Documenta fifteen und der Antisemitismusvorwurf

Jonathan Frühling, Infomail 1193, 19. Juli 2022

Im Sommer 2022 findet in Kassel über einen Zeitraum von 100 Tagen die fünfzehnte Ausgabe einer der größten und wichtigsten Ausstellungen für moderne Kunst weltweit statt: die documenta. Dieses Jahr steht sie massiv in der Kritik. Doch was ist dieses Mal an ihr besonders und sind die Vorwürfe gegen sie berechtigt?

Die documenta fifteen

Dieses Jahr ist bei der documenta einiges anders. Statt einem/einer angesehenen Kurator:in, der/die fast immer aus der sogenannten „westlichen“ Welt kam, wird die Ausstellung in diesem Jahr von einem indonesischen Kollektiv namens Ruangrupa kuratiert. Auch die eingeladenen Künstler:innen unterscheiden sich fundamental von den vorherigen Ausstellungen. Statt vor allem die auf dem Kunstmarkt besonders angesehene Kunst auszustellen (und im Voraus schon ihren Verkauf durch große Galerien an finanzkräftige Kund:innen zu planen), kommen Künstler:innen vor allem aus dem globalen Süden zur Sprache.

Ein Filmstudio aus einem Slum in Uganda, Kunst von Dalits (Angehörigen der untersten Kaste) aus Indien, ein Verein, der Kunst und Sozialarbeit in einem Slum von Nairobi macht, ein Kollektiv queerer, indigener Menschen aus Neuseeland oder Voodoo-Kunst aus Müll und menschlichen Knochen aus Haiti, um nur wenige Beispiele zu nennen. Kaum einer dieser Menschen würde ihre oder seine Kunst sonst jemals in Europa auf die Bühne bringen können. Mit ihren Produktionen kommen natürlich auch ihre Geschichten, politischen Positionen und Forderungen. Kurz gesagt repräsentiert die Kunst auf der documenta weit mehr als jemals zuvor die Opfer von Rassismus und sozialer Ausbeutung, Angehörige unterdrückter Völker, Nationen, Kasten und Klassen auf der ganzen Welt.

Die Hetze im Vorfeld

Schon im Vorfeld wurde die documenta für ihr Konzept kritisiert. Kritik kam vor allem an der Einladung des Kollektivs „Question of funding“, da dieses aus Palästina stammt. Es war also abzusehen, dass sich in der Kunst auch Kritik an dem weißen und kolonialen Apartheidstaat Israel ausdrücken würde, da die tagtägliche brutale Unterdrückung für die Menschen vor Ort natürlich sehr bestimmend ist.

Bundespräsident Steinmeier machte auf der Eröffnung der documenta bereits klar, dass das Existenzrecht Israels in Deutschland nicht verhandelbar sei. Der Vorwurf des Antisemitismus stand mal wieder im Raum und wurde wie gewohnt mit Antizionismus gleichgesetzt, also mit der Kritik am Staat Israel bzw. dessen rassistischer Ideologie.

Kritisiert wurde zudem, dass keine Kulturschaffenden aus Israel eingeladen wurden. Ruangrupa argumentierte schlicht damit, dass es keine Verbindungen zu einem israelischen Kollektiv habe und sich nicht verpflichtet fühlte, von bestimmten Ländern Künstler:innen einzuladen.

Auch die Rechte machte, von bürgerlicher Politik und Presse motiviert, im Vorfeld mobil und brach in den Ausstellungsraum von „Question of funding“ ein, verwüstete ihn und beschmierte ihn mit rassistischen Graffitis. Schon vorher waren Sticker gegen den Islam und für den zionistischen Apartheidstaat aufgetaucht. Offensichtlich wurde dadurch, dass sich der deutsche Staat und die politische Rechte durch die Anwesenheit progressiver Künster:innen angegriffen fühlten.

