Flut in Pakistan: kein natürliches, sondern ein kapitalistisches Desaster

Revolutionäre Sozialistische Bewegung, Infomail 1120, 5. Oktober 2022

Seit Monaten leidet die Bevölkerung Pakistans unter einer der schwersten Überschwemmungen, die je verzeichnet wurden. Die durch den Klimawandel verursachte Katastrophe hat zur Überflutung eines Drittels seiner gesamten Landmasse geführt. Schätzungsweise 33 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Offizielle Zahlen sprechen von 1.500 Toten, ein Drittel der Opfer sind Kinder. Angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der Infrastruktur, der Telekommunikation und der medizinischen Versorgung bleibt die tatsächliche Zahl unbekannt und liegt sicherlich weit höher.

Die verursachte Zerstörung wird auf mindestens 30 Milliarden US-Dollar geschätzt. Eine astronomische Summe, wenn man die schwache pakistanische Rupie (Währung) bedenkt.

Insgesamt belaufen sich die Schäden auf mehr als 11 % des pakistanischen Bruttoinlandsprodukts. Selbst die verheerende Flut von 2010, bei der damals mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen und die bis dahin die schlimmste aller Zeiten war, lässt sich nicht mit der aktuellen Situation vergleichen.

Bisher wurden Ernteflächen von 3,6 Millionen Hektar zerstört. Drei Millionen Nutztiere starben. So ist ein großer Teil der Ernte vernichtet. Für die nächste kann möglicherweise nicht ausgesät werden, da viele Gebiete noch monatelang überflutet sein werden. Nun naht der Winter. In jüngster Zeit kam es bereits aufgrund des weltweiten Sanktionskriegs zu Preissteigerungen. Jetzt droht eine noch nie dagewesene Hungerkrise.

Keine „natürliche“ Katastrophe

Seit dem Ausbruch der Krise im Juni wurde Pakistan zu wenig und zu spät unterstützt. Das Land wird unter seinen Auslandsschulden bei privaten und staatlichen Akteur:innen in den imperialistischen Ländern erdrückt. In ihrem Namen hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine weitere Runde von Preiserhöhungen, Subventionskürzungen und Privatisierungen gefordert. Unterdessen sind die verschiedenen politischen Fraktionen der herrschenden Klasse im Lande damit beschäftigt, sich untereinander zu bekämpfen, anstatt die Krise zu bewältigen.

In Belutschistan begann das Leiden bereits Mitte Juni. Das Hauptaugenmerk der von Shehbaz Sharif geführten Regierung und der von Imran Khan gelenkten Opposition sowie jenes der Medien drehte sich um die Machtspiele dieser verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie. Obwohl es beschämend ist, überrascht es nicht, dass das Leiden der einfachen Menschen in Belutschistan die geringste Sorge der herrschenden Klassen ist.

„Wir bereiteten uns gerade auf die bevorstehende Hochzeit meines Bruders vor, als die verheerenden Überschwemmungen meine Familie obdachlos machten und uns die wenigen verbliebenen Ressourcen entrissen“, so ein 30-jähriger Bergarbeiter aus Belutschistan gegenüber der Deutschen Welle. Er fügte hinzu, dass seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes und Sohnes unter Schock stehe. Dies geschah im Juli. Trotz der weitreichenden Zerstörung in seiner Stadt sei keine Hilfe geleistet worden, sagte er weiter.

Erst als die Regionalhauptstadt Quetta betroffen war und die Autobahnen, auf denen Waren aus Sindh, Punjab (Pandschab) und Khyber Pakhtunkhwa transportiert wurden, blockiert waren, wurde das Problem relevant genug, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zerstörung in der Region Swat war der Wendepunkt. Als Brücken und Straßen weggerissen wurden, kam die Aufmerksamkeit, die international bereits wieder abgeklungen ist.

Hätte man dem Problem die nötige Bedeutung beigemessen, hätten viele Menschenleben gerettet werden können. Die einfache Bevölkerung beginnt dies zu spüren. Berichten aus Süd-Punjab zufolge hat die Empörung über die Untätigkeit der Regierung zu Protesten der Anwohner:innen geführt. In einem Fall wurde ein Provinzminister umzingelt und floh schließlich in aller Eile. Ähnliche Vorfälle passierten in Sindh, einer der am stärksten von der Flut und Untätigkeit der Regierung betroffenen Provinzen. Einige Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft haben sogar behauptet, dass die Überschwemmungen bewusst in kleinere Dörfer umgeleitet wurden, um die Industrie und den Großgrundbesitz zu schützen, anstatt Menschenleben zu retten, insbesondere in Sindh und Süd-Punjab, wo Großgrundbesitzer:innen immer noch großen Einfluss auf die Politik haben. In Sukkur (Sindh) wagte es die Polizei, 100 Flutopfer unter dem Vorwurf des Terrors anzuklagen, weil sie gegen den Mangel an Nahrungsmitteln und Hilfsgütern protestiert hatten, als Premier- und Außenminister zu Besuch kamen, um „ihr Mitgefühl zu zeigen“.

Dies zeigt, dass es sich nicht einfach um eine Naturkatastrophe handelt. Sowohl das grauenhafte Management der Krise als auch ihre Ursache, der Klimawandel, sind von Menschen gemacht. Aber nicht alle Menschen haben gleichermaßen dazu beigetragen. Die ökologische Krise ist das Ergebnis eines fossil betriebenen Kapitalismus, in dem wenige Reiche, darüber hinaus noch global ungleich verteilt, von der unkontrollierten Ausbeutung von Natur und Mensch profitieren. Die Verantwortung für das Leid der betroffenen Bewohner:innen Pakistans liegt nicht einfach bei einer mystischen „Naturgewalt“. Sie liegt bei einem sehr realen gesellschaftlichen System. Schuld daran ist die kapitalistische Wirtschaft im Allgemeinen und sind im Besonderen die wenigen bürgerlichen Politiker:innen in Pakistan und im Ausland, die bewusst Entscheidungen gegen die Interessen der Vielen treffen.

Die Prioritäten der herrschenden Klassen sind klar. Premierminister Sharif kündigte ein Hilfspaket im Wert von 14 Milliarden Rupien an, nachdem Millionen von Menschen im Sindh vertrieben worden waren. Dies ist derselbe Mann, der vor einigen Tagen ein Hilfspaket für eine Handvoll exportierender Kapitalist:innen im Wert von 70 Milliarden Rupien verkündet hatte.

Gleichzeitig leiden die Arbeiter:innen in ihren Industrien weiter. Die an den Webstühlen und in der Textilindustrie litten bereits unter der Last der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die zuvor in Pakistan herrschte. Jetzt, da fast die Hälfte der Baumwollernte des Landes weggeschwemmt wurde, ist ein großer Teil der Industrie in Faisalabad und Gujranwala stillgelegt worden, was zu einer noch höheren Arbeitslosigkeit führt.

Eine drohende Hungerkrise

Nach den Überschwemmungen sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt. Allein die für Zwiebeln sind um das Fünffache gestiegen. Acht Prozent der Tomatenernte wurden vernichtet und die Preise sind ebenfalls gestiegen. Beide Gemüse sind wichtige Bestandteile der pakistanischen Küche. Da unzählige Gemüse-, Obst-, Weizen- und Reisfelder beschädigt wurden, ist eine Lebensmittelkrise sicher. Die Landwirt:innen haben die Befürchtung geäußert, dass sie nicht in der Lage sein werden, für die Wintersaison zu pflanzen, wenn die Anbauflächen nicht sofort trockengelegt werden, wobei die Weizenernte die wichtigste ist. Nun müssen Lebensmittel aus Afghanistan und dem Iran importiert werden, was zu einem weiteren Preisanstieg führt. Die Lage ist so miserabel, dass sich die Menschen bei den Hilfsaktionen um die Lebensmittelpakete streiten.

