Marxistische Filmkritik: die Sissi-Trilogie

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1241, 3. Januar 2024

Dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die Sissi-Trilogie aus den 1950er Jahren, die jedes Jahr im Wohnzimmer meiner Familie zur Weihnachtszeit läuft, mal etwas bewusster zu schauen, und konnte es zunächst kaum verstehen: Wie kann das eigentlich sein, dass gerade dieser Film zu so einem Weihnachtsklassiker geworden ist? Da geht es kein bisschen um Weihnachten! Aber irgendwie fühlt es sich doch stimmig an. Welche Bedürfnisse werden also bedient? Warum gehört der Film zur Weihnachtstradition doch einiger Familien in Deutschland?

Kurzer Überblick

In der Trilogie wird ziemlich frei das junge Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sissi und gespielt von Romy Schneider, nacherzählt. Im Grunde verläuft die Handlung entlang ihrem romantischen Verhältnis zu Kaiser Franz. Sie treffen 1853 zufällig aufeinander, während Sissi noch eine jugendliche Adlige in Bayern ist, und verlieben sich natürlich innerhalb weniger Stunden unsterblich ineinander. Damit beginnen dann die ganzen Konflikte des Films: Was ist mit der bereits arrangierten Ehe von Franz? Hat Sissi als niedere Adelige überhaupt das Zeug dazu, Kaiserin zu werden? Wie gewinnt Sissi das Herz des Wiener Hofs und gerade ihrer herrischen Schwiegermutter? Wie kriegen die beiden die Politik und ihre Liebe unter einen Hut? Kann Sissi die politischen Krisen im großen Kaisertum und Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit ihrer Forschheit, Cleverness und ihrem Charme lösen? Und dann wird sie auch noch schwanger! Das alles wird dann verhandelt auf Hofbällen, Ausflügen, dem Schloss oder in den vielen humorvollen bis melodramatischen Dialogen.

Damit hätte man schon den ersten Ansatz, was den Film so passend zu Weihnachten macht: Er ist auf mehreren Ebenen „leicht“. Zum einen wäre da natürlich das Filmische, also dass die Ästhetik kitschig und das Schauspiel übertrieben theatralisch ist, sodass man eigentlich immer sofort versteht, was bei den Charakteren so abgeht. Alle Rollen passen ins Gut-böse-albern-Schema. Zum anderen ist die Stimmung leicht, denn man kann den Film eigentlich gar nicht ernst nehmen. Immer, wenn es mal etwas schwerfälliger werden könnte, trampelt irgendein trotteliger Offizier herein oder der Film schneidet rüber zu den herzlich-komischen Eltern von Sissi. Alles wird getragen von der schnulzigen und reinen Romantik zwischen den Protagonist:innen. Kein Wort über die wahren Verhältnisse in der Ehe zwischen dem Kaiser, der seine damals 16-jährige Cousine heiratete oder Sissis ständiger Flucht vom Hof, Magersucht und „Melancholie“. Und letztendlich sind Sissis Adeligenprobleme für uns moderne Arbeiter:innen doch mehr als fremd und deswegen besonders leicht bekömmlich.

Die guade oide Zeit

So weit, so gewöhnlich. Solche seichte Unterhaltung ist so alt wie das Kino selbst und heute mit etwas anderer Ästhetik immer noch weitverbreitet. Um zu verstehen, was die Sissi-Trilogie für die Deutschen so betörend macht, muss man schauen, unter welchen Vorzeichen diese gedreht wurden. Die 3 Filme kamen 1955, 1956 und 1957 raus und lagen damals voll im Trend, denn da wurde eine Heimatschnulze nach der anderen gedreht. Nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis kann man hier die Stimmung ablesen: Zum einen hegten die Deutschen immer noch die ideellen Werte von Heimat, Familie, Autorität und symbiotischer Einigkeit zwischen Volk und Staat, zum anderen wurde man jedoch besiegt, gedemütigt und so manche:r wird mit der eigenen Mitwirkung an den Untaten der Nazis konfrontiert, während ein Großteil gar nicht dran denken will. Heimatschnulzen klemmen sich in diesen Widerspruch besonders gut rein: oberflächlich unpolitisch, unkompliziert und unbeschwert, aber gleichzeitig wird die Romantisierung der ganzen alten Naziwerte betrieben.

Die Sissi-Trilogie hat dieses politische Unpolitisch-Sein gemeistert und das ist sicherlich ein entscheidender Grund, warum sie bis heute so ein großer Erfolg ist. Indem man nämlich in die romantisierte Darstellung einer längst vergangenen Zeit schlüpft, bricht man oberflächlich aus der kapitalistischen Modernität aus. Das wird durch den ganzen Kitsch noch weiter zementiert. Dazu werden antimoderne Wünsche befriedigt: Da wäre zum einen natürlich die fast schon skandalöse Idealisierung des Adels und Verniedlichung seiner Herrschaft. Da in dem Film fast ausschließlich Adelige oder deren unmittelbare Bediensteten auftreten, entsteht der Eindruck einer „Klassenlosigkeit“: kein Wort zu den heftigen Klassenkämpfen und revolutionären Bestrebungen zu dieser Zeit, keine Beachtung des anwachsenden Proletariats, der beraubten Bauern-/Bäuerinnenschaft von ihrem Land, am Rande werden mal die aufsteigenden Nationalbewegungen verhandelt. Vor allem geht es aber um die auf magische Weise wohlhabenden Adligen in ihren prunkvollen Sälen. Das gibt mehr als genug Raum für Eskapismus aus den Mühen des modernen Kapitalismus.

Zum anderen sind da die nationalistischen Gefühle, die dem Film zwar aus allen Poren triefen, aber nicht so plump wie im Nazi-Stil. Denn es geht im Film ja nicht um Deutschland, sondern „nur“ um das Habsburgerreich Österreich-Ungarn, was aber für Deutschnationale eigentlich ja auch nur verlorene Deutsche sind, und zwar genau zu einer Zeit, als dieses noch mächtig und groß war und diverse Länder unterjochen konnte. Dadurch wird die Sehnsucht nach der Zeit bedient, „als wir in der Welt noch wer waren“, ohne es so offensichtlich zu machen, dass man sich damit aktiv auseinandersetzen müsste. Das alles kulminiert in der Schlussszene der Trilogie: Venedig will sich vom Habsburgerreich emanzipieren und protestiert, indem dem Kaiserpaar bei der Ankunft nicht zugejubelt wird. Doch Sissi erwärmt mit ihrem Charme die Herzen der Venezianer:innen und die politische Krise ist abgewehrt. Zur Feier schmettert in voller Länge die deutsche Nationalhymne los. Aber zwinker, zwinker – es ist ja nicht wirklich die bundesdeutsche Nationalhymne, sondern Österreich hatte damals die gleiche Melodie! Ist ja nichts dabei, in Zeiten des geteilten Deutschlands die Nation zu beschwören. Alles nur geschichtliche Sorgfalt, nicht wahr?

Schuldige Unschuld und unschuldige Schuld

Zuletzt sollte man sich noch die ideologische Rolle der namensgebenden Protagonistin Sissi anschauen. Hier kann man die Interpretationen zwischen damals und heute etwas aufteilen. Sissi wird in dem Film als gutherzige, liebenswürdige, volksnahe, jugendlich-unschuldige Frau dargestellt, die zwar eigensinnig, aber doch irgendwie pflichtbewusst in die herrschenden Kreise aufsteigt. Mächtig, beliebt, unschuldig und irgendwie einzigartig in einer fremden Welt. Das ist der ferne deutsche Traum in der Nachkriegszeit und dementsprechend war Sissi damals eine besondere Identifikationsfigur.

Aber auch für das aktuelle Zeitenwende-Deutschland hält Sissi etwas bereit. Überhaupt, als weibliche und starke Protagonistin hat sie etwas Modernes. Sie ist eine Rebellin, aber nicht durch Wut oder Kampfeswillen, sondern weil sie einfach ein gutes Herz hat und ideelle Werte verkörpert und sich nicht an den althergebrachten Machtspielchen beteiligen, aber doch die Weltpolitik mitgestalten will. Eigentlich perfektes Spiegelbild der „wertegeleiteten“ Außenpolitik. Und beide sind doch nur Fassade und im Hintergrund bleibt das Streben nach Ordnung im nationalstaatlichen Interesse.

So lässt sich insgesamt auch erklären, warum der Film so ein Weihnachtsklassiker geworden ist: Er bedient über die historischen Perioden hinweg deutsche Träume, setzt sich dabei aber immer in einen unpolitischen und ungefährlichen Kontext und kann deswegen ganz gedankenlos geguckt werden. Wie immer in den Weihnachtsfilmen werden die guten alten Werte wie Familie, Treue und Nächstenliebe ganz großgeschrieben und das alles wird dann in eine ordentliche Portion Kitsch, Frohsinn und Romantisierung gepackt. Nostalgie dürfte das zentrale Moment des Films sein: Schon in den 1950er Jahren hat er eine nostalgische Vergangenheitsklitterung betrieben, heute ist der Film schon aus der Tradition heraus mit Nostalgie verbunden. Dementsprechend sollte man aber die Ideologie des Films als eine reaktionäre verstehen, denn sie ist rückwärtsgewandt im eigentlichen Sinne, will die modernen Probleme mit der Besinnung auf Altes bewältigen ohne eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen. Die Kälte, Konflikte und Widersprüche der kapitalistischen Moderne lassen sich nicht durch solche Beschönigungen lösen, was auch für fast alle weihnachtlichen Vorstellungen gilt. Das kann nur die Überwindung des Kapitalismus schaffen.




Holodomor: Propaganda und historische Wirklichkeit

Frederik Haber, Infomail 1209, 7. Januar 2023

Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass die Hungersnot in der Sowjetunion der frühen 30er Jahre ein Völkermord am ukrainischen Volk gewesen sei. Der stalinistischen Zwangskollektivierung fielen Millionen Tote zum Opfer, besonders in der Ukraine und in Kasachstan. Zugleich ist der Begriff Holodomor politisch fragwürdig, weil er die stalinistische Politik mit einem bewussten Völkermord gleichsetzt.

Tatsächlich ist diese Phase der sowjetischen Geschichte sehr lehrreich. Sie war eine Etappe der Machteroberung der Stalin-Fraktion im Kampf um die Partei, gegen die Arbeiter:innenklasse und gegen die Bäuer:innen. In dem Buch „The Degenerated Revolution“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen wird, wird diese Phase beschrieben, die einsetzte, nachdem die Stalin-Gruppe, die politische Vertretung der Staatsbürokratie, um 1927 die Linke Fraktion (Bolschewiki-Leninst:innen) geschlagen und mit Zehntausenden Kommunist:innen aus der Partei gedrängt hatte. Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Abschnitt des dritten Kapitels von „Degenerated Revolution“ (Seite 47 – 50), der sich mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bürokratie beschäftigt. Er nimmt die inneren Widersprüche der führen Sowjetunion zum Ausgangspunkt und betrachtet die Politik-Stalin-Fraktion in diesem Kontext.

Bürokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

D. Hughes/Peter Main

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe um Stalin also mit dem restaurativen Flügel zusammengearbeitet und damit auch das Wachstum der Kulaken-Landwirtschaft, niedrige industrielle Wachstumsraten und eine ineffektive Planungsmaschinerie toleriert. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sie als eine politische Tendenz definieren, die im isolierten russischen Staat die politische Macht dadurch zu behalten trachtete, dass sie die bewusstesten Schichten der ArbeiterInnenklasse systematisch politisch enteignete.

Sie unterschied sich von der Rechten darin, dass sie unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, wenn ihre politische Kontrolle über den Sowjetstaat in Gefahr geriet, in der Lage war, sich in bürokratischer Weise gegen das Privateigentum zu wenden und eine Form wirtschaftlicher Planung zu entwickeln und auszuweiten, die mit dem Wertgesetz in Konflikt stand. Ihr Interesse, Formen der Planung zu entwickeln, ergab sich aus der Notwendigkeit, die an sich gerissene politische Macht zu behalten, nicht aus einer sozialistischen Zielsetzung heraus.

Im Laufe des Jahres 1927 kam es dann im Sowjetstaat zu Schwierigkeiten, Getreide in gleicher Menge wie im Jahr zuvor von der Bauernschaft zu bekommen. Ähnliche Probleme hatten die Requirierungsbehörden 1928. Die Thermidorianer:innen ernteten nun die bitteren Früchte industrieller Unterentwicklung und der Zugeständnisse an die Kulak:innen. Die zentristische Stalin-Gruppe vollzog ihre entscheidende Wendung gegen den Bucharin-Flügel und gegen die Politik der späten Neuen Ökonomischen Politik, NÖP. Die Voraussetzung für diesen Linksschwenk war die vorherige vollständige Entfernung der revolutionären Linken aus allen Machtpositionen.

Im Dezember 1927 wurden die lokalen Organisationen der kommunistischen Partei angewiesen, ihre Anstrengungen zur Getreidebeschaffung zu erhöhen – mit geringem Erfolg. Zur gleichen Zeit erklärte Stalin noch immer: „Der Ausweg ist die langsame und stetige Vereinigung der Klein- und Kleinstbauern zu großen Betrieben auf Grundlage der gemeinsamen kooperativen Bewirtschaftung des Landes – nicht durch Druck, sondern durch Überzeugung und das gute Beispiel“ (Zitiert nach Alex Nove, An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1972, S. 148). Der Entwurf des Fünfjahresplans, der 1928 angenommen wurde, setzte als erstrebenswertes Ziel, während seiner Laufzeit den Anteil an kollektivierten Betrieben in der Landwirtschaft auf 15 % zu erhöhen.