Antisemitische Kunst auf der documenta

Kurz nach der Eröffnung kam dann der Supergau: Ein am zentralen Friedrichsplatz aufgehängten 8 x 12 m großes Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi, welches den Kampf gegen die US-gestützte rechte Militärdiktatur in Indonesien (1965 – 1998) symbolisierte, zeigte eine eindeutig antisemitische Figur. Zu sehen ist ein orthodoxer Jude mit spitzen Zähnen, bösen Augen, einer großen Nase und einer gespaltenen Schlangenzunge. Alles das sind gängige antisemitische Muster, wie sie vor allem im 20. Jahrhundert z. B. vom deutschen Faschismus genutzt wurden. Auf seinem Hut prangern SS-Runen, welches die Jüdinnen und Juden in die Ecke von Nazis stellen soll.

Das verantwortliche Kollektiv Taring Padi entschuldigte sich für die Darstellung und übernahm gleichzeitig die Verantwortung. Es begründet die Darstellung damit, die Unterstützung des Staates Israel für Suhartos Militärdiktatur und die Ermordung von rund einer halben Million Mitglieder und Anhänger:innen der Indonesischen KP zeigen zu wollen.

Die Figur schockiert wohl alle, die die documenta gegen bürgerliche und rechte Kritik verteidigt haben. Sie zeigt außerdem, wie in der Gesellschaft, auch in sonst fortschrittlichen Zusammenhängen, plumper Antisemitismus weiterhin existieren kann.

Verschwiegen wird freilich in der bürgerlichen Berichterstattung zumeist die Selbstkritik des indonesischen Kollektivs. Das Banner wurde nach kurzer Zeit abgehängt. Ein Übermalen der entsprechenden Figur wäre zwar besser gewesen. Es hätte dafür gesorgt, das fortschrittliche Moment des Banners in der Öffentlichkeit zu halten, und gleichzeitig sichergestellt, dass die antisemitische Figur niemals mehr für irgendwen sichtbar wird.

Diskussion über Antisemitismus

Für alle bürgerlichen und reaktionären Kräfte war der Vorfall natürlich ein gefundenes Fressen. Die gesamte deutsche (und internationale) Presse berichtete über die Vorfälle und sah sich in ihren vorausgegangenen Anschuldigungen bestätigt. Seitdem wächst der Druck auf die documenta. Die Generaldirektorin Sabine Schormann ist bereits zurückgetreten, Besucher:innen bleiben fern.

Doch die Kritik der bürgerlichen Presse, von Politiker:innen wie Steinmeier, Roth und Co. zielt nicht auf ein Ausstellungsstück. Für sie geht es vielmehr darum, die berechtigte Kritik an einer plumpen, antisemitischen Darstellung zu missbrauchen, um die gesamte Ausrichtung der diesjährigen documenta, eigentlich die bisher politisch fortschrittlichste,  zu verunglimpfen und zu einem finanziellen Desaster zu gestalten.

In der Diskussion fällt auch eine Sache besonders auf, die oben schon angeschnitten wurde. Es findet eine totale Vermischung und Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus statt. Deren Zweck besteht darin, den progressiven Kampf des palästinensischen Volkes gegen Unterdrückung zu dämonisieren und damit die gesamte documenta anzugreifen. Genauso geht es in Deutschland tagtäglich linken Organisationen, die sich für die Befreiung unterdrückter Völker einsetzen!

Gegen jeden Antisemitismus!

Wir müssen jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Zugleich dürfen Internationalist:innen zu den Verbrechen des Staates Israel nicht schweigen. Ständiger Krieg, nationale Unterdrückung der Palästinenser:innen, rassistische Gesetze und ein enges Bündnis mit den USA oder mit Deutschland beweisen, dass er keinen Schutzraum für das jüdische Volk, sondern ein Instrument der imperialistischen Unterdrückung bildet. Wir unterstützen daher den Befreiungskampf der Palästinenser:innen, das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen und alle antizionistischen Kräfte in Israel gegen das System der Apartheid und den Kampf für einen gemeinsamen multinationalen Staat in Palästina/Israel, in dem alle Menschen gleichberechtigt leben können. Dies wird den Kampf gegen wachsenden Antisemitismus nicht schwächen, sondern vielmehr stärken.