Die Verwüstung der Landwirtschaft wird sich auch langfristig auf die gesamte Nationalökonomie auswirken. Allein in Sindh drohen bei drei wichtigen Kulturen, Tomaten, Zwiebeln und Chili, Verluste in Höhe von 374 Millionen US-Dollar. Das Land ist weltweit der viertgrößte Exporteur von Reis. In der von den Überschwemmungen heimgesuchten Provinz Sindh wurden 42 % der Reisproduktion angebaut, wovon schätzungsweise 1,9 Millionen Tonnen verlorengegangen sind, was einem Verlust von 80 % der erwarteten Produktion entspricht. Zusammen mit einem Verlust von 88 % bei Zuckerrohr und 61 % bei Baumwolle belaufen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen allein in Sindh auf 1,3 Milliarden US-Dollar, berichtet die Deutsche Welle.

Die öffentliche Infrastruktur in vielen Teilen Pakistans war bereits zuvor in einem schlechten Zustand. Nach den Überschwemmungen sind sogar diese grundlegenden Annehmlichkeiten verlorengegangen. Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Tausende von Vertriebenen sind gezwungen, das schmutzige Wasser zu trinken, das zuvor ihre Häuser weggespülte. So breitet sich die Cholera im ganzen Land aus. Auch andere durch Wasser übertragene Krankheiten wie Durchfall, Denguefieber und Malaria sowie zahlreiche Hautinfektionen grassieren.

Doch die kapitalistische Gier diktiert, dass auch in einer solchen Situation mit dem Elend der Menschen Profit gemacht werden muss – weil er sich machen lässt. Die Transportunternehmen, die Hilfsgüter transportieren, haben ihre Gebühren erhöht, so dass es schwieriger geworden ist, lebenswichtige Güter zu versenden.

Nieder mit Inflation und Verschuldung!

Die Inflation war jedoch bereits zuvor auf dem Vormarsch. Hiervon waren bis vor kurzem vor allem die Öl- und Gaspreise betroffen. Der Preisanstieg im Gefolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine war bereits schrecklich. Deutschland und andere europäische Staaten suchen sich neue, wenn auch teurere und unökologischere Lieferant:innen für Gas und Öl. Aber arme Länder wie Pakistan können das nicht so kompensieren wie die imperialistischen. Letztere subventionieren jetzt fossile Brennstoffe mit Hilfe von Extraprofiten, die sie durch wirtschaftliche Ausbeutung im eigenen Land und in der halbkolonialen Welt erzielen. Gleichzeitig zwingen dieselben Länder Pakistan über den IWF, die Subventionierung von Gas und anderen wichtigen Gütern einzustellen.

Nach Angaben der Tageszeitung Dawn befindet sich die pakistanische Industrie in einer Rezession. Das verarbeitende Gewerbe schrumpfte im Juli um 1,4 Prozent, was auf die Kombination von Überschwemmungen und den höchsten Energie- und Rohstoffkosten in der Geschichte der Industrie zurückzuführen ist. Die Textilindustrie sank im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 %.

Die Regierung hat an internationale Geber:innen, humanitäre Einrichtungen, Organisationen und verbündete Länder appelliert, Hilfe zu leisten. Planungsminister Ahsan Iqbal sagte, das Land könne bis zu 10 Milliarden US-Dollar für Reparaturen benötigen. Der IWF hat 1,7 Milliarden US-Dollar aus einem Rettungsfonds freigegeben, der eingefroren worden war, weil die vorherige Regierung der Forderung nach einer weiteren Kürzung der Energiesubventionen nicht nachgekommen war.

Die UNO hat zu einer Soforthilfe in Höhe von 160 Millionen US-Dollar aufgerufen und 3 Millionen US-Dollar bereitgestellt. Das Vereinigte Königreich hatte die Bereitstellung von 1,8 Millionen US-Dollar für die Fluthilfe angekündigt. Aber das ist nichts! Vergleichen wir dies allein mit den Gewinnen, die  britische Gaskonzerne in diesem Jahr generierten, eine Industrie, die direkt mit dem Klimawandel verbunden ist, erröten wir vor Zorn. Und denkt nur an die Militärausgaben der Großmächte, von China über Russland bis hin zu Deutschland oder den USA. Sie beliefen sich im letzten Jahr auf mehr als eine Billion US-Dollar (1.000.000.000.000)!

Die Verbindung von Krieg und Klimawandel

Kurz gesagt, nicht nur der Klimawandel, sondern auch der Krieg sowie die Aktionen und Prioritäten der imperialistischen Mächte und des kapitalistischen Systems als Ganzes betreffen Länder wie Pakistan besonders.

Wir möchten klar sagen, dass wir Putin und der russischen Armee eine Niederlage in der Ukraine wünschen. Das ukrainische Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Aber zugleich wird immer deutlicher, dass die Regierung in Kiew einen Stellvertreter:innenkrieg für die NATO und den westlichen Imperialismus führt, dass die Ukraine konkreter Austragungsort für den Kampf um die Neuteilung der Welt geworden ist.

Ein Blick auf Pakistan offenbart die Scheinheiligkeit der Gespräche westlicher imperialistischer Mächte (wie auch unseres vermeintlichen „Bruders“ China, der inzwischen Pakistans größter Einzelgläubiger ist). Pakistan leidet noch immer unter dem 20 Jahre andauernden Krieg im benachbarten Afghanistan. Währenddessen präsentieren sich die westlichen Nationen als Beschützerinnen der „globalen Freiheit“. Aber es sind die westlichen Imperialist:innen, die arme Länder wie Pakistan gemeinsam und in Konkurrenz vor allem mit China ausrauben und ihnen diktieren (wobei die pakistanische Bourgeoisie ihren Teil dazu beiträgt).

Während sie „Freiheit und Demokratie“ predigen, bestimmen ihre Institutionen wie der IWF die Innenpolitik Pakistans. Während sie von der Sicherung einer freien Zukunft sprechen, zerstören imperialistische Banken und Monopolkonzerne die ohnedies miserablen Lebensgrundlagen in Pakistan.

Sicher, der Unterschied ist, dass diese so genannten „westlichen Mächte“ ihre Herrschaft mit einem (mehr oder weniger) demokratischen Regime im eigenen Land in Verbindung bringen, anders als China oder Russland dies tun. Aber es ist ein demokratisches Regime, von dem arme Pakistaner:innen und die Welt, die diese Nationen anzuführen vorgeben, weitestgehend ausgeschlossen sind. Das simpelste Beispiel sind laufende Abschiebungen von deutschen Flughäfen zurück nach Pakistan, während das Land unter der Krise zusammenbricht.

Die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen können ihr Vertrauen nicht in eine dieser Mächte setzen. Sie müssen die nötige Kraft in sich selbst finden. Die aktuelle Situation zeigt mehr denn je, dass Pakistan eine sozialistische Partei braucht, die wirklich die Interessen der um ihr Überleben kämpfenden Massen vertritt. Aber die Situation in Pakistan muss auch ein moralischer Weckruf an die Arbeiter:innenbewegungen in Ländern wie Europa, den USA, Russland oder China sein.

Auch Ihr habt eine Verantwortung! Ihr müsst erkennen, dass der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht. Anstatt „Euren“ politischen und wirtschaftlichen Eliten zu folgen, die letztlich nur versuchen, ihre Machtambitionen zu erhalten und dies mit einem neuen Militarismus zu verbinden, solltet Ihr Euch unserem Kampf gegen den Klimawandel und das kapitalistische System, das ihn befeuert, anschließen.

Erhebt Eure Stimme in den Metropolen jener Länder, die Pakistan mit Schulden belasten. Erhebt Eure Stimme in den Ländern, die uns an den Rand des ökologischen Kollapses bringen. Fordert in unserem Namen:

  • Die Streichung aller Schulden Pakistans!
  • Die Bereitstellung von Klimareparationen, damit wir uns auf den Klimawandel vorbereiten und eine ökologische Transformation durchführen können, ohne Bedingungen!
  • Die sofortige Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten!