Von Januar bis März 1928 fanden dann gewaltsame Getreidebeschlagnahmungen unter der Leitung von führenden Stalinist:innen statt – Stalin persönlich, Schdanow, Kossior und Mikojan. Als unvermeidliche Reaktion fuhren die Kleinbauern und -bäuerinnen ihren Anbau von Weizen und Roggen im Jahr 1928 herunter. Die Stalinist:Innen mussten sich entscheiden: entweder Zugeständnisse an die private Landwirtschaft machen, die Preise erhöhen und billige Konsumgüter aus dem Westen importieren und damit ihre politische Macht in Gefahr bringen – oder sich gegen das Privateigentum auf dem Lande wenden. Sie entschieden sich für die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft – allein mit dem Ziel, ihre bürokratische Macht zu behalten, nicht im Sinne irgendwelcher langfristiger Pläne zur Kollektivierung oder möglicher kurzfristiger Vorteile im Agrarsektor. Die sowjetische Industrie war allerdings hoffnungslos schlecht darauf vorbereitet, die kollektivierte Landwirtschaft mit der Ausrüstung zu versorgen, die sie brauchte, um bessere Erträge zu erzielen. 1928 verfügte die UdSSR nur über 27.000 Traktoren statt der eigentlich benötigten 200.000 (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 17).

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ohne jede formelle Diskussion oder Entscheidungsfindung einer offiziellen Parteistruktur durchgeführt. Sie war das Werk der siegreichen Stalin-Fraktion und Ausdruck ihrer Kontrolle über die Partei zu dieser Zeit. Am 7. November 1929 druckte die Presse einen Artikel Stalins ab, in dem er die „spontane Hinwendung der breitesten Massen der klein- und mittelbäuerlichen Haushalte zu kollektiven Formen der Landwirtschaft“ lobte. Im Dezember begann Stalin eine Kampagne zur Liquidierung der Kulak:innen „als Klasse“, was durch ein Dekret vom 5. Januar 1930 unterstrichen wurde, welches das staatliche Ziel der „vollständigen Kollektivierung“ proklamierte.

Schon sieben Wochen nach dem Erlass waren 50 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen Mitglieder in rudimentären und zusammengestümperten Kollektiven geworden. Aktiver Widerstand führte automatisch dazu, dass Kleinbauern und -bäuerinnen von den Parteiorganen als „Kulaken“ abgestempelt wurden. Bis Juli 1930 waren 320.000 vermeintliche Kulakenfamilien enteignet und deportiert worden – eine Zahl, die bei weitem die am Vorabend der Kollektivierung veröffentlichten stalinistischen Statistiken zu den Kulak:innen überstieg.

Die Mitgliederzahlen der landwirtschaftlichen Kollektive von 1930 widerlegen die durchsichtigen Lügen der Stalinist:innen, die Kollektivierung sei eine spontane Bewegung der Masse der Kleinbauern und -bäuerinnen gewesen. Ein vager Hinweis Stalins, dass der Druck gelockert werden sollte, den er in einem Prawda-Artikel mit dem Titel „Siegestrunken“ im März 1930 formuliert hatte, löste eine wahre Fluchtbewegung aus den kollektiven Betrieben aus. Anfang März 1930 waren 58 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen in Kollektive eingetreten. Bis Juni fiel diese Zahl wieder auf 23%! In der fruchtbaren zentralrussischen Schwarzerde-Region fiel der Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 81,8% auf 15,7%.

Die entwurzelten Bäuer:innen fanden in den neuen Kollektiven weder Ressourcen noch Ausrüstung vor. Angesichts des Tempos der industriellen Entwicklung der 1920er Jahre und auch angesichts der Ziele des ersten Fünfjahresplans konnte Kollektivierung zu diesem Zeitpunkt nichts anderes bedeuten, als schlicht und einfach den Mangel, das Elend und die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu verallgemeinern. Der Widerstand der Kleinbauernschaft nahm den Charakter eines Bürger:innenkrieges an. Dort, wo sie keinen anderen Widerstand leisten konnten, schlachteten sie ihr Vieh als letztes Mittel, sich den staatlichen Behörden zu entziehen. Dies belegt der dramatische Rückgang des sowjetischen Nutztierbestandes zwischen 1929 und 1934. In diesem Zeitraum verringerten sich die Bestände an Pferden und Schweinen um 55 %, an Rindern um 40 % und an Schafen um 66 %. Gab es 1930 noch eine gute Ernte, ging die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Jahren der Kollektivierung deutlich zurück. 1932 lag die Getreideerzeugung 25 % unter dem Durchschnitt der NÖP-Jahre und die Hungersnot kehrte in schrecklichem Ausmaß in die ländlichen Regionen der Sowjetunion zurück.

Aufgrund des Widerstandes und der desaströsen Wirkung der Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion ordneten die Stalinist:innen 1930 eine temporäre Rücknahme ihrer Maßnahmen an. Aber 1931 wurde die Kollektivierungskampagne wieder aufgenommen als Mittel der Stalinist:innen, die landwirtschaftlichen Produktivkräfte der Sowjetunion fest unter Kontrolle zu bekommen. Sie waren bereit, einen Rückgang der Agrarproduktion in Kauf zu nehmen, um diesen für ihr bonapartistisches Regime gewünschten Effekt zu erzielen. Bis 1932 waren 61,5 % der Anbaufläche kollektiviert, es gab 211.100 Kooperativen (Kolchosen) und 4.337 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen) (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 19).

Obwohl die Kolchosen formell als Genossenschaften gegründet wurden, wurden ihre Sekretär:innen und Führungskomitees von lokalen Parteiorganen ernannt. 1935 erhielt das Kolchos-System seine endgültige Form. Landwirtschaftliche Maschinen, Agrarspezialist:innen, Mechaniker:innen, Ausbildungspersonal und Tiermediziner:innen sollten alle in staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) konzentriert werden. Die Überwachung der Landwirtschaft durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sollte ebenfalls in den MTS angesiedelt werden. Die Kolchosen sollten Maschinen und Expertise von der MTS erhalten. Auf diese Weise wurde eine Schicht privilegierter Arbeiter:innen in den MTS und zugleich ein perfekter Überwachungs- und Repressionsapparat gegen die bäuerlichen Massen geschaffen.

Das Einkommen der Bauern und Bäuerinnen wurde in Abhängigkeit des Ertrags ihrer Kolchosen bestimmt, nachdem der Staat das Getreide gekauft hatte und die Steuern von der Kolchose eingetrieben hatte. 1935 verdiente ein Durchschnittshaushalt 247 Rubel für ein Jahr Arbeit in der Kolchose – den Preis für ein Paar Schuhe! Zusätzlich wurde den Bauern und Bäuerinnen deshalb erlaubt, eine kleine Fläche von höchstens einem halben Hektar selbst zu bewirtschaften, auf der die bäuerliche Masse das Nötigste für ihren miserablen Lebensunterhalt mühsam erarbeitete. Die Wiedereinführung eines internen Ausweissystems für die Kolchosen-Angehörigen 1933 band diese sehr wirksam an die Kolchosen. Ein Gesetz vom 17. März 1933 legte fest, dass kein Kolchosmitglied ohne Genehmigung der Bürokratie den Kolchos verlassen durfte.

Die sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen erlebten die Kollektivierung daher als Verlust ihrer „Oktobererrungenschaften“. Die bonapartistische Bürokratie hatte ihre politische Macht und ihre materiellen Privilegien bewahrt, indem sie die Basis für beschränkte Warenproduktion der Kulak:innen und der NÖP-Leute zerstört hatte. Die Kleinbauern und -bäuerinnen  verloren jede Möglichkeit, die politische Herrschaft der Bürokratie durch einen Lieferstreik herauszufordern. Das Ergebnis waren nicht nur die Stagnation und Ineffizienz der Landwirtschaft, die der sowjetischen Bürokratie bis zu ihrem Ende zu schaffen machte. Es erzeugte auch eine trotzige und rebellische Bäuer:innenschaft, die durch drastische Repression niedergehalten wurde. Der Sieg der Stalinist:innen über die Landbevölkerung war eine enorme Sprengladung im Fundament des Arbeiter:innenstaates und machte einen riesigen Repressionsapparat nötig, einschließlich Zwangsarbeitslagern, die parallel zur Kollektivierung entstanden, um die Landwirt:innen in den kollektivierten Betrieben zu halten.

Nachsatz der Redaktion

Dieser Repressionsapparat schritt dann auch zur physischen Vernichtung der Kommunist:innen, der bewusstesten Arbeiter:innen, aber auch von Vertreter:Innen aller anderen Schichten, die die persönliche Diktatur Stalins gefährden konnten. Sie traf Angehörige von nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Sowjetunion oft härter als den russischen Teil der Bevölkerung, da diese Repression natürlich auch mit der Durchsetzung des großrussischen Chauvinismus einhergingen. Die Ukraine war in dieser Hinsicht sowohl aufgrund der großen Bedeutung ihrer Bäuer:innenschaft und Agrarproduktion, aber auch als größte nicht-russischer Republik im Fokus der Stalin-Fraktion. In der Tat führte die Bürokratie einen Krieg gegen die Bäuer:innenschaft, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen und zu sichern, einen Bürger:innenkrieg bei dem sie bereitwillig den Tod von Millionen in Kauf nahm. Ihr historisches Ziel bestand darin, den Sieg der Oktoberrevolution auszulöschen und alle Errungenschaft in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie war ein Schlag nicht nur gegen die Bäuer:innen, sondern auch gegen die Proletarier:innen aller Länder.




Katar: Politikum Fußballweltmeisterschaft

Bruno Tesch, Neue International 269, November 2022

Die Sportart Fußball genießt einen hohen Aufmerksamkeitsgrad. Die vom 20. November bis 18. Dezember 2022 in Katar stattfindende Weltmeisterschaft männlicher Teilnehmer erhitzt nicht nur die Gemüter der milliardenfachen Fangemeinde, sondern sorgt sogar für politischen Gesprächsstoff.

Fouls

Die Vita dieses Massenphänomens ist durchzogen von zahllosen sportlichen Höhepunkten, jedoch auch von den Niederungen der Gesellschaftsordnung, in der es entstanden ist. Die Bandbreite der hässlichen Begleiterscheinungen erstreckt sich von Homophobie, Frauenunterdrückung (z. B. Verbot weiblicher Fußballvereine seitens des DFB von 1955 – 1970), sexuellem Missbrauch über Rassismus, Chauvinismus bis hin zu offenen Gewaltausbrüchen wie jüngst in Indonesien. Korruptionsaffären, die Herausbildung einer Sportwetten- und Spielervermittlungsmafia gehören ebenso zum Alltagsbild dieses Showgeschäfts.

Dies sind jedoch keine Auswüchse, die mittelfristig zu beseitigen wären und den Organismus des Sports gesunden lassen könnten. Nein, das Krebsgeschwür des Kapitalismus hat sich längst tief in den Körper hineingefressen.

Von Beginn an, seit Ende des 19. Jahrhunderts, als der Fußball in Großbritannien professionalisiert wurde, erhob sich bereits die Klassenfrage in dieser Sportart. Sie fand rasch Massenanhang im Proletariat als Akteure auf dem Spielfeld und den Zuschauer:innenrängen. Die Geschäftsführung in Vereinen und überörtlichen Verbänden lag jedoch stets in bürgerlichen Händen.

Die Arbeiter:innensportbewegung, v. a. in Deutschland, durchbrach kurzzeitig die bourgeoise Dominanz, baute u. a. einen eigenen Spielbetrieb auf und setzte dem reaktionären Boykott gegen die junge Sowjetunion, der sich auch im Sport manifestierte, eine tätige Solidarität entgegen. Der Faschismus zerschlug auch die Arbeiter:innensportvereine. Nach dem 2. Weltkrieg kapitulierten die reformistischen Arbeiterverräter:innen wieder und überließen dem Klassenfeind einen durch und durch verbürgerlichten Sportbetrieb.

FIFA

Auf Landesebene konstituierte sich 1900 in Leipzig mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) ein (einfluss)reicher Sportverband. Er ist der größte auf der Welt und mit weiteren 210 nationalen Verbänden Mitglied der FIFA (Féderation Internationale de Football). Dieses Konstrukt ist in der Schweiz als steuerbegünstigter gemeinnütziger Verein eingetragen und übt die Aufsichtsfunktion über den Fußball in all seinen Belangen aus.

Die nationalen Organisationen treten auf einem Kongress zusammen, entscheiden über statuarische Fragen und wählen den FIFA-Präsidenten. Da jedes Mitgliedsland eine gleichberechtigte Stimme hat, scheint dies bürgerlich-demokratischen Kriterien zu genügen. Doch der Präsident hatte bis 2016 weitreichende Machtbefugnisse und Managementkompetenzen. Trotz Reformen und Verlagerung des operativen Geschäfts auf den Generalsekretär hat sich nicht wirklich etwas geändert.

Die FIFA unterhält nach wie vor ein undurchsichtiges Gestrüpp von Subunternehmen, Beraterverträgen und Anwaltskanzleien und agiert wie ein kapitalistisches Großunternehmen. Das System von Löhnen, Aufwandsentschädigungen und Boni etwa in Höhe von 100 Millionen US-Dollar sowie der Finanzfluss an Einzelmitglieder im Vorfeld von Abstimmungen ähnelt einer verschlossenen Auster (Quelle: https://netzwerkrecherche.org/stipendien-preise/verschlossene-auster/verschlossene-auster-2012-fuer-die-fifa/). Dieses Geschäftsgebaren rief 2015 und 2016 sogar die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft auf den Plan, die das FIFA-Hauptquartier durchsuchte, letztlich jedoch ohne bindende strafrechtliche Konsequenzen.

Ihren Umsatz, allein 2021 waren dies rund 766 Millionen US-Dollar (Quelle:  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160262/umfrage/ertraege-der-fifa/), generiert die FIFA zur Hauptsache durch Verkäufe von Medienübertragungs- und Marketingrechten: Verantworten muss sich die Organisation praktisch nur gegenüber ihren Sponsor:innen und großen Konzernen. Letztere können sogar den (zeitweiligen) Ausschluss oder Sanktionen für nationale Verbände erwirken, wenn nicht die genehmigte Sportkleidung oder entsprechende Logos getragen werden. So wurden Kamerun 2004 während der WM-Qualifikation im Zuge des berühmten Trikotstreits zwischen Adidas und Puma 6 Punkte abgezogen (Quelle: https://www.spiegel.de/sport/fussball/trikotstreit-kamerun-fordert-die-fifa-heraus-a-300077.html).