Der Kampf gegen nationale Unterdrückung, Antisemitismus und Kapitalismus bildet letztlich eine Einheit. Die bürgerliche Presse, Steinmeier und ihre antideutschen und rechten Unterstützer:innen sind dabei nicht unsere Verbündeten. Die Künstler:innenkollektive, die auf der documenta ausstellen, dagegen bringen progressive Positionen zum Ausdruck. Wir verteidigen ihr Recht auf Freiheit der Kunst, ohne gleichzeitig zu ihren Fehlern zu schweigen. Doch diese sind keine Grund, die Ausstellung zu boykottieren oder unkritisch im Chor der bürgerlichen und rechten Kritik an der documenta mit zu heulen. Also kommt nach Kassel, schaut euch die Kunst an und kommt mit den Menschen über Politik ins Gespräch! Der Austausch und unsere Solidarität können die Kämpfe in ihren Ländern motivieren.




Trotz Corona treibt hessische Polizei Räumung des Dannenröder Forstes voran: Tag X – Unterstützt die Besetzung unter Einhaltung der AHA-Regeln!

Erich Orkan, Infomail 1126, 15. November 2020

Seit einem Monat treibt das Räumungsgeplänkel in angrenzenden Wäldern wohl die Infektionszahlen im Landkreis Marburg durch die kasernierte Polizei und die mangelnden Abstandsregeln in den Einsatzfahrzeugen und beim Baumräumen selbst in die Höhe. Jetzt wagt sich die Hessische Landesregierung während des Lockdowns an die Räumung des Kerngebiets, die wohl Monate andauern wird. Der vielbeschworene Schutz der Umwelt war der CDU ohnehin nie einen Cent wert, die Grünen haben ihn längst für ihre Regierungsposten ad acta gelegt. Offenkundig wird jetzt auch auf jeden Infektionsschutz gepfiffen.

Anscheinend sollen die Bullen eine Mutation des Virus ausbrüten. Haha, Spaß beiseite, hier zeigt sich schon auch die Einheit des Gesundheits- und Umweltkampfes!

Wir fordern den sofortigen Räumungsstopp und den Rückzug aller Polizeieinheiten! Der  Rücktritt der schwarz-grünen Landesregierung ist eigentlich wegen Verstoßes gegen den Seuchenschutz längst überfällig. Ein dringlicher Antrag der Linkspartei im Hessischen Landtag wegen Gefährdung den Einsatz auszusetzen wurde ebenso abgelehnt wie die Klage eines Besetzers.

Der Widerstand der gut eingerichteten BesetzerInnen ist trotz des Auftretens der Virus- und Repressionsmaschine helden- oder besser beispielhaft. Aber sie befinden sich seit Wochen in der Defensive, mehr und mehr Wald wird gerodet. Um den BesetzerInnen die Aussichtslosigkeit ihres Widerstandes vorzuführen und die RodungsgegnerInnen in der Bevölkerung zu entmutigten, wird bereits südlich des Waldes die Autobahn gebaut.

Auch der bereits stattfindende Lkw-Baustellenverkehr vermittelt eine Vorstellung über die Zukunft der Region. Überall auch Patrouillen des Polizeistaats.

Der Wald in Deutschland ist aber überall bedroht. Die WaldbesetzerInnen zeigen uns allen eine wichtige Form des Widerstandes. Schafft also ein, zwei, viele Dannis!

Die Besetzung braucht also unsere Solidarität. Eine massenhafte Beteiligung ist wichtig, wenn Räumung und Bauarbeiten direkt blockiert werden sollen. Ohne eine Mobilisierung, die Zehntausende auf die Straße, zur Besetzung und Blockaden bringt, die in den umliegenden Orten und in den Betrieben verankert ist, drohen Polizei und Landesregierung, den Bau der Autobahn durchzuziehen. Ergänzt werden müssten diese durch Massendemonstrationen in der Landeshauptstadt Wiesbaden oder anderen Großstädten.

Die Kämpfe gegen die Umwelt- und Klimakatastrophe sind Teil aller gegen die Abwälzung der Kosten der Krise und für effektiven Gesundheitsschutz, letztlich für eine andere, sozialistische Gesellschaft. Die Gewerkschaften, Bewegungen wie Fridays for Future, linke Parteien und die radikale Linke müssen jetzt Unterstützung leisten und sich für den Tag X bereitmachen, den Tag, an dem die Rodung des Waldes und die Räumung der Besetzung starten wird.

  • Kommt alle in den Danni! Maske auf und 2,5 m Abstand! Zieht Euch warm an, es ist genug Platz!