Aber wir trauen unseren eigenen kapitalistischen Herrscher:innen nicht. Zu Hause kämpfen wir für dieses Notprogramm:

  • Die Regierung muss die Zahlungen der Auslandsschulden sofort einstellen. Die Reichen müssen endlich progressiv besteuert werden, um die Kosten der Krise zu bezahlen.
  • Bildung von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenausschüssen, die die Verteilung der Reparationen und Hilfen überwachen!
  • Kontrolle der Lebensmittelpreise durch Preisausschüsse der Arbeiter:innen! Die Regierung muss Subventionen für alle lebensnotwendigen Güter gewähren!
  • Gleichmäßige Erhöhung aller Löhne mit jedem Prozent Inflationsanstieg! Kontrolle der Geschäftsbücher der pakistanischen Kapitalist:innen, um zu überprüfen, ob sie die Krise auf dem Rücken der Armen ausnutzen, um Extraprofite zu machen.
  • Entsendung von Gesundheitspersonal in die von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen, um dort eine kostenlose medizinische Versorgung zu gewährleisten! Die Regierung soll eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle Flutopfer sicherstellen!
  • Wo Fabriken geschlossen werden, kämpfen wir für ihre entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung unter Arbeiter:innenkontrolle.
  • Wir sagen, wenn die Bourgeoisie die Krise nicht lösen kann, müssen die Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Armen bereit sein, die Regierung selbst zu übernehmen.



Somalia: immer schwerere Hungersnot

Dave Stockton, Infomail 1198, 5. September 2022

Somalia sowie Teile Äthiopiens und Nordkenias sind erneut von einer schweren Hungersnot betroffen, die auf die extreme und sich weiter verschärfende Dürre am Horn von Afrika zurückzuführen ist. Es handelt sich bereits um die längste Dürre seit 40 Jahren, da die Regenzeit dreimal hintereinander ausfiel. Nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die überdurchschnittliche Trockenheit in der Region anhält. Zu der Dürre kommt noch das Problem der eskalierenden Preissteigerungen für das Lebensnotwendige hinzu. Nach Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank liegt die Inflation bei Lebensmitteln auf dem Kontinent bei 40 Prozent.

Auswirkungen der Dürre

Subsistenzlandwirt:innen und Viehzüchter:innen haben mehr als drei Millionen ihrer Tiere sterben sehen und waren gezwungen, in behelfsmäßige Vertriebenenlager zu fliehen, die aus dürftigen Zelten und wenigen Einrichtungen bestehen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden seit Januar 2021, als die Dürre begann, mehr als 755.000 Menschen im Landesinneren vertrieben.

Auf die Landwirtschaft entfallen bis zu 60 Prozent des somalischen Bruttoinlandsprodukts, 80 Prozent der Arbeitsplätze und 90 Prozent der Exporte. Das Land und seine bereits verarmte Bevölkerung stehen vor dem absoluten Ruin. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind mindestens 7,1 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen) bereits von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Mai dieses Jahres litten 1,5 Millionen Kinder an Unterernährung, und die Zahl ist nach den sengend heißen Sommermonaten zweifellos noch viel höher. In einigen Regionen wurde bereits eine Hungersnot ausgerufen, aber die Hilfsorganisationen appellieren an die Geberländer, sich nicht zurückzuhalten, bis die Hungersnot für das ganze Land ausgerufen wird.

Das UN-Nahrungsmittelhilfswerk bemüht sich um die Versorgung von 882.000 Menschen, was 131,4 Millionen US-Dollar kosten wird, aber am 4. August waren erst 46 Prozent der Mittel aufgebracht.

Verglichen mit den Milliarden, die die USA und ihre NATO-Verbündeten seit Russlands Einmarsch in der Ukraine für ihr riesiges Rüstungsprogramm ausgeben, ist dies lächerlich gering. Die Situation am Horn von Afrika hat sich durch die Unterbrechung der Getreidelieferungen infolge der Besetzung der Südukraine durch russisches Militär und die Blockade der dortigen Häfen noch verschlimmert. Das erste Schiff unter der Flagge der Vereinten Nationen ist gerade erst in Dschibuti mit 23.000 Tonnen ukrainischem Weizen eingetroffen, der für Äthiopien bestimmt ist, wo der Krieg in Tigray eine von Menschen verursachte Hungersnot verursacht hat. Es werden noch viele weitere Sendungen benötigt werden.

Im Jahr 2011 starb in Somalia eine Viertelmillion Menschen – die Hälfte davon Kinder – in einer Hungersnot, die auf ein ähnliches dreijähriges Ausbleiben der Regenfälle folgte. Weniger als die Hälfte dessen, was die Geberländer für die humanitäre Hilfe zugesagt hatten, wurde tatsächlich ausgezahlt. Eine weitere Hungersnot ereignete sich im Jahr 2017.

Nach Angaben der Vereinten Nationen ist die Zahl der Menschen, die weltweit auf dem Weg in den Hunger sind, in den letzten Jahren von 80 Millionen auf 323 Millionen gestiegen, wobei 49 Millionen Menschen in 43 Ländern von einer Hungersnot bedroht sind.

Folge des Klimawandels

Diese Zunahme der Hungersnöte ist eindeutig eine Folge des Klimawandels. Er betrifft bereits einen riesigen Landstrich in der Sahelzone, dem trockenen Grasland südlich der Sahara, und erstreckt sich bis zum Horn von Afrika, vom Sudan im Norden bis nach Kenia im Süden. Die Wüstenbildung in der Region hat soziale und politische Folgen und führt zu mörderischen Rivalitäten zwischen Nomad:innen, Viehzüchter:innen und Ackerbauern und -bäuerinnen um die knappen Landressourcen. Rebell:innengruppen und staatliche Kräfte tragen mörderische Konflikte in Mali, Burkina Faso, Tschad, Niger, Nigeria und Kamerun aus.

Interventionen ehemaliger Kolonialherr:innen wie der Französ:innen und der Brit:innen, die von den Vereinten Nationen und deutschen „Friedenstruppen“ unterstützt wurden, haben die Lage meist noch verschlimmert. Blutige Bürgerkriege zwischen und innerhalb des Sudan und des Südsudan sowie in jüngster Zeit zwischen Äthiopien und Tigray verschlimmern das Elend der Menschen.

Es ist bezeichnend, dass diese schreckliche Situation in Afrika zur gleichen Zeit auftritt wie das entsetzliche Leid, das die Überschwemmungen in Pakistan verursachen. Aber auch in Nordamerika, Europa und China sind extreme Wetterereignisse im Gange. Kein halbwegs informierter Mensch kann heute ernsthaft die extreme Klimakatastrophe leugnen, mit deren Erscheinungsformen – Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände und Hungersnöte – die Welt jetzt konfrontiert ist.

Doch nach den Fiaskos der Klimakonferenzen von Paris und Glasgow mit ihren grandiosen Zielen und Reden haben die reicheren Länder keine ernsthaften Maßnahmen zu deren Umsetzung ergriffen. Es wurden keine Ressourcen für die Länder bereitgestellt, in denen die Katastrophen heute durchschlagen. Im Zuge des Ukrainekrieges und der NATO-Sanktionen kehren sie sogar zu fossilen Brennstoffen zurück.

Die sich abzeichnende Hungersnot in den Ländern am Horn von Afrika unterstreicht die von Aktivist:innen seit langem vorhergesagte Tatsache, dass die Menschen im globalen Süden die ersten Opfer sind, die historisch gesehen die geringste Verantwortung für die Emission von Treibhausgasen durch die Industrialisierung und die Verbrennung fossiler Brennstoffe tragen.

Die Weltpolitik, der Konflikt zwischen den Großmächten und die korrupten, eigennützigen lokalen Eliten, die von ihnen unterstützt oder eingesetzt wurden, machen die Lage noch schlimmer. Somalia selbst leidet seit Jahrzehnten unter dem Bürgerkrieg und den Interventionen der UN-Truppen, Äthiopiens und Kenias sowie unter der Brutalität politisch-islamistischer Kräfte wie al-Shabaab (Harakat al-Shabaab al-Mujahedin, HSM; Bewegung der Mudschahedin-Jugend).

Zu dem Leid, das Afrika seit drei Jahrhunderten durch die Ausbeutung seiner menschlichen und natürlichen Ressourcen durch die Europäer:innen – von den ersten Sklavenhändler:innen bis hin zu den Kolonialist:innen – erfahren hat, kommt nun noch die zunehmende Rivalität zwischen China und dem Westen in der Region hinzu.

