kubas, Chinas und Vietnams war immens. Der Stalinismus beeinflußte den bürgerlichen Nationalismus, den kleinbürgerlichen Populismus und die Arbeiterbewegungen der Halbkolonien enorm. Außerhalb der privilegierten Eliten und der militärischen Kasten dieser Länder hatte der Imperialismus wenig Ansehen.

In den stalinistischen Staaten konzentrierte sich die Opposition gegen die bürokratischen Diktaturen auf die Länder, in denen es ein Element der nationalen Unterdrückung – oder der Unterdrückung des Rechts dieser Länder auf Selbstbestimmung – gab: das heißt in Osteuropa, besonders auf Polen und Ungarn. In Ostdeutschland 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und wiederum in Polen 1970 und 1980-81 entwickelten sich politisch revolutionäre Situationen, die entweder von der Polizei und Armee der heimischen Bürokratie oder unter Verwendung sowjetischer Panzer niedergeschmettert wurde.

Eine neue Krisenperiode

Die großteils unterschiedlichen Bedingungen in den „drei Welten“ verminderten zwei Jahrzehnte lang die Wechselwirkung von Kämpfen. Gegen Ende der 60er Jahre verschärften sich jedoch die Widersprüche des langen Booms und der US-Hegemonie, auf der dieser aufbaute. Die US- Kapitalexporte führten im eigenen Land zu Unterinvestition, was niedrige Produktivität und folglich einen Fall der Profitrate zur Folge hatte. Die Voraussetzungen, die den langen Boom ermöglicht hatten (der Dollar als unangefochtene internationale Währung, unbegrenzter Zugriff für die USA auf die halbkoloniale Welt, Unterkapitalisierung in Japan und Europa infolge des Krieges), erschöpften sich in zunehmendem Ausmaß. Die Goldreserven der USA fielen, und ihre Handelsbilanz wurde negativ. Die Last, den Dollar auf einer fixen Austauschrate mit Gold zu halten, wurde durch die enormen Ausgaben für den Vietnamkrieg vergrößert. Die gewaltigste Supermacht, die die Welt je gesehen hatte, wurde von der unbezwinglichen Bevölkerung einer kleinen Nation im Kampf zum Stillstand gebracht, wurde von ihr geschlagen.

Das Ende der Periode allgemeiner imperialistischer Stabilität und die größere Wechselwirkung von Kämpfen auf weltweiter Ebene wurde durch die ’68er-Bewegung signalisiert, in der in vielen Ländern die Kämpfe der Studenten und die Mobilisierungen der Arbeiterklasse zusammenflossen. Die Radikalisierungen der Studenten spiegelten das Sich-Zuspitzen des antiimperialistischen Kampfes in Asien und Lateinamerika, den Klassenkampf in den imperialistischen Nationen selbst und die wachsenden Widersprüche in den degenerierten Arbeiterstaaten (z.B. die Kulturrevolution in China, der Prager Frühling 1968) wider.

Die USA waren gezwungen, sich von den wirtschaftlichen Lasten zu befreien, das heißt, sie mußten die Last auf die Schultern der einst völlig untergeordneten Imperialismen abwälzen, die nun in ihre Märkte eindrangen. Deshalb mußten sie den Druck auf ihre Verbündeten erhöhen. Gleichzeitig waren sie gezwungen sich aus dem Sumpf des Indochina- Krieges zu befreien. Um das zu tun, mußten sie den Druck auf die Bürokratien der UdSSR und Chinas verringern und sogar deren Unterstützung suchen, um die Welle des Widerstandes gegen den Imperialismus zu beschränken. Die daraus folgende Ära der Detente (Entspannung) war eine Periode politischer Rückzieher der USA. Das Ergebnis dieser sichtbaren Schwächung des nordamerikanischen Kolosses war ein Aufschwung der antiimperialistischen Kämpfe gegen die Gendarmenregimes der USA im Fernen und Mittleren Osten, im südlichen Afrika und in Zentralamerika.

Außerdem brachten die 70er Jahre das Ende des langen Booms und den Beginn einer neuen Periode, in der die Rezessionen tiefer und synchronisierter waren und Auswirkungen hatten, die in den darauffolgenden Aufschwünge nicht wieder verschwanden. Die Krise von 1973-74 führte zum Auftreten von Massenarbeitslosigkeit, die es seit den 30er Jahren in diesem Ausmaß nicht mehr gegeben hatte. Der Aufschwung nach der Krise war von einer steilen Inflationsspirale begleitet, während keynesianischen Krisenmanagement und die Notwendigkeit, die Sozialstaatlichkeit zu erhalten, Stagnation und Reallohnverlust in vielen imperialistischen Länder verstärkten. Eine Eruption des Klassenkampfes ereignete sich. Reformerische, liberale und sozialdemokratische Regierungen waren diskreditiert und unfähig, mit Mitteln des keynesianischen Krisenmanagements in den nationalen Ökonomien oder der Weltwirtschaft ein Gleichgewicht wiederherzustellen.

In der gleichen Periode brach die iranische Revolution aus, die zum Sturz des Schah-Regimes führte, während gleichzeitig Somoza gestürzt wurde und die Sandinistas in Nicaragua siegten. Zusammen mit der russischen Intervention in Afghanistan untergruben all diese Ereignisse die Detente. In Britannien (1979) und den USA (1980) kamen deflationäre kalte Krieger und Kriegerinnen an die Macht, die entschlossen waren, die Fäulnis zu stoppen, indem sie die folgende Krise dazu benutzten, um die Nachkriegserrungenschaften der Arbeiterklasse im eigenen Land auszuhöhlen und außerhalb der Grenzen ihrer Länder das, wie sie es sahen, „Fortschreiten des Kommunismus“ zurückzudrängen. Thatcher und Reagan nahmen sich vor, die Hegemonie der USA wiederherzustellen und das Ansehen ihres britischen Schildknappen zu erhöhen.

Reagans und Thatchers „Liberalismus“ des freien Marktes wurde in verschiedenem Ausmaß von allen wesentlichen imperialistischen Ländern, sogar jenen mit sozialdemokratischen Regierungen, nachgeahmt. Privatisierung der staatlichen Industrien, Angriffe auf die Gewerkschaften, Verwässerung der Gesetze und Regelungen, die die Sicherheit am Arbeitsplatz betrafen, und eine Aushöhlung der Sozialstaatlichkeit waren die Themen der 80er Jahre.

Trotz Thatchers und Reagans Erfolg, das Tempo für eine neue, antistaatliche, freie Markt-Strategie für die herrschenden Klassen der Welt festzusetzen, schafften sie es nicht, eine stabile US- Hegemonie wiederherzustellen. Bestenfalls haben sie die Geschwindigkeit ihres Verfalls verlangsamt. In Europa verfestigte Westdeutschland seine Position als ökonomischer Motor der Europäischen Gemeinschaft (EG). Es verwendete die 80er Jahre, um seine wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von seinem amerikanischen Verbündeten weiter zu stärken. Es gab kaum verhüllte transatlantische Handelsauseinandersetzungen und -differenzen darüber, wie auf die Möglichkeiten, die sich durch die Krise der Arbeiterstaaten ergaben, reagiert werden sollte.

Japan profitiert am meisten vom Verfall der US-Hegemonie. In den 80er Jahren wurde es zu einer entwickelten imperialistischen Macht und sogar zum Bankier der USA. Es stärkte seinen Einfluß in Ostasien und fordert Europa und die USA in wachsendem Ausmaß in deren eigenen Zentren und Einflußsphären heraus. Bis jetzt mangelt es ihm aber am politischen und militärischen Gegenstück zu seiner wachsenden ökonomischen Macht, doch hat es seine Entschlossenheit dazu bereits angekündigt.

Obwohl die USA weiterhin der bei weitem stärkste imperialistische Staat bleiben, können sie die kapitalistische Weltwirtschaft nicht mehr alleine regeln: Keine der imperialistischen Mächte ist absolut dominant. Eine Koordination der Politik und internationale Regelungen sind erforderlich, doch die verschiedenen Bedürfnisse und Ziele von Japan, der EG und den USA machen dies schwieriger als in den 50er und 60er Jahren. Ab den frühen 70er Jahren waren die USA gezwungen, die EG-Länder als Co-Manager der Weltwirtschaft anzuerkennen. Nun müssen sie Japan einbeziehen.

Während des Aufschwungs hat sich – unter dem Druck der Notwendigkeit, die Produktion zu rationalisieren und die Kosten zu reduzieren, um den Anforderungen der Weltmärkte und Unternehmungen gerecht zu werden – die Konzentration und Zentralisierung des transnationalen Kapitals verstärkt. Doch gleichzeitig haben sich in Nordamerika und Europa Entwicklungen in Richtung integrierter und liberalisierter regionaler Wirtschaftsblöcke beschleunigt. Während sich dies als wesentlicher Bestandteil des weltweiten Aufschwunges der 80er Jahre erwies, würde eine weltweite Krise diese regionalen Einheiten in protektionistische Blöcke verwandeln, die eine gefährliche Verkleinerung der Märkte für die weltweit orientierten transnationalen Unternehmen schaffen würden.

Eine Reihe halbkolonialer Länder erfuhr in den 70er Jahren ein starkes Wachstum und begann Kredite in großem Ausmaß aufzunehmen, um den „Aufstieg“ zu einer fortgeschrittenen Industrienation zu versuchen. In den 80er Jahren stolperten sie tiefer in die lähmende Verschuldung. Eine weltweite Schuldenkrise wurde aber durch eine Umschuldung vermieden. Die Banken bewahrten sich auf Kosten der lateinamerikanischen und subsaharischen afrikanischen Massen, denen eine massive Sparpolitik auferlegt wurde, den Großteil ihrer Guthaben. Doch ein Ausfall von zwei oder drei wesentlichen lateinamerikanischen Schuldnern (Mexiko, Brasilien, Argentinien) könnte noch immer das amerikanische oder europäische Bankensystem zum Einsturz bringen.

In den stalinistischen Staaten entwickelte sich in den 60er und 70er Jahren eine chronische Stagnation. In China diskreditierte sich die Mao- Fraktion zweimal mit voluntaristischen Kampagnen – mit dem „Großen Sprung nach vorne“ und der Kulturrevolution. Der Triumph von Deng Xiaoping über die „Viererbande“ bedeutete, daß China den Prozeß der politischen Entspannung (= Detente) und der ökonomischen Liberalisierung anführte. Dies schloß die Lockerung der zentralen Planungsmechanismen und die Öffnung der Wirtschaft für Investitionen der USA und Japans mit ein. Die UdSSR erfuhr eine Stagnation in den 70er Jahren, doch die Schwierigkeiten, denen der US-Imperialismus, der gute Beziehungen mit der UdSSR in der ersten Phase der Detente anstrebte, gegenüberstand, überdeckten das Problem. Breschnew zerschlug die Dissidenten daheim und schien fähig, die Sowjetmacht und den Einfluß in Afrika und der Karibik auszuweiten.

