Nein zu den Verschärfungen beim Bürgergeld! Kampf gegen alle Kürzungen!

Stefan Katzer, Neue Internationale 280, Februar 2024

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im November vergangenen Jahres die haushaltspolitischen Taschenspielertricks der Ampelkoalition entlarvt hat, stellt sich die Frage, wie die nun fehlenden 60 Milliarden Euro eingespart werden können. Der neueste Vorstoß der Regierung sieht vor, auch Einsparungen beim Bürgergeld vorzunehmen und das Sanktionsregime erneut zu verschärfen.

Zur Erinnerung: Die Ampelkoalition hatte Schulden, die zur Bekämpfung der Coronapandemie aufgenommen wurden, nachträglich umgewidmet und das zur Bekämpfung der Pandemie lockergemachte Geld kurzerhand in den sogenannten Klimatransformationsfonds gepackt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Umbuchung für rechtswidrig erklärt. Da das Geld bereits fest eingeplant war, stellt sich die Frage, woher die Milliarden kommen sollen, die nun im Haushalt fehlen.

Die Antwort der Regierung auf dieses Problem zeichnet sich immer deutlicher ab: Anstatt das fehlende Geld bei denjenigen abzuschöpfen, die in den vergangenen Jahren enorme Gewinn- und Vermögenszuwächse verzeichnen konnten, möchte die Regierung lieber notwendige Investitionen weiter aufschieben, weitere Kürzungen im sozialen Bereich vornehmen und zusätzlich den – im übertragenen Sinne –  nackten Leuten in die Taschen greifen, also das fehlende Geld dort holen, wo ohnehin kaum welches vorhanden ist: bei Erwerbslosen und Geringverdiener:innen, die ihren Lebensunterhalt durch den Bezug von Bürgergeld absichern müssen.

Leere Versprechen und faule Kompromisse

Dabei war mit seiner Einführung seitens der Regierung das Versprechen verknüpft, Erwerbslose künftig nicht mehr unnötig zu drangsalieren. Stattdessen sollten die „Klient:innen“ künftig auf Augenhöhe behandelt und der Fokus auf Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen gelegt werden. Im Zuge der Bürgergeldreform wurden dann aber tatsächlich nur kosmetische Veränderungen am „Hartz 4“-System vorgenommen. So wurde etwa das Schonvermögen erhöht und es wurden Anreize geschaffen, an Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. In diesem Zusammenhang werden vom Jobcenter geringfügige Bonus-Beträge ausgezahlt, die für Qualifizierungsmaßnahmen, die nicht auf einen Berufsabschluss zielen, nun wieder gestrichen werden sollen.

Arbeitslosigkeit: eine Frage der Motivation?

Das Problem der Arbeitslosigkeit solchermaßen zu adressieren, heißt in Wahrheit jedoch, es zu verschleiern. Denn das Problem der Arbeitslosigkeit wird letztlich nicht auf seine gesellschaftliche Ursache zurückgeführt – d. i. die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, durch welche immer mehr variables Kapital, lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird –, sondern auf die Eigenschaften und Einstellungen der Erwerbslosen. Entsprechend dieser falschen, ja verkehrten Problemanalyse fällt auch die Lösungsstrategie der bürgerlichen Parteien aus.

Arbeitslosigkeit wird von ihnen wahlweise als ein Bildungs- oder Motivationsproblem derer behandelt, die in Wirklichkeit deshalb arbeitslos sind, weil die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dem Kapital keinen Mehrwert verspricht. Ein gesellschaftliches Problem wird so unter der Hand individualisiert und psychologisiert.

Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, statt der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen selbst zu bekämpfen. Dabei werden die Erwerbslosen zunächst stigmatisiert. Ihnen wird unterstellt, nicht arbeiten zu wollen. Sie werden als „Asoziale“ hingestellt, die auf Kosten anderer ein angenehmes Leben führen.