Weiterhin gehören zu den Aufgaben der FIFA auch die Vergabe und Oberaufsicht von Fußballweltmeisterschaften. Für 2022 fiel die Wahl auf Katar.

Katar

Katar, als koloniales Erbe des britischen Imperialismus erst vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, ist als Staat nur überlebensfähig durch große Vorkommen von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas. Es ist weltweit für den höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf verantwortlich und trägt damit zur globalen Erderwärmung bei. Die Rohstoffe, Lieferung petrochemischer Produkte (Düngemittel) sowie die Anbindung an den US-Imperialismus durch den Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen im Nahen Osten machen Katar zu einem unverzichtbaren Anlauf- und Stützpunkt für die US-Außenpolitik. Atmosphärische Störungen wegen Vorwürfen der Unterstützung von Terrorismus, wie unter Trump geäußert, wurden von der Biden-Administration wieder beigelegt.

Regiert wird die Halbinsel am Persischen Golf ohne Wahlen und Parteien von einer islamischen Scheichdynastie, die nur etwa 10 % der Bevölkerung repräsentiert. Diese Elite verfügt über 90 % des Einkommens. Den Hauptanteil an Lohnabhängigen stellen Arbeitsmigrant:innen aus Ländern Süd- und Südostasiens dar, denen Rechte wie Gewerkschaftsgründung oder Streiks versagt werden. Frauen ist der freie Arbeitsmarkt kaum zugänglich. Sie sind durch die herrschende Scharia rechtlich am stärksten benachteiligt.

Durch die Stadien- und Unterkunftsbauten für die Weltmeisterschaft, die praktisch alle neu aus dem Boden gestampft werden mussten, stieg der Bedarf an Arbeitskräften zusätzlich. Dies führte dazu, dass in den letzten 10 Jahren der vermehrten Bautätigkeit viele Arbeitsmigrant:innen aus Südasien nach dem sogenannten Kefala-System angeheuert wurden. Dieses beinhaltet, dass jede(r) ausländische Beschäftigte eine/n einheimische/n Bürg:in benötigt – in der Regel handelt es sich dabei um den/die (Sub-)Unternehmer:in. Meist werden hier sämtliche Arbeitsrechte und -schutzbestimmungen missachtet. Viele Arbeiter:innen mussten ihre Pässe abgeben. Ihnen wurden teilweise monatelang Lohnzahlungen vorenthalten. Etliche verunglückten auf den Baustellen und über 6.500 mussten ihren Einsatz gar mit dem Leben bezahlen (Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/fifa-wm-katar-menschenrechtsverstoesse-101.html). Die Angehörigen der Opfer bekamen oft erst nach internationalen Protesten almosenhafte Entschädigungen.

Kritik

Bereits mit Bekanntgabe der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar regte sich Kritik, die sich mit Herannahen des Ereignisses noch deutlich verstärkt hat. Die bürgerlich-liberale Tonart hob zumeist das Prozedere hervor, die offensichtlich erkaufte Entscheidung, die zum Zuschlag an einen Staat geführt habe, der sowohl sachlich (fußballerisch nicht verankert) wie politisch (Menschenrechte nicht beachtend) nicht auf die Werteagenda der nördlichen Halbkugel gehöre. In der Empörung dieser Kommentator:innen schwingt eine gehörige Prise Selbstgerechtigkeit und auch rassistischer Unterton („Fußballentwicklungsland“) mit. Dieselben Figuren, die die Entscheidung aus diesem Blickwinkel verdammen, vollführen einen „Salto mor(t)ale“; sie haben anscheinend vergessen, dass auch das deutsche „Sommermärchen“ von 2006 nur durch Schmiergelder ergaunert worden ist. Zudem akzeptieren sie den Deal der deutschen Regierung zum Erdgasimport mit Katar wiederum als realpolitisch gerechtfertigt, das Wort „Menschenrechte“ darf dann beiläufig erwähnt werden.

Auch vorgeblich linke Vorschläge zum Protest gegen diese „WM der Schande“ bleiben hilflos bzw. bestenfalls in kleinbürgerlichem Aktionismus stecken. Appelle an Sendeanstalten, die Spiele nicht zu übertragen, verhallen ungehört. Die Weigerung von Gastwirtschaften, während der Weltmeisterschaften für ihre Gäste Fernsehapparate einzuschalten, kann auf der Ebene eines individuellen Boykotts nur eine wirkungslose Geste bedeuten.

Viel zur kurz greift auch eine bürgerliche Parole, welche fordert „Fußball ja – Ausbeutung nein“, reißt sie doch einen Zusammenhang auseinander, den der moderne Profifußball mit seinen Ingredienzien Menschenhandel und Sportinvaliditätsrisiko längst hergestellt hat.

Was also tun?

Eine fortschrittliche Kritik muss unmittelbar an den Zuständen ansetzen, denen die Arbeiter:innen in Katar ausgesetzt sind:

  • Zerschlagung des Kefala-Systems

  • Entschädigungslose Enteignung aller Firmen, die dieses angewendet haben oder weiter anwenden

  • Angleichung der Mindestlöhne an internationale Standards und die aktuelle Inflationsrate

  • Entschädigung für die Angehörigen der Verunglückten aus den Taschen der reichen Elite, der Ausbeuter:innenfirmen und den Fonds der FIFA

  • Volle gewerkschaftliche und arbeitsrechtliche Standards für Arbeiter:innen in Katar und in den übrigen Anrainerstaaten

  • Volle unbeschränkte Aufenthalts- und Staatsbürger:innenrechte für Arbeitsmigrant:innen einschließlich Zuzug ihrer Familien

  • Gewerkschaftlich organisierte Kampfmaßnahmen z. B. in Form von Arbeiter:innenstreiks, um drohende Spielausfälle zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu nutzen. Solche Maßnahmen könnten durch Boykott der Spiele bspw. durch Techniker:innen und Kameraleute von Sendeanstalten verstärkt werden. Diesen könnten sich Fanprojekte im Rahmen einer internationalen Solidaritätskampagne mit den Beschäftigten in Katar anschließen.



Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee River Collective, 1977)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter „Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken, feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden, geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich, dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ ArbeiterInnen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen. Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“ (oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität – Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren VertreterInnen von „Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory (TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer „radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen, dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte, dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von 1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der Intelligenz) dominiert wurden, in der ArbeiterInnenklasse weiße, ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die Reproduktion sozialer Unterdrückung in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch dominierten ArbeiterInnenbewegung und in nationalen Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen mancher ihrer SchöpferInnen) damit einher, dass die „gemeinsame Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als „Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“ oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen (oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der ArbeiterInnenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus dem KleinbürgerInnentum und den lohnabhängigen Mittelschichten hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die VertreterInnen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw. Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“ gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“ beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam, der die Doppelstandards ihre KritikerInnen verdeutlichte. Während sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“ würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass „identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem KleinbürgerInnentum und z. T. auch aus der ArbeiterInnenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in analoger Weise auch andere Unterdrückte als WählerInnen zu gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“ einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der „arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden AmerikanerInnen“ auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten, verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March, Feminismus für die 99 Prozent – eine Kritik, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik. Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte – auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen, Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher. Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll. Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“ einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch, natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“ Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“ sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum) selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante, als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches Verständnis des natürlichen Geschlechts und der Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit Trans-AktivistInnen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt, besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch „der“ FabrikarbeiterInnen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von TäterInnen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder TäterInnen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig. Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen, wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind, nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen, kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus. Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus. Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke VerteidigerInnen der Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch „Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“ Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung und GegnerInnen, um eine gemeinsame politische oder gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die ArbeiterInnenbewegung als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform (Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als „Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen (Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen, Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“ Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden, wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus, Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die ArbeiterInnenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker Identitätspolitik

Die VertreterInnen einer „linken“ Identitätspolitik versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“ einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an, die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen. Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw. deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird, indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür, wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht, Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen „die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird. Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer VertreterInnen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a. den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der „Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen, andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus. Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen. Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den WarenbesitzerInnen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet. Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so, dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions- und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen. Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger, kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen, werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere, solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus, die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der „nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen: Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen, greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie, der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon die städtische ArbeiterInnenklasse in den Kolonien als eine gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“, wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp, Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“ besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke, bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim „Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder „essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben AutorInnen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige VerteidigerInnen einer linken Identitätspolitik auch die ArbeiterInnenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen (und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum, dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner, Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht für Marx, Lenin und andere AutorInnen der revolutionär-marxistischen ArbeiterInnenbewegung. Im Gegenteil: Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen ArbeiterInnenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den KapitalistInnen wie bei den ArbeiterInnen ein verkehrtes Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische Ausbeutung im Bewusstsein von KapitalistInnen und LohnarbeiterInnen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung der ArbeiterInnenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“ zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?, LW 5, S. 436)

Wenn die ArbeiterInnenbewegung als identitätspolitische, also auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der Arbeit, dem ArbeiterInnensein und der Lohnbewegung beruhende begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen „soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen ArbeiterInnenkampf zu verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane ArbeiterInnen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann, sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe trifft auch auf eine solcherart geprägte „ArbeiterInnenidentität“ zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren diese wesentlich Formen verbürgerlichter „ArbeiterInnenkultur“ und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der Anerkennung der LohnarbeiterInnen als gesellschaftlicher Kraft einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes „ArbeiterInnensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der ArbeiterInnenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte. Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte „ArbeiterInnenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik fassen auch Reformismus und Ökonomismus die „ArbeiterInnenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres, das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem Marxismus geht es darum, die ArbeiterInnenbewegung in eine Richtung zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der ArbeiterInnenklasse besteht nicht darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die ArbeiterInnenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden werden muss. Das Wesen der ArbeiterInnenklasse, das sie überhaupt erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin, wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder „nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus, Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes, Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen Massencharakter –, während letztlich jede Form von Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine Klasse für sich bildet sich die ArbeiterInnenklasse jedoch nur als revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären, rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnenschaft besteht schließlich nicht in der nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden Strömungen und Ideologien in der ArbeiterInnenklasse. Stalinismus, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte. Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte Teile der ArbeiterInnenklasse mit den verkrusteten, verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung, dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der ArbeiterInnenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen „späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive, rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die ArbeiterInnenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die ArbeiterInnenbürokratie stützt sich in der Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den imperialistischen Ländern, auf die ArbeiterInnenaristokratie, die ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist. Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus – geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw. Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver, unterdrückerischer Politik in der ArbeiterInnenbewegung selbst. Nur so werden die besten KämpferInnen von den inneren Grenzen und der Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, RevolutionärInnen müssen dafür kämpfen, dass diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin, dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung und Unterdrückung beinhaltet. Die ArbeiterInnenkorrespondenzen in den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges Moment, das die ArbeiterInnenbewegung insgesamt – und zwar nicht nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die ArbeiterInnenbewegung alle fortschrittlichen Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die UnternehmerInnen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die ArbeiterInnenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere, sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den AktivistInnen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen, Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches, veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden. Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus, indem er ArbeiterInnenpolitik als Verlängerung des nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar. Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches  (WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B. herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam, moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird. Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt, widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“ Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung, Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar. Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der ArbeiterInnenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener, Teile des KleinbürgerInnentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“ unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen, Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen) hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B. in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.) hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung, Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der entschlossensten und bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse und aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher Erfahrung zugrunde liegt.




Die Unterdrückung von Transpersonen

Internationales Exekutive Komitee (IEK) der Liga für die Fünfte Internationale, April 2019, Infomail 1112, 28. Juli 2020

Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung

Im Folgenden veröffentlich wir eine Resolution unserer internationalen Strömung zum Kampf gegen die Unterdrückung von Transpersonen Wie viele andere stehen auch wir vor dem Problem, die Begriffe „sex“ und „gender“ angemessen in die deutsche Sprache zu übersetzen. Während sich im Englischen in den letzten Jahrzehnten der Begriff „sex“ für das biologische Geschlecht einer Person etabliert hat, bezieht sich „gender“ auf das soziale Geschlecht, auf die gesellschaftlich geprägte Geschlechterrolle. Wenn von Geschlechtsidentität gesprochen wird, wird in der Regel auch der Begriff „gender“ verwendet. Wir versuchen, in der Übersetzung diesen Unterschied deutlich zu machen. Wenn wir von Geschlechterrolle oder Geschlechtsidentität sprechen, so bezieht sich das auf das englische „gender“.

Definition unserer Begrifflichkeiten

In dieser Resolution werden wir den Begriff Trans in Bezug auf Transpersonen verwenden, d. h. diejenigen, die erklären, dass ihr subjektives Bewusstsein über ihre Geschlechterrolle oder ihre Geschlechtsidentität im Widerspruch zu ihrem biologischen Geschlecht steht. Entsprechend möchten Transpersonen hinsichtlich ihrer subjektiven Geschlechtsidentität bezeichnet werden, d. h. als Frauen oder Männer, als „genderqueer“, „nichtbinär“, „genderfluid“, „agender“ oder durch andere in den jeweiligen Sprachen verwendete Begriffe.

Das Wort „Trans“ wurde erstmals 1971 verwendet. Zumindest im Englischen hat es den Begriff „transsexuell“ weitgehend ersetzt, der in den 1940er Jahren aufkam und in vielen Bereichen als Bezeichnung für diejenigen verstanden wurde, die medizinische Eingriffe vorgenommen hatten oder vornehmen wollten, um die äußeren Erscheinungsformen ihres Geschlechts denen des anderen Geschlechts anzugleichen.

Die Haltung von KommunistInnen, der ArbeiterInnenbewegung und in der Tat aller konsequent demokratischen oder sozial fortschrittlichen Menschen sollte darin bestehen, den Wünschen von Transpersonen in Bezug darauf, wie sie im gesellschaftlichen Leben und als StaatsbürgerInnen betrachtet werden wollen, zu entsprechen. In dieser Hinsicht ist unsere Einstellung die gleiche wie gegenüber der Verteidigung der Rechte von Frauen, homosexuellen und bisexuellen Menschen auf Gleichheit und Respekt.