Vom kalten Krieg zur Krise des Stalinismus

Unter Reagan griff die USA auf eine erprobte Taktik zurück: Kalter Krieg und Aufrüstung – eine massive Runde von hochtechnologischen Waffensystemen. Sollte die UdSSR versuchen mitzuziehen, würde die bereits stagnierende Wirtschaft in eine Krise geraten. Die starke Ausbreitung der UdSSR und ihrer Verbündeten in Afghanistan, im südlichen Afrika, in Zentralamerika und Südostasien ermöglichte es den USA, sie, oder ihre Verbündeten, in kostspielige Kriege zu zwingen: Afghanistan, Kampuchea, Angola und Mozambique, Äthiopien und der Contra-Krieg in Nicaragua. Außerdem gab es durch die politisch revolutionäre Krise in Polen einen schmerzhaften Druckpunkt der USA auf den Kreml in dessen unmittelbarer Umgebung. Obwohl die Kalte- Kriegs-Rhetorik und die Bewaffnungsprogramme von Reagan und Thatcher auf sie selbst zurückfielen, indem sie in Westeuropa eine große Friedensbewegung hervorbrachten – durch deren Druck Konflikte in der NATO und zwischen der EG und den USA wegen anderer Schauplätze der Weltpolitik entstanden (besonders dem Nahen Osten und Zentralamerika) -, entwickelte sich die politische und ökonomische Krise der UdSSR noch schneller. Die sowjetische Bürokratie versuchte mit autoritärer Disziplin mit der Korruption aufzuräumen. Sie kam nicht weit. Die Krise intensivierte sich und brachte die radikalere Fraktion rund um Gorbatschow an die Macht. Diese ist entschlossen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und mehr kapitalistische Marktmechanismen einzuführen.

Sowohl Glasnost Öffnung) und Perestroika (Umbau) sind drastische, in der Tat verzweifelte Mittel der Bürokratie, Mittel, die ihr ganzes System der Gefahr des Zerfalls aussetzen. Die größere Offenheit ermöglichte es nationalen Unzufriedenheiten und Widersprüchen, in der Form „sozialer Massenbewegungen“ der nationalen Minderheiten hervorzubrechen. Sie öffnete die sowjetischen Massen gegenüber dem westlichen bürgerlichen Einfluß, sei es nun Liberalismus, chauvinistischer Nationalismus oder verschiedene Formen von religiösem Obskurantismus. Dies erlaubte es, daß die soziale Konterrevolution zu einer realen Gefahr wurde. Die internationale Bourgeoisie setzt in eine solche Entwicklung große Hoffnungen und sieht darin die Möglichkeit eines langfristigen Auswegs aus den sich verschärfenden Widersprüchen des kapitalistischen Systems. Aber die anhaltende Schwächung der bürokratischen Kontrolle kann ebenso zu einem Wiederaufleben von subjektiv anti-kapitalistischen Strömungen, wie Anarchismus, Populismus, Sozialdemokratie führen und, allem voran, zu einer Wiedergeburt des revolutionären Kommunismus (Leninismus und Trotzkismus). Gorbatschow hat dabei versagt, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Gleichzeitig hat er ihre historischen Errungenschaften attackiert. Dies schafft die objektive Basis für die Wiederauferstehung der Arbeiterbewegung in der Sowjetunion. Wenn die politische Revolution beginnt, die Grundmauern des Kremls zu erschüttern, wird nicht nur die UdSSR, nicht nur die degenerierten Arbeiterstaaten, sondern die ganze Weltordnung zu wanken beginnen.

Die führenden imperialistischen Länder sind in Bezug auf die sozialistische Revolution immer noch am meisten zurückgeblieben. Historisch waren die niedergehenden, aber immer noch mächtigen USA fähig, das US-Proletariat durch nationale und rassische Gegensätzen zu spalten und dies mit ständigen und massiven Verbesserungen des Lebensstandards ihrer aufgeblähten Arbeiteraristokratie zu verbinden. Die politische Impotenz des Proletariats, die fehlenden politischen Organisationen, sogar in einer reformistischen Form, sind ein Beweis für den Erfolg des US-Imperialismus. In Japan hat der Imperialismus ebenso den klassenweiten Widerstand durch Betriebsgewerkschaften und eine an die großen Monopole gebundene Arbeitsplatzsicherheit gespalten und gebrochen. Sogar in Westeuropa wurde der Klassenkampf, trotz der explosiven und politischen Dimensionen von Kämpfen in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren im allgemeinen innerhalb der Grenzen des reinen Gewerkschaftlertums und des elektoralen, also auf Wahlen fixierten Reformismus gehalten.

Trotz des Triumphes des Rechtskonservatismus in vielen imperialistischen Ländern und trotz der Orientierungskrise der Sozialdemokratie und des Stalinismus liegt eine revolutionäre Wiederbelebung der Arbeiterbewegung noch vor uns. Aber die objektive Grundlage der sozialistischen Revolution liegt noch immer in der Arbeiterklasse, einer Klasse, die zahlenmäßig über die letzten 40 Jahre gewachsen ist und nun – als ein Ergebnis der Entwicklung der lateinamerikanischen und asiatischen Halbkolonien – weltweit gleichmäßiger verteilt ist. Eine Milliarde stark und von einem Kern aus über hundert Millionen Industriearbeitern geführt, ist sie die einzige Klasse mit einem objektiven Interesse an der Führung der sozialistischen Revolution.

Jetzt wo dieses Jahrhundert der Kriege und Revolutionen zu Ende geht, muß die Weltarbeiterklasse sowohl mit der Bourgeoisie als auch mit der Bürokratie abrechnen. Niemals zuvor war das Potential für die Emanzipation der Menschheit größer. In den Jahrzehnten der Krise, die vor uns liegen, muß die sozialistische Weltrevolution sowohl über den niedergehenden ausbeuterischen Imperialismus als auch über den verbrauchten Stalinismus triumphieren. Es gibt keinen anderen Weg, die Zukunft der Menschheit zu sichern.




Strategie und Taktik in den halbkolonialen Ländern

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 4, Sommer 1989

Seit 1945 hat der Kapitalismus seine Aufgabe, die Reste früherer Produktionsweisen zu zerstören oder völlig zu unterwerfen, erfüllt. Aber obwohl er jeden Winkel der früheren Kolonialsphäre durchdrungen hat, haben sich in der Regel keine stabilen nationalen Bourgeoisien entwickelt. Obschon der Imperialismus eine halbkoloniale Bourgeoisie innerhalb formal unabhängiger Staaten gewährt, ja sogar geschaffen hat, ließ er sich seine ökonomische sowie politische Vormachtstellung in diesen Staaten nicht entreißen.

Zu Anfang der imperialistischen Epoche erfuhren die noch jungen und unterentwickelten nationalen Bourgeoisien in den Kolonialländern nationale Unterdrückung. Koloniale und später imperialistische Mächte zwangen ihr Großkapital den unterdrückten Nationen auf und zerstörten dabei viele kleine lokale, unabhängige Unternehmen. Dadurch wurde die nationale Bourgeoisie nach und nach jedes ernstzunehmenden politischen Einflusses auf die Kolonialverwaltung beraubt. Unter diesen Umständen war die koloniale Bourgeoisie gezwungen, eine wichtige Rolle im Kampf gegen die imperialistische Herrschaft zu spielen. Indem sie irreführende Phrasen und falsche Versprechungen benutzten, konnten Bewegungen wie der Indian National Congress und die Kuomintang in China eine Massengefolgschaft aller plebejischen Klassen in ihrem Interesse mobilisieren.

Doch diese „national-revolutionären Bewegungen“, wie die Komintern sie beschrieb, blieben unter der Führung einer Klasse (der Bourgeoisie), die sich immer wieder unwillig zeigen sollte, einen beharrlichen Kampf gegen den Imperialismus zu verfolgen. Die Furcht vor dem revolutionären Potential der Arbeiterklasse und einer landhungrigen Bauernschaft machte die Bourgeoisie zu einer wankelmütigen und verräterischen Führung der antiimperialistischen Kämpfe. Sie zeigte sich bei erstbester Gelegenheit willens zum Kompromiß und zum Ausverkauf an die Imperialisten und ertränkte ihre „eigene“ revolutionäre Bewegung oft in Blut (Shanghai 1927).

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden unter der Aufsicht des US- Imperialismus die alten Kolonialreiche demontiert und schrittweise durch das heute gängige halbkoloniale System ersetzt. Überall in ihrem Herrschaftsgebiet waren die alten, geschwächten imperialistischen Mächte – Britannien, Frankreich, Holland und Portugal – gezwungen, ihren Kolonien politische Unabhängigkeit zu gewähren. Außer episodisch, war die nationale Bourgeoisie nie imstande, über die Strategie des friedlichen Drucks zum Rückzug der Imperialisten hinauszugehen. In einer Kolonie nach der anderen wurde der Unabhängigkeitskampf von den kleinbürgerlichen Nationalisten, oft im Bund mit den Stalinisten, angeführt. Wo immer die Imperialisten bis zum letzten Moment ausharrten (Algerien, Malaysia, Vietnam, Südjemen, Mozambique, Angola, Zimbabwe), griffen die kleinbürgerlichen Nationalisten zu revolutionär- nationalistischen Kampfmethoden.

Obwohl sie den Massen versprochen hatten, die drückende Last der imperialistischen Herrschaft zu erleichtern, haben dieselben „Revolutionäre“, kaum daß sie an die Macht gekommen waren, diese Macht dazu benutzt, das Proletariat und die armen Bauern zu unterdrücken, den Kapitalismus zu unterstützen und zu entwickeln und die Interessen der Imperialisten zu verteidigen. Bürgerliche und kleinbürgerliche Nationalisten zeigten sich beide unfähig zur Erfüllung selbst der elementarsten bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution gegen den Imperialismus. Nationale Unabhängigkeit blieb eine Illusion, solange die Wirtschaft dieser Länder vom Imperialismus dominiert war. Einige der neuen herrschenden Klassen – z.B. in Taiwan, Südkorea, auf den Philippinen, im Iran und in Kenia – verließen sich auf die offene Kollaboration mit den imperialistischen Mächten, um ihre Industrie und Landwirtschaft zu entwickeln. Diese Staaten bildeten Ökonomien heraus, die völlig an die imperialistische Weltarbeitsteilung gebunden waren. Sie boten vom Polizeistaat kontrollierte Arbeiterbewegungen und stellten ein Arbeitskräftereservoir zur Verfügung, das überausgebeutet werden konnte und damit zu imperialistischen Investitionen ermutigte.

Das andere Extrem stellen einige Halbkolonien mit national isolierten Entwicklungsversuchen dar, die mehr oder minder konsequent ihre Bindungen an den Imperialismus lockerten, oft durch den Aufbau ökonomischer Verbindungen zum Sowjetblock. Diese Regimes nahmen oft einen linksbonapartistischen Charakter an und vollführten eine Gratwanderung zwischen Imperialismus einerseits und genau kontrollierten Massenmobilisierungen andererseits. Indem sie ihre Wirtschaftsentwicklung bewußt nach der Erfahrung der stalinistischen Industrialisierungspolitik ausrichteten, verfolgten sie größere „staatskapitalistische“ Projekte und etablierten ausgedehnte Staatsbürokratien als wichtige soziale Stütze. Durch diese Methoden suchten solche Regimes einen Weg zu „unabhängiger kapitalistischer Entwicklung“, tatsächlich aber einen Weg zur Aufnahme in den erlesenen Klub der imperialistischen Nationen. Diese Strategie erwies sich Land für Land als eine wirtschaftliche Katastrophe. Stagnation und imperialistischer Druck erzwangen den Zusammenbruch und den Weg zurück in die Arme des Imperialismus.

