DWE, der Umgang mit sexuellen Übergriffen und die bürgerliche Presse

Tomasz Jaroslaw, Infomail 1162, 13. September 2021

Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren – jedenfalls jener der Kampagne Deutsche Wohnen und Co.  enteignen (DWE). Kiezteams konzentrieren sich auf einen Häuserkampf, vor allem in den Außenbezirken, um die Menschen auch zur Abstimmung zu bringen und eine Mehrheit zu erringen.

Die Chancen am 26. September stehen trotz Millionen, die die Immobilienlobby in Gegenkampagnen steckt, nicht schlecht. Nach aktuellen Umfragen stehen 47 % der BerlinerInnen hinter der Forderung nach Enteignung, 43 % lehnen sie ab. Die jüngsten Erhebungen zeigen außerdem, dass mittlerweile auch eine Mehrheit der SPD-AnhängerInnen beim Volksentscheid mit Ja stimmen will.

Wie mit Vorwürfen sexueller Übergriffe umgehen?

Zugleich durchzog und durchzieht die Kampagne seit Ende Juni ein heftiger innerer Konflikt. Zu diesem Zeitpunkt wurde von einer Aktiven gegen einen Sprecher der Kampagne der Vorwurf der sexuellen Nötigung erhoben.

Dieser Vorwurf und der Umgang damit zogen weite Kreise, nicht nur in der Kampagne und deren Umfeld selbst, sondern erreichten auch die Medien. Neben dem Neuen Deutschland berichteten auch Tagesspiegel und Die Welt. Weitere werden wahrscheinlich folgen. Letzteren beiden – das wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre deutlich – geht es natürlich nicht um die Sache. Vielmehr versuchen sie, den Vorwurf und den Umgang damit zu nutzen, um die gesamte Kampagne und die Vergesellschaftung an sich politisch zu delegitimieren. Doch bevor wir darauf näher eingehen, kurz zum Hergang der Auseinandersetzung in DWE selbst.

Der mutmaßliche Übergriff soll am 21. Juni am Rande einer öffentlichen Kundgebung der Linkspartei auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stattgefunden haben, wo diese etwa 30.000 Unterschriften zum Volksbegehren an DWE übergeben hatte. Es gibt die Aussagen der beschuldigenden Person, was vorgefallen war. Der Beschuldigte dementiert diese Vorwürfe. Bis heute gibt es viele Gerüchte, die sicherlich keiner Aufklärung dienlich sind.

Richtigerweise nahm die Kampagne die Vorwürfe von Beginn an sehr ernst, der Umgang damit erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als schwierig.

Erstens hatte DWE selbst zu diesem Zeitpunkt kein gemeinsames, anerkanntes Verfahren, wie mit einem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs umzugehen ist. Das kann der Kampagne sicher nur bedingt vorgeworfen werden, zumal es ja auch keine allgemein anerkannte Sicht in der ArbeiterInnenbewegung oder der Linken gibt.

Zweitens und damit verbunden prallten von Beginn zwei miteinander unvereinbare Vorstellungen aufeinander.

Ein Teil der Kampagne, der sich letztlich durchsetzte, vertrat die Konzepte von „Definitionsmacht“ und „absoluter Parteilichkeit“. Diese besagen, dass nicht nur der Vorwurf ernst zu nehmen und der Betroffenen möglichst große Unterstützung zu geben sei, sondern auch, dass die Behauptung  der beschuldigenden Person selbst als Beweis für die Tat gilt. Dem Konzept der Definitionsmacht zufolge steht es nämlich nur der betroffenen Person zu, zu definieren, ob ein sexueller Übergriff oder eine Grenzüberschreitung vorlag. Alles andere gilt als Täterschutz. Letztlich ist dabei nur die subjektive Empfindung der beschuldigenden Person ausschlaggebend. Selbst die Frage danach, was „tatsächlich“ vorgefallen ist, gilt schon als Relativierung des Vorwurf und der Tat.

Diese Position wurde vor allem von Menschen aus postautonomen und kleinbürgerlich-akademischen Milieus vertreten. Insbesondere die stärkste politische Organisation in der Kampagne, die Interventionistische Linke (IL), die vor allem in diesen Milieus verankert ist und eine dominante Rolle im Ko-Kreis spielt, machte von Anfang an diese Ideologie zum Referenzpunkt des Umgangs innerhalb der Kampagne und versuchte, dieser zu Beginn einfach ihre Methode aufzuzwingen.

Probleme der Defintionsmacht

Das wurde richtigerweise kritisiert. Nachdem Transparenz und ein geregeltes demokratisch-legitimiertes Verfahren eingefordert worden waren, legte der Koordinierungskreis einen Verfahrensvorschlag zur Abstimmung vor, der weiterhin deutlich von Definitionsmacht und Parteilichkeit geprägt war.