Sexuelles oder soziales Verhalten, Kleidung usw. dürfen nicht einem Schein-„Recht“ anderer untergeordnet werden, die sich auf Grund von Vorurteilen, religiöser oder sonstiger Art, dadurch beleidigt fühlen könnten. Es sollte weder rechtlichen noch individuellen Bestrafungen unterliegen und schon gar nicht Misshandlungen ausgesetzt sein. Wir sprechen uns auch dagegen aus, es als eine psychische Störung einzustufen. Der Wunsch von Transpersonen, mit den Namen, der Bezeichnung und den Pronomen ihrer Wahl angesprochen zu werden, sollte als selbstverständlich respektiert werden. Die bewusste Weigerung, dies zu tun, sollte als unterdrückendes Verhalten (Transphobie) angesehen und in der ArbeiterInnenbewegung keinesfalls toleriert werden.

MarxistInnen sind jedoch ebenso wenig verpflichtet, die Behauptungen der Transtheorie, der Queertheorie usw. wie auch die verschiedenen Theorien, die als Feminismus oder Theorien der Schwulen- und Lesbenbewegungen bekannt sind, kritik- und vorbehaltlos zu akzeptieren. Subjektive Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung verdienen die respektvolle Aufmerksamkeit, sie bringen an sich noch keine korrekte Theorie oder ein Programm für Befreiung hervor. Die Einteilung in bipolare Geschlechter wird weder durch die Existenz intersexueller Menschen (d. h. Menschen mit biologischen Merkmalen beider Geschlechter) oder erst recht nicht durch Behauptungen einiger TranstheoretikerInnen über die Existenz weiblicher Gehirne in männlichen Körpern oder umgekehrt widerlegt. Selbstverständlich darf dies jedoch im Umkehrschluss in keinem Fall zur Verweigerung gleicher Rechte führen.

Als historisch-dialektische MaterialistInnen erkennen MarxistInnen die objektive Existenz bipolarer Geschlechter als Teil unserer Spezies an, die (wie bei den meisten anderen Spezies) für die Reproduktion notwendig ist. Welch zukünftige Möglichkeit (oder Wünschbarkeit) der medizinischen Wissenschaft auch immer uns womöglich in die Lage versetzen werden, diese biologische Determination zu überwinden, sie existiert heute und ihre „Überwindung“ stellt weder für die Überwindung der Klassengesellschaft noch für die damit einhergehenden sozialen Unterdrückungen eine Bedingung dar.

Unsere Spezies zeichnet sich jedoch auch durch soziale und kollektive Organisation und Bewusstsein sowie durch individuelles Bewusstsein aus, auf welches und durch welches die biologischen Faktoren wirken. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in verschiedenen Formen der Vorklassen- und dann der Klassengesellschaft mit ihrer Produktionsweise haben gesellschaftliche Ideologien geschaffen, die Formen des kollektiven Selbstbewusstseins rechtfertigen und fördern. Diese werden durch die ideologischen Konstrukte von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ verkörpert. Man kann diese als „Rollen“ oder „Identitäten“ bezeichnen, solange anerkannt wird, dass sie weder ein spontaner Ausdruck des inneren Wesens eines Individuums noch eine unvermittelte Darstellung der Biologie sind, sondern von der patriarchalen Rechtfertigung der Frauenunterdrückung überlagert werden.

Weder die biologische Definition von Geschlecht noch die weit verbreitete Dominanz sozialer Rollen sollten verdinglicht und aus ihrer interagierenden, widersprüchlichen und verschmelzenden Entwicklung über historische Epochen hinweg herausgelöst werden. Unter dieser Voraussetzung können wir das Wort Gender (soziales Geschlecht) verwenden, um die von der Gesellschaft erwartete und von Kindheit an verinnerlichte soziale Rolle der bipolaren Geschlechter zu beschreiben. Bis in die letzten Jahrzehnte war es in der englischen Sprache lediglich ein Synonym (oft ein Euphemismus) für Geschlecht (engl. „sex“), das in diesem Sinne oft in offiziellen Dokumenten auftaucht.

Zu beobachten ist, dass sich eine Reihe von Menschen subjektiv nicht mit dem Gender (sozialem Geschlecht) identifiziert, das mit ihrem biologischen Geschlecht kongruent ist. Wie viele dies tun bzw. welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmachen, wurde lange durch Unterdrückung und Repression verdeckt. Viele von ihnen empfinden das, was medizinisch als „Geschlechtsidentitätsstörung“ bezeichnet wird, darunter auch die sog. „Körperdysphorie“ (Unbehagen mit dem eigenen Körper). Dies wurde (und wird immer noch) weithin als medizinische Erkrankung (oder psychische Störung) angesehen und als solche behandelt, oft auch ohne die Zustimmung der jeweiligen betroffenen Person. In diesem Punkt finden sich Parallelen zur Haltung gegenüber Homosexualität. Und auch wenn Transpersonen (wie auch Schwule und Lesben) im Einzelfall unter medizinischen/psychologischen Erkrankungen leiden können und dies auch tun, dürfen diese nicht von der tiefen sozialen Stigmatisierung und Intoleranz losgelöst betrachtet werden, mit der Transpersonen in der Familie, der Schule, am Arbeitsplatz und im sozialen Leben im Allgemeinen konfrontiert sind.

Transunterdrückung

In den letzten Jahren sind Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt, die sich gegen Transpersonen richten, in der Öffentlichkeit viel stärker wahrgenommen worden, da Transpersonen sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr setzen. In einer Reihe von Ländern sind Gesetze verabschiedet oder reformiert worden, die Rechte von Transpersonen anerkennen und Diskriminierung abbauen. Dies gilt für einige, wenn auch nur wenige, westliche imperialistische Länder wie Dänemark, das 2014 die Selbstdefinition legalisiert hat. In den meisten europäischen Staaten, darunter Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien, ist jedoch für eine Änderung der rechtlichen Eintragung ein medizinischer „Beweis” – zum Beispiel über das Vorliegen einer Geschlechtsidentitätsstörung – erforderlich. Auch in einigen Halbkolonien wie Argentinien, Indien, Pakistan und Nepal wurden rechtliche Liberalisierungsmaßnahmen verabschiedet, was jedoch keineswegs bedeutet, dass die reale und ernste soziale Unterdrückung von Transpersonen überwunden ist.

Ungeachtet der rechtlichen Reformen haben in den meisten Ländern die Ungleichheit und Diskriminierung bei der Arbeit und in Bezug auf BürgerInnenrechte, die Stigmatisierung durch die Medien, soziale Ächtung, Missbrauch und Hassverbrechen keineswegs abgenommen. Der Rechtsruck in der Weltpolitik und der Aufstieg der radikalen Rechten bedrohen vielmehr die begrenzten Rechte, die Transpersonen erkämpft haben (ebenso wie sie die Errungenschaften von Frauen, Lesben und Schwulen oder die Erfolge der sexuellen Befreiung bedrohen). Alle diese Gruppen sind häufiger Ziel von Gewalt und Übergriffen als Heterosexuelle, mit extrem hohen Dunkelziffern und sogar gezielten Tötungen (vor allem in Brasilien, Mexiko und den USA).

Wie praktisch alle Formen der sozialen Unterdrückung betrifft auch die Transunterdrückung Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten in ungleicher Weise. Rechtsreformen und Gleichstellungsforderungen gehen Hand in Hand mit der fortwährenden Ausgrenzung im öffentlichen Leben, am Arbeitsplatz, bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle oder in der Familie (bis hin zum Abbruch aller familiären Bindungen und der Vertreibung aus dem Elternhaus). Die bipolaren Geschlechterstereotypen, die ein reaktionäres Frauenbild fördern, stigmatisieren auch Transpersonen, transsexuelle, intersexuelle und homosexuelle Menschen als „unnatürlich”, „abweichend“, „Pädophile“, „Vergewaltiger“ usw. Darüber hinaus hat der Aufstieg einer sozial reaktionären populistischen Rechten, die oft mit religiösem Fundamentalismus verbündet ist, die Hetze gegen Transsexuelle in vielen Gesellschaften verstärkt.

Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde Transgenderismus/Transsexualität nicht als Ausdruck der eigenen Geschlechts- bzw. Gender-Identität, sondern als pathologische medizinische und psychologische Abweichung begriffen. Die Tatsache, dass in einigen Kulturen oder historischen Perioden, wenn auch in kulturell begrenzten Kontexten, Transpersonen gesellschaftlich akzeptiert waren, ändert nichts an der Tatsache, dass systematische Diskriminierung heute in allen Ländern existiert. In einer Gesellschaft, in der alle Formen der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentitäten, die von der Heterosexualität abweichen, systematisch unterdrückt werden, ist es unvermeidlich, dass Menschen, die von dieser Norm abweichen, als „abnormal“ erscheinen. In Wirklichkeit ist die Kategorisierung von Transgenderismus als Krankheit selbst eine Form von Diskriminierung, Stigmatisierung und Transphobie.

Die bürgerlichen Gesetzesreformen der letzten Jahrzehnte haben in einigen Ländern zu einer Verbesserung der Situation von Transpersonen geführt und mehr Menschen ermutigt, sich zu äußern, Geschlechtsumwandlungen und Anerkennung ihrer Identität anzustreben bzw. durchzuführen. Dennoch ist die systematische Diskriminierung erhalten geblieben und ihre Wurzeln können im Kapitalismus nicht beseitigt werden. Es muss auch angemerkt werden, dass in Ländern wie dem Iran das „Problem“ der Homosexualität oder besser gesagt ein Problem, welches durch religiöse Gesetze verursacht wird, die die Todesstrafe dafür vorsehen, durch die Anerkennung von Transgenderismus und die Vorschrift chirurgischer und anderer Verfahren zur „Wiederherstellung“ des „wahren“ Geschlechts eines Homosexuellen in perverser Weise „gemildert“ wurde. SozialistInnen verurteilen diese unmenschliche Politik. Sie enthüllt lediglich, dass die Befreiung von Frauen, Transpersonen und Homosexuellen untrennbar miteinander verbunden ist.

Wurzeln der Unterdrückung

Die Unterdrückung von Transpersonen beruht ebenso auf der sexuellen und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Gesellschaft wie auf der Existenz der bürgerlichen Familie und der ihr inhärenten Frauenunterdrückung. Während der Entstehung und Entwicklung der Klassengesellschaft entstand eine Arbeitsteilung, die sich auf die Kindererziehung, die Hausarbeit (Kochen, Putzen) und die Sicherstellung der patrilinearen Eigentumsübertragung bezog. Damit einher ging der Ausschluss der Frauen vom politischen Leben.

Auch wenn sich die Formen dieser Unterdrückung bei Ablösung einer sozialen Formation durch eine andere ständig verändern, zieht sich die Frauenunterdrückung im Gegensatz zu anderen Formen sozialer Unterdrückung, wie z. B. der nationalen, durch alle Klassengesellschaften. Die jeweilige Familienstruktur bildet auch einen Reproduktionsmechanismus und Transmissionsriemen für die vorherrschenden Geschlechterrollen, Stereotypen, sozialen Normen und Zwänge.

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Diese werden durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen, Rechtsauffassungen und Werte weiter gestärkt. Neben der Familie werden sie über religiöse Institutionen, Medien und Bildungseinrichtungen vermittelt und durchdringen auch die vorherrschenden Konzepte der Medizin, Biologie und Sozialwissenschaften.

Die Trennung und das Entgegenstellen der Produktions- und Reproduktionssphären ist typisch für den Kapitalismus. Sie manifestiert und reproduziert sich in der Institution der bürgerlichen Familie – trotz all ihrer unterschiedlichen Formen und trotz der Tendenzen des Kapitalismus, sie zu untergraben. Ein wesentlicher Faktor für die ideologische Verklärung und Rechtfertigung der Familie ist, dass sie als eine natürliche, über der Geschichte stehende Institution erscheint, als Ausdruck der „menschlichen Natur“. Obwohl Geschlechterrollen, sexuelle Praktiken und Geschlechtsidentitäten gesellschaftlich determiniert sind und sich im Laufe der historischen Entwicklung ständig verändern, erscheinen die herrschenden Normen immer als „natürlich“, während andere als „unnatürlich“, pathologisch oder sogar destruktiv geächtet werden.

Die Tatsache, dass die Unterdrückung von Transpersonen zu einem politischen Thema geworden ist, ist selbst das Ergebnis sozialer Kämpfe, insbesondere der Frauenbewegung, des Kampfes für die Befreiung von Schwulen und Lesben und für sexuelle Befreiung. All diese Kämpfe stellten traditionelle, scheinbar natürliche Geschlechterrollen und heteronormative Sexualität in Frage. Auf der anderen Seite haben diese Bewegungen aber auch Ideologien hervorgebracht, die ihrerseits falsche, weil einseitige Darstellungen des Verhältnisses zwischen biologischem Geschlecht, gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen und dem Bewusstsein der Geschlechtsidentität enthalten, die heute die Ideologien der feministischen Bewegung und der radikalen TransaktivistInnen prägen. Wie alle einseitigen, idealistischen und/oder mechanischen Sichtweisen führen auch diese zu falschen politischen Schlussfolgerungen einschließlich falscher Taktiken oder Forderungen, die für den Befreiungskampf kontraproduktiv sind.