Perons Argentinien, Nassers Ägypten, Bandaranaikes Sri Lanka und Nyereres Tansania sind nur einige Beispiele für das Fehlschlagen dieser Strategie. Die Krisen in Burma, Algerien und Angola in den späten 80er Jahren zeigen, daß andere staatskapitalistische Regimes sich auf demselben Weg befinden. Autarkie ist eine Utopie und es sind immer die Massen, welche die Zeche für ihr Scheitern zahlen. Welche Strategien die halbkolonialen Bourgeoisien auch immer verfolgt haben – und einige, wie z.B. Indien, haben eine Kombination aus beidem versucht, d.h. offene Kollaboration mit dem Imperialismus und national isolierte Entwicklung – das Resultat war das gleiche: chronisch abhängige Ökonomien, ungeheure Massenarmut, Stagnation und wachsende Verschuldung gegenüber dem Imperialismus. Nur unter den außergewöhnlichen Umständen Südafrikas war es für eine halbkoloniale Macht möglich, aus diesem Kreislauf auszubrechen und sich dem Imperialismus als Juniorpartner anzuschließen.

Der bürgerliche Nationalismus war unfähig, wirkliche Unabhängigkeit zu erreichen und politische Demokratie aufrechtzuerhalten. Während die Imperialisten heuchlerisch die Tugenden der „parlamentarischen Demokratie“ priesen und den neuen Nationalstaaten sogar ihre Verfassungen nach dem Modell von Westminster oder Washington vermachten, drückten sie bei deren Sturz hocherfreut beide Augen zu, wenn diese demokratisch gewählten Regierungen ihre ökonomischen Interessen bedrohten. Nur eine Minderheit der am höchsten entwickelten Halbkolonien war in der Lage, parlamentarische Regimes für einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Und sogar hier, wie im Falle Chiles 1973, hat der Imperialismus direkt interveniert, um jene demokratischen Regimes zu stürzen, von denen er seine Interessen gefährdet sah.

Konfrontiert mit den Forderungen der Bauernschaft nach einer umfassenden Lösung der Landfrage, waren die bürgerlichen Nationalisten zu keinerlei radikalen Maßnahmen bereit, die ihr Bündnis mit den halbfeudalen Grundbesitzern oder den kapitalistischen Großbauern gefährden konnten. Wo sie gezwungen waren, größere Landreformen durchzuführen – in Bolivien, Peru oder im indischen Pandschab -, geschah dies nur, um eine revolutionäre Lösung zu vermeiden. Eine von oben aufgezwungene reformistische Lösung stillte zwar vorübergehend den Landhunger der Bauern, führte aber bloß zur Entstehung einer neuen Klasse von Kleinbauern, knapp an Krediten und Maschinen, und lieferte sie den Wucherern, Banken und reichen Farmern aus.

Um die Ausbeutung durchzuführen und beizubehalten, gehörte es immer auch zur Strategie des Imperialismus, zu teilen und zu herrschen. In vielen Fällen wurde eine solche Spaltung durch imperialistische Mächte durchgesetzt, welche mit Absicht eine bestimmte Minderheit der Bevölkerung in ihrem kolonialen Apparat bevorzugten, wie in Sri Lanka oder Zypern. In anderen Fällen, wo Überreste vorkapitalistischer und religiöser Spaltungen noch existierten, bemächtigte man sich ihrer und kultivierte und bewahrte sie im Interesse des Imperialismus. Zum Beispiel wurde die vererbte Arbeitsteilung, auf der das indische Kastensystem beruht, vom britischen Kolonialismus institutionalisiert und trug dazu bei, jenes große Maß an Fügsamkeit auf dem Lande aufrechtzuerhalten. Einheimischer Grundbesitz und Kapitalismus waren in der Lage, dieses System zu ihrem Vorteil auszubeuten. Trotz der Entwicklung des modernen Kapitalismus in Indien ist bis heute die systematische Diskriminierung und institutionalisierte Ungleichheit des Kastensystems noch stark. Auch hier war die „unabhängige“ Bourgeoisie nicht dazu fähig, ihre Nation auf der Basis der Gleichheit der Rechte zu vereinheitlichen.

Trotz der Behauptungen von „Dritte-Welt-“ und Abhängigkeitstheoretikern, daß eine umfassende kapitalistische Entwicklung in der imperialisierten Welt nicht möglich sei, hat der Imperialismus gerade dies erreicht und im Verlauf seiner Geschichte Millionen von neuen Lohnarbeitern und -arbeiterinnen hervorgebracht. In den letzten beiden Jahrzehnten hat diese halbkoloniale Arbeiterklasse den Weg unabhängiger Klassenaktionen betreten, ist dort allerdings an die Grenzen ihrer syndikalistischen, stalinistischen und kleinbürgerlichen Führungen gestoßen. Es gibt eine Führungskrise in der halbkolonialen Arbeiterklasse. In den meisten Ländern fehlt sogar der Keim einer revolutionären kommunistischen Partei. Das erlaubte es kleinbürgerlichen politischen Formationen aller Schattierungen, an die Spitze antiimperialistischer Massenaktionen zu gelangen und sie unvermeidlich zu verraten.

Im Kampf gegen die Ausbeutung in den Fabriken, Bergwerken und Plantagen des heimischen wie imperialistischen Kapitals muß die Weltarbeiterklasse die volle Spanne an Übergangsforderungen und Taktiken anwenden. Außerdem muß die Arbeiterklasse einen Kampf für die Vollendung der verbliebenen bürgerlich-demokratischen Aufgaben führen. Nationale Einheit und Unabhängigkeit, Agrarrevolution und politische Demokratie sind die brennenden Forderungen von Millionen Arbeitern, Bauern und Halbproletariern. Die Arbeiterklasse muß an den Kampf um ihre vollständige Verwirklichung vom Standpunkt der permanenten Revolution herangehen.

Die nationalen, agrarischen und demokratischen Forderungen sind an und für sich historisch bürgerliche Fragen. Aber in der imperialistischen Epoche ist es nicht mehr möglich, diese Probleme im Kapitalismus vollständig zu Lösen. Die militärische, politische und ökonomische Abhängigkeit der Halbkolonien, ihre Rückständigkeit und wirtschaftliche Unausgewogenheit sind grundlegend für die imperialistische Weltordnung. Es kann kein abgesondertes Stadium der Revolution geben, in dem die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse weiterbestehen, während die bürgerlich-demokratischen Aufgaben voll erfüllt werden. Die gesamte Geschichte des antiimperialistischen Kampfes nach 1945 bestätigt diese grundlegende These von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Die „Siege“ der antiimperialistischen Massenbewegungen illustrieren dies sogar deutlicher als die zahlreichen Niederlagen.

Mit ihrer Weigerung, die Firmen und Banken sowohl der nationalen als auch der imperialistischen Bourgeoisie zu enteignen und die Forderungen der armen und landlosen Bauern zu befriedigen, besiegelten die Revolutionsführer in Nicaragua, Zimbabwe und im Iran den fortdauernden Nutzen für den Imperialismus. Selbst wo militärisch-bonapartistische Regimes wie in Burma, Ägypten und Libyen dazu gezwungen waren, die Wirtschaft zu verstaatlichen und eine staatseigene Infrastruktur zu schaffen, ist es ihnen nicht gelungen, die ökonomischen Ketten zu brechen, welche diese Länder an den Imperialismus binden. Stagnation, das Ergebnis der Autarkiebestrebungen, Verschuldung, das Wiederaufleben einer nationalen Bourgeoisie außerhalb des staatlichen Sektors: dies ist das Muster für jene Länder, wo der Bonapartismus sich festgesetzt hat.

Nur wo der Kapitalismus völlig ausgerottet worden ist (China, Kuba, Vietnam, Kambodscha), hatten halbkoloniale Revolutionen die Möglichkeit, sich dem Griff der imperialistischen Weltwirtschaft nach ihren Ländern zu entwinden. Aber sogar hier haben die Stalinisten die permanente Revolution verkümmern lassen und das Erbe der imperialistischen Dominanz nicht erfolgreich überwunden. In vielen dieser Staaten hat sich die Unterdrückung nationaler Minderheiten verstärkt, zum Beispiel die der Chinesen in Vietnam oder die Tibetaner in China.

Die Kombination aus bürokratischer Planung und „nationalem Weg zum Sozialismus“ hat das Potential nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse erwürgt und somit die früheren Halbkolonien zu den schwächsten Gliedern in der Kette der degenerierten Arbeiterstaaten gemacht. Sie bleiben von der Bereitschaft der Sowjetbürokratie, ihre Ökonomien zu unterstützen, stark abhängig. Der wachsende Widerwille der Moskauer Bürokratie dazu vergrößert den internen restaurativen Druck und stärkt jene Teile der Stalinisten, welche die Ökonomien für imperialistische Durchdringung unter dem Mantel des „Marktsozialismus“ öffnen wollen. In diesen Ländern kann nur eine politische Revolution, welche die stalinistische Bürokratie zerstört und wirkliche Sowjetdemokratie errichtet, für die Arbeiter und armen Bauern einen Weg vorwärts weisen und sie befähigen, endgültig mit dem Imperialismus abzurechnen.

Die Enteignung der Schlüsselindustrien, der Banken und Finanzhäuser, die Errichtung eines Staatsmonopols auf den Außenhandel und die Internationalisierung der Revolution müßten die ersten Schritte einer jeden siegreichen halbkolonialen Revolution sein. Aber nur das Proletariat, mobilisiert in Arbeiterräten und Arbeitermilizen kann diese Aufgaben in wirklich progressiver Weise durchführen. Im Verlauf einer solchen Revolution muß die Arbeiterklasse die bäuerlichen und halbproletarischen Massen über die komplette Verwirklichung der nationalen, agrarischen und demokratischen Anliegen an sich ziehen.

Die Agrarrevolution in den Halbkolonien

Insgesamt stellt heute die Bauernschaft, trotz des Wachstums des Industrieproletariats, in den Halbkolonien die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Das Proletariat muß sich die Unzufriedenheit und die Bedürfnisse der armen und landlosen Bauern und Bäuerinnen zu eigen machen, wenn die Revolution eine wirklich umfassende sein soll. In der gesamten imperialistischen Epoche hat sich die Agrarfrage als eine der wesentlichsten und explosivsten der unerfüllten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution erwiesen. Der Kampf der Bauernschaft um Land war und ist die Triebfeder im Kampf um nationale Unabhängigkeit gegen den Imperialismus. Dies zeigte sich z.B. in China in den 30-er und 40-er Jahren, sowie in Indochina in den 50-er und 60-er Jahren dieses Jahrhunderts. Weiters erwies sich die agrarische Revolution in Rußland 1917 als eine gewaltige gesellschaftliche Kraft für politische Demokratie gegen die zaristische Selbstherrschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist sie ein zentraler Sprengsatz in Aufständen gegen die verhaßten herrschenden Oligarchien in den Halbkolonien (z.B. Nicaragua 1979, Philippinen 1985). Wo auch immer der Kampf der Bauern und Bäuerinnen um Land bewußt vom Kampf für nationale Unabhängigkeit (wie z.B. in Irland 1880-1921) oder für politische Demokratie (z.B. in Spanien 1931-1939) getrennt wurde, konnte keine der bürgerlich- demokratischen Aufgaben vollendet werden.

