Nahost: Israel droht mit Ausweitung des Krieges in der Region

Erklärung der Liga für die Fünfte Internationale, 14.4.2024, Infomail 1251, 15. April 2024

Am 13. April feuerte der Iran 300 Drohnen und ballistische Raketen auf Israel ab. Die große Mehrheit wurde von Israels hochentwickelten Luftabwehrsystemen, aber auch mit Hilfe der in der Region stationierten amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte sowie Jordaniens und Saudi-Arabiens abgeschossen.

US-Präsident Joe Biden, der Israels sechsmonatigen Völkermord im Gazastreifen weiterhin unterstützt und verteidigt, beeilte sich natürlich zu sagen: „Ich verurteile diese Angriffe auf das Schärfste“. Er fügte hinzu: „Ich habe gerade mit Premierminister Netanjahu gesprochen, um Amerikas eisernes Engagement für die Sicherheit Israels zu bekräftigen.“

Tatsächlich war der iranische Angriff eine Reaktion auf eine weitaus schädlichere Provokation Israels. Am 1. April feuerten israelische Kampfflugzeuge mehrere Raketen ab, die das iranische Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus zerstörten und Brigadegeneral Mohammad Reza Zahedi, einen hochrangigen Kommandeur des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), einen weiteren iranischen General und 14 andere Personen töteten.

Militäranalyst:innen zufolge wurden die iranischen Angriffe absichtlich so gewählt, dass sie von der israelischen und verbündeten Luft- und Raketenabwehr leicht entschärft werden konnten. Außerdem handelte es sich bei den Zielen offenbar nicht um Bevölkerungszentren, sondern eher um einige abgelegene militärische Ziele auf den Golanhöhen und in der Wüste Negev. Der gesamte Angriff war höchst symbolisch und sollte der „Abschreckung“ vor weiteren israelischen Attacken dienen. In diesem Sinne erklärte auch der Sprecher der iranischen Mission bei den Vereinten Nationen, dass sie die Angelegenheit in Damaskus mit diesem Vergeltungsschlag als „erledigt“ betrachten.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die israelische Regierung dies auch so sieht. Für sie ist die iranische Regierung in eine Falle getappt, die sie mit der Provokation von Damaskus gestellt hatte. Die Netanjahu-Regierung braucht die „Einmischung“ des regionalen Hauptfeindes, um ihre militärische Stärke zu beweisen und den Gazakrieg zu einem Krieg mit allen Kräften in der Region auszuweiten, die den palästinensischen Widerstand unterstützen könnten. Wie ein israelischer Beamter sagte, ist es jetzt an der Zeit, die Fähigkeit des Irans auszulöschen, eine Bedrohung für Israel darzustellen.

Die Umwandlung des Genozids im Gazastreifen in einen regionalen Krieg, vor dem auch die Vereinigten Staaten seit langem gewarnt haben, ist damit einen großen Schritt vorangekommen. Es ist klar, dass dies eine bewusste Provokation des Kriegskabinetts von Netanjahu ist, die nicht nur auf den Iran abzielt, sondern auch darauf, seine amerikanischen und westeuropäischen Verbündeten direkter zu verwickeln.

Es stellt auch ein Mittel dar, um den Problemen zu entgehen, die durch die Großdemonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem entstanden sind, bei denen sein Rücktritt gefordert wurde. Außerdem wurde er durch die Verurteilung des Massakers der Israelischen Sicherheitskräfte IDF an den Mitarbeiter:innen der World Central Kitchen, die am 1. April Hilfsgüter lieferten, durch die internationalen Medien kurzzeitig in Verlegenheit gebracht. Seine Verbündeten können nun zur Propaganda „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ zurückkehren.

Die Gefahr, dass Israel, eine Atommacht mit der modernsten konventionellen Bewaffnung im Nahen Osten, bei einem Angriff auf den Iran, Libanon und Syrien aufs Ganze geht, ist sehr real.

Unterdessen geht der Genozid in Gaza weiter. In den drei Tagen des Eid al-Fitr (das Fest, das normalerweise das Ende des einmonatigen Fastenmonats Ramadan für Muslime markiert; Fest des Fastenbrechens, Zuckerfest) verübten die IDF Massaker an ganzen Familien und töteten über 170 Frauen und Kinder. Zur gleichen Zeit „randalierten“ 72 israelische Siedler:innen unter dem Schutz von IDF-Soldat:innen im besetzten Westjordanland, wie es die BBC nannte. Bei diesen gewalttätigen Ausschreitungen wurden Autos, Häuser und Geschäfte angezündet und ganze Straßenzüge zerstört.

All dies zeigt, dass der zionistische Staat weit davon entfernt ist, eingedämmt oder geschwächt zu werden, und dass er wild entschlossen ist, eine „zweite Nakba“ zu begehen, wie es etliche Minister:innen nennen. Dies könnte die lang erwartete Bodeninvasion in Rafah beinhalten, die Räumung des Gazastreifens von seiner traumatisierten Bevölkerung oder deren Einsperrung in ein noch kleineres Gefangenenlager, und im Westjordanland in die isolierten, überfüllten Stadtgebiete, während faschistische Siedler:innen Dorfbewohner:innen töten und das, was von palästinensischem Ackerland übrig ist, besetzen.

Die weltweite Bewegung gegen den Genozid, die in ihrer Langlebigkeit und Größe bereits beispiellos ist, muss über Proteste hinausgehen. Sie muss unwiderstehlichen Druck auf die Regierungen der westlichen imperialistischen Länder sowie der Monarchien und Militärdiktaturen des Nahen Ostens ausüben, um alle Waffenlieferungen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu unterbinden. Direkte Massenaktionen müssen durchgeführt werden, um die falschen Behauptungen zurückzuweisen, dass Antizionismus Antisemitismus sei, eine Tatsache, die durch die wachsende Zahl fortschrittlicher jüdischer Menschen, die Israels Handlungen verurteilen, immer deutlicher wird.

Für die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands und anderer westlicher Länder ist eines klar: Sie stehen fest hinter dem israelischen Staat. Das macht eine Eskalation des Krieges und einen massiven Angriff auf den Iran, Syrien oder den Libanon zu einer realen Gefahr.

  • Wir stellen uns klar gegen solche zionistischen Offensiven! Wir stellen uns entschieden gegen jede imperialistische Intervention!

  • Für den sofortigen Abzug aller US- und anderer imperialistischer Truppen aus dem Nahen Osten! Wir sind für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen!

  • Stoppt die Waffenlieferungen und die finanzielle Unterstützung für Israel! Stoppt alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit dem zionistischen Staat!

  • Beendet den Völkermord! Waffenstillstand jetzt! Abzug der israelischen Truppen! Beendigung der Blockade! Öffnung der Grenzübergänge!

  • Für das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge! Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina!



Nach den zwei Tagungen – wohin steuert China?

Creek Li, Infomail 1251, 13. April 2024

Berichte aus China zeigen, dass das Land trotz Fassade der Einheit und schmeichelhaften Sprache, die auf dem Nationalen Volkskongress im März dieses Jahres geherrscht hat, mit ernsten wirtschaftlichen Problemen konfrontiert ist, sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene, die das parteistaatliche System in eine Situation des Stillstands und der Lähmung bringen.

Das lässt sich an der Unfähigkeit der Parteiführung unter Xi Jinping ablesen, sich an die etablierten Verfahren zur Entwicklung der Wirtschaftspolitik zu halten. Normalerweise würde diese zunächst auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees, die üblicherweise im November stattfindet, erörtert und dann von der Zentralen Wirtschaftsarbeitskonferenz im Dezember detaillierter ausgearbeitet werden. Schließlich würde sie auf den „Zwei Tagungen“ des Nationalen Volkskongresses und des Politischen Konsultativrats des Chinesischen Volkes, die im März zwei Wochen lang zusammentreten, zur Zustimmung vorgelegt. Symptomatischer Weise wurde diese Tagung nach der ersten Woche abgebrochen, und es wurden keine größeren Ankündigungen gemacht – sogar die traditionelle Pressekonferenz des Ministerpräsidenten wurde abgesagt.

Obwohl die regierende Kommunistische Partei erfolgreich die Restauration des Kapitalismus unter ihrer vollständigen Kontrolle überwacht hat, ist eine wichtige Quelle der Legitimität des Regimes die Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums und die ständige Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Dies ist in den letzten drei Jahrzehnten mehr oder weniger gut gelungen. Zum Zeitpunkt des Handelskriegs zwischen China und den USA Ende der 2010er Jahre waren jedoch bereits Anzeichen für eine schlechte Wirtschaftslage zu erkennen. Engpässe in der Infrastruktur und ein Mangel an Innovationen in der Hightechindustrie, der auf die Verlagerung  ausländischer, insbesondere US-amerikanischer, Produktionsunternehmen in befreundete Länder nach Südostasien und Lateinamerika sowie auf die langfristigen Auswirkungen der US-Sanktionen zurückzuführen ist, waren echte Hindernisse für eine weitere Beschleunigung.

Der Inflationszyklus, der das Wachstum in den 1990er und 2000er Jahren begleitet hatte, wich einer schleichenden Deflation als Reaktion auf die schwache Nachfrage nicht nur in China, sondern auch international aufgrund des Rückgangs der chinesischen Exporte. Diese Schwierigkeiten wurden durch die Covid-19-Ausperrungen von 2020 bis 2022 und die schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf der ganzen Welt noch verschärft. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 gingen beispielsweise die Ausfuhren Chinas in die Vereinigten Staaten um 25 % zurück. Der größte Handelspartner der Vereinigten Staaten ist nun Mexiko, während China auf den dritten Platz zurückgefallen ist.