6 Monate nach den Morden von Hanau: Kein Vergessen!

Martin Suchanek, Infomail 1115, 25. August 2020

Zehntausende solidarisierten sich am 19. und 22. August mit den 9 Opfern des rassistischen Mordes vom 19. Februar in Hanau. Damals wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu bei Anschlägen in einer Shisha-Bar in der Hanauer Innenstadt und rund um einen Kiosk mit angeschlossener Shisha-Bar im Stadtteil Kesselstadt brutal durch einen Akt faschistischer Barbarei aus dem Leben gerissen. Weitere Personen wurden verletzt. Schließlich erschoss der Mörder sich selbst und seine Mutter.

Sein Bekennerschreiben lässt keine Zweifel übrig. Er betrachtete sich als Teil eines erz-reaktionären, faschistischen „Krieges“, der das Blutbad – ähnlich wie der norwegische Attentäter Breivik oder der Massenmörder von Christchurch – als Fanal zum Pogrom an „fremden Rassen“ und „VolksverräterInnen“ betrachtete.

Die Aktionen und Demonstrationen am 19. August, die von breiten Bündnissen antirassistischer, migrantischer, linker und gewerkschaftlicher Organisationen getragen wurden, wie auch das Gedenken am 22. August setzten hier nicht nur ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls. Sie setzten vor allem auch ein Zeichen gegen den grassierenden, weit verbreiteten Rassismus in Deutschland. Dieser hat in den letzten Jahren im Zuge des Rechtsrucks weiter zugenommen – nicht bloß bei Nazis, Pegida oder AfD, sondern, wie wir an der Forderung nach härteren Grenzkontrollen und repressiver Flüchtlingspolitik sehen können – auch bis tief in die „Mitte der Gesellschaft“.

Allein am 19. August wurden in mindestens 40 Städten Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, die größten mobilisierten mit mehrere tausend TeilnehmerInnen.

Am 22. August wurde die für Hanau geplante bundesweite Demonstration jedoch abgesagt, nachdem der SPD-Oberbürgermeister Claus Kaminsky am Abend des 21. August die Versammlung mit Verweis auf steigende Corona-Infektionen verbot.

Statt der Demonstration fand eine bewegende Kundgebung mit den Angehörigen, FreundInnen, Familien der Opfer und BewohnerInnen des Hanauer Stadtteils Kesselstadt statt. Diese wurde in 30 Städte als Stream übertragen. In vielen gab es mehrere solcher Live-Übertragungen gleichzeitig, so dass es bundesweit wohl an die 100 Kundgebungen gab. Darüber hinaus verfolgten wohl weit über 100.000 Menschen die Reden der Betroffenen online. Die gesamte Kundgebung und die ergreifenden Beiträge können auch weiter auf dem YouTube-Kanal der „Initiative 19. Februar“ gehört werden.

So wurde der 22. August trotz Demonstrationsverbots in Hanau zum deutlichen, ermutigenden politischen Zeichnen. Das ist vor allem den vielen lokalen UnterstützerInnen und AktivistInnen zu verdanken, die im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht die Technik, Infrastruktur und Bewegung für die Kundgebungen stellten.

Auf uns selbst vertrauen!

Wir müssen an dieser Stelle aber auch einen kritischen Punkt ansprechen, der uns und wohl auch Tausende andere, die nach Hanau fahren wollten und sich an den Kundgebungen im ganzen Bundesgebiet beteiligten, wütend gemacht und verärgert hat. Wie Tausende andere erfuhren wir am Abend vom 21. zum 22. August, dass der Hanauer SPD-Oberbürgermeister, der ursprünglich als Redner bei der Abschlusskundgebung vorgesehen war, die Demo kurzerhand verboten hatte.