In der imperialistischen Epoche gab sowohl die imperialistische als auch die halbkoloniale Bourgeoisie jeden Anspruch auf einen revolutionären Kampf gegen den vorkapitalistischen Großgrundbesitz auf. Der Imperialismus versuchte das Proletariat und die Bauernschaft durch Allianzen mit den feudalen Grundbesitzern im Zaum zu halten. Auf diese Weise hielt der Imperialismus die Halbkolonien in ihrer Rückständigkeit und unterwarf die Landwirtschaft durch Handel oder Kolonialherrschaft unter seine Herrschaft.

Mit der Auflösung der alten Kolonialreiche und der Etablierung der US- Welthegemonie fiel der Kampf gegen die Überreste des Semi-Feudalismus in den (Halb-)Kolonien mit dem Kampf gegen die Auswirkungen des tiefen Eindringens des Finanzkapitals in die Landwirtschaft zusammen. Um einen profitablen Weltmarkt für landwirtschaftliche Produkte zu schaffen, drängte das Finanzkapital zu Beginn auf eine Konzentration und Zentralisation des Landes. Große Landstriche wurden für den Export von „Cash-crops“ kultiviert. Auf der einen Seite half das Finanzkapital, die halbfeudalen Grundbesitzer abzufinden, oder verwandelte sie in Agrarkapitalisten, während es auf der anderen Seite Millionen von Bauern und Bäuerinnen verjagte, betrog und ausbeutete. Als Ergebnis müssen Länder, die ehemals genügend Nahrung für den Binnenmarkt produzierten, heute die Grundnahrungsmittel einführen, was der Landoligarchie und der multinationalen Konzerne riesige Profite einbringt. Die Hauptdynamik der agrarischen Revolution liegt heute im Widerspruch zwischen den Massen der Bauern und Bäuerinnen, die auf immer kleinere Parzellen unfruchtbaren Landes zusammengedrängt werden, und den mächtigen kapitalistischen Plantagenbesitzern, welche für den Export produzieren.

In den Nachkriegsjahrzehnten wurde mittels Agrarreformen von oben versucht, eine revolutionäre Lösung der Landfrage von unten abzuwenden, indem eine stabile Schicht von konservativen Mittelbauern geschaffen wurde. Während diese Reformen in einzelnen Ländern für eine gewisse Zeit – wenn auch nur zum Teil – erfolgreich waren, Lösten sie nicht das grundlegende Problem (und konnten dies auch nicht), dem sich die halbkoloniale Bourgeoisie gegenübersieht. Denn deren Abhängigkeit vom Imperialismus sorgt dafür, daß sie unfähig ist, entweder die überschüssigen landhungrigen Bauern und Bäuerinnen in Werktätige im Industrie- oder Dienstleistungssektor in den Ballungszentren zu verwandeln, oder ausreichende Hilfe den kleinen Landbesitzer zukommen zu lassen, um deren Abstieg in die Armut zu verhindern. Die überlebenden halbfeudalen Großgrundbesitzer verbünden sich daher mit dem Finanzkapital, um die bäuerliche Ökonomie den Bedürfnissen der Massenproduktion des ländlichen Kapitalismus unterzuordnen. Dies hat zur Folge, daß die Lösung des Landhungers der Bauern und Bäuerinnen, das Ende der hohen Pachtzinsen, der bäuerlichen Verschuldung und der primitiven Technik nur erreicht werden kann durch ein Bündnis mit der Arbeiterklasse und den revolutionären Sturz des Kapitalismus und Imperialismus – durch die permanente Revolution.

Natürlich werden nicht alle ländlichen Klassen enge Verbündete auf diesem Weg sein. Die Bauernschaft ist keine moderne Klasse mit einer einheitlichen Stellung zu den Produktionsmitteln. Je weiter sie sich von Gemeineigentum an Land und einer dementsprechenden Arbeitsweise Löst, umso mehr differenziert sie sich in reiche Agrarkapitalisten auf der einen und ländliche Proletarier auf der anderen Seite. Wo die Bauernschaft sich eine stabile Grundlage an kleinem Privatbesitz schaffen konnte, war und ist es immer möglich, diese als Massenbasis zur Unterstützung reaktionärer bonapartistischer Regimes zu mobilisieren. Diese Regimes stellten im Angesicht einer Konfrontation die Arbeiterklasse demagogisch als Feinde der Kleinbauern dar.

Auf dem Weg der Revolution wird sich die städtische Arbeiterklasse zuerst dem wachsenden ländlichen Proletariat zuwenden, welches auf den Plantagen, Farmen, Höfen und in den verarbeitenden Betrieben ganztägig arbeitet. Diese Arbeiter und Arbeiterinnen, die zwar von geringer Anzahl, aber großer gesellschaftlicher Macht sind, haben immer wieder gezeigt, daß sie als erste stabile Organisationen (wie Gewerkschaften und Komitees) für den Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aufbauen. Von den Zuckerarbeitern in Kuba bis zu den Kaffeearbeitern in Nicaragua ist es diese Klasse, die oftmals durch ihre Aktivitäten das Kräfteverhältnis zuungunsten verhaßter Diktatoren veränderten. Sie müssen für unmittelbare ökonomische Forderungen ebenso wie für Übergangsforderungen kämpfen und ein Regime der Arbeiterkontrolle und der gewerkschaftlichen Organisation in den Fabriken und auf den Plantagen errichten. Die Geschichte dieser Epoche hat auch gezeigt, daß es für diese Schicht lebensnotwendig ist, die Verteidigung ihrer Interessen gegen die Todesschwadronen der Großgrundbesitzer durch die Bildung von Arbeitermilizen in die eigenen Hände zu nehmen.

In seiner Bedeutung steht das Halb-Proletariat dieser Schicht am nächsten: die saisonalen Farmarbeiter und -arbeiterinnen, welche sich in der verbleibenden Zeit ihren Lebensunterhalt durch harte Arbeit zusammenscharren; oder die Kleinbauern, deren Familien auf dem kargen Stück Land nicht überleben können und Arbeit in der Stadt annehmen müssen. Diese Klasse ist in Lateinamerika, Afrika und in Teilen von Asien groß, oftmals so groß, daß sie die Anzahl des ländlichen Proletariats um das Zehnfache übertrifft. Der Kontakt mit den Plantagen hat ihnen die Möglichkeit gegeben, den üblichen Horizont der armen Bauern zu erweitern und so den Kampfgeist und die Organisation des Proletariats zu übernehmen. Die Saisonarbeit und ihr Leben als Wanderarbeiter führt dazu, daß sie u.a. die zentrale Basis für die Guerillaarmeen in Zentralamerika sind. Wesentlich für sie ist der Kampf für gleiche Bezahlung und Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und für unbefristete Verträge für jene, die dies wollen, bzw. für Landvergabe an diejenigen, die aufgrund des Landhungers zum Wandern gezwungen sind.

Die verzweifeltste Klasse auf dem Land ist die der landlosen Bauern und Bäuerinnen, welche ihres Erbes durch die Oligarchie, die kolonialen Plantagenbesitzer oder durch die „Grüne Revolution“ beraubt wurden. Heute gibt es über 600 Millionen landlose Bauern in den Halbkolonien. In Pakistan, Indien und Bangladesh sind zwischen einem Viertel und der Hälfte aller Bauern und Bäuerinnen ohne Land, in Zentralamerika ist es mehr als die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung. Die meisten nagen am Hungertuch – ein Leben, das nur gelegentlich durch Tages- oder Saisonarbeit erleichtert wird. In der hoffnungslosen Suche nach Arbeit wandern viele in die Städte ab. Diese Klasse, die die größte ist, stellt einen notwendigen Bündnispartner des Proletariats dar. Die dauernde Unterstützung durch diese Klasse muß gewonnen werden, selbst wenn dies die Aufteilung der größeren Güter bedeutet. Ihr gegenüber muß sich die revolutionäre Arbeiterklasse verpflichten, für die Verwirklichung folgender Forderungen zu kämpfen: Land für diejenigen, die es bearbeiten; Besetzung des brachliegenden und ungenügend genutzten Bodens; Verteidigung der Besetzung von Plantagen im Kampf für den Lebensunterhalt; für Komitees und Milizen der landlosen Bauern und Bäuerinnen.

Trotzkisten und Trotzkistinnen müssen an der Spitze des Kampfes der Landhungrigen für Landbesetzungen stehen – unabhängig davon, ob diese gegen halb-feudale oder gegen kapitalistische Großgrundbesitzer gerichtet sind. Aber es ist zentral, für die ehest mögliche Bildung von Kooperativen als Übergangsmaßnahme einzutreten. Für jene, die bereits in die Slums der großen Städte abgedrängt wurden, müssen wir für ein Programm öffentlicher Arbeiten kämpfen, um ihnen nützliche Arbeit und lebensermöglichenden Lohn zu geben. Dies muß Hand in Hand mit der Organisierung der Arbeitslosen geschehen.

Die armen Bauern und Bäuerinnen wehren sich verzweifelt gegen ihren Abstieg in die Legion der Landlosen. Ihr kleiner Landbesitz wird von den gewaltigen Zinsen erdrückt oder ist von hohen Schulden belastet, welche das Resultat der harten Zahlungsbedingungen sind. Zu diesen Schulden kommen noch Kredite für den Kauf von Ausrüstung und Düngemitteln. Dieser Schritt wird ihnen aufgezwungen, weil die Kleinheit der Parzellen nicht das Überleben für die armen bäuerlichen Familien garantieren kann. Die armen Bauern und Bäuerinnen können dadurch von den großen Ländereien und den Großbauern unterdrückt werden. Hier müssen die zentralen unmittelbaren Forderungen ansetzen: Abschaffung der Pacht und Streichung aller Schulden bei ländlichen Wucherern und städtischen Händlern; für staatliche Kredite zum Erwerb von Maschinen und Düngemittel; für die Schaffung von Anreizen, um die Subsistenzbauern und -bäuerinnen zum freiwilligen Eintritt in Produktions- und zu Absatzgenossenschaften zu ermutigen.

Viele Bauern und Bäuerinnen glauben, daß der einzige Weg zum Überleben der Anbau von Pflanzen für die Drogenindustrie ist. Sie werden unbarmherzig von den Drogenbaronen ausgebeutet und von den imperialistischen „Anti-Drogen“-Einheiten verfolgt. Wir fordern daher das Recht der Bauern und Bäuerinnen auf freien und legalen Anbau von Pflanzen, die zur Drogenherstellung verwendet werden können. Weiters verlangen wir den staatlichen Ankauf solcher Pflanzen zu Preisen, die von Preiskomitees der Arbeiter und Bauern festgelegt werden.