Die Expert:innen an der Spitze waren sich der Schwierigkeiten bewusst, die mit den Produktionsüberkapazitäten des Landes, dem Investitionsstau bei der Infrastruktur, der Immobilienpreisblase, der ungleichen Einkommensverteilung und der chronischen Deflation verbunden waren. Im Jahr 2021 ließ Peking diese Bedenken in den Entwurf des 14. Fünfjahresplans einfließen, eine aus der Zeit der Planwirtschaft übernommene Praxis, die einen Ausblick auf die wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien für die nächsten fünf Jahre gab. Dieser Plan sah eine Ausweitung der Investitionen in Forschung und Entwicklung, der ländlichen Bildung, der Gesundheits- und Umweltdienste, der Sozialfürsorge, eine bessere Verteilung des Nationaleinkommens und die Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt vor, alles in Verbindung mit einer relativen finanziellen Stabilität und einer gesunden Zahlungsbilanz. Aufgrund einiger tief verwurzelter struktureller Probleme in der chinesischen Wirtschaft, die mit dem parteistaatlichen System zusammenhängen, sind diese Ziele jedoch nur schwer zu erreichen.

Das erste und wichtigste Problem bildet natürlich das Platzen der Immobilienblasen und die daraus resultierenden riesigen Schulden. Dies betrifft nicht nur die berühmten Unternehmen wie Evergrande und Country Garden, sondern auch die Kommunal- und Provinzregierungen und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen, die Finanzstützen für Kommunalverwaltungen, die den Verkauf von Grundstücken an Immobilienunternehmen subventionieren. Durch den Konkurs von Bauträger:innen ist den lokalen Regierungen eine wichtige Einnahmequelle weggebrochen – Berichten zufolge über 25 % –, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits unter den enormen Kosten der von Peking verhängten Abriegelungen während der Pandemie leiden. Zweitens hat das Versäumnis Pekings, Rettungspläne zur Entschädigung kleiner Unternehmen oder prekär Beschäftigter während der Covidzeit durchzuführen, zu einem starken Rückgang des Verbrauchs geführt, da die Menschen an ihren Ersparnissen festhalten. Dies erklärt, warum es nach der Wiedereröffnung nicht, wie von den meisten Ökonom:innen erwartet, zu einem Konsumboom gekommen ist. Es hat vielmehr dazu geführt, dass viele Unternehmen Lagerüberschüsse verzeichnen und Arbeiter:innen entlassen, was die Nachfrage noch weiter schwächt.

Technisch gesehen sind die Schulden von Evergrande und anderen Unternehmen zwar spektakulär, aber kein unlösbares Problem. Eine Kombination aus Umschuldung, Finanzierung der Fertigstellung und des anschließenden Verkaufs unvollendeter Projekte, Zusammenlegung potenziell lebensfähiger Teile der bankrotten Unternehmen, Übertragung der Schulden auf eine „Bad Bank“, Zwangsvergleiche mit den Gläubiger:innen und die Beschlagnahmung der Vermögenswerte der Immobilienspekulant:innen selbst könnten alle eine Rolle bei der Lösung der Finanzkrise der Branche spielen. Bisher wurden solche Maßnahmen jedoch kaum ergriffen, und der Chef von Evergrande, Hui Ka Yan, wurde sogar recht milde behandelt. Dies ist ein Zeichen für den widersprüchlichen Druck und die Loyalitäten innerhalb des Regimes. Aber das ist noch nicht alles: Selbst wenn solche Maßnahmen rigoros umgesetzt würden, wären damit weder das Problem der Umstrukturierung der Wirtschaft weg von der langjährigen Strategie der Abhängigkeit von Infrastrukturinvestitionen noch das der riesigen Schulden der lokalen Regierungen gelöst.

Sowohl die bankrotten und veralteten Sektoren der Wirtschaft als auch die potenziell dynamischen und profitablen Branchen sind im Parteistaatsapparat vertreten. Die zahlreichen Interessen innerhalb der Partei, die in regionalen, generationsbedingten, beruflichen und sozialen Unterschieden wurzeln, konnten zusammengehalten werden, solange alle auf den Fortschritt durch die robusten wirtschaftlichen Wachstumsstatistiken der letzten dreißig Jahre vertrauten. Zu diesem „Wachstum“ gehörten jedoch auch Zigmillionen leere Wohnungen und Tausende von Kilometern ungenutzter Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecken und Autobahnen. Ein krasses Beispiel stellt die Provinz Guizhou dar. Nach Angaben der Zeitung South China Morning Post hat Guizhou bis Ende 2022 insgesamt 8.331 Kilometer Autobahnen gebaut und übertrifft damit Japans Gesamtlänge von 7.800. Aber Japan hat 82 Millionen Autos, die auf seinen Autobahnen fahren, Guizhou verfügt über weniger als 6 Millionen. Die Kosten und mangelnde Rentabilität solcher Investitionen machen die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Parteistaatsapparats zunehmend unvereinbar.

Auch auf internationaler Ebene stößt China auf mehrere Schwierigkeiten. Einerseits hat es seinen Plan, das Überkapazitätsproblem durch Kapitalexporte über das Programm „Ein Gürtel, eine Straße“ („Neue Seidenstraße“) zu lösen, nicht erfüllt. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und einer eskalierenden Rivalität mit den USA wird dies noch schwieriger sein.Die derzeitige Pattsituation in der Welthandelsorganisation WTO zeigt, dass China zwar die seit dem Ende des Kalten Krieges im Washingtoner Konsens festgelegte „regelbasierte Ordnung“ untergräbt, aber noch nicht in der Lage ist, sie zu stürzen. Die USA sind ein globaler Hegemon mit der stärksten Militärmacht und sie kontrollieren immer noch die Bretton-Woods-Institutionen, die unter ihrer Vorherrschaft aufgebaut wurden und dazu dienen, diese aufrechtzuerhalten.

Die Gipfeltreffen der G20- und der BRICS-Staaten haben gezeigt, dass es für China möglich ist, über Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens stabile Wirtschaftspartner:innenschaften aufzubauen. Diese bieten nicht nur neue Märkte für Chinas Produkte, sondern erhöhen auch dessen moralische Autorität in der Weltordnungspolitik, nicht zuletzt durch die Stimmen dieser Länder in der UNO. Nichtsdestotrotz stellen sie nicht annähernd eine Konkurrenz für die USA dar. Außerdem ist, wie John Maynard Keynes schon vor langer Zeit feststellte, „Währungskompetenz“ für die internationalen Beziehungen von entscheidender Bedeutung.

Trotz der wiederholten Bemühungen Pekings, den Yuan zu internationalisieren, hat es bisher nichts geschaffen, was auch nur annähernd mit den Funktionen des US-Dollars vergleichbar wäre. Eine echte Internationalisierung des Yuan würde im Wesentlichen Reformen zur Lockerung der Banken- und Kapitalkontrollen erfordern. Wie die Fälle der Konzerne Tencent und Alibaba Finanz zeigen, wären solche Reformen mit dem parteistaatlichen System unvereinbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zinsdifferenz zwischen China und den USA zu einer ständigen Kapitalflucht und zum Abzug ausländischer Investitionen führt.

Hier fangen alle politischen Probleme an und deshalb kann es zu einer Lähmung innerhalb des Parteistaats kommen. Nachdem Parteichef  Xi Jinping im Fraktionskampf erfolgreich war und den Gipfel seiner persönlichen Macht erreicht hat, ist er nun von Verleumder:innen umgeben und steht an einem existenziellen Scheideweg, der in der Geschichte schon so oft Autokrat:innen zu falschen Entscheidungen getrieben hat.

Kürzlich beschloss Xi aus Furcht vor einer sich auftürmenden Staatsverschuldung und einer Krise der Staatsfinanzen, die Ausgaben der lokalen Behörden und Infrastrukturprojekte zu kürzen. Dies fiel mit dem Abschwung im Immobiliensektor zusammen und die kombinierte Wirkung wird zu einem weiteren Rückgang der Einkommen und Beschäftigung führen, wodurch Millionen von Menschen arbeitslos und Zulieferbetriebe in der gesamten Wirtschaft in den Ruin getrieben werden. Dies könnte sich in einer politisch sensiblen Zeit als gefährlicher Schritt erweisen. Gleichzeitig wird sich die chinesische Wirtschaft stetig verschlechtern, wenn Xi zulässt, dass Immobilienspekulant:innen ihre Geschäfte wie gewohnt fortsetzen und die Immobilienblasen nicht aufbrechen, wie die sanfte Behandlung des Chefs von Evergrande andeuten könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit hat im Jahr 2023 einen historischen Höchststand erreicht und liegt nach Schätzungen einiger Ökonom:innen derzeit bei etwa 40 %, was zu sozialen Unruhen führen könnte. Diese Kombination von Problemen, die jeweils verschiedene Bereiche innerhalb der Partei und des Staatsapparats betreffen, erklärt sowohl die immer diktatorischere Herrschaft von Xi als auch seine Unfähigkeit, ein neues Wirtschaftsmodell zu finden, das das Wirtschaftswachstum in der Einparteiendiktatur fördern kann.

Was Chinas derzeitige Krise schlussendlich von der in anderen imperialistischen Ländern unterscheidet, ist das herrschende Regime, keine kapitalistische Regierung, sondern ein stalinistischer Parteistaat, der aus einer Planwirtschaft hervorgegangen ist und nun versucht, seine Herrschaft in einer kapitalistischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Im Laufe der Zeit haben sich zwangsläufig verschiedene Fraktionen und Flügel innerhalb der Staatsbürokratie herausgebildet, die ihre eigenen politischen Programme mit unterschiedlichen Haltungen gegenüber der chinesischen Bourgeoisie sowie Strategie zur Bewältigung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme entwickeln werden.

Dies bietet die Möglichkeit einer offenen Spaltung der Partei, bei der die prokapitalistischen Fraktionen mit der Großbourgeoisie zusammenarbeiten könnten, um zu versuchen, eine bürgerliche Demokratie zu errichten, möglicherweise sogar unter dem Banner der Republik China. Das Verständnis der Dynamik einer solchen Situation ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Programms für eine Arbeiter:innenpartei, die durch die Mobilisierung der Arbeiter:innen zur Verteidigung ihrer Interessen unabhängig von und gegen die Interessen sowohl der Bürokratie als auch der Kapitalist:innen aufgebaut werden soll.




Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




Deutschland vor Gericht

Martin Suchanek, Infomail 1250, 10. April 2024

„Begünstigung zum Völkermord“: So lautet die Anklage gegen Deutschland, die seit dem 8. April vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt wird. Die „werteorientierte“ und „feministische“ Außenpolitik , die nicht nur Außenministerin Baerbock gern allen Bösewichten der Weltpolitik als Leuchtfeuer der Demokratie vorhält, steht nun selbst vor Gericht.

Über Jahre redet nicht nur sie gebetsmühlenartig jede Waffenlieferung, jede Intervention, jede Sanktion gegen andere Staaten, jede Interessenpolitik „demokratisch“ schön. Und über Jahre galt der IGH als ein, wenn auch eher symbolisch-moralisches, Mittel in der innerimperialistischen Konkurrenz, das Deutschland gern gegen die Konkurrenz aus Russland oder anderswo in Stellung brachte. So applaudierte man im März 2022, als der Gerichtshof Russland aufforderte, seinen reaktionären Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. Und man empörte sich darüber, dass Putin und seine Militärmaschinerie die Anhörung boykottierten und das Urteil in den Wind schlugen.

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern

Frei nach Konrad Adenauer verfährt auch die Bundesregierung heute. Was kümmert uns, die Baerbocks, die Scholzs, die Habecks und Linders (und natürlich auch die konservative Opposition) unser Geschwätz von gestern.

Internationale Gerichtshöfe gelten offenbar nur dann als wirkliche „demokratische“ Errungenschaft, wenn sie im Sinne einer Weltordnung Anklagen verfolgen und Urteile fällen, die der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands, der USA, der EU und ihrer Verbündeten entsprechen. Außerdem trat die Bundesrepublik für eine weite Auslegung des Begriffs Genzoid ein, als sie sich im November 2023 der Klage Gambias gegen Myanmar anschloss, dessen Regime Völkermord an den Rohingya vorgeworfen wird.

Offenbar rechnete niemand damit, dass mit Israel ein enger geostrategischer Verbündeter und wirtschaftliche Partner auf derselben Anklagebank landen könnte. Dabei hatten die rechten Minister im Kabinett Netanjahu aus ihren reaktionären, pogromistischen Absichten nie ein Hehl gemacht. Rund 40.000 Tote seit Beginn der israelischen Angriffe und Besatzung, die Vertreibung von weit mehr als einer Million Menschen in Gaza sowie eine drohende Hungerkatastrophe sprechen eine klare Sprache.

Von einem laufenden Genozid will die deutsche Bundesregierung jedoch partout nichts wissen. Die zur Staatsräson erhobene bedingungslose Solidarität mit Israel umfasst offenbar auch die Pflicht zur Realitätsverweigerung, zur Doppelmoral sowieso. Allenfalls werden regelmäßig Aufforderungen zur Mäßigung an Israel gerichtet, während zugleich Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina gesperrt werden und die Lieferungen von Rüstung an Israel 2023 auf einen Wert von 326,5 Millionen Euro verzehnfacht wurden.

Wie Deutschland reagiert

Nachdem der IGH nach der Klage Südafrikas die Gefahr eines Genozid in Gaza bejahte, folgt Deutschland verdientermaßen Israel auf die Anklagebank. Der Vorwurf lautet „Begünstigung zum Völkermord“ durch Waffenlieferungen und Blockade von Hilfe für Flüchtlinge. Eingebracht wurde er von Nicaragua.

Die Reaktion darauf? Man weist nicht nur jede Schuld von sich. Bezüglich der Kritik am IGH, den man ja noch gegen missliebige Regime brauchen könnte, hält man sich zurück, auch wenn man dessen Zuständigkeit bezweifelt. Umso heftiger soll, wie schon im Fall Südafrika, der Kläger, in diesem Fall das Regime in Nicaragua, diskreditiert werden. Keine Frage, sowohl die Regierung Südafrikas als auch jene Nicaraguas unterdrücken die eigene Bevölkerung, vor allem die Arbeiter:innenklasse und die Armen. Keine Frage, ihre Klagen entbehren nicht eines guten Schusses Doppelmoral. Doch damit befinden sie sich in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht zuletzt mit der Bundesrepublik, in guter Gesellschaft.

Gegenüber der Öffentlichkeit versucht die Regierung, der angeblich Rechtsstaatlichkeit und besonders das humanitäre Völkerrecht über alles gehen, den Gegenstand der Klage durch die Diskreditierung des Klägers zu „entkräften“. Das wäre etwa so, als würde ein/e des Mordes Beschuldigte/r argumentieren, das Gericht müsse die Anklage zurückweisen, weil der/die Klagende in der Vergangenheit Verbrechen begangen hätte. Dabei sollten die Bundesregierung und ihre Rechtsvertreter:innen wissen, dass jede/r Beschuldigte vor einem bürgerlichen Gericht damit Schiffbruch erleiden muss. Und das wissen natürlich auch die Jurist:innen, die Deutschland verteidigen.

Eine Fiktion als Verteidigungsstrategie

Doch gegenüber der eigenen Bevölkerung halten die Regierung, ihre Sprecher:innen und der Großteil der Medien an einer Verteidigungs„strategie“ fest, die vor allem darin besteht, Nicaragua jedes Recht auf Klage abzusprechen. Und das hat einen guten Grund. Sich ernsthaft auch nur auf den Vorwurf der Beihilfe zum Genozid einzulassen und generell mit Kriegsverbrechen zu beschäftigen, würde die gesamte ebenso verlogene wie moralistisch aufgeladene Rechtfertigung Deutschlands für die „bedingungslose Solidarität mit Israel“ in Frage stellen. Es würde offenlegen, dass diese nicht dem Kampf gegen den Antisemitismus dient, sondern einerseits der billigen Entschuldigung für den Holocaust und die Verbrechen der Nazis, andererseits den eigenen geostrategischen Interessen.

Daher muss die Bundesregierung an ihrer eigenen Fiktion festhalten, dass schon der Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel, bereits die Verhandlung einer Klage eine „Ungeheuerlichkeit“ darstellen würden.

Doch die Ungeheuerlichkeit findet in Gaza statt – mit der Hilfe und den Waffen aus Deutschland. Während selbst andere westliche bürgerliche Staaten aufgrund der Barbarei der Bombardements auf Distanz gehen und wie z. B. Kanada oder Gerichte in den Niederlanden Waffenlieferungen an Israel stoppen, hält die Bundesregierung an der Fiktion fest, dass der zionistische Staat unter Netanjahu eine Art Verteidigungskrieg führen würde. Der größte Teil der Menschheit kann darüber nur den Kopf schütteln. Auch eine Mehrheit der Deutschen folgt der Bundesregierung längst nicht mehr. Obendrein kann auch eine wachsende Minderheit der israelischen Bevölkerung ob der Nibelungentreue der deutschen Regierung zum israelischen Kriegskabinett nur ungläubig staunen.

Auch wenn sich die Verhandlung der Klage Nicaraguas über Wochen hinziehen wird und der Ausgang eng damit verbunden ist, ob der IGH Südafrikas Klage gegen Israel recht gibt, so bewirkt der Prozesse zumindest eines: Er trägt dazu bei, die Rechtfertigungsideologie des Krieges gegen Gaza in der Öffentlichkeit weiter zu unterminieren. Und das stellt für den herrschenden Kurs der Regierung ein wirkliches Problem dar. Auf Dauer lassen sich Waffenlieferungen für einen Genozid und bedingungslose Solidarität mit einem Staat, der ihn gerade durchführt, durch eine weitgehende mediale Gleichschaltung, Repression und Aushebelung demokratischer Rechte nur schwer durchhalten, wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung diese Politik dennoch ablehnt.

Hinzukommt, dass es keineswegs ausgeschlossen ist, dass der IGH Nicaraguas Klage folgt. Selbst wenn er Deutschland „nur“ in Teilen schuldig sprechen würde, stünde die Regierung vor einem Dilemma. Der IGH verfügt zwar über keine materiellen Mittel, seine Urteile gegen den Willen verurteilter Staaten zu erzwingen – und insofern könnte Deutschland weitermachen wie bisher. Das tun schließlich auch andere Staaten, wie Israel, China, Russland oder die USA. Doch diese haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass für sie das nationale Interesse über jedem Urteil steht, das diesem zuwiderläuft. Deutschland hingegen ging über Jahre damit hausieren, dass das humanitäre Völkerrecht über allem stünde und für alle verbindlich wäre. Natürlich war das immer eine Lüge, wie man jüngst an der Reform genannten, faktischen Abschaffung zentraler Elemente des Asylrechts in der EU sehen kann.

Bei einer Verurteilung durch den IGH müsste Deutschland jedoch eine Entscheidung treffen. Entweder es folgt dem Entscheid und brüskiert damit seinen Verbündeten Israel, dem man ständig „bedingungsloser Solidarität“ versichert hat. Oder man ignoriert den Rechtsspruch und macht damit deutlich, dass man nur solange das humanitäre Völkerrecht, Demokratie und Menschenrecht hochhält, als sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass eine Verurteilung durch das Gericht in Den Haag die deutsche Unterstützung des zionistischen Regimes stoppen wird. Aber der Prozess, die öffentliche Klage und erst recht eine mögliche Verurteilung unterminieren die ohnedies immer brüchiger werdende Legitimität der deutschen Politik. Es ist eine Aufgabe der Palästinasolidaritätsbewegung, genau diese Legitimitätskrise zu vertiefen, indem sie die Bundesregierung und die imperialistischen Mächte an den Pranger stellt. Denn dies stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die zunehmende Ablehnung der Regierungspolitik in der Bevölkerung zu einer Bewegung auf der Straße und in den Betrieben werden zu lassen, die diese Politik wirklich stoppen kann.