Wir wollen die Gefahr einer 2. Corona-Welle keineswegs leugnen. Wir halten ein Demonstrationsverbot aber für absolut falsch und unangebracht. Es stellt eine inakzeptable und gefährliche Einschränkung demokratischer Rechte dar, auch wenn es mit dem Hinweis auf Schutz vor Corona begründet wurde. Erstens hatte das Demo-Bündnis über Wochen in Verhandlungen mit der Stadt Hanau ein Hygienekonzept ausgearbeitet. Zweitens ist es – anders als bei den rechten 20.000 – 30.000 Corona-SpinnerInnen, die am 1. August anstandslos durch Berlin marschieren durften – bei allen antirassistischen Demos und Kundgebungen üblich, dass die TeilnehmerInnen Masken tragen und auf gegenseitigen Schutz achten. Natürlich kann das Virus, wie bei jeder Begegnung von Menschen auch auf Demonstrationen übertragen werden. Aber es ist zynisch und verlogen, so zu tun, als gingen angesichts von brummender Party-Gastronomie, Besäufnissen, angesichts der vom Kapitalinteresse diktierten Öffnung der Betriebe – beispielhaft sei hier auf die Zustände in den Schlachthöfen verwiesen – und Schulen ausgerechnet von politischen Demonstrationen Ansteckungsgefahren aus.

Außerdem fragt sich doch, warum die Absage erst wenige Stunden vor Beginn erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, der eine Durchsetzung der Aktion vor Gericht innerhalb kurzer Fristen extrem erschwerte.

Wir wollen dem SPD-Oberbürgermeister gar nicht absprechen, dass er ganz gerne vor tausenden Menschen gesprochen hätte und im Allgemeinen auch antirassistisch eingestellt ist. Doch was nützt das, wenn er in einer Nacht- und-Nebel-Aktion die Absage einer konkreten Demonstration erzwingt. Wahrscheinlich ist auch ihm klar, dass diese nicht der „Super-Spreader“ des Virus gewesen wäre.

Aber offenkundig hatte er vor der demagogischen „Kritik“ und Hetze aus rechten Kreisen Angst, die im Falle einer großen und kämpferischen Gedenkdemonstration unvermeidlich von der AfD und anderen offenen RassistInnen, aber auch von „respektablen“ Bürgerlichen wie CDU und FDP sowie von einigen Grünen und selbst sozialdemokratischen ParteifreundInnen gekommen wäre. Alle jene, die den Rassismus in der Gesellschaft, vor allem aber bei Polizei, Bundeswehr und staatlichen Behörden verharmlosen, die MörderInnen gern als „EinzeltäterInnen“ hinstellen, hätten sicher die „Gelegenheit“ ergriffen, allen, die zum Gedenken an 9 Ermordete und unzählige weitere Opfer rassistischer Anschläge auf die Straße gehen, „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen.

Dabei hätten solche rechten „KritikerInnen“ und ihre FreundInnen in der politischen Mitte allerdings nur getan, was sie immer tun: Die TäterInnen und den Nährboden des Rassismus relativieren, verharmlosen – und gleichzeitig die Trauer, Wut, Angst der Betroffenen ignorieren und die reale Gefahr für MigrantInnen herunterspielen. Die Absage der Demo hat unserer Meinung nach nichts mit Gesundheitsschutz zu tun, sondern stellt ein Einknicken vor der zu erwartenden Verleumdung durch Rechte und bürgerliche Kräfte dar. In Wirklichkeit wird die Kapitulation diese nicht beschwichtigen, sondern nur ermutigen, jeder anderen linken Großdemo „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen – schon allein in der Hoffnung, dass deren OrganisatorInnen ihre Aktionen gleich freiwillig absagen.

Mit dem Untersagen der Demonstration wurden zugleich die Rechte tausender Anti-RassistInnen beschnitten – eine Einschränkung, die uns auch bei anderen antifaschistischen, antirassistischen oder antikapitalistischen Mobilisierungen droht.

Wir halten daher auch das Akzeptieren des Demo-Verbotes durch das Hanauer Bündnis „Initiative 19. Februar“ für politisch falsch. In Zukunft sollten wir versuchen, unsere Aktionen auch gegen einknickende und feige sozialdemokratische Stadtoberen durchzusetzen. Die GenossInnen der Frankfurter internationalistischen und antirassistischen Linken, die nach der Übertragung der Gedenkkundgebung eine Spontandemonstration mit hunderten TeilnehmerInnen durchführten und durchsetzten, agierten in diese Situation vorbildlich. GenossInnen von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION beteiligten sich an der Aktion. Vielen Dank an die OrganisatorInnen der Initiative! Hoch die internationale Solidarität! One solution – Revolution!