Die mittlere Bauernschaft, normalerweise eine kleine Schicht, ist dem Proletariat gegenüber mißtrauisch, da sie eine geplante Abschaffung ihres Privateigentums befürchtet. Gewöhnlich verfügen diese Bauern über genügend Überschüsse, um diese in den Städten mit Gewinn verkaufen zu können. Dennoch werden auch sie oft durch Zwischenhändler ausgebeutet. In allen Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitsbedingungen, die zwischen diesen Bauern und den von ihnen ausgebeuteten Arbeitern und Arbeiterinnen stattfinden, muß das Proletariat auf der Seite letzterer stehen. Der Forderung der kleinen und mittleren Bauern nach höheren Preisen für ihre Produkte (eine Forderung, die vor allem dann aufkommt, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen die Regierung zu Preiskontrollen bei den Grundnahrungsmitteln zwingen) stellen wir eine andere Losung gegenüber: Laßt die Bosse und Großgrundbesitzer zahlen – und nicht die Arbeiter! Wir verlangen die Streichung der Schulden, die Ausweitung von Krediten, die Förderung von Kooperativen und den Aufbau gemeinsamer Preiskomitees der Arbeiter und Bauern, um die Erzeugung ihrer jeweiligen Produkte zu planen und deren Austausch zu regeln.

Dort, wo der Halb-Feudalismus zerstört wurde und der Imperialismus in Allianz mit den halbkolonialen Staaten die reichen Bauern in den Weltmarkt integriert hat, stellen sich die reichen und ausbeuterischen Bauern im allgemeinen auf die Seite der Bourgeoisie. Revolutionäre und Revolutionärinnen stellen sich daher auf die Seite der armen Bauern und Bäuerinnen, um das Land der reichen Bauern zu enteignen. Doch wo auch immer die halbfeudalen Fesseln bestehen blieben, die sowohl die reichen als auch die armen Bauern und Bäuerinnen unterdrücken, ist auch ein gemeinsamer Kampf zur Beendigung dieser Unterdrückung möglich.

Das imperialistische Agrobusiness, die kapitalistischen Großbauern und die in den Städten oder im Ausland lebenden Großgrundbesitzer werden jedoch in der Arbeiterklasse einen unerbittlichen Feind finden. Ihr Eigentum stellt in den Augen der Arbeiter und armen Bauern den Mechanismus der Verarmung dar. Wir müssen der nationalen Bourgeoisie bzw. dem Kleinbürgertum, die gegen die Landoligarchie kämpfen, zur Durchsetzung folgender Forderungen zwingen: entschädigungslose Verstaatlichung ihres Großgrundbesitzes; Verstaatlichung der imperialistischen Plantagen und ihre Stellung unter Arbeiter- und Bauernkontrolle; für ein breit angelegtes Programm öffentlicher Arbeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Massen – zur Elektrifizierung, Bewässerung des Bodens, für Maßnahmen zur Schaffung reinen Wassers und ausreichender sanitärer Möglichkeiten oder von kulturelle Einrichtung.

Nur so ein Programm kann die massenhafte Landflucht der Bauern und Bäuerinnen, die vom Hunger getrieben werden, verhindern. Die Umgestaltung und Planung der landwirtschaftlichen Produktion wird die Abhängigkeit von den nur für den Export bestimmten Ernten verringern, die Produktivität des Bodens erhöhen und die vorhandene Menge an Lebensmitteln für den heimischen Verbrauch steigern.

Solche Maßnahmen werden dazu beitragen, die Belastung der ländlichen Umwelt zu verringern. Mit der tiefgreifenden Umwandlung der ländlichen Gebiete hat der Kapitalismus die ökologische Krise auf immer neue Regionen der Erde ausgeweitet. Die Abholzung, die Zerstörung der traditionellen Bewässerungssysteme, die Verschmutzung der Flüsse durch industrielle Abwässer und chemische Düngemittel bewirken eine wirkliche ökologische Katastrophe in vielen Teilen der „Dritten Welt“. Der Kampf des Proletariats und der armen Bauernschaft muß ein Programm für sofortige Maßnahmen zur Verhinderung einer ökologischen Katastrophe beinhalten – die Beendigung massiver Abholzungen ebenso wie Projekte zur Wiederaufforstung und Bewässerung.

Die Jahre seit 1945 haben gezeigt, daß die einzige wirkliche Lösung des Landhungers und der Knechtschaft der armen Bauern der Sturz des Kapitalismus selbst ist. Die revolutionäre Partei muß den Klassenkampf auf dem Land zu seinem Höhepunkt führen. Wir stellen ein Programm für die revolutionäre und entschädigungslose Enteignung aller kapitalistischen Plantagen und die Landwirtschaften reicher Bauern durch Räte der Arbeiter und armen Bauern auf. Wir kämpfen für eine Politik der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe sowie für freiwillige Genossenschaften der Klein- und Mittelbauern als Programm des sozialistischen Übergangs in der Landwirtschaft.

Die Nationale Frage in den Halbkolonien

Wenngleich nationale Einheit und Unabhängigkeit politische Ziele der Bourgeoisie waren, hatten sie einen gesellschaftlichen und ökonomischen Zweck: die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes, auf dem das heimische Kapital vor ausländischer Konkurrenz geschützt war und sich entfalten konnte. Ungeachtet der formellen nationalen Unabhängigkeit sind heute die ehemaligen imperialistischen Kolonien und Mandatsgebiete von einer echten wirtschaftlichen Unabhängigkeit genauso weit entfernt wie am Beginn der imperialistischen Epoche. Sie blieben unterdrückte Nationen. Rückständigkeit und im besten Fall eine einseitige, abhängige Industrialisierung blieben in den Halbkolonien die Norm. Kein noch so hoher Grad formeller politischer Unabhängigkeit kann das ausgleichen.

Die Ketten der ökonomischen Abhängigkeit werden durch die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus geschmiedet und können nur durch die Enteignung des Kapitals selbst zerrissen werden. Gerade aus diesem Grunde hat nur die Arbeiterklasse das Interesse und die Fähigkeit, die nationale Unterdrückung der Halbkolonien vollständig aufzuheben. Das Proletariat muß daher für folgende Ziele kämpfen:

• Die Vertreibung aller bewaffneten Kräfte des Imperialismus, seiner Gendarmen, einschließlich der UNO, seiner Berater und Sicherheitseinrichtungen.

• Die Abschaffung der stehenden Armeen, die durch den Imperialismus ausgebildet werden und ihm gegenüber loyal sind, und deren Ersetzung durch bewaffnete Arbeiter- und Bauernmilizen.

• Die Streichung aller Schulden und Zinsen gegenüber den imperialistischen Banken. Die Imperialisten wünschen keine Tilgung der Schulden, da dies das Ende ihrer daraus erzielten Extra- Profite und den Verlust einer ihrer Waffen zur Ausübung politischer, militärischer und ökonomischer Kontrolle über die Halbkolonien bedeuten würde. Diese Schulden wurden unter Bedingungen vereinbart, die vom Imperialismus festgesetzt wurden. Die engen Grenzen, die der halbkolonialen Bourgeoisie gesetzt sind, wenn sie den Imperialismus herausfordert, zeigen sich durch die Hinnahme dieser Bedingungen. Die praktischen Auswirkungen dieser Feigheit sind Sparmaßnahmen auf Kosten der Massen, Arbeitslosigkeit, Beschränkungen politischer und gewerkschaftlicher Tätigkeit, exportorientierte Produktion und – als Folge davon – Hunger.

• Gegen die Strategie, die Schuldenrückzahlung auf einen bestimmten Anteil der Exporte oder des Bruttonationalproduktes zu begrenzen. Gegen ein Moratorium der Auslandsschulden, das tatsächlich nur einen Zahlungsaufschub bedeuten würde. Diese Schuld wurde schon zig-mal durch erpresserische Zinslasten und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Halbkolonien getilgt.

• Die Rückführung aller geleisteten Zahlungen und die Wiederherstellung der natürlichen Ressourcen. Für die Rückgabe des unbezahlbaren archäologischen Erbes, das Jahre hindurch von den imperialistischen Plünderern gestohlen wurde.

• Die entschädigungslose Nationalisierung der Banken, Finanzhäuser und der bedeutendsten Industrien und die Streichung aller Sonderabkommen und Joint-Ventures zwischen Staatsbetrieben und Finanzkapital.

Das Proletariat muß sowohl dafür kämpfen, den imperialistischen Würgegriff über die Wirtschaft der Halbkolonien zu durchbrechen, als auch den Kampf für nationale Einheit und das Recht auf Selbstbestimmung der unterdrückten Nationalitäten führen. In den Jahren 1880, 1919 und 1945 zog der Imperialismus bei seinen Aufteilungen und Wiederaufteilungen der Welt willkürliche Grenzen, die viele Nationalitäten und Völker auseinanderrissen und nationale Minderheiten in den kolonialen und halbkolonialen Ländern schufen. Sofern sich der Nationalismus der sich entwickelnden kolonialen Bourgeoisien in seinen Kämpfen gegen feudale Überreste oder gegen den Imperialismus richtete, hatte er einen relativ fortschrittlichen Inhalt. Dieser Nationalismus verwandelte sich jedoch in eine Waffe gegen unterdrückte nationale Minderheiten, sobald er die politische Macht erlangte (z.B. in der Türkei oder in Burma).

Die halbkoloniale Bourgeoisie ist aber weit davon entfernt, die vielen nationalen Probleme zu Lösen, die durch die imperialistische Teilung der Welt verursacht oder verschärft wurden. Ihre Unfähigkeit, die Nation zu vereinen oder ökonomisch zu entwickeln, führt vielmehr zur Verschärfung der regionalen ökonomischen Unterschiede, zur Reaktivierung alter nationaler Widersprüche und zur Schaffung neuer (beispielsweise in Indien).

Wo immer eine wirkliche nationale Bewegung vorhanden ist, die in Bewußtsein, Sprache, Kultur und einem bestimmten Gebiet verankert ist, muß das Proletariat das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation unterstützen. Diese Unterstützung ist bedingungslos: Das heißt, daß wir von den Nationalisten nicht verlangen, kommunistische Kampfmethoden anzuwenden, bevor wir sie unterstützen. Genauso wie wir den Zielen der Nationalisten kritisch gegenüberstehen, kritisieren wir ihre Methoden, die den nationalen Kampf häufig auf bewaffnete Aktionen einiger weniger reduzieren. Doch besteht kein Recht auf Eigenstaatlichkeit, wo die Selbstbestimmung auf der nationalen Unterdrückung eines anderen Volkes beruht (Israel, Nordirland).

Das Proletariat ist eine internationalistische Klasse, die auf sozialistischer Grundlage versucht, die Völker und Nationen durch freiwillige Vereinigung und Föderation zu einen. Unser allgemeines Programm sieht weder die Schaffung einer immer größeren Anzahl getrennter Nationalstaaten noch die Zerschlagung großer „multinationaler“ Staaten in ihre Bestandteile als Mittel, solche Länder vom imperialistischen bzw. kapitalistischen Joch zu befreien. Obwohl Kommunisten und Kommunistinnen gegen diese falschen Lösungen auftreten, anerkennen sie, daß sich Revolutionäre und Revolutionärinnen an die Spitze eines Kampfes für die Errichtung eines eigenen Staates stellen müssen, sobald die Forderung von den Massen der Arbeiter und Bauern aufgegriffen wurde und sich dies zum Beispiel in Referenden, bewaffneten Kämpfen der Massen oder einem Bürgerkrieg (wie in Bangladesh) äußert. Kommunisten und Kommunistinnen stellen diese Forderung sowohl in der Unterdrückernation als auch in den nach Abtrennung strebenden Gebieten. Doch sie warnen weiterhin, daß nur die sozialistische Revolution, nicht die Lostrennung, den Massen eine dauerhafte Lösung bieten wird.