Russische Föderation: Bonapartistische Wahlfarce

Frederik Haber, Infomail 1250, 8. April 2024

Wenn es eine Steigerung des alten Witzes „Wenn Wahlen etwas bewirken würden, wären sie verboten“ gäbe, dann „Dieses Jahr stellte sich Putin zur Wiederwahl als Präsident der Russischen Föderation“.

Natürlich wurde der Präsident wiedergewählt, alles war dafür getan worden. Ob es 88,5 % sind, mehr oder weniger ändert für die meisten Betrachter:innen nichts, ebenso wenig die Zahlen für die Mitbewerber:innen. Aber die Wahlen verraten etwas über das System Putin und das ist interessant für alle, die auf Veränderungen in der Russischen Föderation hoffen oder dafür arbeiten. Das sind sehr unterschiedliche Kräfte mit sehr verschiedenen Zielen. Wir gehören dazu, aber auch die Führer:innen der westlichen Imperialistischen Staaten, unsere stärksten Feind:innen also.

Das „System Putin“

Anders als für die meisten Beobachter:innen ist für Putin eine hohe Zustimmung bei der Wahl sehr wichtig. Auch wenn er gerne und oft als „Diktator“ bezeichnet wird – er macht es nicht so wie Selenskyj und setzt einfach die Wahlen aus, nein, er zeigt, dass er sich im Unterschied zu Letzterem solche leisten kann.

Putin hat seine Herrschaft, anders als viele Diktator:innen, auch nicht durch einen Militärputsch oder etwas Ähnliches erlangt, sondern er hat Wahlen gewonnen. Das Regierungssystem mit einem starken Präsidenten hat nicht er erfunden, sondern das geht vor allem auf Jelzin zurück, der als Präsident vor dreißig Jahren sogar das Militär einsetzte gegen den damals noch existierenden, (bereits unter Gorbatschow) demokratisch gewählten Volkdeputiertenkongress und den von ihm gewählten Obersten Rat, ihn beschießen ließ und mit Kanonen zur Kapitulation zwang.

Putins etablierte seine Macht in einer sehr prekären Konstellation am Ende der neunziger Jahre, als der jahrelange Präsident Jelzin und die radikalen Liberalisierer:innen mit aller Macht alles, was irgendwie an Sowjetunion, Planwirtschaft oder kollektives Eigentum erinnerte, zerschlagen hatten und mit den Reichtümern des Landes die neu entstandene Bourgeoisie fütterten. Das Land steckte Ende der 1990er Jahre in einer tiefen Wirtschaftskrise, es gab massenhafte Armut und Hunger. Die Arbeiter:innenklasse begann, sich mit großen Streiks zu wehren, während die neue Bourgeoisie ihre frisch gerafften Milliarden aus dem Land abzog.

In dieser Situation konnte eine einzelne Person sich über die kämpfenden Klassen und ihre Fraktionen erheben und unter der Parole „Einheit des Landes“ einen Weg weisen, der scheinbar allen dienen würde. Putin war der, der diese Rolle am besten ausfüllen konnte und dem es gelang, in der Russischen Föderation ein System zu etablieren, das nach dem berühmten napoleonischen Vorbild Bonapartismus genannt wird. Es war die historische Situation mit schwankenden, unsicheren Kräfteverhältnissen, die für die Herrschenden nach Putin verlangte. Hinzu kommt, dass Gorbatschow, Jelzin und die ganze neue Bourgeoisie zwar den degenerierten  Arbeiter:innenstaat der UdSSR zerschlagen (auf der Grundlange einer stalinistischen Bürokratie, die schon ab den 1920er Jahren begonnen hatte, die Arbeiter:innenklasse zu entmachten und die Bolschewistische Partei zu zerstören) und den Kapitalismus restauriert – aber das Problem nicht angegangen hatten, an welcher Stelle denn sich dieses Land wieder im imperialistischen Weltsystem einordnen würde.

Weichenstellung

In den ersten 10 – 15 Jahren seiner Herrschaft stellte Putin die Weichen dafür, dass Russland nicht wie von den westlichen Imperialist:innen vorgesehen eine letztlich untergeordnete Macht wurde, auch nicht nur – wie zur Zarenzeit – ein schwacher imperialistischer Staat, stark abhängig von Krediten und Technik europäischer Länder, sondern ein Staat wurde, der dank der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion und seiner begehrten Bodenschätze zumindest über so viel wirtschaftliche und technische Ressourcen verfügt, dass er im Kampf um die Neuaufteilung der Welt dem weiterhin tonangebenden Welthegemon USA ganz schön in die Quere kommen kann.

Der Versuch Putins, Russland einen Platz unter den führenden imperialistischen Nationen zu verschaffen, war durchaus erfolgreich. Aber diese Politik fordert auch Opfer, um Militär und Interventionen zu finanzieren. Und in einem bürgerlichen Staat werden diese Kosten immer auf die arbeitenden Klassen abgewälzt – so wie dies (in sogar sehr viel geringerem Ausmaß im Vergleich zu ihren Leidensgenoss:innen in der RF) momentan auch die Arbeiter.innen und Bauern/Bäuerinnen in Deutschland zu spüren bekommen.

Die Kräftekonstellation, die Putin einst seinen Aufstieg erlaubte, besteht nicht mehr in derselben Form. Die Arbeiter:innenklasse hat ihre Kampfkraft verloren und die Bourgeoisie ist nicht mehr der kopf-und konzeptlose Haufen der 1990er Jahre, sondern hat ihre Herrschaft konsolidiert – nicht durch mehr oder weniger offenes Auskämpfen der Interessen der verschiedenen Fraktionen der Kapitalist:innen (was eine wesentlich Funktion der bürgerlichen Demokratie ist) , sondern durch die ordnende Hand des Staates, personifiziert durch Bonaparte Putin.

In den letzten Jahren konnte dieser immer weniger für das „ganze Volk“ handeln, weil er immer deutlicher für die Bourgeoisie steht. Je mehr Opfer er von der arbeitenden Bevölkerung fordert, Privatisierung und Verschlechterung von Bildung, Gesundheit, Renten usw. durchsetzte, umso  deutlicher muss seine Popularität jetzt inszeniert werden. Denn Bonapartismus erfordert Populismus, auch wenn Putin mit Privilegien für Kriegsveteran:innen und hohen Soldzahlungen an Kämpfer:innen sowie Steuererhöhungen für Reiche im Krieg auch wieder seine „soziale“ Seite aufpoliert. Natürlich aber erlaubt vor allem der zunehmende kalte und heiße Krieg eine zusätzliche Neubegründung der „Einheit der Nation“. Aber das ist ein riskantes Spiel: Verlorene Kriege sind wohl das Allerunpopulärste für jede Regierung.

Die Wahl

Von daher sollten die Wahlen in Russland ein riesiges Plebiszit abliefern. Putin trat bei der Wahl an als „unabhängiger“ Kandidat, nicht für seine Partei „Einiges Russland“. Er sammelte, (besser ließ sammeln) deshalb auch Unterstützer:innenunterschriften, was er als Kandidat seiner Partei nicht hätte zu tun brauchen. Aber auch ein Plebiszit sieht besser aus, wenn es Gegenkandidat:innen gibt, sofern garantiert ist, dass sie chancenlos sind. Die Gefährlichen werden nicht zugelassen, wie Nadeschdin oder beseitigt wie Nawalny. Insgesamt hatten 11 weitere Personen angekündigt zu kandidieren, zogen dann „freiwillig“ ihre Bewerbung teilweise selbst aber wieder zurück. Zugelassen wurden der „liberale“ Wladislaw Dawankow, Nikolai Charitonow für die KPRF und Leonid Sluzki für die rechtsnationalistische LDPR. LDPR und KPRF sind die Parteien, die seit Jahrzehnten verlässlich die Politik des Kreml unterstützen, vor allem seine Außen-und Kriegspolitik, aber auch seine Repression im Inneren.

Die KPRF geht dabei soweit, einerseits bekannte linke Personen auf ihren Listen kandidieren zu lassen wie die Dumaabgeordnete Udalzowa, dann aber nicht den kleinsten Protest zu erheben, wenn deren Mann Sergei Udalzow, wie vor kurzem geschehen, verhaftet wird. Kein Wort der Solidarität mit dem verurteilten Boris Kargalizki, der früher oft auch bei KPRF-Veranstaltungen als Redner geladen war, sondern die Rechtfertiung seiner Verhaftung damit, dass er ja „Trotzkist“ sei und vom Ausland finanziert werde (er hatte Honorare für Artikel in linken Zeitungen erhalten).

Dritter „Gegenkandidat“ für Putin war der ziemlich neu aufgetauchte Wladislaw Dawankow, der die Rolle des „Liberalen“ verkörpern sollte, mit der ebenfalls ziemlich sichtbar „von oben“ gegründeten Partei „Neue Leute“ (auch: „Neue Menschen“). Sie alle konnten und sollten nur dazu dienen, die Verhinderung gefährlicher Gegenkandidat:innen zu kaschieren und Putins Sieg zu dekorieren.

Das Ergebnis

  • Wladimir Putin (Parteilos): 88,5 %;

  • Nikolai Charitonow (KPRF): 4,4 %;

  • Wladislaw Dawankow (Neue Leute): 3,9 %;

  • Leonid Sluzki (LDPR): 3,2 %.

Über die Vorauswahl der Kandidat:innen durch die Zentrale Wahlkommission hinaus gibt es noch andere Gestaltungsmöglichkeiten. Wohl spezifisch für die Russische Föderation ist die Mobilisierung durch die staatliche Bürokratie: Staatliche Angestellte werden von ihren Vorgesetzten aufgefordert zu wählen, gegebenenfalls gemeinsam. Diese Vorgesetzten werden ihrerseits für eine hohe Wahlbeteiligung und die Zahl der Putinstimmen verantwortlich gemacht – vergleichbar vielleicht mit dem früher z. B. in Bayern geübten Brauch, nach dem Gottesdienst mit entsprechender priesterlicher Empfehlung gemeinsam zur Wahl der CSU zu gehen.