Link zum Flugblatt von ArbeiterInnenmacht und Revolution zu den Demos und Aktionen am 19. und 22. August:

Kein Vergessen! Beteiligt Euch an den Demonstrationen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau!




Rechtsextremismus bei der hessischen Polizei – „Einzelfälle“ mit System

Stefan Katzer, Infomail 1111, 19. Juli 2020

Seit fast zwei Jahren verschicken Unbekannte Mord- und Anschlagsdrohungen und unterzeichnen diese mit „NSU 2.0“. Augenscheinlich gelang es einer Gruppe von rechtsextremen PolizistInnen, ein Netzwerk innerhalb der Behörde aufzubauen und durch Zugriff auf behördliche Datenbanken persönliche Daten von Personen abzugreifen, gegen die sich die Drohungen richten. Mit der Selbstbezeichnung als „NSU 2.0“ verorten sie sich ganz bewusst in der Tradition der neonazistischen Terrorgruppe NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), die zwischen 2000 und 2007 mindestens neun Menschen aus rassistischen Motiven sowie eine Polizistin ermordet hat. Die verantwortlichen bürgerlichen PolitikerInnen erwiesen sich bis dato als unfähig, diesem Treiben ein Ende zu setzen.

Der erste Drohbrief vom August 2018, der mit dem Kürzel „NSU 2.0“ unterzeichnet war, richtete sich gegen Seda Basay-Yildiz, die im NSU-Prozess als Anwältin der Nebenklage die Familie von Enver Simsek vertrat. Sie erhielt seitdem mehr als zwölf solcher Morddrohungen. Weitere Drohschreiben gingen an die Kabarettistin Idil Baydar, die LINKEN-Politikerin Janine Wissler und weitere VertreterInnen der Linkspartei sowie an Journalistinnen.

In drei Fällen (Basay-Yildiz, Baydar und Wissler) enthielten die Drohungen persönliche Daten, die zuvor aus Computern der Polizei Hessen abgerufen worden waren. Dies lässt vermuten, dass es innerhalb derer ein rechtsradikales Netzwerk gibt, das hinter dem Kürzel „NSU 2.0“ steckt.

Staatliche Behörden und rechte Strukturen

Wer sich daran erinnert, welche Rolle andere staatliche Behörden wie etwa der „Verfassungsschutz“ im Zusammenhang mit dem NSU gespielt haben, wird über die Verbindung staatlicher Sicherheitsbehörden mit rechtsradikalen bzw. -terroristischen Netzwerken nicht mehr sonderlich verblüfft sein. Die Duldung und Unterstützung rechtsterroristischer Gruppen durch den „Verfassungsschutz“ führte aber bis heute nicht zu dessen Zerschlagung. Im Gegenteil. Nach mehreren Untersuchungsausschüssen, die trotz Behinderungen in der Ermittlung zahlreiche Ungereimtheiten aufdecken konnten, wurde die Behörde letztlich noch gestärkt und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Die NSU-Akten sollen derweil für 120 Jahre verschlossen bleiben. An der Größe des Teppichs lässt sich erahnen, wie viel Dreck darunter gekehrt werden soll.

Ein anderes Beispiel ist das KSK (Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr). Auch dort haben sich vermutlich rechtsterroristische Strukturen herausgebildet, deren Mitglieder sich bereits Munition und Sprengstoff besorgt haben. Dass es dort rechtsextremistische Vorfälle gibt, ist seit Jahren bekannt. Erst seit Kurzem jedoch wird in Erwägung gezogen, dagegen konsequenter vorzugehen und Teile der Truppe aufzulösen – letztlich natürlich auch nur, um das Spezialkommando, „demokratisch“ gesäubert, weiterzuführen oder gar auszubauen.

Es sind zudem zahlreiche weitere Fälle bekannt, in denen hessische PolizistInnen rechtsextremistisches Verhalten an den Tag legten. In Chat-Gruppen wurde gegen Geflüchtete, gegen Menschen mit Behinderung sowie Jüdinnen und Juden gehetzt. Nachrichten mit Nazisymbolen wurden ebenso verschickt wie „Witze“ in Anspielung auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Bei zwei weiteren Polizisten wurden Waffen, Munition sowie zahlreiche NS-Devotionalien gefunden. Allein in Hessen gibt es über ein Dutzend Verdachtsfälle, bei denen aufgrund rechtsradikaler Einstellungen oder Handlungen von PolizistInnen ermittelt wird.