Obwohl die Arbeiterklasse die legitimen nationalen Rechte der unterdrückten Nationen verteidigen muß, bedeutet aber deren internationalistische Strategie, daß sie alle nationalistischen Ideologien bekämpft, auch die der unterdrückten Nationen. Solcher Nationalismus gerät unvermeidlich in Widerspruch mit der Entwicklung der Arbeiterklasse zu einer selbstbewußten Kraft, die fähig ist, ihre Klasseninteressen zu verteidigen, und wird daher reaktionär werden. Während wir die Kämpfe für Selbstbestimmung bis hin zur Abtrennung z.B. in Kurdistan, Euskadi, Kashmir oder Tamil Eelam unterstützen, weisen wir gleichzeitig auf den Utopismus des nationalistischen Projekts hin, in diesen Gebieten wirklich unabhängige bürgerliche Staaten aufbauen zu wollen.

Das Proletariat muß gleichzeitig für die Enteignung der Kapitalisten und für die größtmögliche Ausweitung der demokratischen Planung kämpfen. Ein Rückzug hinter noch engere ökonomische Grenzen bietet für die unterdrückten Nationen keine Lösung ihrer ökonomischen Grundbedürfnisse.

Gegenüber der bewußten imperialistischen Politik der „Balkanisierung“, die die Spaltung und Beherrschung der schwachen und instabilen Nationalstaaten zum Ziel hat, propagieren Kommunistinnen und Kommunisten für diese Länder, die durch Sprache, Kultur, Handel usw. geschichtlich verbunden sind, die Alternative einer echten Föderation von sozialistischen Staaten. Solche Übergangslosungen können eine mächtige Mobilisierungskraft auf die Massen haben, so etwa in Lateinamerika, im Nahen Osten oder auf dem indischen Subkontinent, wo sie vom Imperialismus geschaffene Spaltungen und die bürgerlich- und kleinbürgerlich-nationalistischen Vorurteile überwinden können.

Der Kampf gegen Militärdiktatur und Bonapartismus in den Halbkolonien

Vom Imperialismus in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufgehalten, sind die Halbkolonien nicht in der Lage gewesen, eine stabile bürgerliche Demokratie aufrechtzuerhalten. Wahlen und Parlamente sind vorübergehend oder generell durch verschiedene Restriktionen im Wahlrecht, durch die Einführung von Lese- und Sprachqualifikationen und durch eine Unzahl von Hindernissen bei der Wählerregistrierung eingeschränkt worden.

Folglich waren verschiedene Arten des Bonapartismus die Norm. Obwohl solche Regimes entschlossene Verteidiger des Kapitalismus gewesen sind, haben sie durch ihre Kontrolle der Armee und des Staatsapparates einen gewissen Grad von Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse erreicht. Sie haben die Kapitalistenklasse von ihrer eigenen politischen Herrschaft ausgeschlossen, ebenso wie sie die ausgebeuteten Klassen im Zaum gehalten oder unterdrückt haben.

Die bonapartistische Herrschaft in den Halbkolonien variierte zwischen „antiimperialistischen“ und proimperialistischen Formen. Die „linke“ Form des Bonapartismus hat oft die Form nationalistischer Offiziersbewegungen angenommen, die aus der kleinbürgerlichen Mittelschicht kamen und den Standpunkt dieser Klasse widerspiegelten. Diese Schicht, die ihre Zukunft durch wirtschaftliche Stagnation, Korruption und die Abhängigkeit ihrer eigenen Bourgeoisie vom Imperialismus zunichte gemacht sieht, hat seit dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen Ländern die Macht erlangt – wie z.B. in Argentinien, Peru, Libyen, Ägypten und Burma. Ihre Ideologien haben Elemente vom Stalinismus und gelegentlich vom Faschismus entlehnt und haben typischerweise einen „dritten“ Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus proklamiert. Diese Regimes haben versucht, mit dem Scheitern der wirtschaftlichen Entwicklung fertig zu werden, indem sie die imperialistische Durchdringung einschränkten. Sie haben alles daran gesetzt, eine „unabhängige kapitalistische Entwicklung“ zu fördern, indem sie von Handelsbarrieren, staatskapitalistischer Industrialisierung und Landreformen Gebrauch machten. Sie haben oft einen bösartigen Antikommunismus mit Versuchen verbunden, die Gewerkschaftsbewegung und Bauernorganisationen als eine Stütze für ihre Regimes gegen den imperialistischen Druck von außen und innen heranzuziehen.

Aber nirgendwo haben solche Regimes den Weg zum Sozialismus eröffnet, noch wären sie aufgrund ihres eigentlichen Wesens dazu überhaupt in der Lage. Tatsächlich haben sie den kapitalistischen Staat und die kapitalistische Wirtschaft durch Angriffe auf die Arbeiter und Arbeiterinnen wieder bestärkt und haben weder vor vollständiger Unterdrückung noch vor Massakern haltgemacht.

Im Falle eines ernsthaften Zusammenstoßes zwischen diesen Regimes und dem Imperialismus bzw. seinen reaktionärsten Agenten wäre das Proletariat dazu verpflichtet, an der Seite der nationalistischen und demokratischen militärischen Einheiten zu kämpfen. Aber zu jeder Zeit müßten die Arbeiter und Arbeiterinnen die entschlossenste Klassenunabhängigkeit und die Opposition zu diesen vorübergehenden Verbündungen bewahren. Das Proletariat braucht keine militärischen Retter oder Führer. Es kann nur durch seinen eigenen Aufstand die Macht erlangen, nicht durch Militärcoups.

Es ist der schwerste Fehler, strategische Blöcke mit Teilen der Offiziere zu bilden oder Illusionen in deren Fähigkeit, das Proletariat zu bewaffnen und zu führen, zu säen. Dies führt zu Klassenkollaboration und programmatischen Zugeständnissen und kann nichts anderes, als den Drang des Proletariats schwächen, unabhängige Abeitermilizen einzurichten und die einfachen Soldaten zu organisieren.

Das zwangsläufige Scheitern dieser ökonomischen und politischen Strategie, die wiederholten Zugeständnisse an die Imperialisten und die daraus resultierende Desillusionierung der Massen, ebnen den Weg für den Sturz dieser Regimes und deren Ersetzung durch fügsamere, proimperialistische. Millionen von Arbeitern und Bauern auf der ganzen Welt leiden unter der Herrschaft solcher bösartiger rechts-bonapartistischer Regimes. Diese sind oft entweder aus dem Scheitern des linken Bonapartismus (Indonesien 1965, Argentinien 1955 und Peru 1975) oder, wie in Chile 1973 und Bolivien nach 1971, aus dem Niederschmettern revolutionärer Situationen entstanden. Diese Regimes sind durch ihre Abhängigkeit vom Imperialismus, ihre Versuche, Arbeiter- und Bauernorganisationen zu zerschlagen und ihre Anwendung von Todesschwadronen, Folter und weitreichenden Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet.

Die wiederholte Ausnützung solcher Diktaturen durch die Imperialisten und ihre Agenten bedeutet, daß die Forderung nach politischer Demokratie ein brennendes Anliegen für Millionen von Proletariern und Nicht- Proletariern auf der ganzen Welt von Indonesien bis Paraguay bleibt. Wo immer das Proletariat an der Seite kleinbürgerlicher und bürgerlicher Kräfte für demokratische Rechte kämpft, muß es dies vom Standpunkt seines eigenen strategischen Zieles tun: die Macht der Arbeiterräte. Was es im wesentlichen innerhalb bürgerlicher Demokratie verteidigt, sind seine Kampforganisationen, die der Bourgeoisie abgerungenen gesetzlichen und verfassungsmäßigen Zugeständnisse und jene Formen der bürgerlichen Demokratie (Parlamente, etc.), welche die Arbeiterklasse als eine Tribüne dafür benützt, die Massen zu mobilisieren und in ihnen zu agitieren. Aber die Macht der Arbeiterräte ist die demokratischste Form der Klassenherrschaft in der Geschichte und ersetzt die demokratische Republik als ein strategisches Ziel in der imperialistischen Epoche.

Trotzdem wir es zurückweisen, die Revolution auf eine besondere demokratische Stufe zu beschränken, können wir nicht – wie die Sektierer – daraus schließen, daß demokratische Losungen unnötig seien. Brutale Diktaturen geben ständig Anlaß zu demokratischen Bestrebungen und zu Illusionen in bürgerlich-demokratische Institutionen. Nur verhärtete Sektierer, welche die Notwendigkeit unterschätzen, sich auf die fortschrittlichen Elemente in den demokratischen Illusionen der Massen zu beziehen, können glauben, daß es möglich sei, das Bewußtsein der Massen zu „überspringen“. Wenn diese Illusionen überwunden werden sollen, ist in der Praxis mehr als nur die Forderung nach Sozialismus nötig.

Dort, wo die herrschenden Klassen versuchen, den Massen die vollen demokratischen Rechte zu verweigern, mobilisieren wir rund um demokratische Losungen, einschließlich jener der souveränen, verfassungsgebenden Versammlung. Wir müssen für einen Wahlablauf kämpfen, in dem es keine vorausgehenden Beschränkungen oder Geheimabkommen gibt, d.h. für einen für die Massen wirklich demokratischen: allgemeines, direktes, geheimes und gleiches Wahlrecht ohne Voraussetzung von Eigentum oder der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Es sollte Publikations- und Versammlungsfreiheit für alle Parteien der Arbeiter und Bauern existieren und von einer bewaffneten Miliz verteidigt werden. Wir müssen auch die proportionale Vertretung aller Parteien in der Versammlung, entsprechend den Stimmen, die sie erhalten haben, fordern, ohne irgendeine Mindestgrenze.

Daß man jedoch die Wichtigkeit solcher Forderungen erkennt, bedeutet nicht, die opportunistischen Methoden der Zentristen anzunehmen, die den Kampf für eine verfassungsgebende Versammlung in eine demokratische Stufe verwandelt haben, durch welche die Massen gehen müssen. Der Zentrismus trotzkistischen Ursprungs (Lambertismus, Morenoismus, das Vereinigte Sektretariat der IV. Internationale) ist immer den Stalinisten oder den kleinbürgerlichen Nationalisten nachgeschwänzelt, indem er die Losung der verfassungsgebenden Versammlung in einer Art verwendet hat, die den Kampf für Arbeiterräte und Arbeitermacht in eine Zeit, nach der eine solche Versammlung gewonnen wurde, verbannte. Gleichzeitig haben die Zentristen Illusionen in das „sozialistische“ Potential gesät, das solche Versammlungen hätten. Die „antiimperialistischen“ linken Bonapartisten haben sich gleichfalls sehr geschickt darin gezeigt. Sei es der Derg in Äthiopien, Mugabes „Einparteienstaat“, Ortegas machtlose „Volkskomitees“ oder Ghadhafis Volkskomitees, diese Organisationen werden in Wahrheit dazu benutzt, den Arbeitern und Bauern ihre Organisationsfreiheit abzuerkennen.