Heute ist klar, dass Somalia sofort eine massive Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften benötigt, die sich die reichen imperialistischen Mächte durchaus zu gewähren leisten können. Aber dies wird nur ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde bleiben, wenn darauf nicht ein Programm von Sozialausgaben für Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Infrastrukturen aller Art und – ganz wichtig – Maßnahmen zur Eindämmung und Umkehrung der Umweltzerstörung folgt.

Dies ist die „Wiedergutmachung“, die Afrika verdient, aber sie wird niemals von denen kommen, die den Kontinent in der Vergangenheit beraubt haben und ihn auch heute noch berauben. Die Arbeiter:innenklassen Europas und Nordamerikas müssen die Wiedergutmachung dieses historischen Unrechts in ihre Programme und ihren Kampf um die Macht aufnehmen, damit sie dies in Zusammenarbeit mit der Arbeiter:innenklasse und den Kleinbauern und -bäuerinnen des globalen Südens zu ihrem und unserem gemeinsamen Nutzen umsetzen können.




Nahrungsmittelmittelknappheit, Preissteigerungen und die drohende Hungerkatastrophe im globalen Süden

Jan Hektik / Martin Suchanek, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärften die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leidet an Mangelernährung.

Seit 2020, also seit Beginn der Pandemie und der mir ihr verbundenen globalen Rezession, verschärft sich die Lage gerade der Ärmsten der Armen. Dafür gibt es eine Reihe einander verstärkender Ursachen.

1. Preissteigerungen der Agrarrohstoffe und Agrarprodukte

Schon im ersten Jahr der Pandemie lässt sich infolge von Produktionsausfällen, Lieferengpässen und erhöhten Transportkosten ein massiver Anstieg der Weltmarktpreise für zentrale Agrarrohstoffe wie Saatgut und Düngemittel feststellen. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn explodierten sie. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022.

Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

2. Sinkende Einkommen und Pauperisierung

Die Wirtschaftskrise 2020/21 ging in vielen Ländern mit massiven Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse wie auch der Bauern/Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums einher.

In den Ländern des globalen Südens existierten in der Regel überhaupt keine sozialen Sicherungsmaßen für die Lohnabhängigen (wie z. B. Kurzarbeiter:innenregelungen). Zugleich führte die Rezession aber in vielen Ländern zu einem Rückgang des Outputs und weltweit zu einem massiven der geleisteten Arbeitsstunden (rund 8 % im Jahr 2020!). In den imperialistischen Ländern verhinderten staatliche Regelungen, die die Lohnabhängigen bei Kurzarbeit in Beschäftigungsverhältnissen hielten, einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. In den meisten Halbkolonien, die sich keine Lockdowns leisten konnten oder wollten, war zwar der unmittelbare Produktionsrückgang geringer, dafür breiten sich seither Stagnation und weiterer Niedergang aus. Anders als in der Krise 2008/2009 absorbierte auch der informelle Sektor die freigesetzten Arbeitskräfte nicht.

Die Folge: massive Verarmung, ja Pauperisierung großer Bevölkerungsmassen in den Halbkolonien. Ein beträchtlicher und stetig wachsender Teil des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft muss mittlerweile sein Leben unter den Reproduktionskosten fristen. In vielen vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern haben wir es faktisch mit einer direkten, offenen Verelendung zu tun.

Hinzu kommt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise die Bevölkerung des globalen Südens besonders stark trifft.

Während in den Industrieländern die Menschen zwischen 12 und 30 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, sind es für die Massen des globalen Südens rund 50 bis 100 %. Wenn Nahrungsmittel teurer werden, bedeutet das zu hungern und, dass für  andere essentielle Güter wie Gesundheit, Wohnen, Schulbildung der Kinder nichts mehr übrig bleibt. Wo kleine Bauern/Bäuerinnen davon betroffen sind, kann dies dazu führen, dass sie sich Saatgut oder Düngemittel nicht mehr leisten und ihr Land nicht bebauen können. Elend und Ernährungskrise nehmen so weiter zu.

3. Imperialistische Ausbeutung und Schuldenkrise

Die Strukturen der Weltwirtschaft verschärfen die gesamte Krise gerade in der sog. Dritten Welt auf mehrfache Weise. So monopolisieren die großen zumeist westlichen Konzerne oder einzelne Staaten den Weltmarkt. Nestlé zum Beispiel kontrolliert einen Großteil der weltweiten Trinkwasservorräte und zwingt systematisch in Afrika Menschen dazu, sein Wasser zu kaufen, indem es sich dagegen einsetzt, dass öffentlich zugängliche Trinkwasserquellen erschlossen werden. Weiterhin wird ein Großteil vom Wasser und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Tierzucht verwendet, vor allem für die Fleischproduktion in den imperialistischen Ländern.

Krise und Knappheit bilden dann auch eine Quelle von Extraprofiten aufgrund eines etablierten Monopols oder Oligopols. Hinzu kommt, dass steigende Preise auch spekulative Möglichkeiten eröffnen.

Noch wichtiger ist freilich, dass die Pandemie und die mit ihr verbundene Weltwirtschaftskrise auch den Weltmarktzusammenhang erschüttert haben. Lieferketten wurden durchbrochen, Transportkosten stiegen, die Produktion geriet ins Stocken. Die zunehmende Konkurrenz und Blockbildung hat außerdem Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes schon vor dem Ukrainekrieg verstärkt. Nun zielen die Sanktionen des Westens darauf ab, Russland vom Weltmarkt zu isolieren. Dessen Gegenreaktion und Drohungen (z. B. „feindliche“ Länder von Lebensmittellieferungen auszuschließen) erhöhen nur die Krisenhaftigkeit und treiben zugleich die Preise in die Höhe.

Die USA wie auch in geringerem Ausmaß die EU-Staaten oder China können natürlich noch eigene Reserven mobilisieren. Generell versuchen sie, die Kosten der Krise auf andere abzuwälzen. Das beginnt schon damit, dass die globale Produktion ohnedies auf die Bedürfnisse des Kapitals der dominierenden, imperialistischen Länder und deren Märkte zugeschnitten ist. So lohnt sich auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion im großen Stil vor allem in Bezug auf diese Länder, was zur Folge hat, dass die Agrarflächen der halbkolonialen seit Jahrzehnten mehr und mehr für den Export aufkommen und immer weniger zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, die über weit weniger oder gar keine Kaufkraft verfügt. Für die kapitalistische Produktion zählt aber nicht das Bedürfnis an sich, sondern nur das zahlungskräftige – mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung der armen Länder.

Einen letztlich noch viel stärkeren Hebel bilden freilich das Finanzkapital und die Kontrolle über das Weltfinanzsystem durch die imperialistischen Kernländer. In der Krise versucht beispielsweise die USA-Zinspolitik, Kapital auf den US-Markt zu lenken. Das erfolgt aber notwendigerweise auf Kosten anderer Staaten. Es ist kein Zufall, dass Länder wie Argentinien und die Türkei, also auch sog. Schwellenländer, extrem von einer Finanzkrise geplagt sind. Im Grunde trifft das aber den gesamten globalen Süden.

Die Abhängigkeit von den Bewegungen des globalen imperialistischen Finanzkapitals hat sich in den letzten Jahren infolge des massiven Anwachsens der Staatsverschuldung in fast allen Ländern massiv verschärft. Mehreren wie Argentinien, Pakistan sowie einer ganze Reihe afrikanischer Länder droht faktisch der Staatsbankrott. Manche wie Sri Lanka sind zahlungsunfähig.

Wie letzteres Beispiel verdeutlicht, verbinden sich in einer solchen Lage Mangel an Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern mit Hyperinflation.

4. Dürre, Extremwetterlagen und Klimawandel

Die Ausplünderung des globalen Südens und die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit durch Raubau an der Natur entfalten vor diesem Hintergrund verstärkt ihre bedrohliche Dynamik.