Grob und einfach ausgedrückt gibt es zwei „Pole“ in der Diskussion. Der eine, zu dem wichtige Teile und IdeologInnen der feministischen Bewegung gehören, betrachtet Geschlecht als etwas biologisch Gegebenes und Gender als unterdrückende, gesellschaftlich aufgezwungene Geschlechterrollen oder Stereotypen und damit als nicht „real“. Daher erscheint die Existenz von Transpersonen radikalen FeministInnen als eine Stärkung und sogar eine Art Verherrlichung repressiver Geschlechterrollen. Ein Gegensatz zwischen dem biologischen Geschlecht und der Geschlechtsidentität, d. h. dem Bewusstsein, dass die eigene Geschlechtsidentität im Widerspruch zum biologischen Geschlecht steht, kann dann nur als „Abweichung“, „Perversion“ oder „Krankheit“ oder als männlicher Angriff auf die hart erkämpften Rechte der Frau erscheinen. Es gibt jedoch auch einen Trend im radikalen Feminismus, der Geschlechterrollen als biologisch begründet betrachtet und Weiblichkeit für die mit ihr verbundenen positiven Eigenschaften wie Friedfertigkeit und Kooperation preist, denen männliche Eigenschaften wie Aggressivität und Konkurrenzdenken gegenübergestellt werden.

Die vorherrschenden Strömungen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauenbewegung verkörpern eine Tendenz zur klassischen Identitätspolitik und zur rigiden Herleitung von Geschlechterstereotypen aus biologischen Merkmalen. Ein repressives Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das sich durch alle Gesellschaften gleichermaßen (nicht zwischen den Klassen) zieht, erscheint ihnen als das wesentliche Merkmal und Verhältnis aller bisherigen Geschichte (manchmal eklektisch mit Antikapitalismus oder Antirassismus verbunden, z. B. in der Triple Oppression Theory). Die Ideologisierung bestimmter Merkmale von Frauen hat immer die Tendenz, diese als überhistorische, natürliche Merkmale darzustellen (eine Tendenz, die sogar AutorInnen in der kommunistischen Bewegung wie Alexandra Kollontai beeinflusst hat).

Die Queer Theory, auf die sich viele radikale Trans-AktivistInnen und neuere feministische Strömungen stützen, hat zu Recht (z. B. Judith Butler in „Das Unbehagen der Geschlechter“) auf die Schwächen der Identitätspolitik hingewiesen und insbesondere darauf aufmerksam gemacht, dass das Verständnis von „Frau“ oft genug auf der Realität weißer, akademisch gebildeter Frauen der Mittelschicht basiert. Daher rührt die Unterstützung für die Queer Theory in wesentlichen Teilen der antirassistischen und schwarzen Frauenbewegung. Aber die Queer Theory und viele der Trans-AktivistInnen, die ihren Aktivismus darauf gründen, stellen der traditionellen feministischen Bewegung eine nicht minder einseitige Theorie entgegen.

Die Queer Theory erklärt das biologische Geschlecht als solches zu einer Konstruktion. Für Butler zum Beispiel ist es das Kant’sche „Ding an sich“, das wir letztlich nicht erkennen können. Sexismus und Heteronormativität erscheinen nicht als ideologischer Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Unterdrückung, die auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beruht, sondern sie werden zur Ursache der Unterdrückung erklärt. Die „heteronormative Matrix“, das „binäre“ Bild der Geschlechter, produziert tatsächlich „die Geschlechter“, so wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ergebnis des Geschlechterdiskurses erscheint und nicht umgekehrt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird somit nicht mehr als Ursache und Reproduktionsmechanismus der Frauenunterdrückung angesehen.

Gleichzeitig und auch in Bezug auf die damit verbundene Praxis macht diese idealistische Sichtweise auch die Wurzel der Frauenunterdrückung (geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) zu einer zweitrangigen Frage. Der eigentliche Kampf darf sich nicht gegen die materiellen Wurzeln der Frauenunterdrückung richten, sondern gegen den herrschenden Diskurs über biologisches und soziales Geschlecht. Der spezifische Aspekt der Frauenunterdrückung und letztlich auch der Unterdrückung von Lesben und Schwulen verschwindet in der Queer Theory. Verschiedene Formen der Unterdrückung, auch wenn sie alle an die Institution Familie gebunden sind, verschwinden in einem scheinbar allumfassenden „Geschlechterverhältnis“. Frauenunterdrückung, die Unterdrückung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Intersexuellen und Transpersonen werden zusammengeworfen und unter diesem Begriff ideologisiert. Dies ist ein unfreiwilliger Schlag nicht nur gegen den Feminismus, sondern auch gegen die Frauenbewegung und letztlich gegen die konkreten Forderungen der Transpersonen selbst.

Biologisches Geschlecht, Identität, Geschlechterrollen

Bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir uns eingehend mit der Beziehung zwischen biologischem Geschlecht, Identität und sozialen Geschlechterrollen befassen.

Als MaterialistInnen erkennen wir die biologische bipolare Sexualität als eine Tatsache an. Nur diejenigen, die die Fortpflanzung der Menschheit zu einer für sie unbedeutenden Frage erklären, können davon abstrahieren oder sie ignorieren.

Die bipolare Sexualität ist älter als die Menschheit selbst und allen Säugetieren und vielen anderen Tier- und Pflanzenklassen eigen. Sie stellt in der menschlichen Spezies eine historisch relativ konstante Größe dar, hat aber im Laufe ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung eine erstaunliche Variabilität in ihrem Ausdruck erfahren. Dies zeigt ein komplexes Zusammenspiel zwischen einer biologisch begründeten physikalischen Basis, einer ontogenetisch bedingten psychischen Strukturierung und einer sozialen Rollenerwartung, also den historisch spezifischen, vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die geschlechtliche und sexuelle Identität eines Menschen ist also das Ergebnis eines Komplexes von biologischen Funktionen, sexuellen Neigungen, sozialen Anforderungen und Erwartungen sowie des eigenen Unter- und Unbewussten. Dies impliziert also, dass biologisches Geschlecht und geschlechtliche Identität einander widersprechen können, wie dies bei Transpersonen der Fall ist.

Sogar zwischen den „Polen“ Mann und Frau als Ausdruck des männlichen/weiblichen biologischen Binärsystems gibt es eine Reihe von Zwischen-, Kombinations-, Übergangsstadien oder Merkmalen, deren Definition weder biologisch noch medizinisch eindeutig ist. Sie stellen kein einheitliches drittes Geschlecht dar, sondern vielmehr eine Reihe von Übergangsstufen. Auch pränatal erfolgt die Definition einer männlichen oder weiblichen Konstitution nicht auf einfache und allgemein klare Weise, sondern ist eine mehr oder weniger gelungene Annäherung an die eine oder andere Entwicklungsmöglichkeit. Bleibt diese Annäherung unentschieden, wird die Identität als intersexuell bezeichnet.

Ob die Identität von Transpersonen biologisch verwurzelt ist oder nicht bzw. in welchem Ausmaß, ist nicht entscheidend für ein Programm gegen ihre Unterdrückung. Da menschliche Sexualität (bzw. ihre Verwirklichung) immer mit herrschenden Geschlechternormen und -kategorisierungen, rechtlichen, sozialen und psychologischen Phänomenen verbunden ist, ist ihre Entstehung auch immer historisch und sozial bedingt. Das biologische Geschlecht existiert immer im Verhältnis zu den Geschlechterrollen oder -normen, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Formation dominieren, sowie zu den vorherrschenden Geschlechtsidentitäten. Menschen können eine dem biologischen Geschlecht entgegengesetzte (davon abweichende) Geschlechtsidentität haben, da sie selbst soziale Wesen sind, deren sexuelle Identität und Sexualität notwendigerweise immer sozial kommuniziert wird und die sich in einem Bewusstsein von der eigenen Sexualität – einer sexuellen Identität – ausdrücken muss.

Als die Menschheit ein historisches Entwicklungsstadium erreichte, in dem die Produktionsmittel und angehäuften Ressourcen nicht mehr in gleichem Maße an die nächste Generation als Kollektiv weitergegeben wurden, war es notwendig, das Sexualleben in einer dieser Ungleichheit angemessenen Form einzuschränken (z. B. erzwungene Monogamie für die Frau). Dieses patriarchale System, das verschiedene Produktionsweisen durchlaufen hat, macht es erforderlich, dass auf die daraus resultierenden soziokulturellen Aspekte von Sexualität als Geschlechterrollen oder Stereotypen Bezug genommen wird. Transsexualität (wie Homosexualität) gehen über diese vorherrschenden Geschlechterrollen hinaus, insbesondere über ihren „natürlichen“ Status, was auch bedeutet, dass Transpersonen in der Regel gezwungen sind, sich ihrem „wahren“ Geschlecht entsprechend zu verhalten und zu fühlen.

Alles in allem bedeutet dies, dass in der Klassengesellschaft im Allgemeinen und im Kapitalismus im Besonderen das biologische Geschlecht, die Sexualität und die Geschlechterrollen das Produkt dieser Festlegungen mit einer Vielzahl von Entwicklungsvarianten und Ausdrucksmöglichkeiten sind. Das lässt sich weder auf die Biologie reduzieren noch als einfach psychologisch strukturiert noch als einfacher Ausdruck eines sozialen Konstrukts noch lediglich auf der Grundlage einer Präferenz für eine bestimmte PartnerInnenschaft begreifen.

Entscheidend ist, dass die Fragen des biologischen Geschlechts, der Geschlechterrollen und der Geschlechtsidentität solche von Verhältnissen sind. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Unterdrückung nicht nur von Frauen, sondern auch von Lesben und Schwulen sowie von Transpersonen aufgrund einer repressiven Familienstruktur und reaktionären Geschlechterrollen notwendig.

Programm

Unser Programm gegen die Unterdrückung von Transpersonen umfasst eine Reihe demokratischer und sozialer Forderungen. Viele davon ähneln dem Kampf gegen andere Formen der geschlechtsspezifischen oder sexuellen Unterdrückung.

Transpersonen erleben verschiedene Grade emotionaler Unterdrückung innerhalb der Familie sowie soziale Ausgrenzung und Mobbing in der Schule, wenn sie Geschlechter- und Geschlechternormen durchbrechen: Sie sind oft auch medizinischen Versuchen ausgesetzt, um „geheilt“ zu werden. Eine hohe Zahl von Transpersonen im Jugendalter reagiert darauf mit Ausreißen, Drogenkonsum oder ist selbstmordgefährdet.

SozialistInnen erkennen an, dass in der kapitalistischen Gesellschaft (und in der Tat auch in der postkapitalistischen Gesellschaft, bis Klassen und Frauenunterdrückung deutlich absterben) die Unterdrückung einer Transsexualität und von Geschlechteridentitäten weiter andauern wird ebenso wie die Notwendigkeit, diese zu bekämpfen. Wir verteidigen das Recht erwachsener (postpubertärer) Individuen, eine Therapie oder Operation zur „Neuzuweisung“ zu beantragen. Ebenso verteidigen wir das Recht von Kindern, die ihre Geschlechteridentität in Frage stellen, auf Beratung und Schutz vor Mobbing oder jeglicher Form von Diskriminierung.

Wenn progressive Schulen versuchen, positiv auf TransschülerInnen zu reagieren, werden sie oft von Kirchen, ängstlichen Eltern, konservativen PolitikerInnen und radikalen FeministInnen beschuldigt, Transgenderismus zu „lehren“ oder zu „fördern“, indem sie Kinder ermutigen, ihr Geschlecht zu wechseln, sich einer Hormontherapie oder einer chirurgischen „Neuzuweisung“ zu unterziehen usw. Wir befürworten eine wissenschaftlich fundierte Sexualerziehung, die biologische und soziale Einflussfaktoren erklärt und lediglich Verständnis, Widerstand gegen Unterdrückung und die Freiheit junger Menschen, sich sexuell nach ihren Wünschen zu entwickeln, „befürwortet“ (natürlich unter der eindeutigen Bedingung, dass dies niemand anderem schadet, wie es z. B. bei „Kindesmissbrauch“, Pädophilie und anderen genuinen sexuellen Perversionen der Fall wäre).

Deshalb fordern wir

  • Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen Transpersonen und Homosexuelle, Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben
  • Das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft (auf Rechtsdokumenten, bei Zugang zu Gesundheitsversorgung und Versicherungsleistungen usw.)
  • Wir treten für das Recht von Transpersonen auf Selbstbestimmung über ihre Körper ein einschließlich des Rechts auf Maßnahmen zur „Geschlechtsumwandlung“ und auf kostenlose medizinische Beratung. Dies soll durch das öffentliche Gesundheitswesen oder durch gesetzliche Krankenkassen finanziert werden. Die Beratung soll von ÄrztInnen, PsychologInnen und BeraterInnen durchgeführt werden, die das Vertrauen der Transperson selbst und der Unterdrückten genießen. Wir lehnen Geschlechtsumwandlungen ab, die gegen den Willen der Betroffenen vorgenommen werden.
  • Recht auf Adoption von Kindern, Anerkennung als Eltern oder PartnerInnen
  • Recht auf Nutzung der sanitären Einrichtungen, die dem angegebenen Geschlecht der Transperson entsprechen. Sichere Räume für Frauen sollten das Recht haben, missbrauchende oder bedrohliche Frauen individuell auszuschließen. Außerdem müssen diese Räume unter Kontrolle der Frauen stehen, die sie benutzen und leiten, einschließlich Transfrauen.
  • Rechtlicher Schutz von Transpersonen, die sich in Dokumenten als „unbestimmt“ oder drittes Geschlecht bezeichnen wollen. Transpersonen sollten als legitime Formen der Geschlechtsidentität anerkannt und nicht als Kranke stigmatisiert werden.

In der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten setzen wir uns für eine öffentliche Kampagne gegen Transphobie (wie auch gegen Homophobie) ein. Transpersonen sollten ein Caucus-Recht (getrennte Treffen) in der ArbeiterInnenbewegung, den Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien haben. Ob dies gemeinsam mit anderen, z. B. Schwulen und Lesben oder auch mit Frauen, durchgeführt wird, sollte gemeinsam und mit dem Einverständnis von Frauen, Lesben und Schwulen etc. entschieden werden.