Der Strömung um die IL trat eine durchaus heterogene Reihe von GenossInnen entgegen, die die Definitionsmacht zu Recht und grundsätzlich ablehnten, da diese Ideologie dem Beschuldigten kategorisch jedes Recht auf Verteidigung und Beibringen von Beweisen oder Indizien für seine Unschuld abspricht. Ein solcher Umgang in einer breiten Massenkampagne würde somit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts (v. a. das auf Verteidigung) zurückfallen.

GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht brachten wie auch andere KritikerInnen des Konzepts der Definitionsmacht Änderungsvorschläge zum Entwurf des Ko-Kreises ein, die in der Substanz alle von der Mehrheit um die IL abgelehnt wurden. Wir und andere KritikerInnen traten dafür ein, dass eine Untersuchungskommission gebildet werden solle, die, so weit dies möglich ist, den Vorwürfen auf den Grund geht und eine Empfehlung für das weitere Vorgehen der Kampagne ausarbeitet. Darüber hinaus war es Konsens, dass der Beschuldigte für die Zeit der Untersuchung nicht öffentlich für die Kampagne in Erscheinung treten sollte und sein Ämter ruhen würden.

Während am Beginn versucht wurde, das Konzept der Definitionsmacht einfach durchzusetzen, so müssen  wir – wenn auch in der Abstimmung unterlegen – festhalten, dass die Entscheidung nach mehreren Diskussionen demokratisch zustande kam.

Selbst wenn wir das Konzept der Definitionsmacht und seine identitätspolitischen Grundlagen grundsätzlich ablehnen, so müssen wir festhalten, dass sich auch die Gegenseite mit einigen Argumenten keinen Gefallen erwiesen, sondern durch Ton und Inhalt ihrer Argumente schwankende Personen eher verprellt hat. Als Argument gegen die Vorverurteilung wurde oft vorgebracht, dass der Beschuldigte ein verdienter Genosse und tragendes Mitglied der Kampagne sei und über Fähigkeiten und Kontakte verfüge, die wir weiterhin dringend bräuchten. Auch wenn alle positiven Beschreibungen zutreffen, kann das kein Freispruch sein und muss gerade angesichts einer Korrelation zwischen Machtposition und Missbrauchsmöglichkeit die Beschuldigung genau untersucht werden. In gewisser Weise haben damit leider die GegnerInnen der Definitionsmacht die Gegenposition bekräftigt. Auch Vorwürfe der Manipulation oder des Machtmissbrauchs gegen IL und Ko-Kreis wurden gegen Ende zu scharf und zu lange erhoben. Am Anfang haben Ko-Kreis bzw. IL in der Tat Entscheidungen getroffen, die nicht legitimiert waren, wie den Ausschluss des Beschuldigten und die Verlegung des DWE-Büros. Im weiteren Verfahren wurde sich aber um ein formal korrektes und demokratisches Vorgehen bemüht, auch wenn das Ergebnis am Ende inhaltlich falsch war.

Mit der Definitionsmacht und Parteilichkeit fällt DWE nicht nur hinter die Errungenschaften der Aufklärung und bürgerlichen Gesellschaft zurück, sondern bietet keine Perspektive für einen Umgang mit sexuellen Übergriffen für eine linke, proletarische Bewegung. Diese Ideologie bildet auch politisch keineswegs die Breite und Heterogenität ab, die DWE ausmachen und auch für den Erfolg verantwortlich sind. Durch die Entscheidung wurde diese Stärke aufs Spiel gesetzt.