Wie all diese Fälle belegen, wird der „Kampf“ gegen Rechtsextremismus innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates offensichtlich mit Samthandschuhen ausgetragen. Schon beim NSU schienen die politisch Verantwortlichen nicht so sehr an der Aufklärung und schonungslosen Bekämpfung rechter Netzwerke interessiert zu sein als vielmehr daran, das Ansehen der eigenen Behörden nicht gänzlich zu beschädigen. KritikerInnen rassistischer Handlungen durch staatliche Behörden wird häufig mit dem Vorwurf begegnet, die Polizei unter „Generalverdacht“ zu stellen. Statt von Strukturen redet man lieber von massenhaften Einzelfällen.

Halbherzig wäre noch zu viel gesagt: Das Verhalten der verantwortlichen PolitikerInnen

Hauptanliegen der staatlichen AkteurInnen im Fall NSU war es dann auch, diesen als isolierte Gruppe darzustellen und den Fall mit dem Schuldspruch für die letzte Überlebende des „Trios“, Beate Zschäpe, zu den Akten zu legen. Darauf, dass die These von der isolierten Kleingruppe ohne weitere Verbindungen in die rechtsradikale Szene hinein unhaltbar ist, hatten schon während des NSU-Prozesses zahlreiche Gruppen hingewiesen. Die Bedrohung durch ein weit größeres, rechtes Terrornetzwerk wurde seitens der Verantwortlichen in der Regierung jedoch nicht ernst genommen.

Auch als im August 2018 der Fall von Seda Basay-Yildiz bekannt wurde, deren Drohbrief mit „NSU 2.0“ unterzeichnet war – also in klarer Anspielung auf ein rechtsterroristisches Netzwerk –, sah der hessische Innenminister Beuth (CDU) keine Anhaltspunkte für die Existenz eines solchen innerhalb der hessischen Polizei und stellte sich schützend vor seine Behörde. Erst Anfang Juli 2020, als zahlreiche weitere Fälle mit gleichem Muster bekannt wurden und neben der Polizei Frankfurt auch eine Dienststelle in Wiesbaden damit in Verbindung gebracht werden konnte, änderte Beuth seine Einschätzung. Dieser ist nun selbst zum Empfänger ähnlicher Drohschreiben geworden.

Er ist allerdings nach wie vor nicht in der Lage, dafür zu sorgen, dass die von rechtsradikalen PolizistInnen wiederholt angewandte Methode des Abschöpfens persönlicher Daten durch den Zugriff auf behördliche Datenbanken beendet wird. Sein Versuch, diese Versäumnisse den ihm unterstehenden Behörden anzulasten, sowie der Rücktritt des hessischen Polizeipräsidenten Münch dienen Beuth offensichtlich dazu, seinen eigenen Posten zu retten. In der Zwischenzeit können die rechtsradikalen Bullen weiterhin ungehindert ihnen unliebsame Personen terrorisieren. Dass die Opfer dieser Drohungen vorwiegend Frauen sind, macht zudem deutlich, dass es sich dabei nicht nur um rassistische, sondern auch um sexistische, frauenfeindliche Angriffe handelt.

Die Ermittlungen, die zwischenzeitlich vom LKA geleitet und nun einem Sonderermittler übertragen wurden, ziehen sich derweil mehr oder weniger ergebnislos in die Länge. So ist nach wie vor nicht geklärt, wer die Daten von Seda Basay-Yildiz abgerufen hatte, kurz bevor diese im August 2018 ein Drohschreiben erhielt. Die verdächtigen PolizistInnen der Frankfurter Polizei sind lediglich vom Dienst suspendiert.

Der Polizist aus Wiesbaden, der eingeloggt war, als die Daten von Janine Wissler abgefragt wurden, gab während seiner Befragung an, von all dem nichts gewusst zu haben. Er wird seitdem nicht mehr als Verdächtiger, sondern nur noch als Zeuge geführt. Die Polizei hat es dabei nicht einmal für nötig befunden, seine persönlichen Datenträger zu durchsuchen, um etwaige rechtsextreme Einstellungen oder Verbindungen in die rechte Szene zu ermitteln.