Wir erkennen an, dass unter denjenigen, die gegen Transinklusion in Frauenräumen argumentieren, transexklusionäre und offen transphobe Individuen und Organisationen dominieren. Als SozialistInnen sollten wir uns jedoch bemühen, zwischen den radikal transphoben Elementen in dieser Debatte und denjenigen zu unterscheiden, denen es an Verständnis mangelt oder die ohne böse Absicht Bedenken äußern. Unser Ziel sollte nicht sein, alle der letzteren Gruppe als Transphobe zu brandmarken, sondern alternative Sichtweisen und Aufklärung anzubieten, um sie für uns zu gewinnen.

Im Falle von Quoten für den öffentlichen Dienst oder für Frauen in politischen Parteien und Gewerkschaften treten wir dafür ein, dass Transfrauen als Frauen betrachtet werden. In jedem konkreten Konfliktfall sollten die Gewerkschafts- und ArbeiterInnenkomitees, die hauptsächlich aus Frauen und Transpersonen zusammengesetzt sein sollen, entscheiden.

Wir lehnen die Vorstellungen einiger FeministInnen ab, dass alle Transfrauen „in Wirklichkeit“ Männer sind. Dadurch wird eine Frage der sozialen Unterdrückung letztlich zu einer scheinbar rein biologischen (die selbst nicht so klar ist). Vor allem aber wird dabei die Tatsache ignoriert, dass Transfrauen, auch wenn sie oft als Männer sozialisiert wurden, heute als Frauen leben, einschließlich der Erfahrung mit deren Unterdrückung.

Wir erkennen an, dass die Rechte oder Forderungen von sozial unterdrückten Menschen aufeinanderprallen können. Dieser Konflikt kann nicht durch das Verbot unterschiedlicher Ansichten „reguliert“ werden, was ihn nur noch verschärfen könnte. Wir lehnen jede physische Bedrohung ab und erkennen daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen solche Bedrohungen an. Unser Interesse besteht vielmehr darin, den Konflikt in einer vernünftigen Auseinandersetzung zu lösen, d. h. unter voller Achtung der jeweiligen Befreiungsinteressen und Unterdrückungserfahrungen.

Leider sind Konflikte zwischen den sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen wechselseitiger Forderungen und Ansprüche in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie treten immer wieder auf. Die ArbeiterInnenklasse hat ein fundamentales Interesse daran, diese so demokratisch und transparent wie möglich zu regeln und die legitimen Anliegen aller Seiten so weit wie möglich zu berücksichtigen. Eine solche Regelung sollte prinzipiell nicht dem bürgerlichen Staat überlassen werden. Deshalb plädieren wir für die Einrichtung der oben genannten Komitees im Falle von Quotenkonflikten usw. Auch in der ArbeiterInnenbewegung lehnen wir jedes Recht des bürgerlichen Staates, in Wahlen, Statuten, Finanzen usw. unserer Klassenorganisationen einzugreifen, kategorisch ab.

Selbst die besten „Konfliktlösungsmechanismen“ werden die negativen Auswirkungen möglicher Konflikte nur begrenzen, sie können den Ausbruch von Konflikten nicht verhindern. In der bürgerlichen Gesellschaft werden Menschen als KonkurrentInnen gegeneinander ausgespielt. Dies birgt immer die Gefahr, dass sich z. B. bei der Konkurrenz um Arbeitsplätze auch verschiedene unterdrückte Gruppen als KonkurrentInnen gegenüberstehen. Die Lösung kann hier nicht nur in einem demokratischen Konfliktlösungsprozess liegen, sondern muss auch den Kampf für soziale Forderungen beinhalten, z. B. für ein Programm sozial nützlicher Arbeiten und für eine Arbeitszeitverkürzung. Konkurrenz kann nur durch einen sozialen und politischen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden, durch die Schaffung einer ArbeiterInnenbewegung, die alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung bekämpft.

Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen. Nur in einer solchen Gesellschaft werden sich die menschliche Sexualität und Geschlechtsidentität (wie die menschliche Individualität in all ihren Facetten) frei entfalten.




Anmerkungen zur Vergabe eines Literaturnobelpreises

Martin Suchanek/Markus Lehner, Infomail 1073, 23. Oktober 2019

Teil 1: Preis, Moral und Politik

Die diesjährige Verleihung des
Literaturnobelpreises an Peter Handke hat sich längst zum „Fall Handke“
entwickelt. Die Diskussion geht nicht über das Für und Wider der kunst- und
kulturkritischen Öffentlichkeit hinaus, sondern wird mittlerweile vor allem als
moralischer Disput ausgetragen.

Eigentlich wollten wir uns nicht weiter mit
Handke und erst recht nicht dem Nobelpreis beschäftigen. Angesichts der aktuellen
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen kommt der
Preisverleihung durch die ohnehin fragwürdige Institution, so wie der ganzen
„Auszeichnungskultur“, an sich keine besondere Bedeutung zu.

Halten wir uns jedoch den Fokus der Diskussion vor Augen, erhebt sich die Frage, warum die Verleihung eines Literaturnobelpreises zu einer moralischen Frage wurde? Warum es weit mehr um die Person als das literarische Werk geht?

Moralische Frage?

Ein Grund dafür findet sich, wenn wir den
Literaturnobelpreis mit anderen Sparten der Preisverleihung vergleichen.

Die PreisträgerInnen für Chemie, Physik wie auch
für Medizin/Physiologie können darauf verweisen, das  menschliche Wissen und/oder dessen praktische Anwendung
weitergebracht zu haben, mag auch die jeweilige Entscheidung umstritten sein.
Unter den auf diesen Gebieten Ausgezeichneten finden sich zweifellos
unbestrittene Größen ihres Faches, die Einsteins, Heisenbergs, Curies, …,
zumeist aber Menschen, die über ihr Wissensgebiet hinaus nur wenigen bekannt
sind. Daher und weil moralische Kriterien für die Auswahl dieser
PreisträgerInnen offenkundig nichts taugen, eignen sie sich nicht wirklich für
moralische Dispute.

Auch auf dem Gebiet der Ökonomie stoßen wir
rasch auf wenngleich anders gelagerte Probleme, ironischerweise, weil die
Ausgezeichneten einigermaßen den Stand der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft
wiedergeben. Der Nobelpreis gilt gewissermaßen als Jahresranking, bei dem sich
je nach politischer Konjunktur VertreterInnen der vorherrschenden neo-liberalen
Doktrin mit ihren keynesianischen Counterparts und ErfinderInnen „alternativer“
Wundermittel wie Tobin-Steuer und Mikrokredit abwechseln. Die Humanwissenschaft
Ökonomie taugt wenig zur moralischen Geste, weil sie zu eng verstrickt ist mit
dem Ideologisieren der Profitmacherei oder den Behelfskonstruktionen am
Krankenbett des Kapitalismus.

Für die „höhere Moral“ und „Menschlichkeit“
scheint eigentlich der „Friedensnobelpreis“ auserkoren zu sein. Doch gerade auf
diesen Gebieten erweisen sich dessen TrägerInnen regelmäßig als zweifelhafte
„Autoritäten“. Unter ihnen tummeln sich die fragwürdigsten Figuren, darunter
ehemalige Staatspräsidenten wie Obama, Sadat oder Peres, die mehr zum Krieg als
zum Frieden beitrugen. Arafat oder Gorbatschow erhielten die „Auszeichnung“
umgekehrt als Trostpreis für Niederlagen, Rückzug oder Kapitulation. Umgeben
werden die PolitikerInnen von einer Reihe von „Friedensinstitutionen“ und
Initiativen, vom Roten Kreuz bis zu Mutter Theresa, also dem humanitären
Aufputz der imperialistischen Ordnung.

Dass sich gerade in der Sparte „Frieden“ so
viele KriegsherrInnen finden, gewissermaßen siegreiche HerstellerInnen des
Friedens, wird gern dem Nobelpreiskomitee angelastet. Diese Kritik verbleibt
freilich an der Oberfläche. Mit dem Frieden verhält es sich wie mit allen
Zielen, Werten oder moralischen Grundsätzen einer Klassengesellschaft so
einfach eben nicht. Jede Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der Mehrheit
durch eine Minderheit beruht, entwickelt notwendigerweise Institutionen zur
Sicherung dieser Herrschaft – nach innen wie nach außen. Der Krieg ist in der
Tat nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, kein außerhalb der
Politik und des gesellschaftlichen Lebens stehendes „undemokratisches“ Anderes
– ganz so wie die bürgerliche Demokratie wesentlich eine Herrschaftsform des
Kapitals und kein Instrument zur Menschheitsbeglückung ist oder sein könnte.

Das Nobelpreiskomitee versteht sich jedoch als
ideelle moralische Vertretung scheinbar über allen Klassen stehender Menschheitsideale,
die Fragen nach den gesellschaftlichen Interessen und Zwecken der jeweiligen
„Friedenspolitik“ notwendigerweise ausblenden muss oder allenfalls nur
oberflächlich anerkennen darf. Als Referenzpunkt dient dem Komitee dazu die
Sicherung des Friedens der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Deren
Legitimität wird einfach vorausgesetzt, drängt sich ohne viel Zutun einfach
auf. Ein Beispiel dafür, dass die herrschenden Ideen und damit auch moralischen
Vorstellungen eben jene der Herrschenden sind.

Der Klassencharakter des Nobelpreisgeschehens
macht sich jedoch, sehr zum Leidwesen der moralisch Interessierten, dennoch
geltend, aber nur an dessen Oberfläche in Form immer fragwürdigerer
PreisträgerInnen.

Im Kalten Krieg noch hatte der Preis eine recht
klare politische Funktion für die zur „Weltgemeinschaft“ verklärten
imperialistischen Demokratien. Er fungierte als, wenn auch untergeordnetes,
moralisierendes Kampfmittel.

Doch in der aktuellen politischen Lage vermag er
nicht mehr so einfach, den ideellen Gesamtnenner der herrschenden Klassen der
westlichen imperialistischen Demokratien zum Ausdruck zu bringen. Das liegt
natürlich nicht an der Institution Nobels, sondern an den verschärften
innerimperialistischen Widersprüchen wie den offen hervortretenden Gegensätzen
innerhalb der Bourgeoisien selbst. Umgekehrt entspringt gerade aus dieser
konflikthafteren, instabileren Lage der Bedarf nach scheinbar über allen
Klassen stehenden Institutionen, nach „Menschheitspreisen“, die eine scheinbar
über allen Widersprüchen stehende Moral und Werte verkörpern. Die
Auszeichnungen können daher nicht bloß den Werken gelten, auch die
PreisträgerInnen sollen eine höhere Moral möglichst personifizieren.

Und die Literatur?

Angesichts der Fragwürdigkeiten und Schwierigen
bei anderen Sparten, soll anscheinend der Literaturnobelpreis in die Bresche
springen. Bei der Diskussion um Peter Handke spielt die Frage nach der Qualität
des literarischen Werkes mittlerweile kaum noch eine Rolle.

Etliche, die sich in den letzten Tagen über den
„Skandal“ entrüsten, erklären sogar freimütig, von Handke bislang kaum eine, ja
gar keine Zeile gelesen zu haben. Mit der Unkenntnis des kritisierten Werks
geht das umso apodiktischere moralische Urteil einher. Ein Mensch wie Handke,
einer mit seinen Anschauungen verdiene den Preis nicht. Basta!

Maßgeblich dafür sind die unleugbaren
reaktionären und rückständigen Seiten des Menschen, seine politischen wie
menschlichen. Zurecht werden ihm herablassende und sexistische Äußerungen
gegenüber #MeToo vorgeworfen und die gewaltsamen Übergriffe gegen seine
ehemalige Lebensgefährtin Marie Colbin kritisiert, die Handke reuig eingesteht,
wenn auch in seiner verschrobenen Art.

Zum anderen und vor allem steht seine
Parteinahme für Serbien im Jugoslawienkrieg im Zentrum der Kritik, die er
sowohl in „Gerechtigkeit für Serbien“ als auch mit Besuchen bei den Kriegsverbrechern
Milošević und Karadžić zum Ausdruck
brachte.

Zweifellos vertrat Handke in all diesen Fragen
reaktionäre Positionen, wenn auch nicht immer jene, die ihm von manchen (nicht
lesen wollenden) KritikerInnen zugeschoben wurden.

Zweifellos äußerte sich Handke sexistisch
gegenüber #MeToo und dies wurde zu Recht kritisiert. Dass diese Äußerungen so
berechtigte Empörung verursachten, sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass
sich in seinem Werk selbst ein recht widersprüchliches Frauenbild (wie
Menschenbild) findet. So finden sich erfrischende, dekonstrukivistische
Infragestellungen von tradierten Geschlechterrollen neben fast schon
mythologisierenden Formulierungen.

Dies hängt damit zusammen, dass sich bei Handke,
selbst Idealist und nicht Materialist, immer wieder zwei Ausdrucksformen
finden, die schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Einerseits ein
scharfes, mitunter provokatives und sprachlich höchst lesenswertes enthüllendes
Darstellen der hinter der Fassade des bürgerlichen Lebens verborgenen
Widersprüche, Abgründe und Abscheulichkeiten. Zum anderen aber auch die Suche
nach einer imaginären, tief in der Persönlichkeit, wenn man so will in der
Seele, verborgenen „Wahrheit“ – einer falschen Wahrheit, die zwangsläufig zu
identitärer Setzung führen muss.

Die Spannung zwischen diesen Momenten sowie die
Schwächen und Grenzen dieser Methode offenbaren sich auch in der Schrift
„Gerechtigkeit für Serbien“, einer der weniger lesenswerten Arbeiten des
Autors.

Einerseits bildet die Kritik an der westlichen
Kriegsberichterstattung, der Dämonisierung „der SerbInnen“ und „Serbiens“ den
Ausgangspunkt seiner Betrachtungen und darin auch ein richtiges Moment seiner
Kritik. Anders als seine damaligen wie heutigen KritikerInnen nahm Handke das
Verbrecherische des NATO-Krieges gegen Serbien wahr wie auch die historische
Zäsur, die damit gerade in Deutschland einherging. Zum ersten Mal seit 1945
nahm die Bundesrepublik offen an einem Krieg teil. Das „Verteidigungsbündnis“
NATO führte erstmals erklärtermaßen einen „Out of area“-Krieg gegen ein
Drittland. Und schließlich wurden die „humanitäre“ Rechtfertigung für den
Angriff auf Serbien und die Bombardements von Belgrad auch zum Vorbild für die
Legitimation späterer Kriege im Namen von Menschenrechten und Frieden
(Afghanistan, …).