Beispielsweise in Indien lässt sich der Einfluss durch den Klimawandel gut beobachten. Vor der großen Hitzewelle hoffte die Regierung des Landes, die Landwirtschaft anzukurbeln, um davon zu profitieren, dass Ukraine und Russland aus dem Markt fallen. Aber infolge der besagten Hitzewelle, übrigens der größten seit 1910 (!), muss sie nun selbst mit der Nahrung haushalten und Exporte stoppen – was wiederum andere Länder der sog. Dritten Welt trifft.

Doch Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche, von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls verschwinden. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Widerstand

Die aktuelle Situation, die in vielen Ländern der halbkolonialen Welt von Inflation, massiver Verarmung, Lebensmittelknappheit geprägt ist, kann und wird auch zu Massenprotesten verschiedener Art führen. Schon in den letzten Jahren brachen auch aufgrund der extrem prekären Lebensmittel- und Landfrage zahlreich Revolten, oft verknüpft mit demokratischen Bewegungen, aus – sei es in Ländern wie Äthiopien oder Sudan, Sri Lanka oder Kasachstan. Auch die Wahl linkspopulistischer Politiker in Lateinamerika – Boric in Chile oder Gustavo Petro in Kolumbien – verdeutlichen, dass die Massen nach einer Alternative zu Neoliberalismus und imperialistischer Ausplünderung suchen.

Die Formen, die die Bewegungen gegen Preissteigerungen, Hunger, Verelendung annehmen, werden sicherlich von Land zu Land sehr verschieden sein – seien es spontane Emeuten oder auch Massenstreiks. In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass sie entweder direkt auf massive Repression durch reaktionäre, despotische Regime stoßen wie in vielen afrikanischen Ländern oder in Sri Lanka. Oder aber linke, populistische oder reformistische Führungen werden im Kampf gegen die Reaktion und den Imperialismus auf halbem Weg stehenbleiben, die Hoffnungen der Massen enttäuschen und so die Gefahr heraufbeschwören, dass die rechte Reaktion eine Stabilisierung im Sinne der herrschenden Klasse durchsetzt.

Daher besteht die Aufgabe von Revolutionär:innen nicht nur darin, sich an den Aktionen gegen die Preissteigerungen, Hunger, Verelendung entschlossen zu beteiligen. Vor allem müssen sie eine Perspektive weisen, ein Aktionsprogramm zur Lösung der Krise entwickeln und darum eine revolutionären Arbeiter:innenpartei und Internationale aufbauen. Wir können hier weder ein vollständiges Programm vorlegen noch vermögen die folgenden Punkte, spezifische, nationale Aktionsprogramme zu ersetzen. Aber wir können kurz zentrale Forderungen skizzieren, die für praktisch alle Ländern gelten und von der internationalen Arbeiter:innenbewegung und Linken unterstützt werden müssen.

– Soforthilfe ohne Bedingungen für Millionen

Millionen Menschen droht der Hungertod, Hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt. Dabei fehlt es weltweit nicht an Nahrungsmitteln, wohl aber an der Versorgung eines großen Teils der Weltbevölkerung. Die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Sicherung der Existenz dieser Menschen richtet sich sowohl an die Staaten, wo sie leben, wie auch an die imperialistischen Länder, die diese seit Jahrhunderten ausbluten. Während jährlich hunderte Milliarden für Rüstung und Militarismus verschleudert werden, müssen Hilfsgüter mühsam durch Spenden aus der Bevölkerung organisiert oder jeder Cent den Herrschenden der Welt abgebettelt werden. Dieser Skandal, dieser Irrsinn muss beendet werden! Die imperialistischen Staaten müssen gezwungen werden, diese Mittel aufbzuringen.

– Schuldenstreichung der Dritten Welt

Ohne Streichung der Schulden der halbkolonialen Länder wird früher oder später jede eigenständige, nicht vom Finanzkapital des Westens oder Chinas dominierte „Entwicklung“ unmöglich. Die Schulden an den IWF, internationale Finanzinstitutionen oder im Rahmen von Chinas „Neuer Seidenstraße“ müssen gestrichen werden. Sämtliche Bedingungen im Rahmen der sog. Strukturanpassungsprogramme des IWF müssen aufgekündigt werden.

Wir rufen die Länder des globalen Südens auf, die Schuldenrückzahlung bei den imperialistischen Institutionen einzustellen. Wir wissen aber auch, dass die mächtigen Staaten der Welt einen solchen Akt nicht hinnehmen, sondern versuchen werden, diese Länder mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen. Es braucht daher eine entschlossene Solidaritätsbewegung gerade in den imperialistischen Zentren, die ihrerseits solche Angriffe auf unterdrückte Länder bekämpft.

– Bekämpfung der Inflation

Gegen Preissteigerungen stellt der Kampf um die automatische Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation, die gleitende Skala der Löhne, eine zentrale Losung dar. Diese muss ihrerseits mit der Forderung nach Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch die Arbeiter:innenklasse verbunden werden.

Darüber hinaus bedarf es in vielen Ländern eines Mindestlohns und -einkommens für Erwerbslose, die die Reproduktion der Massen sichern. So wie wir die Entschuldung der Länder des globalen Südens fordern, müssen wir auch die  der großen Masse der Arbeiter:innen in Stadt und Land sowie der armen Bäuer:innen durchsetzen.

Frauen, die die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen und oft einen Großteil der Beschäftigen in Lebensmittelhandel und -produktion bilden, würde eine Schlüsselrolle in Kontroll- und Kampfkomitees zukommen.

In Ländern, wo die Preissteigerung die Form der Hyperinflation annimmt, die fast täglich oder wöchentlich Lohnerhöhungen auffrisst und wo das Geld selbst so rasch an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr wahrnehmen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Es braucht nicht nur Preiskontrollkomitees, sondern direkte Eingriffe in die Verteilung lebenswichtiger Güter für die Bevölkerung. Arbeiter:innenkomitees müssen die Verteilung kontrollieren und die Versorgung der Städte direkt mit den agrarischen Produzent:innen organisieren, um den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Solche Maßnahmen, die in den freien Markt eingreifen, müssen in dieser Situation sinngemäß auch auf andere essentielle Güter angewandt werden.

– Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Massen

Um das Elend zu stoppen und sichere Existenzbedingungen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen durchzusetzen, muss die Agrarproduktion gemäß den Bedürfnissen der Massen umstrukturiert werden. Das erfordert zwingend die entschädigungslose Enteignung des Agrarkapitals, ob aus den imperialistischen Staaten oder den jeweiligen Ländern, sowie des Großgrundbesitzes. Auf dieser Basis können Agrarbetriebe unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt, Genossenschaften gegründet oder auch die Aufteilung des Landes unter landlose und Kleinbauern/-bäuerinnen durchgeführt werden.

– Enteignung des Großkapitals und demokratische Planung

Die Umstrukturierung der Landwirtschaft muss jedoch Hand in Hand gehen mit einer Reorganisation der Produktion in den Städten gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen, der Landwirtschaft, der Geflüchteten und pauperisierten Massen sowie des Schutzes natürlicher Ressourcen. Dazu bedarf es eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle sowie der entschädigungslosen Enteignung des Großkapitals, der Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser. Auf dieser Grundlage kann und muss ein Notplan etabliert werden, um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu sichern.

– Kampf um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung

Auch die jüngste Erfahrung zeigt einmal mehr, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, auch nur eines der großen Probleme der Menschen zu lösen. Umso hartnäckiger wird sie aber versuchen, ihre eigene Herrschaft (und jene des Imperialismus) gegen die Arbeiter:innenklasse, die Bäuer:innenschaft, rassistisch und national Unterdrückte durchzusetzen – wenn nötig mit Repression durch Polizei, Geheimdienst oder Militär.

Der Kampf für ein Aktionsprogramm gegen Hunger und Verelendung kann sich auch deshalb nicht auf gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe oder demokratische Proteste beschränken. Auf einer bestimmten Stufe muss er sich zu einem um die Macht entwickeln, um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die solche Maßnahmen auch umsetzen kann. Damit eine solche Bewegung den unvermeidlichen reaktionären Widerstand der Herrschenden und die Repression durch ihren Staatsapparat brechen kann, müssen wir selbst Räte in den Betrieben und Stadtteilen, Stadt und Land aufbauen sowie eigene Selbstverteidigungsorgane, eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmiliz sowie Soldat:innenräte, um die Masse der Mannschaftsränge, der einfachen Soldat:innen auf die Seite der Revolution zu ziehen.