Das interessanteste Ergebnis bleibt unter diesen Wahlbedingungen noch die Anzahl der ungültigen Stimmen. Das Wahlgesetz der Russischen Föderation ignoriert Bemerkungen, Beleidigungen oder die Nennung anderer Namen. Ungültig ist eine Stimmeabgabe genau dann, wenn mehr als 1 Kästchen angekreuzt ist. Und genau das haben 1,37 Millionen mehr oder weniger bewusst getan. Die Oppositionskoalition „Sprawedliwyj mir“ (deutsch: „Mach die Welt“) hatte auch dazu aufgerufen.

Westliche Demokratie

Als revolutionäre Kommunist:innen kritisieren wir die Wahlen und das dahintersteckende bonapartistische System, weil nach unserer Analyse klar ist, worauf Putins Autokratie politisch beruht und wie er sie institutionell absichert.

Das hat nichts mit der Polemik der westlichen demokatischen Demagog:innen zu tun, deren Ziel es ist, für ihren kalten Krieg gegen Russland, dessen Upgrade zu einem heißen sie derzeit  erwägen, eine ideologische Rechtfertigung zu suchen: Demokratie versus Diktatur; freie Wahlen gegen Scheinwahlen. Diese Demagogie dient – entsprechend der Putins – auch in erster Linie dazu, die eigene Bevölkerung und vielleicht noch die jeweiligen Verbündeten bei der Stange zu halten.

Bei objektiver Betrachtung des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlsystems ist klar, dass dieses auch nur einen Schein von Demokratie trägt: ein Wahlsystem, das die Selbstregistrierung der Wähler:innen erfordert, eine willkürliche Streichung aus dem Register durch lokale Wahlkommissionen erlaubt und so schon 20 – 30 % der Wahlberechtigten – vor allem aus den sozialen Unterschichten und Unterdrückten – ausschließt; ein Wahlsystem, das den Einsatz von hunderten Millionen US-Dollar für eine Kandidatur erfordert und so die Kandidat:innen auf Personen beschränkt, die mindestens einen bedeutenden Teil der Kapitalist:innen hinter sich haben; ein Wahlmodus, bei dem man mit einer geringeren Stimmenzahl als die Konkurrenz gewinnen kann – all dies drückt mitnichten den Willen der Mehrheit aus (ein bisschen Fälschung an entscheidenden Punkten ist auch noch drin.) Der amerikanische Präsident legitimiert sich durch eine Konkurrenz, die zwar eine reale unter Fraktionen des Großkapitals darstellt, aber gegenüber dem Wahlvolk als Inszenierung von „Werten“ und „Lifestyle“ abläuft, gerade auch weil dieser Präsident immer ein Kandidat des Großkapitals – also einer winzigen Minderheit der Bevölkerung – ist.

Die Art und Weise, wie die Wahlen in der Russischen Föderation abgehalten wurden, und der Charakter des Putin’schen Bonapartismus zeigen einerseits auf, dass er noch den Staatsapparat so beherrscht, dass Wahlen nicht das Mittel sein werden, durch das sich dieses System verändern kann. Anderserseits belegt die notwendige Inszenierung der Popularität Putins, dass dieser Bonapartismus ausgehöhlt ist, wenn er sich auf eine solche offensichtliche Farce einlassen muss. Das Potential für eine Opposition von links, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützen könnte, ist aus diesen Wahlen schwer zu ersehen. Ein kleiner Hinweis steckt zum einen in Teilen der 4,4 %  für den Kandiaten der KPRF, vor allem aber in den 1,37 Millionen ungültigen Stimmen. Eine Ablehnung des Krieges könnte auch bei einem Teil der 3,8 % Stimmen für Dawankow eine Rolle spielen.

Auch wenn wir über die Größe dieser Potentiale nur spekulieren können, sie sind definitiv größer als das, was eine Antikriegsbewegung derzeit auf die Straße bringen kann, die sowieso härteste Repression erleidet, und mehr als das, was linke Gruppen derzeit organisieren können. Aber politische Aktivist:innen können und müssen sich heute darauf vorbereiten, dass das System spätestens dann zusammenbricht, wenn der Bonaparte (aus)fällt. Selbst ein/e designierte/r Nachfolger:in wäre eben nie durch den tatsächlichen oder vermeintlichen „Willen des Volkes“ an die Macht gekommen, sondern müsste sich noch stärker vor allem auf staatliche Repression stützen. Die Situation könnte dann schnell krisenhafte Entwicklungen annehmen und ein offeneres Auftreten der Arbeiter:innenklasse, der national, rassistisch oder sexistisch Unterdrückten, der Linken und der Kriegsgegner:innen erlauben. Aber auch rechte, nationalistische bis hin zu faschistischen Kräften werden das Feld betreten.

Aufgaben für die Linke

Natürlich darf die Repression nicht einfach hingenommen und ihre Opfer müssen verteidigt werden. Momentan werden wieder besonders Frauen- und LGBTIA-Strukturen angegriffen, darüber hinaus jede sexuelle Äußerung jenseits der Heteronorm. Rassismus gegen Muslim:innen sowie gegen alle Arbeitsmigrant:innen nimmt zu.

Natürlich gibt es weiterhin Widerstand von unten, der unterstützt und ausgeweitet werden muss, ob es sich um gewerkschaftlichen Aktivitäten handelt oder Antikriegsproteste, wie z. B. in der Bewegung der „Frauen der Mobilisierten“.

Aber die wichtigste Aufgabe der organisierten Linken der Russischen Föderation besteht derzeit darin, ein marxistisches Verständnis für die Verhältnisse zu entwickeln und darauf aufbauend eine Programmatik, die revolutionäre Antworten auf die bestehenden und kommenden Konflikte liefert.

Sowohl Emigrant:innen wie auch die internationale Linke können dabei helfen. Je mehr die politischen und militärischen Spannungen zwischen Russland, China und den anderen Imperialist:innen zunehmen, desto wichtiger werden solche Verbindungen zum politischen Austausch und praktischen Handeln.




Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




Nahost: Israel und der Westen missachten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs

Rose Tedeschi und Alex Rutherford, Infomail 1248, 19. März 2024

Am 26. Januar erließ der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Zwischenurteil in einem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren. Der IGH wurde ersucht zu entscheiden, ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. In diesem Urteil wird festgestellt, dass sich Israel einer „plausiblen“ Anklage wegen Völkermordes zu stellen habe, und der IGH hat eine einstweilige Verfügung erlassen, in der dem Land Auflagen gemacht werden.

Die Anordnung verpflichtet Israel, alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, und sicherzustellen, dass seine Truppen im Gazastreifen keine völkermörderischen Handlungen begehen. Außerdem wird es aufgefordert, öffentliche Aufforderungen zu Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und Beweise für den Vorwurf des Völkermords zu sichern. Darüber hinaus wurde Israel angewiesen, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage der palästinensischen Einwohner:innen in der Enklave zu ergreifen, Beweise dafür aufzubewahren und dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht vorzulegen.

Israel Bericht ist fällig. Es wird jedoch erwartet, dass er kurz und voller Beschimpfungen sein wird, die die Welt von der Regierung um den Premierminister Benjamin Netanjahu zu erwarten gewohnt ist. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara machte dies Ende Februar deutlich, als sie die Anschuldigungen Südafrikas als „skandalös“ und die Behauptungen als „absurd“ bezeichnete. Sie fuhr fort:

„Das entschlossene Handeln der israelischen Verteidigungskräfte beruht auf der Reinheit der Waffen und der allgemeinen Einhaltung des nationalen und internationalen Rechts, die Ausdruck der Stärke unseres Landes sind.“

Israel weiß, dass es sich hier auf zweifelhaftem Boden befindet und wird sich wahrscheinlich auf die Lieferung humanitärer Hilfe konzentrieren und behaupten, dass nicht es den Fluss der Hilfsgüter behindert, sondern die Palästinenser:innen, die den freien Durchgang blockieren. Die israelische Belagerung zwingt die hungernden Bewohner:innen des Gazastreifens, die wenigen Konvois, die durchkommen, zu plündern.

Natürlich gibt es einen Berg von Beweisen dafür, dass Israel die Hilfe durch zahlreiche Kontrollpunkte und Verzögerungen blockiert, wie die Aufnahmen von an der Grenze gestauten Lastwagen zeigen, ganz zu schweigen von der Belagerung von Rafah, dem Hauptzugangsort für die Hilfe. Der Norden soll frei von Hamas-Kämpfer:innen sein, doch wurden dort keine Grenzen geöffnet.

In Bezug auf die beiden anderen Forderungen muss Israel einige ernste Fragen beantworten. Genau zwei Tage nach dem IGH-Urteil nahmen neun Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), darunter zwei Minister, an einer rechtsextremen Siedler:innenkundgebung teil, bei der die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und der Zuzug von Siedler:innen gefordert wurde. Die Minister selbst riefen dazu auf, das nördliche Westjordanland zu besiedeln. Die Regierung hat es versäumt, irgendwelche Abgeordneten dafür zu „bestrafen“, geschweige denn, dies zu „verhindern“.

Seine Militäraktionen im Februar bestätigen ebenfalls Israels Bereitschaft, mit einer Invasion in Rafah zu drohen und gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel; wenn Panzer und Kanonen es nicht erreichen, könnten Krankheiten diese Aufgabe für die Israelis übernehmen. Die Bedrohung durch einen Völkermord ist näher gerückt, nicht weiter weg.

Israel und das Gesetz

Entscheidend ist jedoch, dass das Gericht keinen sofortigen Waffenstillstand anordnete. Die Hauptbegründung hierfür ist das von Israel vorgebrachte rechtliche Argument, dass es an einer „völkermörderischen Absicht“ fehle. Da die Hamas beschuldigt wird, die Gewalt durch ihren Angriff am 7. Oktober angezettelt zu haben, ist das Gericht der Ansicht, dass Israel argumentieren kann, dass seine Handlungen in Selbstverteidigung erfolgten, was eine Rechtfertigung für den Krieg und somit keine Anordnung einer sofortigen Waffenruhe darstellt.