Andererseits kennt Handke bei „den SerbInnen“
keine Klassen, keine Interessen, nur allzu menschliche Menschen. Der serbische
Nationalismus kommt bei ihm allenfalls als mythologisierte Vorstellung eines
„Jugoslawien“ vor, das in den Kriegen und Bürgerkriegen zerstört wurde. Er
erscheint ihm nicht als reaktionäre, mörderische Ideologie und Politik, die für
den Tod zehntausender BosnierInnen verantwortlich ist, die Handke selbst
rassistisch und chauvinistisch verhöhnt und die bei ihm in der Regel nur als
„MuselmanInnen“ vorkommen. Der serbische Nationalismus erscheint eigentlich gar
nicht als solcher, sondern als Restbestand eines nationsübergreifenden
jugoslawischen Staatsverbandes, so dass er  nicht als ein Versucher des Zerfalls, sondern als dessen
Opfer erscheint. Solchermaßen stellt Handke die Dinge wirklich auf den Kopf. Die
treibenden Kräfte des Zerfalls Jugoslawiens werden ausgeblendet oder
mythologisiert.

Warum die Härte der Kritik?

Nun sind reaktionären Positionen von
Kunstschaffenden wie von großen LiteratInnen zu politischen oder
gesellschaftlichen Fragen nichts Ungewöhnliches. Handke hat sich zweifellos vor
den Karren des serbischen Nationalismus spannen lassen. Er äußerte sich
zweifellos sexistisch.

Damit nimmt er jedoch keine Sonderstellung ein.
Im Gegenteil. Knut Hamsun war bekanntlich ein Bewunderer des
Nationalsozialismus, Rudyard Kipling verklärte die „Zivilisierung der Wilden“
zu einer „ethischen Last“ – für die Weißen. (George) Bernard Shaw verteidigte
die Schauprozesse und Säuberungen Stalins, der einstige Linke Mario Vargas
Llosa wurde zum glühenden Verfechter des Neoliberalismus. Von den „Werten“, die
der Literat Winston Churchill verteidigt haben soll, wollen wir hier erst gar
nicht reden.

Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Auch
der Literaturnobelpreis erweist sich als fragwürdig, wenn es um die moralische
Eignung der Person geht. Das erkennen sogar Mitglieder des Nobelpreiskomitees
an, die bei ihrer Verteidigung der Entscheidung nicht nur einige falsche
Vorwürfe gegenüber Handke – so hat er weder die Massaker von Srebrenica
geleugnet noch zum Krieg aufgerufen – entkräften, sondern auch die moralische
Überfrachtung der Würdigung zurückweisen. Zu Recht bestehen sie darauf, dass
der Preis einem literarischen Gesamtwerk gilt. Darüber hinaus ist es praktisch unmöglich,
irgendwelche Kunstschaffende zu finden, die „unstrittige“, einfach nur
„moralisch“ richtige politische Positionen beziehen würden – es sei denn, man
unterstellt, dass die Verteidigung der westlichen bürgerlichen Demokratie keine
Parteinahme für das Herrschaftssystem und die Interessen einer bestimmten
Klasse wäre.

Die KritikerInnen konzentrieren sich daher aus
gutem Grund auf den Handke der „Gerechtigkeit für Serbien“. So wie der Literat
die Frage nach den materiellen Ursachen und politischen Zielen der
Kriegsparteien und die Gräuel an den BosnierInnen und AlbanerInnen ausspart,
verklären sie den NATO-Krieg gegen Jugoslawien zu einer humanitären Operation.
Die imperialistischen Ziele werden negiert, verleugnet, tabuisiert. Wer Zweifel
an der Gerechtigkeit des NATO-Krieges aufwirft, muss zum Schweigen gebracht
oder zumindest als politisch-moralische Unmöglichkeit entlarvt werden. Ein
Autor bringt das im SPIEGEL mit dankenswerter Deutlichkeit zum Ausdruck.

„Die eigentliche, die größere Frage
hinter der Debatte um Handke ist die nach dem Selbstverständnis der westlichen
Welt: Der NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 war ein historischer Moment. Hier
vollzog sich vollends die moralpolitische Wende des Westens, die bis heute die
deutsche Außenpolitik prägt. Diese Moralpolitik aber ist unter Druck geraten,
seit Trump, seit Syrien. Die Wortgefechte um Handke sind auch Rückzugsgefechte.

Indem der Schriftsteller um die
Jahrtausendwende diese Politik kritisiert hatte, sagte er indirekt auch: Ihr seid
gar nicht die Guten, für die ihr euch haltet. Die Reaktion vieler westlicher
Intellektueller und Medienleute, die er dabei direkt oder indirekt angegriffen
hatte, war entsprechend: Für sie war Handke der Bösewicht.“

(https://www.spiegel.de/plus/sasa-stanisic-gegen-peter-handke-ein-roman-der-live-entsteht-a-00000000-0002-0001-0000-000166490235)

Tragischerweise erleichtert es Handkes
einseitige, politisch naive und falsche Positionierung für den serbischen
Nationalismus, ihn zu entlarven und damit auch gleich seine Kritik an der NATO
zu diskreditieren. Dafür verdient der Autor auch kein Mitleid und erst recht
keine politische Nachsicht. Er leistet damit nämlich all jenen, die den
serbischen und kroatischen Nationalismus wie die imperialistische Intervention
bekämpft haben, all jenen, die das Selbstbestimmungsrecht Bosniens und des
Kosovo verteidigten, ohne deren nationalistische Führungen politisch zu
unterstützen, einen Bärendienst. Er erleichtert entgegen seinen eigenen
Absichten durch sein „Narrativ“, seine Story die Verbreitung der
imperialistischen Rechtfertigungsideologie bis zum heutigen Tag.

Wie das obige Zitat zeigt, wurde Handke nicht
zum „Fall Handke“ wegen seiner Fehler, sondern letztlich wegen seiner richtigen
Momente.

Die Balkankriege haben nicht nur
nationalistische Gegensätze verschärft und furchtbare Gemetzel gebracht,
zehntausende unschuldigen Menschen – darunter zum größten Teil BosnierInnen –
das Leben gekostet und Hundertausende – darunter auch Hundertausende SerbInnen
– aus ihren Heimatorten vertrieben. Sie haben die Länder des ehemaligen
Jugoslawiens auch zu halbkolonialen Einflusszonen der Europäischen Union und
insbesondere des deutschen Imperialismus gemacht, zu wirtschaftlichen und
politischen Klientelstaaten oder Regionen. Dort, im Westen, sitzen auch die
eigentlichen GewinnerInnen und ProfiteurInnen dieser Kriege.

Bis heute wurden und werden die Verbrechen an diesen
Ländern, die „Kollateralschäden“ demokratischer Bombardements vertuscht oder
verniedlicht. Sie wurden als „selbstlose“, geradezu moralisch aufgezwungene
Interventionen, ja als Lehren aus den Verbrechen des Nationalsozialismus
beschönigt. Für diese moralisierende imperialistische Politik gerät die Vergabe
des Nobelpreises an Handke in den Verdacht der „Relativierung“ der humanitären
Höhen des Westens. Jede Kritik an bundesrepublikanischer und internationaler
Intervention im Namen der Menschenrechte soll aber nicht nur wegen vergangener
imperialistischer Kriege diskreditiert werden, sondern vor allem, um zukünftige
zu rechtfertigen.

Gerade weil in Zukunft mehr, nicht minder
zweifelhafte und womöglich verlustreichere Waffengänge ins Haus stehen, soll
falscher Zweifel am „gerechten“ Bombardement erst gar nicht aufkommen. Bei der
Mythologisierung des NATO-Einsatzes geht es darum, der bürgerlichen Öffentlichkeit
die Mär vom gerechten und selbstlosen imperialistischen Krieg aufzutischen.

Aus diesem Grund müssen sich RevolutionärInnen,
trotz der zweifellos zu kritisierenden reaktionären Positionen Handkes, davor
hüten, in den Trommelwirbel der bürgerlichen Kritik einzustimmen, ja sie müssen
vor allem diesen in aller Schärfe zurückweisen.

Teil 2: Autor und Werk

Die Debatte um Handke konzentriert sich fast
ausschließlich um wirkliche oder vermeintliche Haltungen und Einstellungen der
Person, das Gesamtwerk wird zur Nebensache. Dabei gehört er, auch von den
meisten KritikerInnen unbestritten, zu den bedeutendsten VertreterInnen der
deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anders als bedeutende AutorInnen der
Nachkriegsliteratur war Handke kein politischer Schriftsteller im eigentlichen
Sinn. Seine großartigen Frühwerke waren von Sprachbeherrschung, innovativer
Form und einem guten Stück Provokation geprägt wie beispielsweise
„Publikumsbeschimpfung“ oder „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.

In Erzählungen und Romanen wie „Der kurze Brief
zum langen Abschied“, „Wunschloses Unglück“ oder „Die linkshändige Frau“
vermochte es Handke, große Themen kondensiert literarisch darzustellen.
Insbesondere das „Wunschlose Unglück“ warf ein bezeichnendes, kritisches Licht
auf den Mief und die Fortsetzung der Strukturen von Austrofaschismus und
Nationalsozialismus im Österreich nach 1945.

Zum bekannten Wenders-Film „Der Himmel über
Berlin“ verfasste er das Drehbuch. Schon in den 1980er und 1990er Jahren machte
sich bei Handke ein stärkerer Zug zur „Innerlichkeit“ deutlich – zweifellos
selbst ein Abbild einer Zeit des Rückzugs und der Suche nach der „eigentlichen
Wahrheit“ des Menschen im Persönlichen, Innerlichen.

Die Tendenz zum Esoterischen, zur
Selbstverliebtheit war bei Handke immer schon vorhanden. Früher als andere,
explizit weit politischere AutorInnen, die in der österreichischen
Nachkriegszeit groß geworden waren, schaffte es Handke zu offizieller
Anerkennung. In den 1980er und frühen 1990er Jahren hätten nur wenige gedacht,
dass die als „Kommunistin“ madig gemachte Elfriede Jelinek vor Handke den
Nobelpreis erhalten würde.

Wie alle großen künstlerischen Gesamtwerke
bildet auch jenes von Handke ein Opus, das seinen Schöpfer weit übertrifft.
Politisch erwies er sich mit seiner Parteinahme für den serbischen
Nationalismus bestenfalls als Idiot, menschlich offenbarte er seine Abgründe
als Frauenschläger und mit sexistischen Anmerkungen zu #MeToo.

Solche Abgründe stellen in der Welt der Kunst
(wie generell im öffentlichen Leben) keine Ausnahme dar. Nur, wer reaktionäre
Haltungen bloß als Ausdruck der „inneren Werte“ eines Einzelnen begreift,
verkennt, dass gerade politische Haltungen und Einstellungen immer schon ein
gesellschaftliches Produkt darstellen, das sich in Einzelnen – und natürlich
auch in Personen des öffentlichen Lebens manifestiert. Die Qualität eines
Werkes zeigt sich jedoch nicht einfach darin, ob der/die Schaffende über
besondere moralische oder menschliche Qualitäten verfügt oder ein besonders
richtiges und weitsichtiges politisches Urteilsvermögen, sondern ob darin
wirkliche Probleme der Gesellschaft, des menschlichen Lebens literarisch,
musisch oder bildnerisch zum Ausdruck gebracht werden. Dies setzt Können voraus
wie auch die Fähigkeit, ein Werk zu schaffen, das sich über die individuellen
Schwächen, Einstellungen, … des Schaffenden erhebt.

Natürlich wird dabei oft eine fortschrittliche
Weltanschauung des/der KünstlerIn von Vorteil sein, weil diese hilft, den Blick
auf die inneren Spannungsmomente des Gegenstandes eines Werks zu richten. Aber
in Literatur, Musik, Malerei … finden sich immer wieder auch weltanschaulich
rückständige KünstlerInnen, die es vermögen, dieser zum Trotz wirkliche
Widersprüche, Probleme, Entwicklungen, Gefühle, … zum Ausdruck zu bringen.
Immer wieder finden wir eine Kombination rückschrittlicher Elemente mit
fortschrittlichen Themen oder Formen vor. Anders gesagt, jedes Kunstwerk
enthält auch einen inneren Spannungsbogen, eine oft unbewusste Anwendung der
Dialektik auf dem Gebiet der Kunst. Gerade weil die Kunst eine eigene Sphäre
des Schaffens darstellt, begegnen wir immer wieder dem Gegensatz zwischen einem
inspirierenden oder fortschrittlichen Werk und gleichzeitigen Brüchen – bis hin
zu tiefsten Vorurteilen, reaktionären Einstellungen oder rückschrittlichem Verhalten.

Bei der Bewertung eines Lebenswerkes muss dieses
daher gesondert von der Person betrachtet werden, die es hervorbringt.
Ansonsten kann dieser durchaus übliche Gegensatz gar nicht verstanden oder in den
Blick genommen werden. Natürlich ändert das nichts daran, dass es eine
Verbindung von KünstlerIn und Werk gibt, so wie es eine Verbindung von
ArbeiterInnen und Produkt gibt. Aber das Werk, auch das Kunstwerk, ist als
Produkt notwendigerweise etwas vom/von der KünstlerIn Geschiedenes, hinter dem
die persönlichen Eigenschaften der hervorbringenden Person zurücktreten oder
gar irrelevant werden.