Die revolutionäre Machteroberung und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauer:innenregierung würden nicht nur einen entscheidenden Schritt bei der Bekämpfung von Armut und Hunger, sondern jeder Form von Unterdrückung und Ausbeutung darstellen. Zugleich dürfen sie sich nicht auf die sozialen und politischen Umwälzungen in einem Land beschränken, sondern müssen von Beginn an auf die Internationalisierung der Revolution, die Unterstützung des Kampfes in anderen Ländern setzen. Gerade um die vom Imperialismus abhängige Entwicklung zu durchbrechen, braucht es eine Ausweitung der Revolution und die Bildung regionaler Föderationen revolutionärer Arbeiter:innenstaaten als Schritte zur sozialistischen Weltrevolution.




Frauen und Afghanistan: Widerstand gegen Islamismus und Imperialismus

Minerwa Tahir (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Die Niederlage und der schmachvolle Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen in Afghanistan haben die Taliban wieder an die Macht gebracht. Die Niederlage der USA, der NATO und ihrer Verbündeten wie der Bundesrepublik offenbarte nicht nur den reaktionären Charakter dieser Herrschaft – sie offenbarten zugleich auch, dass es sich bei deren angeblichen Fortschritten weitgehend um Fiktionen handelte. Das Regime Ghani verfügte im eigenen Land über keine wirkliche Machtbasis. Die imperialistische Besatzung, die weitere 20 Jahre Bürger:innenkrieg brachte und Zehntausenden Menschen durch US- und NATO-Bombardements das Leben kostete, stützte sich im Wesentlichen auf Besatzungstruppen, einen korrupten Staatsapparat und eine Allianz mit reaktionären Eliten und Warlords.

Kein Wunder, dass diese Herrschaft von der Masse der Afghan:innen, insbesondere der ländlichen Bevölkerung immer als das empfunden wurde, war sie war: ein Besatzungsregime.

Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage jedoch längst nicht stabilisiert. Unter US-Herrschaft wurde die Wirtschaft des Landes im Wesentlichen von westlichen Geldgeber:innen am Leben gehalten. Den einzigen profitablen Exportsektor des Landes stellte der formell illegale, faktisch jedoch immer tolerierte Drogenhandel dar. Dessen Profite eigneten sich natürlich nicht die Bauern/Bäuerinnen und Landarbeiter:innen auf den Mohnfeldern, sondern Mittelsmänner und Warlords an.

Nachdem die westlichen Besatzer:innen zum Abzug gezwungen worden waren, überließen sie das Land den Taliban. Die Geld- und Devisenreserven des Landes beschlagnahmten jedoch die USA, um so ein Milliarden US-Dollar schweres Druckmittel gegenüber dem neuen Regime zu behalten und dieses ökonomisch zu destabilisieren, nachdem sie die Kontrolle über das Land verloren hatten.

Damit trägt der westliche Imperialismus selbst bis heute wesentlich zum faktischen Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft bei und zu einer humanitären Katastrophe, die für Hundertausende, ja Millionen Afghan:innen eine tödliche Gefahr darstellt und sie mit dem Hungertod oder Erfrieren bedroht. Mit der Wirtschaft und der Versorgung lebensnotwendiger Güter brach zugleich das Gesundheitssystem zusammen. Millionen sind zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen, vor allem nach Pakistan und in den Iran.

Dabei könnten die USA und ihre Verbündeten, die für die gesamte Katastrophe wesentlich verantwortlich sind, durch die Freigabe von Milliarden US-Dollar die Hungersnot und den Mangel an lebenswichtigen Gütern seit Monaten lindern. Für sie sind Millionen afghanische Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und selbst die Mittelschichten jedoch nur Marionetten, deren Leben nichts zählt, wenn es um geostrategisches Kleingeld geht und darum, den Taliban Zugeständnisse bei der Neuordnung des Landes abzuringen. Auch China und Russland halten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit humanitärer Hilfe vornehm zurück. Millionen Afghan:innen werden so in die Flucht getrieben, sei es im eigenen Land, sei es in Nachbarländer wie Pakistan oder den Iran. Der Westen nimmt allenfalls einige Tausend ehemalige Beschäftigte der Besatzungsarmeen auf – und selbst diese werden zumeist im Stich gelassen. Für die Masse der Afghan:innen gibt es keinen Weg nach Europa oder in die USA. Und wer es dennoch schaffen sollte, dem/r droht die Abschiebung.

Die ökonomische Krise bedeutet jedoch, dass die Taliban bis heute ihre Herrschaft im Land nicht vollständig etablieren und durchsetzen konnten. In etlichen Regionen und Provinzen müssen sie sich auf traditionelle Eliten und Strukturen stützen. In manchen wird ihre Macht von noch reaktionäreren islamistischen Kräften herausgefordert, die dem sog. Islamischen Staat politisch-ideologisch nahestehen.

Frauen sind von der ökonomischen Krise besonders hart betroffen, weil sie in der Öffentlichkeit weniger bewegen und bis auf wenige Bereiche faktisch von der Lohnarbeit ausgeschlossen sind.

Unterdrückung und Widerstand

Doch viele Frauen sind selbst unter der Herrschaft der Taliban nicht bereit, sich als Opfer widerstandslos zu fügen. Im Gegenteil. Sie widersetzen sich unter diesen Bedingungen und trotz zügelloser Repression, die das eigene Leben kosten kann. Proteste ohne Genehmigung der Regierung werden verboten und Journalist:innen festgenommen, von denen viele schwer verprügelt wurden, sodass sie ins Krankenhaus mussten. Und dies sind nur einige gut dokumentierte Fälle der Repression.

Die Taliban behaupten zwar, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, aber alle, mit Ausnahme derjenigen im öffentlichen Gesundheitswesen, wurden aufgefordert, nicht zu arbeiten, bis sich die Sicherheitslage verbessert habe. Die gleiche Ausrede wurde in den 1990er Jahren benutzt, um Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben fernzuhalten. Außerdem haben die Taliban den Frauen erneut eine strenge reaktionäre Kleiderordnung auferlegt, die das Tragen von Kopfbedeckungen und Gesichtsschleiern wie Hidschab und Niqab vorschreibt. Weiterführende Schulen für Mädchen wurden geschlossen. Längere Wege dürfen nur in männlicher Begleitung zurückgelegt werden.

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Protesten haben die Taliban erklärt, dass Demonstrantinnen nicht nur eine Genehmigung des Justizministeriums einholen, sondern die Sicherheitsdienste auch Ort und Zeit des Protests und sogar die Verwendung von Transparenten und Slogans genehmigen müssen.

Frauen, die gegen die Talibanherrschaft protestieren, wurden angehalten, mit Peitschen geschlagen und mit Elektrostöcken geprügelt. Mit scharfen Salven, die angeblich über Menschenmengen in die Luft geschossen wurden, sind bereits im September 2021 drei Menschen getötet worden. Die Frauen wurden nicht nur mit Namen beschimpft, deren Wiederholung sie als beschämend empfinden, sondern es wurde ihnen auch gesagt, sie sollten nach Hause gehen, weil dies „ihr Platz“ sei. Dennoch protestieren die Frauen weiter, und zwar nicht nur gegen die Taliban, sondern oft auch gegen ihre Familien.

Bisher wurden die meisten Proteste von jungen Frauen und auch Männern angeführt, die vor allem aus der Mittelschicht stammen und beschäftigt sind/waren. Sie zeigen, wie sich die Urbanisierung unter der imperialistischen Besatzung auf Afghanistan ausgewirkt hat. Die 20 Jahre der Besatzung und des Krieges haben es einem Teil der jungen Afghan:innen ermöglicht, das Leben in den Städten mit gewissen Freiheiten zu erleben. Für sie würde die Herrschaft der Taliban bedeuten, dass sie in eine Gesellschaft gezwungen werden, die sie nie gekannt haben und in der sie die begrenzten „Privilegien“ verlieren, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Insbesondere junge Frauen, die in den Städten aufgewachsen sind, sind dazu nicht bereit.