Dies ignoriert die 75 Jahre der Unterdrückung, Enteignung und Apartheid, die Israel den Palästinenser:innen angetan hat. Für revolutionäre Kommunist:innen kann jedoch die Gewalt eines unterdrückten Volkes niemals mit der Gewalt des Unterdrückers gleichgesetzt werden. Das palästinensische Volk ist seit der Gründung des zionistischen Staates im Jahr 1948 Opfer einer schrecklichen nationalen Unterdrückung. Der Gazastreifen ist praktisch ein Freiluftgefangenenlager für eine der am meisten benachteiligten und überfüllten Bevölkerungen der Welt.

Diese Entscheidung ist nur vorläufig; bis zur endgültigen Entscheidung in diesem Fall werden Monate oder sogar Jahre vergehen. Die Entscheidungen des IGH sind endgültig und unanfechtbar, aber das Gericht hat keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Der Nachweis eines Vorsatzes ist jedoch bekanntermaßen schwer zu erbringen, da die rechtliche Messlatte für Beweise sehr hoch angesetzt ist.

Netanjahu bekräftigt Israels „unerschütterliches Engagement“ für das Völkerrecht und bezeichnet den Vorwurf des Völkermords als „empörend“. Der israelische Verteidigungsminister Yo’aw Galant zeigte sich „bestürzt“ darüber, dass die Klage nicht rundheraus abgelehnt wurde, und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir twitterte spöttisch „Haag-Schmach“. Es wurde berichtet, dass andere hochrangige israelische Minister das Urteil als „antisemitisch“ bezeichnet haben.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa sagte, er erwarte, dass Israel sich an das Urteil hält und Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords ergreift. Bislang sieht es nicht danach aus. Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor war näher an der Wahrheit und warf Israel vor, das Urteil zu ignorieren. In der Woche nach dem Urteil des IGH wurden fast 1.000 weitere Palästinenser:innen getötet. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich nun auf mehr als 30.000.

Israel hat seine Militäroperationen auf Rafah ausgeweitet, obwohl es die Stadt zu einer „sicheren Zone“ erklärt hat. Die UNO hat Rafah als „Druckkochtopf der Verzweiflung“ bezeichnet. Krankenhäuser sind weiterhin Ziel israelischer Angriffe; Berichten zufolge wurden Panzer in der Nähe des Nasser-Krankenhauses – dem größten funktionierenden Krankenhaus in Gaza – gesehen.

Kluft zwischen imperialisiertem Süden und imperialistischem Westen

War es das wert, den Fall vor den Weltgerichtshof zu bringen? Ja! Dieser Fall steht eindeutig für ein Massengefühl der Rebellion in der halbkolonialen Welt gegen den westlichen Imperialismus. Ramaphosa, der berüchtigte Mörder der südafrikanischen Bergarbeiter:innen von Marikana, ist sicher kein antiimperialistischer Kämpfer – und seine Gründe mögen in einem Wahljahr zynisch sein.

Aber es war der Druck der internationalen Bewegung für die Befreiung der Palästinenser:innen, auf den die Machthaber:innen reagierten. Südafrikaner:innen sind seit langem Verbündete des palästinensischen Volkes, und die internationale Rechtsexpertin Heidi Matthews sagte, dass ihr historischer Kampf für die Beendigung der Apartheid dem Fall gegen Israel „Glaubwürdigkeit und moralisches Gewicht“ verleiht.

Das Gefühl des Hasses gegenüber dem Westen, den ehemaligen Kolonialherr:innen Afrikas und Asiens, wird durch die Reaktion auf das Urteil des IGH noch geschürt. Innerhalb weniger Stunden nach der Entscheidung stellten die USA ihre Finanzierung des UN-Hilfswerks UNRWA ein, und Kanada folgte diesem Beispiel rasch. Es überrascht nicht, dass auch das Vereinigte Königreich und sechs weitere europäische Länder, darunter auch Deutschland,  sowie Japan ihre Mittel für das UNRWA aussetzten.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist die einzige Organisation, die derzeit in der Lage ist, die humanitären Mittel bereitzustellen, zu deren Gewährung sich US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron „verpflichtet“ haben. Die EU schätzt, dass sich die insgesamt ausgesetzten Mittel auf mehr als 440 Millionen US-Dollar belaufen – die Hälfte des Haushalts der Organisation für 2024. In einer Zeit, in der die Menschen im Gazastreifen gezwungen sind, Gras zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken, um zu überleben, ist dies absolut verachtenswert.

Glücklicherweise haben nicht alle Länder ihre Finanzierung zurückgezogen; Spanien hat ein dringendes Hilfspaket in Höhe von 3,8 Millionen Dollar angekündigt, und Australien und Belgien werden ihre Finanzierung des UNRWA fortsetzen. Aber der Sonderpreis für Heuchelei geht sicherlich an Deutschland, das einerseits die Legitimität des IGH anerkannt, andererseits aber sämtliche Vorwürfe gegen Israel vor jeder Untersuchung zurückweise – und gleichzeitig Israel mit den Waffen versorgt, die es benutzt, um das „Völkerrecht“ mit Füßen zu treten.

Schlussfolgerung

Trotz der vielen Unzulänglichkeiten dieses vorläufigen Urteils und des IGH selbst stellt die Entscheidung einen Schlag sowohl für Israel als auch für die westlichen Mächte dar. Sie hat zu dem Schauspiel geführt, dass diese Mächte genau die Institutionen untergraben, die sie zuvor geschaffen hatten, um ihre imperialistische Herrschaft über die Welt zu verschleiern. Ihre Ansprüche auf Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Selbstbestimmung, die sie im Falle der Ukraine und Taiwans, d. h. bei der Verurteilung ihrer Rivalen Russland und China, so hochgehalten haben, haben in den Augen des globalen Südens erheblichen Schaden genommen.

Die Bewegung für die Befreiung Palästinas muss diese Orientierungslosigkeit der Regierenden ausnutzen und sich keinen Illusionen in Typen wie Ramaphosa hingeben und ihre Anstrengungen international koordinieren, wenn sie ihr Ziel, ein freies Palästina, erreichen will. Das Urteil des IGH kann eine Plattform bieten, um auf diesen Kampf hinzuweisen, aber es kann keine Gerechtigkeit schaffen. Das können nur die Palästinenser:innen selber und ihre Unterstützer:innen tun, indem sie für die revolutionäre Zerstörung des zionistischen Staates und seine Ersetzung durch ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina kämpfen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr.




Seekorridor nach Gaza: Humanitäre Flankendeckung für den Krieg

Martin Suchanek, Infomail 1248, 16. März 2024

Die Hungersnot in Gaza ist mittlerweile auch bei den imperialistischen Staats- und Regierungschef:innen angekommen. Ob Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Olaf Scholz: Alle beklagen die humanitäre Katastrophe, die in Palästina droht.

Seit Monaten spitzt sich die humanitäre Lage dramatisch zu. Über 30.000 Menschen wurden seit Oktober von der israelischen Armee getötet, der größte Teil der Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Seit Monaten warnen internationale Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die lt. UNO aktuell mehr als einer halben Million Menschen direkt droht. Am schlimmsten ist die Lage im Norden des Gazastreifens, der von der IDF abgeriegelt ist und in den praktisch keine Hilfslieferungen gelangen. Besonders akut gefährdet sind Kinder. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AP: „Im Emirati-Krankenhaus in Rafah starben in den vergangenen fünf Wochen 16 Frühgeborene an den Folgen von Unterernährung.“ Neben Hunger drohen aufgrund von Unterernährung, Wassermangel und katastrophalen hygienischen Zuständen Krankheiten oder gar die Ausbreitung von Seuchen.

Überraschend kommt diese barbarische Entwicklung nicht. Schon vor dem Krieg waren 1,2 der 2,3 Millionen Einwohner:innen Gazas auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Der größte Teil davon entfällt seit Monaten. Rund 500 LKW bräuchte es pro Tag, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch Israel lässt nur einen Bruchteil davon durch, im Februar durchschnittlich gerade 83 LKWs pro Tag. Dabei könnten jederzeit mehr Lastwagen die Grenze passieren, doch diese werden aufgehalten, während sich der Hunger ausbreitet.

Die Katastrophe wie auch der Tod Zehntausender wären vermeidbar gewesen; vermeidbar ist auch der drohende Hungertod weiterer Zehntausender. Notwendig wären dazu aber ein sofortiger Waffenstillstand und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Israel blockiert

Doch von einer Öffnung der Grenzen, von mehr Hilfslieferungen und erst recht von einer Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand will das Kriegskabinett Netanjahu nichts wissen. Selbst die Forderungen der US-Administration nach einem befristeten Waffenstillstand werden bislang mehr oder weniger undiplomatisch zurückgewiesen, zumal die israelische Regierung weiß, dass die USA, Britannien, Deutschland und die anderen EU-Mächte weiter Waffen liefern, weiter finanzielle und diplomatische Unterstützung gewähren.

Die Scharfmacher:innen in der israelischen Regierung setzen ganz offen auf Krieg und Vertreibung. Ihr extremer rechtsradikaler Flügel sieht sich seinem Kriegsziel näher, eine weitere ethnische Säuberung Palästinas, also die Vertreibung von Millionen aus Gaza, umzusetzen. Hunger wird dabei als Waffe eingesetzt.