Die verfassungsgebende Versammlung enthält deshalb keinen ihr innewohnenden progressiven Kern. Sie kann nur – und in neunundneunzig von hundert Fällen war sie dies – ein bürgerliches Parlament sein, das damit beauftragt ist, eine Verfassung zu installieren. Schlimmer noch, in halbkolonialen Ländern (Brasilien 1982) und sogar in einigen imperialistischen Ländern (Portugal 1975) wird sie nur unter militärbonapartistischen Beschränkungen ihrer Macht einberufen. Gleichzeitig wird bereits zuvor zwischen den reformistischen Parteien und dem Militär ein Pakt darüber abgeschlossen, wie die Verfassung aussehen soll. Oft haben sich verfassungsgebende Versammlungen als reaktionäre Körperschaften erwiesen, die den revolutionären Organen des Kampfes und der Macht der Arbeiter und Bauern entgegengestellt sind. Dies kann in den Halbkolonien geschehen, wo das enorme Gewicht der Bauernschaft von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse benützt werden kann. Die Kapitalisten und Kapitalistinnen benützen das gleiche Wahlrecht aller „Bürger“ als Bremse für die Revolution. Deshalb ist es unabdingbar für die verfassungsgebende Versammlung mittels der Schaffung von Räten der Arbeiter, Soldaten und armen Bauern zu kämpfen. Nur dann kann die Versammlung eine Waffe revolutionärer Demokratie und nicht ein Werkzeug des Bonapartismus sein, nur dann kann die Versammlung von den Räten der Arbeiter und armen Bauern beseitigt werden, wenn ihre Rolle erschöpft ist.

Selbst unter verfassungsmäßigen Regimes in den Halbkolonien existieren massive Elemente des Bonapartismus, die regelmäßig gegen die Arbeiterklasse eingesetzt werden: das Präsidentenamt mit seiner Macht, den Ausnahmezustand zu erklären; der Senat, mit seiner Fähigkeit, die Gesetzgebung zu beschränken; die nichtgewählte Richterschaft und vor allem die paramilitärische Polizei und die stehende Armee. Alle diese Ämter und Kräfte reduzieren wiederholt die „Demokratie“ auf eine völlig leere Hülle. Gegen diese Angriffe auf die demokratischen Rechte sollte die Arbeiterklasse die Abschaffung des Präsidentenamt und des Senates und die Schaffung eines Einkammersystems, in dem mindestens alle zwei Jahre gewählt wird und die Wähler und Wählerinnen ihre Abgeordneten abwählen können, in ihr Aktionsprogramm aufnehmen. Dem sollten wir die Forderung nach Auflösung der paramilitärischen Truppen, der Polizei und der stehenden Armee und die Schaffung einer bewaffneten Volksmiliz hinzufügen.

Stalinismus, kleinbürgerlicher Nationalismus und bürgerlich-demokratische Aufgaben

Der Stalinismus ist in all seinen Erscheinungsformen ein unversöhnlicher Gegner der Theorie und Strategie der permanenten Revolution geblieben. Der Triumph des Stalinismus wurde durch die offizielle Annahme der Doktrin vom Sozialismus in einem Land durch die kommunistische Partei der Sowjetunion markiert. Der Gedanke eines nationalen Weges zum Sozialismus entspringt dieser Theorie. In den halbkolonialen und kolonialen Ländern bedeutete dies das Durchlaufen besonderer und getrennter politischer Stadien: zuerst die Etappe des Kampfes für politische Demokratie und unabhängige kapitalistische Entwicklung – im Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie -; danach, wenn der Stand der Produktivkräfte reif für diese Etappe befunden wird, die Entwicklung Richtung Sozialismus. In der imperialistischen Epoche kann diese Strategie nur bedeuten, daß die Stalinisten die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse überall dort leugnen, wo diese in der demokratischen Etappe mit den bürgerlich-nationalen Interessen in Konflikt geraten. Angesichts der Unmöglichkeit einer unabhängigen Industrialisierung hat der Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg oft jeden Anspruch aufgegeben, daß die zweite Etappe für die Halbkolonien möglich wäre.

Wir schließen nicht aus, daß „Stadien“ im lebendigen Kampf um die Arbeitermacht auftreten können. Aber es können niemals abgeschlossene, auf einer jeweils getrennten Strategie für eine getrennte Periode basierende Stadien sein. Die verschiedenen Aufgaben, bürgerlich- demokratische und proletarische, sind miteinander verknüpft, und zu jedem Zeitpunkt muß offen dafür gekämpft werden, und zwar mit dem einzigen strategischen Ziel der Arbeitermacht. Aber die Arbeiterklasse muß das städtische und ländliche Kleinbürgertum im Kampf um die demokratischen Aufgaben führen. Die ganze Nachkriegsentwicklung beweist, daß die vollständige Erfüllung der noch offenen demokratischen Aufgaben nur unter der Diktatur des Proletariats, das heißt auf Grundlage der Zerstörung des kapitalistischen Privateigentums und seines Systems der Nationalstaaten, erfüllt werden kann.

Der Stalinismus ist so voll auf die „demokratische Etappe“ orientiert, daß er sich sogar mit kleinbürgerlich-nationalistischen Formationen fusioniert, um so besser – wie Trotzki sagte – „die Schlinge um den Hals des Proletariats zuziehen zu können“. Wo auch immer die Arbeiterklasse spontan aus den vom Stalinismus vorgezeichneten Grenzen des revolutionären Prozesses ausgebrochen ist, sind die Stalinisten die eifrigsten Befürworter der Niederschlagung der Arbeiter und Arbeiterinnen und deren Zurückpressung in diese Grenzen gewesen. Die bittere Konsequenz dessen war oft nicht eine Realisierung der demokratischen Etappe, sondern eine blutige Konterrevolution und Diktatur (Indonesien, Chile, Iran).

Der kleinbürgerliche Nationalismus hat im Laufe der imperialistischen Epoche zunehmend unter dem Mantel des „nationalrevolutionären Kampfes“ in der halbkolonialen Ära agiert. Er übernahm im Streben nach nationaler Unabhängigkeit oft revolutionäre Kampfmethoden (Aufstände, Guerillakriegsführung). Bei manchen Gelegenheiten haben kleinbürgerliche Kräfte Methoden des Klassenkampfes (Streiks, Besetzungen, Landnahme), auch wenn sie diese nicht organisiert haben, zugelassen. Nichtsdestotrotz bleibt das angestrebte Ziel des kleinbürgerlichen Nationalismus eine reaktionäre Utopie.

Der Kampf für einen „unabhängigen Kapitalismus“, der sich „soziale Gerechtigkeit“ im Inneren und „Paktungebundenheit“ nach außen zu eigen macht, ist im Zeitalter des Imperialismus eine Illusion. Diese kleinbürgerlichen Parteien – normalerweise von Angehörigen gehobener städtischer Berufe, Mitgliedern der Intelligenz und desillusionierten Söhnen und Töchtern der herrschenden Oligarchien geführt – sind unfähig, mit dem Kapitalismus zu brechen. Nur in Ausnahmesituationen kann es die Hilfe der existierenden stalinistischen Staaten solchen Parteien ermöglichen, den Kapitalismus auf bürokratische Art und Weise zu überwinden. Ein solcher Verlauf hat allerdings nur dann stattgefunden, wenn er ihnen im Konflikt mit dem Imperialismus als einziges Mittel ihres Überlebens aufgezwungen wurde. In diesem Prozeß verschmelzen sie mit stalinistischen Parteien oder verwandeln sich in solche. Dort, wo solche Parteien eine zeitlang regieren, ohne den Kapitalismus zu stürzen (Nicaragua), rauben sie den Arbeitern und Bauern – durch den Versuch, sich mit einer „patriotischen“ Kapitalistenklasse zu versöhnen – die Früchte ihres Kampfes. Das endet unausweichlich mit einer konservativen Konterrevolution innerhalb des Regimes (Ägypten, Algerien, Iran) und mit dem Aufstieg der Bourgeoisie oder dem Sturz der kleinbürgerlichen Regierung durch proimperialistische Kräfte (Guatemala, Grenada).

Die offiziellen kommunistischen pro-Moskau-Parteien haben sich seit ihrer stalinistischen Degeneration nicht nur immer wieder selbst diskreditiert, sondern durch die Unterstützung reaktionärer Diktaturen – im Interesse der diplomatischen Manöver des Kremls – auch den Gedanken einer proletarischen Führung in Mißkredit gebracht. Der bürgerliche und kleinbürgerliche Nationalismus hat seine Stärke aus diesem Verrat bezogen. Aber als diese Kräfte an der Reihe waren, haben auch sie die Arbeiter und Bauern in die Niederlage geführt. Eine der Folgen ist, daß sich die Massen der Religion zuwenden, um Trost und Anregung für den Kampf zu erhalten. Ideologien, die sich am Beginn des Kapitalismus – angesichts einer emporkommenden Bourgeoisie voller Selbstvertrauen und begleitet von Rationalismus und Säkularismus – auf dem Rückzug befanden, erfahren nun in der reaktionären Epoche des Kapitalismus eine Stärkung.

Religiöse Institutionen spielen im Kampf der Unterdrückten generell eine konterrevolutionäre Rolle. Die meiste Zeit verbreiten sie eine Ideologie der Unterwürfigkeit oder der friedlichen Reform. Aber wenn sie an der Spitze einer Massenrevolte stehen, dann mit dem Ziel, die Massen davon abzuhalten, die kapitalistische Ordnung selbst zu attackieren. Meistens haben sie als führende Kirchenhierarchie agiert, um den Widerstand zu zügeln und die Gehirne der Arbeiter und Bauern zu vernebeln. In gewissen Ländern (z.B. in Zentralamerika) haben Geistliche niedrigen Kirchenranges oder Laienpriester den Bauern und Landarbeitern gelegentlich geholfen, sich in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren, bzw. sie zur Alphabestisierung, politischen Bewußtseinsbildung und Überwindung der Passivität ermuntern. Die reformistischen und klassenversöhnlerischen Anliegen, die dieser Tätigkeit zugrunde lagen, wurden von den Arbeitern und Bauern ihrerseits oft beiseite geschoben; woraufhin sich dieselben Priester und Nonnen gegen die Arbeiter und Arbeiterinnen stellten. Das schließt natürlich nicht aus, daß individuelle Mitglieder des Klerus – umso mehr die Masse der Gläubigen – in den militanten oder sogar revolutionären Kampf involviert werden. Aber die Aufgabe von Marxistinnen und Marxisten ist es trotzdem, sich entschlossen gegen den Einfluß aller religiösen Ideologien zu stellen.

Im Iran hegemonisierte eine solch reaktionäre Ideologie die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten, sogar zu dem Zeitpunkt, als die Massenbewegung den proimperialistischen Schah stürzte. An die Macht gekommen, wurde der volle reaktionäre Inhalt der religiösen Ideologie deutlich: die Verweigerung demokratischer Rechte, die Verfolgung unabhängiger proletarischer Organisationen und die Unterdrückung der Frauen sind Kernbestandteil halbkolonialer kapitalistischer Staaten, die vom religiösen Dogma durchtränkt sind. Hier müssen Revolutionäre und Revolutionärinnen für den Schutz der proletarischen Demokratie gegen religiöse Kasten und für die Trennung von Kirche und Staat kämpfen.