Dies wurde von Mitgliedern der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) bei einer Protestaktion in Balkh (Balch; Nordafghanistan) am 6. September mit Plakaten deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir gehen nicht zurück!“ und „Frauen werden nicht zurückgehen!“

Trotz Repression gingen die Proteste in den letzten Monaten weiter. So organisierten Frauen in mehreren Städten öffentliche Proteste am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte mit Losungen wie: „Fundamentalism + Imperialism = Barbarism!“ Auch gegen die im Dezember beschlossene Einschränkung der Bewegungsfreiheit gingen Frauen in Kabul auf die Straße.

In der Erklärung der RAWA zur Machtübernahme durch die Taliban wurde ihr Standpunkt klar und deutlich dargelegt: „In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung und noch besser wäre es, wenn sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokrat:innen mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie haben unser Land in den korruptesten, unsichersten, von Drogenmafiastrukturen durchsetzten und gefährlichsten Ort verwandelt, vor allem für Frauen.“

Dies unterstreicht den progressiven Charakter der Demonstrationen. Im Moment mag es ihnen an starker, landesweiter Unterstützung fehlen, aber zwei Faktoren könnten das drastisch ändern. Erstens: Die Abwertung der afghanischen Währung und die steigende Inflation führen dazu, dass die meisten AfghanInnen darum kämpfen, überhaupt Brot auf den Tisch bringen können, was die Aufrechterhaltung der Ordnung von Tag zu Tag schwieriger macht. Zweitens nehmen die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in dem Maße zu, in dem die Taliban mehr Kontrolle über das Land erlangen. Das führt dazu, dass immer mehr Schichten der Gesellschaft in den Widerstand gezogen werden, wodurch Raum für den Klassenkampf geschaffen wird, der das derzeitige reaktionäre Regime wirksam stürzen kann.

Kontrolle

Da es unter der Herrschaft der Taliban zu Protesten kommen konnte, zeigt sich auch, dass sie das Land noch nicht vollständig unter Kontrolle haben. Ihre Verbote werden trotz strenger Repressionen weiterhin missachtet. Infolgedessen organisierten die Taliban eigene Gegenproteste, bei denen verschleierte Frauen in Universitäten Talibanfahnen trugen, um deren Herrschaft zu verteidigen. Dies zeigt, dass die neuen Herren zumindest derzeit nicht mehr so regieren können wie in den 1990er Jahren. Diese inszenierten Gegenproteste sind ein Versuch, eine soziale Rechtfertigung für die Durchsetzung der Reaktion zu schaffen, anstatt einfach jede Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Loyalität der lokalen Warlords. Sie mögen die Talibanherrschaft vorerst akzeptiert haben, aber solche Loyalitäten werden sich in Zeiten widerstreitender Interessen ändern. Auch die Kämpfe innerhalb der Talibanfraktionen sollten nicht außer Acht gelassen werden. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren ihre Herrschaft schwächen und destabilisieren könnten, hängt weitgehend von der Rolle Chinas ab. Der chinesische Imperialismus hegt mit seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative ein eigenes Interesse daran, die Beziehungen zu den Taliban aufrechtzuerhalten. Der Rückzug der USA ermöglicht es ihm, zu einem noch mächtigeren Akteur in der Region zu geraten.

Die Liga für die Fünfte Internationale erklärt sich uneingeschränkt solidarisch mit der entstehenden Frauenbewegung in Afghanistan. Diese aufkeimende Bewegung ist derzeit noch fragmentiert und schwach und trägt einen klassenübergreifenden Charakter mit der unbestreitbaren Präsenz einiger proimperialistischer und Mittel- und Oberschichtelemente. Dennoch bietet sie Hoffnung für die Millionen kriegsgeschüttelter Afghan:innen, die der imperialen Besatzung überdrüssig sind, aber auch die Politik der ehemaligen Ghaniregierung und die Reaktion der Taliban ablehnen. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, ist eine solche Bewegung das Gebot der Stunde.

Revolutionär:innen in Afghanistan müssen diese Bewegung aufbauen und ihre fortgeschrittensten und bewusstesten Schichten für das Programm der permanenten Revolution gewinnen. Im Kampf für demokratische Grundfreiheiten wie das Recht auf Arbeit und Sozialleistungen für Frauen treten wir für den Aufbau von Organisation der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ein, die nicht nur die Taliban besiegen, sondern auch diese Rechte garantieren können und um die Macht kämpfen.

Die afghanischen Revolutionär:innen müssen sich auf der Grundlage eines revolutionären Programms organisieren, das keine Illusionen in eine imperialistische Macht, seien es die USA, China oder Russland, schürt. Dies wird entscheidend sein für die Intervention bei den aktuellen Protesten oder bei künftigen Bewegungen in dem Land. Die wirklichen Verbündeten der Arbeiter:innen, der armen Bauern und Bäuerinnen, der Frauen und der nationalen Minderheiten sind nicht die imperialistischen Mächte.

Es sind die Arbeiter:innen Pakistans, Irans, Turkmenistans, Tadschikistans, Usbekistans und Chinas, die in ihren jeweiligen Ländern für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge kämpfen müssen. Es sind die britischen, amerikanischen, deutschen und französischen Lohnabhängigen, die sich nicht nur für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge einsetzen müssen, sondern auch dafür, dass ihre Regierungen keine Sanktionen gegen Afghanistan verhängen und Reparationen für den Wiederaufbau des Landes zahlen.

Die Arbeiter:innen in der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit unseren afghanischen Brüdern und Schwestern, die schon viel zu lange unter dem Krieg leiden, in Aktionen organisieren. Es lebe die internationale Solidarität! Lang lebe der Kampf gegen die Taliban und den Imperialismus in Afghanistan!




Afghanistans Wirtschaft im freien Fall

Martin Suchanek, Neue Internationale 260, November 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Ökonomie des Landes faktisch zusammengebrochen. Sein BIP soll nach Prognosen des IWF um bis zu 30 % schrumpfen – und dies, nachdem die Wirtschaft faktisch schon seit Jahren am Boden liegt.

Schon vor dem Sturz des westlichen Marionettenregimes Ghani und dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten prägten Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut das Leben der Massen auf dem Land und in den städtischen Slums. Zwei Drittel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Dies war eine direkte Folge des Beharrens der USA und ihrer Verbündeten auf dem „Freihandel“, der das Land für eine Flut billiger Waren öffnete, mit denen die heimische Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Dies galt insbesondere für die Landwirtschaft, was zu einer Flucht in die Städte führte, während das Land weiterhin unter der Kontrolle der traditionellen Führer blieb.

Doch nun droht eine humanitäre Katastrophe. Ein Drittel der Bevölkerung – also rund 12 der 37 Millionen – leidet unter Hunger und Unterernährung. Ohne rasche und massive Hilfe droht Millionen der Tod.

Ursache: Imperialismus

Für die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind die ehemaligen Besatzungsmächte zu einem großen Teil verantwortlich. Nach dem Abzug der US/NATO-Truppen und dem Sieg der Taliban wurden die westlichen Hilfsgelder mit einem Schlag gestoppt.

Dabei waren es jene Finanzmittel, die in den letzten Jahrzehnten das Land überhaupt am Laufen hielten. Unter der Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten wurden rund 40 % des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus internationalen Hilfsgeldern bestritten, 60 – 70 % der Staatsausgaben finanzierten die Geberländer aus dem Westen oder dem Arabischen (Persischen) Golf. Nach der Machtübernahmen der Taliban kamen diese Quellen zum Erliegen. Außerdem froren die USA und andere westliche Staaten die Reserven Afghanistans ein. Den größten Teil davon, rund 7 Milliarden US-Dollar, kontrolliert seither die US-amerikanische Notenbank, die Federal Reserve. Die Regierung Biden hat sich faktisch den größten Teil der Geldreserven angeeignet und verfügt über diese seither als Mittel zur Erpressung des Regimes in Kabul.