Andere Falken wollen durch das Aushungern der Bevölkerung die Freigabe der israelischen Geiseln erzwingen. So erklärt der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels Giora Eiland in einem Interview unverhohlen: „Wenn die Palästinenser wirklich dringend humanitäre Hilfe benötigen, dann muss ihnen gesagt werden: Wenn sie essen wollen, müssen sie auf ihre Regierung Druck ausüben, damit diese einen Geiseldeal eingeht.“

Humanitäre Heuchelei

Das vom Westen ansonsten so gepriesene Völkerrecht, das die Verpflichtung von Besatzungsmächten zur Versorgung der Bevölkerung vorsieht, wird wieder einmal mit Füßen getreten. Diese barbarische Logik wollen selbst die Führungen der imperialistischen Mächte nicht einfach absegnen, wissen sie doch, dass die offene Weigerung, die Bevölkerung in Gaza auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, die ohnedies löchrige demokratische Fassade des Krieges vollständig zum Einbruch bringen könnte.

Sie geben sich daher besorgt und von ihrer humanitären Seite. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „zutiefst beunruhigt über die Bilder aus Gaza“. Selbst angesichts der Hungersnot wird der genozidale Angriffe jedoch noch schöngeredet, wenn sie kritisiert, dass Israel seiner Pflicht gegenüber der Bevölkerung nur „begrenzt“ nachkomme. Selbst der deutschen Außenministerin Baerbock entgeht nicht, dass Frauen und Kinder am meisten leiden würden, und so verlangt sie, wenn auch seit Wochen vergeblich, eine „humanitäre Kampfpause“. Verbal noch deutlicher gibt sich die US-Adminstration. So fordert US-Vizepräsidentin Kamala Harris von Netanjahus Regierung: „Keine Ausreden, sie müssen neue Grenzübergänge öffnen und unnötige Beschränkungen aufheben“.

Diese humanitären Anwandlungen der Größen westlicher Politik entpuppen sich regelmäßig als leere Phrasen. Niemand ist bereit, die israelische Regierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zu einer Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen oder gar zu einem Waffenstillstand genötig sieht. Dabei hätten die Staats- und Regierungschef:innen von USA und EU jederzeit die Hebel in der Hand, das zionistische Regime zum Einlenken zu zwingen, indem sie ihm den Stopp von Waffenlieferungen, Hilfsgeldern und diplomatischem Schutz androhen. Dass das nicht passieren wird, solange sie nicht durch eine Massenbewegung in ihren eigenen Ländern dazu gezwungen werden, weiß natürlich auch Netanjahu.

Mehr noch, die westlichen Staaten sind nicht einmal bereit, die Anträge Südafrikas und anderer Staaten beim Internationalen Gerichtshof (IGH) zu unterstützen, die Israel zur Versorgung der Bevölkerung zwingen sollen. Selbst eine solche Maßnahme, die letztlich mehr symbolisch als real wäre, weil es dem IGH an den Mitteln zur Durchsetzung solcher Beschlüsse fehlt, lehnen sie entschieden ab.

Israel ist schließlich seit Jahrzehnten ein zentraler geostrategischer Verbündeter der USA und der EU-Länder im Nahen Osten, ein Vorposten ihrer eigenen imperialistischen Ordnung. Daher lassen sie einen regionalen Gendarm nicht fallen, zumal wenn sich die reaktionären arabischen Regime letztlich auch nur auf symbolischen Protest gegen das zionistische Regime beschränken.

Zynisches Manöver

Vor diesem Hintergrund werden Hilfslieferungen auch weiterhin nicht in ausreichendem Maße über die Grenzen gelangen. Den Vorwurf, beim Sterben von Zehntausenden oder Hunderttausenden nur zuzusehen, will sich der Westen jedoch auch nicht aussetzen.

Daher zaubern die Staats- und Regierungschef:innen der USA und Westeuropas eine angebliche Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg aus dem Hut. Zur Notversorgung Gazas soll unmittelbar eine Art „Luftbrücke“ eingerichtet werden, langfristig sollen Lieferungen auf dem Seeweg folgen. Ganz nebenbei werden dabei Israels „Sicherheitsinteressen“ in Rechnung gestellt, da jede Lieferung, jede Luftfracht ausschließlich von verbündeten Militärs abgeworfen wird.

Seit Anfang März begannen die USA, Frankreich und Jordanien, Nahrungsmittel über dem Kriegsgebiet abzuwerfen. Seither schlossen sich mehrere Länder, darunter auch Deutschland, dieser Luftbrücke an. Übernommen werden die Einsätze in der Regel vom Militär – im Falle Deutschlands von der Bundeswehr –, was deren Präsenz im Nahen Osten erhöht.

Zusätzlich wollen die westlichen Verbündeten Israels die humanitäre Lage in Gaza durch die Errichtung einer Seebrücke erleichtern. Erste Schiffe sind schon unterwegs, erste Ladungen, wurden schon gelöscht. Doch diese sind nicht mehr als eine Tropfen auf den heißen Stein, denn es fehlt ein Hafen. Ein solcher soll in den nächsten ein bis zwei Monaten als schwimmende Schiffsanlegestelle erbaut und vor Gaza errichtet werden. Bis dahin müssen die Hungernden warten, erhalten weiter viel zu wenige Hilfslieferungen – und selbst wenn  improvisierte Häfen gebaut sein sollten, ist es mehr als fraglich, ob die Hilfslieferungen über den Seeweg ausreichen.

Der Zynismus des Westens lässt sich kaum überbieten. Die „Hilfe“ entpuppt sich als humanitäres Placebo, während eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auf dem Landweg jetzt unmittelbar notwendig und rein logistisch auch machbar wäre.

Doch darum geht es Washington, Brüssel, Paris oder Berlin nicht. Die Placebohilfe soll vielmehr Israel vor der internationalen Kritik abschirmen, indem die westlichen Staaten die härtesten Auswirkungen der humanitären Katastrophe lindern sollen. Sie übernehmen so einen Teil der Verpflichtungen Israels zum Schutz der Zivilbevölkerung, während die zionistische Kriegsmaschinerie weitermachen kann.

Die Pseudoalternative zur Lieferung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und anderen Gütern auf dem Landweg stellt nicht „nur“ eine zynische Verschleppung wirklicher Hilfe dar, sondern soll dem Krieg Israels auch eine humanitäre Flankendeckung verschaffen und die westliche Öffentlichkeit zumindest ein Stück weit beruhigen. Ein weiteres Placebo also.

Hungerkatastrophe wirklich stoppen!

Wir brauchen keine solchen Pseudohilfen. Vielmehr muss die drohende Hungerkatastrophe, muss der genozidale Angriff Israels jetzt gestoppt werden. Dazu müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden. Zusätzlich müssen jetzt sämtliche Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA freigeben werden.

Die Durchsetzung dieser unmittelbaren Forderungen, die selbst noch weit davon entfernt sind, einen dauerhaften gerechten Frieden zu bringen, wäre wenigstens ein Schritt zum Stoppen des Mordes an unschuldigen Zivilist:innen, ein Schritt, den Hungertod Tausender und die Vertreibung von Hunderdtausenden zu verhindern.

Doch dazu braucht es jetzt eine Massenmobilisierung in den westlichen wie arabischen Ländern – auf der Straße, in den Betrieben und Wohnvierteln. In den arabischen Staaten müssen die Massen, allen voran die Arbeiter:innenklasse, den Abbruch aller Beziehungen zu Israel einfordern. Die ägyptische Arbeiter:innenklasse verfügt über das Potential, strategische Handelswege wie den Suezkanal zu blockieren, um die westlichen Großmächte und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft zu treffen.

Im Westen müssen jene Gewerkschaften, die sich zu Streiks und Blockaden von Waffenlieferungen und Hilfslieferungen für Israel und dessen völkermörderischen Angriff verpflichtet haben, jetzt in Aktion treten, ihren Beschlüssen auch Taten folgen lassen. Die internationalen Beschlüsse von Gewerkschaften, die Aktionen gegen das Apartheidregime vorsehen, müssen mit Leben gefüllt werden. In den Gewerkschaften, die bis heute die westliche imperialistische Politik der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel unterstützen, müssen alle internationalistischen, klassenkämpferischen Kräfte gemeinsam und organisiert für einen Bruch mit der sozialchauvinistischen Politik kämpfen.

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen. Damit muss Schluss sein, um wenigstens den Tod Tausender und Abertausender zu verhindern:

  • Stoppt den genozidalen Angriff! Waffenstillstand jetzt!

  • Öffnung der Grenzen zu Gaza! Hilfslieferungen sofort! Freigabe aller Mittel an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA!

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird. Ein Sieg Israels stärkt auch die Position des westlichen Imperialismus und damit dessen herrschende Klassen. Deshalb liegt der Kampf der Palästinenser:innen auch im Interesse der gesamten internationalen Arbeiter:innenklasse.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, mit dem Ziel der Zerschlagung des zionistischen Staates, der Errichtung eines binationalen demokratischen, säkularen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten.




Nordirland: Die Rückkehr von Stormont

Bernie McAdam, Infomail 1246, 29. Februar 2024

Vor zwei Jahren kündigte die Democratic Unionist Party (DUP) das Karfreitagsabkommen (GFA) auf und verließ Stormont, das nordirische Parlament. Die dezentralen Institutionen der nordirischen Exekutive und Versammlung brachen damit zusammen. Die DUP bestand darauf, dass dies so lange andauern würde, wie das nordirische Protokoll zum Brexit-Austrittsabkommen und die Grenze zur Irischen See existierten, da dies eine Bedrohung für die Union mit Großbritannien darstelle. Das neue Abkommen „Safeguarding the Union (Schutz der Union)“, dem alle Parteien zugestimmt haben, hat die Rückkehr ins Stormont sichergestellt.

Hat die DUP also erreicht, was sie will? Natürlich sagt sie, dass sie es hat und es nun keine Seegrenze mehr zwischen Großbritannien und Nordirland gibt. Die wichtigste Errungenschaft des DUP-Vorsitzenden Jeffrey Donaldson ist eine Vereinbarung über die Abschaffung der Routinekontrollen für Waren, die von Großbritannien in den Norden gelangen und nicht für den Verkauf in der irischen Republik und damit in der EU bestimmt sind. Die bestehenden „grünen“ und „roten“ Fahrspuren für Waren hatten jedoch bereits ein ähnliches Verfahren eingeführt, und es bleibt die Tatsache bestehen, dass zur Verhinderung von potenziellem Schmuggel in die EU weiterhin Kontrollen durchgeführt werden können, bevor die Waren in Nordirland angelandet werden. Mit anderen Worten: Es gibt immer noch eine Zollgrenze an der Irischen See, wenn auch weniger sichtbar; das Protokoll ist nach wie vor intakt.