In der Spätphase der bürgerlichen Gesellschaft
erhält die Frage nach der „Persönlichkeit“ des/der KünstlerIn jedoch eine
gegenüber früheren Gesellschaftsformationen ungleich größere Bedeutung in der
öffentlichen Wahrnehmung. Die Entstehung der Massenkultur, einer Kultur- und
Kunstindustrie, eines riesigen Geschäftes und eines kommerziell-kapitalistischen
Betriebs – also eigentlich die reale Entindividualisierung – manifestiert sich
als ihr Gegenteil, als enge Verschmelzung von Kunst und KünstlerIn. Während
Kunstschaffende wie das Publikum mehr und mehr nur kleine Rädchen im großen
Kulturbetrieb darstellen, ihre Rollen unbedeutender und austauschbarer werden,
soll der Blick auf die Persönlichkeit, die Motive und Meinungen des/der
„Kulturschaffenden“, zumal der „Stars“ im Betrieb, Individualität, Nähe
vorgaukeln, wo eigentlich keine ist oder ihr nur allenfalls drittrangige
Bedeutung zukommt.

Das Werk erscheint vor diesem Hindergrund als
Entäußerung des „Inneren“ – auch oder paradoxerweise vor allem in der industriell
gefertigten Massenkultur, z. B. beim Schlager, Pop, Hip-Hop, … Je
gleicher und eintöniger, umso weniger voneinander unterscheidbar mehr und mehr
wird, umso „individueller“ wird es vermarktet, natürlich auch in großen Massen.
Das Besondere am Werk (nicht nur) Handkes, seine Qualität wird nicht in seiner
Literatur gesucht. Das „Besondere“ wird in der eigentlich eher trivialen Person
des/der KünstlerIn gesucht.

Diese Betrachtungsweise spiegelt eine für die
bürgerliche Gesellschaft typische Vorstellung vom Menschen wider. Er/sie wird
nicht als arbeitendes, etwas hervorbringenden Wesen begriffen, als
Arbeitende/r, deren Produkte und Tätigkeit, deren Sein daher immer schon
gesellschaftlich bestimmt sind. Vielmehr scheint „die Innerlichkeit“, die öde
Wüste des „Seelenlebens“ „den Menschen“ auszumachen. Dies verkennt, dass das
Innere, unsere Empfindungen, ja selbst unsere Individualität … ein
gesellschaftliches Produkt darstellen, das einer bestimmten Entwicklungsstufe
der gesellschaftlichen Arbeit und Arbeitsteilung entspricht.

Dass Kunstwerke wie z. B. Handkes
„Wunschloses Unglück“ die Gefühlswelt, die Spannung, Tristesse, Unzufriedenheit
einer ganzen Generation tief, treffend und bewegend ausdrücken können, setzt
natürlich eine/n AutorIn voraus, der/die über eine enorme Sprachbeherrschung
verfügt, also eine/n SprachkönnerIn. Ohne diese wäre Literatur nicht möglich.
Zugleich erfordert es auch die Fähigkeit, die inneren Spannungen, Widersprüche,
wie sie sich in der Lebenswelt eines jungen Menschen im Österreich der
Nachkriegszeit manifestieren, nicht nur zu kennen, sondern auch in der Form eines
Romans zu entfalten, also eine gewisse gesellschaftliche und politische
Sensibilität.

Es ist aber auch kein Zufall, dass das Buch
1972, also in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs, der Wirkungen der 1968er-Bewegung
einerseits wie auch als Resultat einer progressiven Entwicklung in der
österreichischen Literatur geschaffen wurde, die viele andere wichtige
AutorInnen hervorbrachte. Handke war Teil dieser beiden Bewegungen, was auch
viele der starken Seiten seiner Arbeiten beförderte.

Systemkritisches Frühwerk

Überhaupt hatten viele seiner frühen Werke
durchaus bedeutende systemkritische Inhalte. Exemplarisch sei auf „Die Chronik
der laufenden Ereignisse“ eingegangen, In diesem Fernsehfilm nimmt Handke im
Drehbuch die Funktion dieses Genres in der kapitalistischen Gesellschaft
auseinander (tatsächlich wurde das Projekt unter Handkes Regie 1970 im WDR
realisiert und 1971 ausgestrahlt). In dem Stück lässt der Autor Robert
McNamara, einen der obersten Vietnamkrieger (Verteidigungsminister und später Weltbankpräsident)
als Sprecher für die „Lohnunabhängigen“ mit Verständnis für die Einbindung der
„Lohnabhängigen“ auftreten.

Letztere müssten zur Anerkennung dessen gebracht
werden, „dass sie bloße Trinkgeldempfänger sind, und dass, indem sie ihr Leben
von Trinkgeldern fristen müssen, notwendig auch ihre Gefühle, Wünsche und
Gedanken Gefühle, Wünsche und Gedanken von Trinkgeldempfängern werden, mithin
alle ihre Erlebnisse und Erlebnismöglichkeiten von dieser Funktion bestimmt und
durch diese Funktion verkümmert sind, so dass sie schließlich nicht nur zu Erlebnissen,
sondern sogar zur bloßen Möglichkeit von Erlebnissen unfähig werden müssen“.
Eine Alternative zu dieser armseligen Welt würde nur im Traum oder der
Schizophrenie erscheinen, da sie, „wenn sie leben, wenn sie arbeiten, nicht bei
sich selber, sondern bei den Sachen sind“. Daher wäre es die Aufgabe der
MachthaberInnen, dass „Träume und Schizophrenie zu gesellschaftlichem
Bewusstsein“ würden, um unschädlich zu sein. Diese Funktion der „Beherrschung
der Träume“ fällt offenbar der medial vermittelten Massenkultur zu, die die
Schizophrenie der „nicht bei sich selbst Seienden“ durch „Traumfabrikation“ in
feste Bahnen lenkt. Insofern ist das Drehbuch voll von einzelnen typischen
Versatzstücken von Fernsehfilmen, die, aus dem Zusammenhang üblicher Plots
gerissen, darauf aufmerksam machen, wie stark diese Einzelbilder jeweils an
Traumsequenzen erinnern.

Diesem traumhaften Einrichten im falschen Leben
seien nun einige (und hier nimmt Handke offenbar Bezug auf die Bewegungen des
Jahres 1968 und gegen den Vietnamkrieg), die aufbegehren, oder wie Handke es
McNamara sagen lässt: „… es gibt auch welche, die wollen es nicht anders (i. e.
nehmen das Angebot Traumwelt statt repressiver Staatsgewalt nicht an)…;
ungeduldig gegenüber dem vernünftigen, logischen Ablauf von Gedanken,
ungeduldig gegenüber der praxisorientierten Logik der Geduldigen, unvernünftig
gegenüber der bisherigen Praxis der Logik der Geschichte, existieren sie … nur
in Gefühls- und Gedankensprüngen und müssen, sofern sie diese Gefühls- und
Gedankensprünge auch in der Gesellschaft … praktizieren, als sozial krank und
mithin verbrecherisch bezeichnet und bekämpft werden“ (alle Zitate aus der
Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe 1971, S. 48 f.).

Dagegen setzt er eine euphorische
Zusammenfassung des „Programms der Bewegung“: „Alles ist im Umbruch begriffen.
Kein Wort wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung gilt mehr als endgültig.
Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind
über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame
Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört
beginnt man sich allerorts zu fragen, wie man denn leben solle. (Absatz) Das
Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an
niemandem vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros,
in den Warenhäusern: kaum jemand kann sich der Überzeugungskraft der neuen
Ideen entziehen. Es muss etwas gesehen!“ (ebd., S. 9 f.).

In diesen beiden Polen des Fernsehstücks wird
die Spannkraft des Frühwerks von Handke deutlich, die auch später bei ihm noch
wirksam ist: die Überzeugung vom Leben in einer falschen, entfremdeten Welt, in
der alle Worte und (Fernseh-)Bilder falsch sind, gegenüber der Notwendigkeit,
alles, auch den sprachlichen Ausdruck, radikal in Zweifel zu ziehen und nach
einer Neuordnung, einem Ausbruch aus der alltäglichen Schizophrenie zu suchen.
Abgetrennt von einer wirklichen politischen Bewegung, immer mehr vereinzelt
wurde daraus bei Handke ein immer abgehobener werdender Sprachmystizismus bzw.
Rückzug in Kleinwelten (wie seine Naturbetrachtungen, die Elogen über das
Sammeln von Pilzen,….).

Letztlich war auch seine falsche Jugoslawienposition
ein hilfloser Rückfall in die Radikalität seiner Frühwerke: Während viele
andere seiner 1968er-Generation längst selbst zu besagten McNamaras geworden
waren und nunmehr auch selber bereit waren, „gerechte Kriege“ zu führen
(McFischer, McCohn-Bendit,…), blieb Handke beim fundamentalen Zweifel an den (Welt-)Mächtigen
unserer Tage, auch wenn sie im Namen der Menschenrechte auftreten. Seine
Stellungnahme war weniger eine reale Parteinahme für eine Seite als vielmehr
der schon immer von ihm betriebene Zweifel an den „produzierten Bildern“, an
den klaren Formeln von „Wahr und Unwahr“, der Kriminalisierung derer, die eine
Weltordnung nicht anerkennen. Die Wut, mit der der Elfenbeinturm-Dichter Handke
von vielerlei nunmehr angefeindet wird, ist zu einem guten Teil die Wut derer,
die früher wie er gedacht haben und nunmehr bei der „praxisorientierten Logik
der Geduldigen“ angekommen sind.

Irrungen

Dass sich Handke in
den politischen Wirren der Balkan-Kriege verirrte, trifft ihn natürlich auch
persönlich. Aber es greift viel zu kurz, seine Anpassung an den serbischen
Nationalismus bloß als individuellen Fehler oder gar als schlechtere
Charaktereigenschaft zu begreifen. Handke vollzog literarisch im Grunde nur den
Schritt, den viele (ehemalige) StalinistInnen oder andere „FreundInnen
Serbiens“ auf politischer Ebene machten. Wo der westliche Imperialismus ein Minus
machte, machten sie ein Plus – und schon wurden sie scheinbar zu
„Anti-ImperialistInnen“. Handkes Irrtum bestand darin, die richtige und
notwendige Opposition zum europäischen und US-amerikanischen Imperialismus mit
Beschönigung, Idealisierung des serbischen Nationalismus zu verknüpfen, ja zu
verwechseln. Zweifellos muss dieser politische Irrweg überwunden werden – aber
im Rahmen einer politischen Klärung und Diskussion, nicht durch stupide
Psychologisierung. Vor allem aber befinden sich die KritikerInnen Handkes in
der Balkan-Frage längst nicht auf der politisch-moralisch erhabenen Position.
Sie vertreten vielmehr jene der imperialistischen Siegermächte. Ihre
Handke-Kritik entbehrt jedes fortschrittlichen Gehalts. Sie trieft geradezu vor
Verlogenheit und Doppelmoral. Daher auch die Gehässigkeit und das Geifern der
pro-westlichen MoralistInnen.

Ob Handke seine Fehler in der Balkan-Frage eingestehen
oder gar korrigieren wird, mögen wir nicht zu sagen. Wir halten es für recht
unwahrscheinlich. Doch letztlich sind seine politischen Anschauungen auch
drittrangig, wenn es um die Beurteilung seines literarischen Werkes geht, das –
bei allen Schwächen und rückschrittlichen Positionen des Menschen Handke –
insgesamt einen fortschrittlichen Charakter trägt. Dass dieser im Frühwerk viel
deutlicher hervortritt, liegt nicht an seiner Person, sondern am
unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Klima, in dem er zu wirken
begann.

Auch darin zeigt sich, nebenbei bemerkt, dass die
Möglichkeit der Überwindung rückschrittlicher, falscher oder reaktionärer
Positionen, die in der Klassengesellschaft notwendigerweise hervorgebracht
werden, selbst an gesellschaftliche Bedingungen gebunden ist – in erster Linie
an die Stärke oder Schwäche, Aufstieg oder Rückzug des Widerstandes, des
Klassenkampfes gegen die bestehenden Verhältnisse.

Kunstschaffende fungieren hier – wie die
kleinbürgerliche Intelligenz insgesamt – als Spiegel der Zeit, als Seismograf
gesellschaftlicher Tendenzen und Stimmungen, nicht jedoch als deren eigentliche
Ursache. Und natürlich sind sie weder frei von den rückständigen
Bewusstseinsformen, die diese Gesellschaft hervorbringt, noch können sie
einfach individuell eher oder leichter über diese erhaben sein als andere
Menschen. Diese wäre so, als würden wir ernsthaft erwägen, dass die bürgerliche
Ideologie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft abgestreift oder das
Bedürfnis nach Religiosität in einer Gesellschaft beseitigt werden können, die
täglich den Bedarf nach Trost in einer trostlosen Welt hervorbringt.

Die moralisierende Betrachtung der Vergabe des
Literaturnobelpreises will ohnedies nicht die bürgerliche Ideologie bekämpfen.
Sie will vielmehr dem demokratischen Imperialismus Geltung verschaffen – auch,
aber sicher nicht nur auf dem Gebiet der Moral.

Uns MarxistInnen hingegen liegt es fern, die
Hauptverantwortung für reaktionäres Gedankengut, falsche Positionen, bürgerliche
Ideologie und Denken beim Einzelnen zu suchen. Eine auf Ausbeutung basierende
Gesellschaft bringt notwendigerweise Entfremdung, reaktionäres Denken und
Handeln hervor, auch bei „fortschrittlichen Menschen“ und bei Ausgebeuteten und
Unterdrückten.

Wir kritisieren und bekämpfen reaktionäre
Einstellungen (Sexismus, Nationalismus, Rassismus, …) gerade auch in unserer
Klasse, weil sie in jeder Form ein grundlegendes Hindernis für den Kampf
darstellen, weil sie letztlich der Aufrechterhaltung von Ausbeutung und
Unterdrückung dienen. Dazu dienen jedoch nicht minder die ideologischen
Rechtfertigungen der „westlichen“ bürgerlichen Demokratie.

Wer Sexismus und (nicht nur serbischen)
Nationalismus den Boden entziehen will, kann und darf nicht mit der Messlatte
einer scheinbar ewigen, bürgerlichen Klassenmoral messen. Es geht vielmehr
darum, jene Verhältnisse, die sie hervorbringen, umzuwerfen, revolutionär zu
stürzen.