Die antiimperialistische Einheitsfront

Trotz ihrer Abhängigkeit vom Imperialismus bleibt die halbkoloniale Bourgeoisie eine nationale Klasse, die zu begrenzten Kämpfen gegen den Imperialismus fähig ist. Je mehr der Imperialismus seine Krise offen auf Kosten der herrschenden Klasse der Halbkolonie Löst, desto mehr neigt letztere zu rhetorischem und sogar tatsächlichem Widerstand.

Dies macht die nationale Bourgeoisie oder Teile von ihr keineswegs revolutionär. Aber solange bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte über einen realen Masseneinfluß im antiimperialistischen Kampf verfügen, ist es notwendig, daß die Arbeiterklasse die Taktik der antiimperialistischen Einheitsfront anwendet. Das betrifft auch taktische Vereinbarungen mit nicht-proletarischen Kräften sowohl auf Führungsebene als auch an der Basis. Solche Absprachen können formale Bündnisse oder Komitees einschließen. Wo dies der Fall ist, sind die grundlegenden Voraussetzungen für die Teilnahme an einem solchen Block, daß die bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte tatsächlich einen Kampf gegen den Imperialismus oder seine Agenten führen, daß der politischen Unabhängigkeit der revolutionären Organisation innerhalb dieses Blocks keinerlei Beschränkungen auferlegt werden und daß keine bedeutenden Kräfte, die gegen den Imperialismus kämpfen, bürokratisch ausgeschlossen werden. Es ist sogar möglich, diese Einheitsfront im Rahmen von Basisstrukturen einer Massenorganisation mit Volksfrontcharakter, in der sich getrennte Klassenparteien noch nicht herausgebildet haben, zu bilden. Zentral ist dabei, daß diese Einheit auf die Mobilisierung breitester antiimperialistischer Kräfte für genau definierte gemeinsame Kampfziele, wie die Einführung demokratischer Rechte und die Vertreibung der Imperialisten, gerichtet ist.

Während die Kämpfe der halbkolonialen Bourgeoisie darauf abzielen, ihren eigenen Ausbeutungsradius zu erweitern, droht mit dem Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf, die Ausbeutung überhaupt abgeschafft zu werden. Deshalb gibt es nichts konsequent Antiimperialistisches oder Revolutionäres an der halbkolonialen Bourgeoisie, und es sollte für sie kein Dauerplatz in der antiimperialistischen Einheitsfront reserviert werden. Der Zweck der Aktionen der antiimperialistischen Einheitsfront muß die Unterstützung des Proletariats bei der Mobilisierung der Massen sein, so daß diese die – ihnen von ihren traditionellen Führungen und Organisationen auferlegten – Schranken durchbrechen. Deshalb muß das Proletariat die kühnsten Formen der direkten Massenaktion und Massenorganisation, Streikkomitees, Volksversammlungen, Massenveranstaltungen (cabildos) etc., die die Entwicklung von Arbeiter- und Bauernräten, Arbeitermilizen und Soldatenkomitees fördern, vorantreiben.

Das Proletariat darf „linke“ Regimes nie politisch unterstützen oder an deren Unterdrückung demokratischer Rechte mitwirken. Die Avantgarde der Arbeiterklasse soll, solange demokratische Freiheiten existieren und die Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen ein solches Regime noch unterstützt, einen bewaffneten Aufstand gegen diese Regierungen unterlassen. Die einzig mögliche Unterstützung für diese Regimes besteht im gemeinsamen militärischen Vorgehen gegen einen reaktionären Putsch oder gegen eine imperialistische Intervention. Trotzkisten und Trotzkistinnen können demzufolge militärische Aktionen bürgerlicher Regierungen gegen den Imperialismus unterstützen. Aber wir werden zu keinem Zeitpunkt von unserem Kampf zum Sturz und zur Ersetzung dieser Regierung durch eine Arbeiter- und Bauernregierung ablassen.

Die Nationalisten und Reformisten wollen die Aktionsfront gegen den Imperialismus immer in einen strategischen Block zur Erreichung der politischen Macht (also in eine Volksfront) verwandeln. Sie versuchen die antiimperialistischen Kräfte in einer Regierungskoalition, die das Überleben des „nationalen Kapitals“ gegen die sozialistische Revolution garantiert, zusammenzufassen. Revolutionäre Kommunistinnen und Kommunisten kämpfen für die Errichtung von Regierungen, die sich auf Räte und Milizen der Arbeiter und Bauern stützen. Nur eine Regierung des Proletariats, im Bündnis mit der armen Bauernschaft, kann die unvollendeten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution Lösen. Der Klasseninhalt einer solchen Regierung ist im vorhinein festgelegt. Die Losung lautet: Für eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung! Eine solche Regierung wird nicht, ja kann nicht die Revolution auf eine eigenständige demokratische Etappe beschränken, denn andernfalls wird sie unter dem Druck der Konterrevolution zusammenbrechen. Diese Perspektive befähigte die Bolschewiki, die radikalisierten Bewegungen des Kleinbürgertums, wie die linken Sozialrevolutionäre und die Volksparteien Zentralasiens, auf ihre Seite zu ziehen. Die Gründung eines strategischen Blocks mit diversen linken Kräften ohne dieses Kampfziel wird nur den Weg zur Diktatur des Proletariats versperren. Der Eintritt in eine Regierung oder Regierungskoalition, die die Aufrechterhaltung des Privateigentums und dessen Armee und Staat zur Grundlage hat, ist die höchste Form des Verrats am Proletariat.

Die Arbeiterklasse und die Guerillastrategie

Trotzkistinnen und Trotzkisten stehen in Opposition zur Strategie des Guerillakrieges, gleichgültig, ob in einer „Focus“- oder „Volkskriegsvariante“. Der kleinbürgerliche Guerillaismus widersetzt sich dem Aufbau einer Arbeiterpartei, von Arbeiterräten und der Organisierung des bolschewistischen Aufstandes. Durch ein klassenübergreifendes Programm will er die proletarischen Interessen dem Kleinbürgertum unterordnen. Der Guerillaismus möchte bürokratische Organisationen durchsetzen und die Entwicklung von Arbeiterräten und unabhängigen, demokratischen Arbeitermilizen umgehen. Sogar dort, wo es ihm gelingt, verfaulte Diktaturen wie in Kuba und Nicaragua zu Fall zu bringen, eröffnet er den Weg für eine bonapartistische Lösung. Egal ob die Siege der Guerilla – ausnahmsweise – bürokratische soziale Umstürze oder – wie meist – militärisch-bonapartistische Regime mit sich brachten: Sie waren immer von der Zerschlagung der unabhängigen Organisationen des Proletariats begleitet.

Hinter ihrer ultralinken Phraseologie und Methode versteckt sich in der Tat ein starkes Mißtrauen in die Arbeiterklasse und eine Neigung zu Abkommen mit Teilen der Bourgeoisie. Diese Politik beinhaltet, daß die politische Führung der städtischen Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum überlassen wird. Insoweit der Guerillaismus eine Massenbasis für seine Aktionen (wie im „Volkskrieg“) sucht, ordnet er die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse dem Kleinbürgertum unter. In diesem Sinne hat der Guerillaismus als Strategie immer die Tendenz, eine bewaffnete Volksfront zu verkörpern.

Der Guerillaismus entwertet den politischen und ökonomischen Kampf zu Gunsten gelegentlicher und oft willkürlicher militärischer Aktionen. Der individuelle Terror, die Zerstörung von Fabriken (Zentren der proletarischen Konzentration) und spektakuläre Militäraktionen sind Methoden, die der Strategie der Arbeiterklasse entgegengesetzt sind. Entgegen dem Marx’schen Postulat, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein könne, glaubt der Guerillaismus, daß die Befreiung das Werk außenstehender Retter sein wird. Durch ihre undemokratische und elitäre Haltung gegenüber den Massen, die sie zu vertreten vorgeben, können Guerillaführer diese angesichts überlegener staatlicher Militärkräfte und Wachmannschaften häufig schutzlos zurücklassen. Das Abziehen der furchtlosesten und kämpferischsten Arbeiterinnen und Arbeiter von den Fabriken, den Stadtzentren, den dicht besiedelten ländlichen Gebiet bedeutet, daß den Arbeiter- und Bauernorganisationen ihre Kader und Führer entzogen werden. Wie im Fall von ‚Sendero Luminoso‘ in Peru können Guerilleros auch die Arbeiterorganisationen selbst angreifen .

Für Trotzkistinnen und Trotzkisten ist der Guerilla-Kampf aber eine Taktik, die im antiimperialistischen Kampf angewendet werden kann. Wir lehnen die militärische Einheitsfront mit Guerilla-Armeen nicht ab, weder in der Form von eigenen Bataillonen noch in der Form von kommunistischer Zellenarbeit innerhalb von bürgerlich oder stalinistisch geführten Armeen. Das Ziel dieser militärischen Einheitsfront ist jedoch die Vorbereitung einer weitverzweigten und unabhängigen Bewaffnung der Arbeiterklasse und der armen Bauern. Über diesen Weg kämpfen Kommunistinnen und Kommunisten darum, die Guerilla-Armeen und deren politische Apparate zu zwingen, die Plantagenbesitzungen zu enteignen, die Landbesetzungen zu unterstützen und die Unabhängigkeit der Arbeiter- und Bauernräte und deren Milizen anzuerkennen.

Das bleibt jedoch eine untergeordnete Taktik gegenüber einer Strategie, deren zentrale Vorkämpferin die Arbeiterklasse selbst ist. Das Programm der permanenten Revolution ordnet jede militärische Aktion den politischen Notwendigkeiten unter, die vom vorhandenen Niveau des Klassenkampfes und dem revolutionären Bewußtsein der Arbeiter und der armen Bauern bestimmt werden. Eine breite militärische Aktion der bewaffneten Miliz in Stadt und Land sollte im allgemeinen nur dann unternommen werden, wenn eine Doppelmacht besteht und eine weitreichende Arbeiterkontrolle die Organisierung des Aufstandes zur unmittelbaren Notwendigkeit macht. Wir lehnen alle breiten Militäraktionen mit ausdrücklich nicht-defensivem Charakter kategorisch ab, die die Massen politisch passiv lassen. Unter allen Umständen hat die Arbeiterklasse ihre Unabhängigkeit und ihre Opposition gegenüber dem Guerillaismus zu behaupten. Sie muß alle Aktionen, die ihren Perspektiven entgegengesetzt sind, kritisieren und in extremen Fällen verurteilen.

In den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den kleinbürgerlichen Guerillaarmeen und dem bürgerlichen Staat verteidigen wir sie immer gegen die staatliche Repression. Wir sprechen dem Staat das Recht ab, diejenigen zu verurteilen, die gegen ihn kämpfen. Wir kämpfen für die Anerkennung des Kriegsgefangenenstatus der gefangengenommenen Guerilleros und für deren Befreiung. Wenn Guerilleros Arbeiterorganisationen angreifen, rufen wir zu deren Verteidigung nicht um die Hilfe des kapitalistischen Staates. Wir verlangen, daß die Arbeiterbewegung selbst, in Versammlungen und in den Gewerkschaften, ein Urteil ausspricht, indem die Arbeiter und Bauern eigene Verteidigungskommandos gegen diese Guerilla-Angriffe organisieren. Wir weichen vor der unvermeidlichen militärischen Konfrontation mit den bürgerlichen und stalinistischen Kommandeuren nicht zurück, die das Ergebnis voneinander abweichender Programme des Proletariats und des Kleinbürgertums ist.