Mit verheerenden Folgen für die afghanische Wirtschaft! Der drastische Einbruch des BIP geht mit einem Zusammenbruch des Bankensystems, der Geldzirkulation und einer rasenden Inflation einher. Kein Wunder, dass alle, die irgendwie konnten, in den letzten Monaten ihre Bankkonten leerten, was wiederum die Geldkrise zusätzlich verschärfte. Geschäfte, Restaurants und die öffentliche Verwaltung sind zu größten Teilen geschlossen, Staatsbedienstete erhalten keine Löhne, weil der Staat faktisch pleite ist.

Da Afghanistan kaum über industrielle Produktion verfügt und die Landwirtschaft infolge von Krieg, Besatzung sowie klimatischer Veränderungen und zunehmender Dürren am Boden liegt und die eigene Bevölkerung nicht ernähren kann, droht nun eine Hungerkatastrophe. Die Inflation und der Zusammenbruch der Geldzirkulation bedeuten auch, dass auch viele Waren unerschwinglich werden – vor allem Lebensmittel, Brennstoffe für die Heizungen und auch Geld für die Miete. Mit dem Winter droht also auch das Frieren.

Die Politik des westlichen Imperialismus und vor allem der USA folgt einem menschenverachtenden zynischen Kalkül. Sie nimmt Elend, Hunger und Kälte bewusst in Kauf und nutzt sie als politische Druckmittel. Nachdem die Taliban militärisch gesiegt haben, sollen sie durch finanziellen Druck – einschließlich des zumindest zeitweiligen Raubes ihrer Devisenreserven – gefügig gemacht werden.

Das Sperren von Hilfsgeldern durch die NATO, die USA oder auch die Bundesrepublik wird hierzulande gern als Akt der Unterstützung der Bevölkerung dargestellt. In Wirklichkeit ist es Teil eines zynischen Spiels, um Einfluss auf die Zukunft des Landes zu sichern. Selbst wenn es zu „humanitären“ Abkommen mit den Taliban und einigen Hilfsgeldern kommen sollte, werden die westlichen Staaten darauf bestehen, dass sie oder mit ihnen verbundene NGOs die Verteilung der Gelder kontrollieren.

Wirtschaftlich befindet sich das Regime in Kabul in einer prekären Lage. Als Alternative zum Westen hoffte das Taliban-Regime auf den globalen Gegenspieler der USA, auf China, sowie auf bessere Beziehungen zu Pakistan, Iran und Russland.

Doch auch China und die anderen Mächte in der Region verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Falls Peking den Taliban finanziell unter die Arme greifen sollte, so nur im Austausch für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse. Dies würde erstens die Ausschaltung von ISIS-Chorasan, einer ultrareaktionären Dschihadisten-Truppe, die im Land gegen die Taliban kämpft und auch von China als Bedrohung betrachtet wird, der Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (separatistische Strömung unter den chinesischen UigurInnen) und aller anderen islamistischen Gruppierungen betreffen, die als Sicherheitsrisiko für die Ordnung in benachbarten Staaten und die Neue Seidenstraße betrachtet werden. Zweitens würde es bedeuten, dass China ein privilegierter Zugriff zu den reichen, wenn auch bislang nicht erschlossenen Bodenschätzen des Landes gewährt wird. Im Gegenzug könnte Afghanistan Hilfsgelder erhalten, die das Land am Laufen zu halten.

Brandbeschleuniger Taliban-Regime

Neben der erpresserischen Politik der verschiedenen imperialistischen Mächte darf der zweite Faktor nicht vergessen werden, der die aktuelle Misere noch verschärft: die theokratische Diktatur der Taliban selbst. Als Organisation verfügen die Taliban nicht über die Voraussetzungen, um das Land zu regieren. Ihre Fähigkeit, im ganzen Land Kräfte gegen die verhassten BesatzerInnen zu mobilisieren und sich dabei vor allem auf lokale Führer und Geistliche zu stützen, hat keine nationale Verwaltung geschaffen, auch nicht auf militärischer Ebene. Nun droht der Zerfall, die vorhandenen zentralen Stellen zu untergraben.

Natürlich hätten jede Gesellschaft und jedes politische Regime bei einem Wegfall eines Drittels des BIP und von zwei Dritteln des Staatshaushaltes mit einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe zu kämpfen.

Aber den Taliban geht es zuerst um die Sicherung ihres neuen, islamistischen Regimes. So forcieren sie seit der Machtübernahme den Ausschluss der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und gehen daran, deren begrenzte Rechte durch Repression, öffentliche Angriffe, Erniedrigung bis hin zur Verfolgung von Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen zu beschneiden. Vor allem aber sollen Frauen aus vielen Berufen verdrängt, ausgeschlossen oder auf eng umrissene Bereiche beschränkt werden, vor allem aus der öffentlichen Verwaltung, dem kulturellen Leben, dem Gesundheitswesen, den Universitäten und Schulen.

Die frauenfeindliche, reaktionären Politik bedeutet zugleich, dass qualifizierte Fachkräfte am Arbeiten gehindert werden, dass das wirtschaftliche und soziale Leben weiter zerrüttet wird.

Was auf die systematische geschlechtliche Unterdrückung zutrifft, lässt sich auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens finden – der Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnenschaft, der Intelligenz, nationaler und religiöser Minderheiten wie der Hazara.

Die despotische Politik der Taliban, die Angst vor Unterdrückung und Verfolgung bis hin zum Mord treibt ebenso wie der Hunger Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht. Schon jetzt leben rund 3 Millionen allein in Pakistan und im Iran. In den kommenden Wochen werden die Lager in den Grenzregionen dieser Länder und in Tadschikistan weiter anwachsen. Die meisten, die Repression, Hunger und Not entkommen wollen, sind jedoch Binnenflüchtlinge. Und die Zahlen steigen.

Was tun?

Die Verhinderung der unmittelbar drohenden humanitären Katastrophe, der Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen infolge von Armut, Hunger und Kälte zum Opfer zu fallen drohen, muss unmittelbar im Zentrum jeder fortschrittlichen und internationalistischen Politik stehen.

Das bedeutet vor allem in den westlichen Staaten, die über Jahrzehnte Afghanistan besetzt und kontrolliert haben, dafür zu kämpfen, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten nicht weiter ihre finanziellen Ressourcen als Mittel zur politischen Erpressung nutzen können. Die USA muss zur Herausgabe der Reserven ohne jegliche Bedingungen gezwungen werden. Wir müssen außerdem die Freigabe von Hilfsgeldern zur Sicherung des Überlebens in Afghanistan wie in den Flüchtlingslager fordern sowie die Öffnung der Grenzen zur EU, in die USA oder nach Britannien für alle Geflüchteten, die in diese Länder wollen.

So wenig wie einer der imperialistischen Machtgruppierungen die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgeldern anvertraut werden kann, so wenig Verlass ist auf das Regime in Kabul, solche Gelder und Güter gerecht zu verteilen.

Aufgrund der despotischen, brutalen Herrschaft der Taliban und ihrer Unterdrückungsmaschinerie kann ein Kampf um die Verteilung der Hilfsgüter von Gewerkschaften, Linken und demokratischen Frauenorganisationen nur unter Bedingungen der Illegalität geführt werden. Dennoch besteht die unmittelbare Priorität darin, soweit wie möglich lokale, demokratisch kontrollierte Organisationen zu bilden, die die Verteilung der beschaffbaren Hilfsgüter überwachen.

Die heroischen Demonstrationen von Frauen um ihr Recht auf Arbeit im September zeigen jedoch, dass die Herrschaft der Islamisten noch nicht voll konsolidiert ist. Die aktuelle, sich vertiefende Krise erschwert die Festigung der Taliban-Herrschaft zur Zeit und eröffnet einen Spielraum zur Mobilisierung um Fragen der Versorgung der Bevölkerung und die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern und knappen Ressourcen. Das Aufgreifen der Überlebensfragen von Millionen erlaubt zugleich, den Kampf gegen das Taliban-Regime zu entfachen.

Lehren

Für diese Perspektive sind zwei politische Lehren von zentraler Bedeutung: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben.

Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet; mit Organisationen, die bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu Organen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung geraten können.