Donaldsons größter Erfolg ist vielleicht, dass er seine Partei, die größte Stimme innerhalb der Unionist:innen, für diese sehr geringfügige Verfahrensänderung gewinnen konnte. Sogar der loyalistische Dachverband, der Loyalist Community Council, dem auch loyalistische Paramilitärs angehören, hat die Vereinbarung unterstützt. Das bedeutet, dass mit Michelle O’Neil von Sinn Fein zum ersten Mal eine nationalistische Premierministerin akzeptiert wird. Für die DUP ist das natürlich schmerzlich, aber sie hat mit der nicht gewählten Emma Little-Pengelly eine willige stellvertretende Ministerpräsidentin gefunden. Aber auch hier gibt es wenig Substanzielles, da alle Entscheidungen von beiden Ministerinnen, die gleichberechtigt sind, mitgetragen werden müssen.

Sinn Feins Freude

Eine jubelnde Sinn Fein behauptet, dass ein vereinigtes Irland nun „in greifbarer Nähe“ sei, und Michele O’Neil spricht davon, dass „die Volksabstimmungen noch in diesem Jahrzehnt“ stattfinden werden, um die Zukunft der Union zu bestimmen. Das Karfreitagsabkommen enthält zwar eine solche Bestimmung, aber es liegt ganz im Ermessen der britischen Regierung, eine solche Grenzabstimmung zuzulassen. Der britische Minister für Nordirland, Chris Heaton-Harris, rechnet nicht damit, dass er eine solche Abstimmung noch zu seinen Lebzeiten erleben wird. Wer gedacht hat, dass die Labour-Partei mehr Sympathie zeigen würde, sollte sich anhören, wie ihr Vorsitzender Starmer ein mögliches Referendum herunterspielt, indem er es als „absolut hypothetisch“ und „nicht einmal am Horizont sichtbar“ bezeichnet.

Das Abkommen tut genau das, was es sagt, nämlich „die Union zu schützen“, genau wie das GFA, indem es einem zutiefst undemokratischen Staat ein „demokratisches“ Mäntelchen umhängt. Für den US-amerikanischen, europäischen und britischen Imperialismus ist die Struktur der Machtteilung des GFA das einzig Wahre, und Sinn Fein macht da gerne mit. Für die Unionist:innen ist die Teilung der Macht der Preis, den sie für die Fortsetzung der Union mit Großbritannien zahlen müssen.

Der Staat ist jedoch immer noch ein Affront gegen die demokratischen Bestrebungen des irischen Volkes als Ganzes, und es ist die Bevölkerung, die die Zukunft der sechs Grafschaften bestimmen sollte, frei von jedem britischen Veto. Stormont ist nach wie vor eine sektiererische Struktur und wird auch weiterhin die Ämter auf sektiererischer Basis in einem Staat verteilen, der existiert, um den Kapitalismus zu kontrollieren und die Teilung zu bewahren; ein Staat, der über die am meisten benachteiligte Region im Vereinigten Königreich herrscht.

Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse

Was die Situation wirklich veränderte, war der Generalstreik im öffentlichen Dienst im Januar, als 150.000 Arbeiter:innen auf die Straße gingen. Das konzentrierte die Gedanken der DUP auf wunderbare Weise, als sie sich mit dieser Herausforderung der Arbeiter:innenklasse auseinandersetzte. Die Region wurde zum Stillstand gebracht, als sich katholische und protestantische Lohnabhängige zusammenschlossen, um ihre ausstehenden Lohnansprüche einzufordern. Abgesehen von der Wut über die Verschlechterung der Löhne und Dienstleistungen wurde die Wirkung durch den Trick der britischen Regierung noch verstärkt: „Wir werden euch bezahlen, wenn ihr die Exekutive wieder zum Laufen bringt“.

Betrachtet man den realen Wert der Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor, d. h. die Differenz zwischen den Lohnabschlüssen und der Inflation, so ist dieser zwischen April 2021 und April 2022 um mehr als 4 % gesunken. Im folgenden Jahr betrug der Rückgang 7 %. Hinzu kommt die erschreckende Tatsache, dass die Arbeiter:innen in Nordirland  weniger Lohn erhalten als die entsprechenden Kolleg:innen im übrigen Vereinigten Königreich. Die Lohngleichheit ist natürlich eine wichtige Forderung, aber sie reicht allein nicht aus, um mit der Inflation Schritt zu halten.

Der öffentliche Sektor wurde von den regierenden Tories jahrelang mit brutalen Kürzungen überzogen. In fast allen Bereichen schneidet das nordirische Gesundheits- und Pflegesystem (British Medical Association) schlechter ab als irgendwo sonst im Vereinigten Königreich. Die Wartelisten sind verhältnismäßig viel höher und verlängern sich. Der Haushalt für das Bildungswesen 2023 – 2024 wurde um 2,5 % gekürzt, und die Bildungsbehörde gab bekannt, dass eine beträchtliche Anzahl von Schulen mit einer „unhaltbaren finanziellen Situation“ konfrontiert ist. Die Gehälter der Lehrer:innen wurden seit drei Jahren nicht mehr erhöht, so dass sich eine große Lücke zum Rest des Vereinigten Königreichs auftut.

Wie geht es weiter?

Jetzt, da „die Union gesichert“ ist und die britische Regierung 3,3 Milliarden Pfund freigegeben hat, obliegt es der von Sinn Fein und DUP geführten Exekutive, mit den Gewerkschaften über die Lohnzahlungen zu verhandeln. Genau darum ging es beim GFA, um die Übertragung der britischen Herrschaft mit all ihren wirtschaftlichen Angriffen. Natürlich ist die begrenzte Finanzierung durch Großbritannien der Kern des Problems, aber die Zuständigkeitsverlagerung entbindet die britische Regierung von einer direkten Beteiligung.

Die Wut auf den Straßen im Januar ist noch nicht verflogen. Bei Redaktionsschluss haben die Gewerkschaften Unite, GMB und SIPTU ein Lohnangebot von 5 % für das Verkehrspersonal abgelehnt und für den 27. bis 29. Februar zu einem dreitägigen Streik aufgerufen. Die Assistenzärzt:innen werden im März einen Tag lang streiken, nachdem 97 % für einen Streik gestimmt haben. In einem Streit, der bis ins Jahr 2018 zurückreicht, hat die GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union) vor Streiks gewarnt, da laut Sprecher für Bildung Paul Girvan keine neuen Mittel für die Bezahlung und Einstufung des Schulpersonals zur Verfügung stehen.

Der Streik im Januar zeigt zwar die enorme Kraft der Arbeiter:innenschaft, die gemeinsam streikt, aber es ist klar, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind. Carmel Gates, NIPSA (Nordirische Öffentliche Dienstallianz)-Generalsekretärin, sagte: „Dies ist der Anfang, wir werden eskalieren“. Aber diese Worte müssen in eine konkrete Strategie für den Sieg umgesetzt werden. Wir können uns dabei nicht auf unsere Führer:innen verlassen. Die Basis muss die Kontrolle über die Auseinandersetzungen übernehmen, indem sie Streikkomitees und Massenversammlungen bildet, um ihre Führungen zur Verantwortung zu ziehen. Gemeinsame gewerkschaftliche Aktionsräte müssen ein eskalierendes Aktionsprogramm bis hin zu einem unbefristeten Streik koordinieren.

Zurück nach Stormont

Die neue Exekutive wird also wieder die britische Herrschaft umsetzen, und zwar mit allen finanziellen Zwängen, die sich aus der Politik der Regierung ergeben. Der einzige „Vorteil“ der Rückkehr nach Stormont wird darin bestehen, dass die Rolle von Sinn Fein und der DUP bei der Kollaboration mit den Angriffen der britischen Regierung auf die Arbeiter:innen aufgedeckt wird. Ja, sie werden mehr Geld fordern und die Verantwortung leugnen, aber sie werden nicht kämpfen oder sich der Regierung widersetzen, um die Lohnforderungen der Beschäftigten zu erfüllen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Exekutive sich sogar weigert, die vom Finanzministerium geforderten zusätzlichen Einnahmen in Höhe von 113 Millionen Pfund aufzubringen!

Die Gewerkschaftsbürokrat:innen werden ihr Bestes tun, um die Aktionen zu begrenzen und schlechte Verträge unterhalb der Inflationsrate auszuhandeln. Auch sie sind für die Teilung und werden die Strukturen der Machtteilung nicht erschüttern wollen. Klar ist, dass ein entschlossener Kampf der Arbeiter:innen zur Verteidigung und Verbesserung ihres Lebensstandards das institutionalisierte Sektierertum, das die Gesellschaft in den sechs Grafschaften durchdringt, auf die Probe stellen und ins Wanken bringen wird.

Wenn der Brexit vielen gezeigt hat, wie störend eine Grenze in Irland ist, dann kann eine militante Herausforderung der Kürzungspolitik durch katholische und protestantische Arbeiter:innen die Augen für eine Zukunft öffnen, in der alle Arbeiter:innen in Irland ihre gemeinsamen Interessen gegen die britischen imperialistischen oder irischen kapitalistischen Bosse erkennen. Die kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden werden keine Skrupel haben, den Widerstand der Arbeiter:innenklasse zurückzuschlagen, deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um einen stärkeren Kampf gegen die Bosse zu organisieren. Dieser Kampf wird erst dann beendet sein, wenn die Gesellschaft in einer Arbeiter:innenrepublik in Irland der Arbeiter:innenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird.




Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

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Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
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