Es ist grundsätzlich legitim von IL & Co., ihre programmatischen und ideologischen Vorstellungen in die Kampagne einzubringen und ihre Position dahingehend auszunutzen. Das heißt jedoch keineswegs, dass dies strategisch gesehen für sie selbst oder die Kampagne klug war. Viele AktivistInnen haben ihr Engagement sofort runtergefahren oder sind nicht mehr für DWE tätig. Damit gehen nicht nur personelle Ressourcen in Zeiten schwerer Wahlkämpfe und nach dem Volksbegehren verloren, sondern auch Netzwerke in Richtung MieterInneninitiativen, -verein und Gewerkschaften. Die VertreterIn der IG Metall Berlin hatte ein Statement vorgelesen, das eindeutig das Missfallen der IGM kundtat, wie DWE mit dem Vorfall umgegangen ist. Reiner Wild, Vorsitzender des MieterInnenvereins hat DWE ebenfalls dafür kritisiert. Alles wichtige BündnispartnerInnen! Wie die anderen Gewerkschaften und die SPD-Linke damit umgehen, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch kein Zufall, dass Organisationen und AktivistInnen, die strukturell oder politisch der ArbeiterInnenklasse nahestehen, dieses Ergebnis kritisiert haben. Fakt ist, dass man sie und alle BündnispartnerInnen für den Sieg an der Urne, aber auch für den tatsächlichen Kampf für die Vergesellschaftung danach braucht. Der Umgang mit dem Verfahren schwächte aber dieses gemeinsame Ringen, nicht nur weil es dem/r GegnerIn „Futter“ gibt, sondern die eigene Kampagne schwächt. Dieser politischen Verantwortung müssen sich die IL  und ihre UnterstützerInnen stellen. Zugleich müssen wir aber auch sagen: Ein Rückzug aus DWE, ein Fallenlassen der Kampagne ist der falsche Schritt. Er nützt letztlich nur jenen, die immer schon gegen die Enteignung der Immobilienhaie eintraten.

Bürgerliche Hetze

Die Artikel in Der Tagesspiegel und Die Welt belegen das. Sie haben den Konflikt und das Rechtsverständnis der Definitionsmacht aufgegriffen – nicht weil es ihnen um die Sache geht, sondern um die Kampagne selbst madig zu machen.

So wird eine anonyme Gewerkschafterin bemüht, die die „Interventionistische Linke“ als „wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe“ und deren Aktivisten und Aktivistinnen als „eitle Berufsquatscher“ denunziert. In Wirklichkeit soll mit solcher Rhetorik die gesamte Initiative diskreditier werden – frei nach dem Motto, nur Verrückte Linksradikale und „Sekten“ wollen Unternehmen enteignen. So weiß der Tagesspiegel auch von rechtschaffenen Leuten zu berichten, die es bereuen, an der Kampagne teilgenommen zu haben: „Zumindest in ver.di sagen einzelne nun, man hätte sich auf die in der Kampagne aktiven ‚Sekten’ nie einlassen sollen.“

Die Stimmungsmache verfolgt einen Zweck. „Noch ist es Zeit zur Umkehr!“, legen Tagesspiegel und Die Welt im Subtext nahe. Die MieterInnenvereine, die Gewerkschaften, DIE LINKE, die allesamt DWE unterstützen, sollen sich am besten laut und vor dem 26. September zurückziehen. Bisher hat ihnen noch niemand den Gefallen getan.

So erklärt die ver.di-Sekretärin Jana Seppelt gegenüber dem Neuen Deutschland vom 1. September richtigerweise, dass dem Vorwurf des sexuellen Übergriffs natürlich nachgegangen werden müsse. Vor allem aber stellt sie klar: „Gleichzeitig gibt es für mich keinen Anlass, die Ziele der Initiative nicht zu unterstützen. Wir haben dazu klare Beschlüsse in der Organisation: Die Mieten fressen die Löhne auf und die Kampagne hat überzeugende Konzepte.“

Das ist die richtige Antwort auf alle jene Bürgerlichen, die jetzt versuchen, politisches Kleingeld aus einem politischen Fehler der Kampagne zu schlagen und die Kampagne und ihre UnterstützerInnen zu spalten. Der gemeinsame Kampf gegen Mietwucher, für Enteignung und für niedrige Mieten kann und muss trotz ideologischer Differenzen weiter gemeinsam geführt werden. Daher: Gewerkschaften, MieterInnenvereine, Linkspartei, linke SPD-lerInnen – tretet weiter für ein Ja beim Volksentscheid ein! Es geht letztlich um eine klassenpolitische Konfrontation, nicht um durchaus schwere, aufzuarbeitende und zu korrigierende Fehler der Kampagne. Daher noch einmal: Unterstützung die Kampagne! JA zur Enteignung, stimmt JA beim Volksentscheid!




Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee River Collective, 1977)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter „Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken, feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden, geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich, dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ ArbeiterInnen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen. Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“ (oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität – Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren VertreterInnen von „Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory (TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer „radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen, dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte, dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von 1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der Intelligenz) dominiert wurden, in der ArbeiterInnenklasse weiße, ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die Reproduktion sozialer Unterdrückung in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch dominierten ArbeiterInnenbewegung und in nationalen Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen mancher ihrer SchöpferInnen) damit einher, dass die „gemeinsame Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als „Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“ oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen (oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der ArbeiterInnenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus dem KleinbürgerInnentum und den lohnabhängigen Mittelschichten hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die VertreterInnen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw. Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“ gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“ beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam, der die Doppelstandards ihre KritikerInnen verdeutlichte. Während sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“ würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass „identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem KleinbürgerInnentum und z. T. auch aus der ArbeiterInnenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in analoger Weise auch andere Unterdrückte als WählerInnen zu gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“ einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der „arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden AmerikanerInnen“ auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten, verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March, Feminismus für die 99 Prozent – eine Kritik, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik. Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte – auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen, Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher. Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll. Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“ einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch, natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“ Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“ sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum) selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante, als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches Verständnis des natürlichen Geschlechts und der Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit Trans-AktivistInnen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt, besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch „der“ FabrikarbeiterInnen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von TäterInnen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder TäterInnen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig. Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen, wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind, nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen, kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus. Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus. Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke VerteidigerInnen der Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch „Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“ Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung und GegnerInnen, um eine gemeinsame politische oder gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die ArbeiterInnenbewegung als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform (Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als „Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen (Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen, Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“ Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden, wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus, Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die ArbeiterInnenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker Identitätspolitik

Die VertreterInnen einer „linken“ Identitätspolitik versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“ einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an, die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen. Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw. deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird, indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür, wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht, Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen „die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird. Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer VertreterInnen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a. den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der „Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen, andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus. Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen. Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den WarenbesitzerInnen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet. Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so, dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions- und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen. Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger, kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen, werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere, solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus, die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der „nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen: Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen, greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie, der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon die städtische ArbeiterInnenklasse in den Kolonien als eine gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“, wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp, Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“ besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke, bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim „Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder „essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben AutorInnen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige VerteidigerInnen einer linken Identitätspolitik auch die ArbeiterInnenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen (und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum, dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner, Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht für Marx, Lenin und andere AutorInnen der revolutionär-marxistischen ArbeiterInnenbewegung. Im Gegenteil: Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen ArbeiterInnenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den KapitalistInnen wie bei den ArbeiterInnen ein verkehrtes Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische Ausbeutung im Bewusstsein von KapitalistInnen und LohnarbeiterInnen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung der ArbeiterInnenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“ zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?, LW 5, S. 436)

Wenn die ArbeiterInnenbewegung als identitätspolitische, also auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der Arbeit, dem ArbeiterInnensein und der Lohnbewegung beruhende begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen „soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen ArbeiterInnenkampf zu verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane ArbeiterInnen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann, sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe trifft auch auf eine solcherart geprägte „ArbeiterInnenidentität“ zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren diese wesentlich Formen verbürgerlichter „ArbeiterInnenkultur“ und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der Anerkennung der LohnarbeiterInnen als gesellschaftlicher Kraft einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes „ArbeiterInnensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der ArbeiterInnenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte. Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte „ArbeiterInnenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik fassen auch Reformismus und Ökonomismus die „ArbeiterInnenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres, das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem Marxismus geht es darum, die ArbeiterInnenbewegung in eine Richtung zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der ArbeiterInnenklasse besteht nicht darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die ArbeiterInnenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden werden muss. Das Wesen der ArbeiterInnenklasse, das sie überhaupt erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin, wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder „nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus, Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes, Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen Massencharakter –, während letztlich jede Form von Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine Klasse für sich bildet sich die ArbeiterInnenklasse jedoch nur als revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären, rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnenschaft besteht schließlich nicht in der nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden Strömungen und Ideologien in der ArbeiterInnenklasse. Stalinismus, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte. Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte Teile der ArbeiterInnenklasse mit den verkrusteten, verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung, dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der ArbeiterInnenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen „späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive, rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die ArbeiterInnenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die ArbeiterInnenbürokratie stützt sich in der Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den imperialistischen Ländern, auf die ArbeiterInnenaristokratie, die ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist. Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus – geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw. Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver, unterdrückerischer Politik in der ArbeiterInnenbewegung selbst. Nur so werden die besten KämpferInnen von den inneren Grenzen und der Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, RevolutionärInnen müssen dafür kämpfen, dass diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin, dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung und Unterdrückung beinhaltet. Die ArbeiterInnenkorrespondenzen in den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges Moment, das die ArbeiterInnenbewegung insgesamt – und zwar nicht nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die ArbeiterInnenbewegung alle fortschrittlichen Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die UnternehmerInnen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die ArbeiterInnenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere, sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den AktivistInnen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen, Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches, veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden. Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus, indem er ArbeiterInnenpolitik als Verlängerung des nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar. Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches  (WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B. herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam, moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird. Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt, widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“ Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung, Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar. Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der ArbeiterInnenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener, Teile des KleinbürgerInnentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“ unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen, Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen) hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B. in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.) hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung, Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der entschlossensten und bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse und aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher Erfahrung zugrunde liegt.