Von den Grünen, die in Hessen immerhin schon seit acht Jahren gemeinsam mit der CDU regieren, ist indessen nicht viel zu hören. Ihr Vorschlag zur Lösung scheinbar aller Probleme bezüglich rechtsextremer Aktivitäten und Netzwerke in der Polizei besteht in der Schaffung der Stelle eines Polizeibeauftragten, der unabhängig von bestehenden polizeilichen Strukturen arbeiten soll. Das fordern die Grünen allerdings schon seit Jahren. So wichtig, dass sie dafür die Koalition mit der CDU platzen lassen und auf ihre liebgewonnenen MinisterInnenposten verzichten würden, scheint ihnen das Ganze offenbar nicht zu sein. Grundsätzliche Kritik an der Polizei, die mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zugleich eine strukturell rassistische Ordnung verteidigt, ist von diesen hippen Konservativen ohnehin nicht zu erwarten.

Aufgabe der Linken

All dies macht eines deutlich: Die Linke und die gesamte ArbeiterInnenbewegung darf in diesen Staat kein Vertrauen hegen. Sie müssen sich mit den Opfern solidarisch zeigen und endlich daran arbeiten, dem rassistischen Treiben in Staat und Gesellschaft organisiert und entschlossen entgegenzutreten. Dessen Hauptaufgabe ist der Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, nicht der von MigrantInnen und AntifaschistInnen. Die bestehenden Verhältnisse, die von den staatlichen „Sicherheits“behörden verteidigt werden, sind durch und durch nationalistisch und rassistisch. Die Überwindung dieser Verhältnisse und der Kampf für eine von jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung freie Gesellschaft sind daher Aufgabe konsequenter antifaschistischer Politik. Es geht nicht nur um die Zerschlagung staatlicher Behörden, in deren Reihen sich Rechtsextreme scheinbar ungehindert entfalten können. Es geht darüber hinaus um die Überwindung rassistischer und sexistischer Formen der Arbeitsteilung und Unterdrückung weltweit, um die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen im Zuge einer globalen sozialistischen Revolution.

Hinsichtlich der Drohschreiben und rechten Netzwerke bei den Repressionsorganen sollten wir für die Veröffentlichung aller Unterlagen, aller Akten, aller Aufzeichnungen, allen Mail-Verkehrs … von Polizei und Verfassungsschutz eintreten. Der Verschluss solcher Materialien durch die Behörden selbst ist nichts anderes als der Ausschluss der Gesellschaftskenntnis von den Dateien und Aktivitäten jener, die offenbar unfähig und unwillig zum Kampf gegen Rassismus und Faschismus sind, die vielmehr selbst ständig jene rechten Umtriebe hervorbringen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Eine solche Untersuchung sollte nicht von einer weiteren staatlichen Behörde, sondern von VertreterInnen von MigrantInnenorganisationen, Flüchtlingen, Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien geführt werden – also von VertreterInnen jener gesellschaftlichen Gruppierungen und Organisationen, die im Visier der rechten Umtriebe stehen.

Um dem Rassismus seitens der staatlichen Behörden und von rechten Netzwerken in und außerhalb dieser Institutionen hier und heute etwas entgegenzusetzen, brauchen wir vor allem eine entschlossene antifaschistische Einheitsfront aus Gewerkschaften, der Linken und MigrantInnen, die perspektivisch auch in der Lage ist, für darüberhinausgehende gesellschaftliche Fortschritte zu kämpfen.

Die Forderung nach der Schaffung einer solchen Einheitsfront und von Selbstverteidigungsstrukturen gilt es, in die Bewegung gegen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu tragen, an der sich alle Linken in vorderster Reihe beteiligen sollten.

Kundgebung: Polizei kein Freund und Helfer. Rechte Polizeinetzwerke aufdecken!

Montag, 20. Juli, 18.00, Frankfurt/Main, Konstabler Wache

Mehr Infos: https://frankfurter-info.org/termine/solidaritaet-mit-den-betroffenen-des-nsu2.0