In einem zweiten Schritt wird politisches Handeln durch (schwarze) Pädagogik ersetzt. Das Problem der Arbeitslosigkeit soll durch eine nachträgliche Erziehung der Arbeitslosen gelöst werden. Diese sollen durch Überwachung, Beschämung, Demütigung und Bestrafung zum richtigen Verhalten „motiviert“ werden. Die Frage, über die sich die bürgerlichen Parteien dann noch streiten, betrifft letztlich nur noch die nach der richtigen „Erziehungsmethode“: bestrafen oder motivieren, Leistungen kürzen oder Anstrengungen belohnen?

„Arbeitsscheue Arbeitslose“ als Ausbeuter:innen des „hart arbeitenden kleinen Mannes“

Das Klischee der arbeitsscheuen Langzeitarbeitslosen, der sich über die Dummheit derer lustig macht, die noch arbeiten gehen, während sie selbst schlau und vor allem dreist genug ist, andere für sich arbeiten zu lassen, erfüllt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Diese besteht in erster Linie darin, die gesellschaftlichen Ursachen des Problems zu verschleiern und die berechtigte Wut über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne seitens der arbeitenden Bevölkerung auf die Erwerbslosen umzulenken.

Dabei wird denjenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen und vielleicht auch ein Gefühl dafür haben, dass sie um ihre tatsächliche Leistung (ihre Mehrarbeit) gebracht werden, suggeriert, ihre wahren Ausbeuter:innen seien nicht etwa die von ihrer Mehrarbeit lebende Kapitalist:innen, sondern faulenzende Arbeitslose, die sie von ihrem Lohn mit durchfüttern müssen. Durch diese perfide Verkehrung der tatsächlichen Zusammenhänge können sich diejenigen, die gegen Arbeitslose hetzen, auch noch als Kämpfer:innen für die Interessen „des kleinen Mannes“ inszenieren – und die BILD-Zeitung sich selbst als deren Sprachrohr.

So war es auch im Falle der nun bevorstehenden Verschärfungen beim Bürgergeld. Vorbereitet und begleitet wurde die Verschärfung von einer Kampagne, in der erneut das Zerrbild der „Arbeitsverweiger:innen“ an die Wand gemalt wurde, die sich auf Kosten der hart arbeitenden Bevölkerung ein angenehmes Leben mache.

Und was soll man sagen: Es hat wieder einmal gezündet. Die SPD ist erneut eingeknickt und verspricht nun, hart gegen sogenannte „Totalverweiger:innen“ vorzugehen. Durch verschärfte Sanktionen bei Leistungsberechtigten, die sich „beharrlich verweigern“, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, soll jährlich ein Betrag von 170 Millionen Euro eingespart werden. Zum Vergleich: Allein durch Steuerhinterziehung gehen dem Staat nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung jährlich ca. 100 Milliarden (!) Euro verloren. Verschärfungen in diesem Bereich sind jedoch nicht geplant. Den von den nun angedrohten Sanktionen Betroffenen droht dabei die Streichung sämtlicher Bezüge (außer für Miete und Heizung). Die vollständige Sanktionierung soll bis zu zwei Monate andauern können.

Die entsprechende Regelung ist allerdings sehr schwammig formuliert. Sie besagt, dass eine „willentliche“ Weigerung, „eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“, vorliegen muss, um die Sanktionsmechanismen auszulösen. Diese Formulierung lässt somit viel Interpretationsspielraum, den besonders eifrige Jobvermittler:innen im Zweifelsfall dazu nutzen können, ungerechtfertigte Sanktionen zu verhängen, unter denen die Betroffenen auch dann leiden werden, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass die verhängten Sanktionen doch nicht angemessen waren. Dies wird aller Voraussicht nach besonders Menschen treffen, die nicht deutsch sprechen oder sich gegenüber Behörden ohnehin hilflos fühlen, also vornehmlich rassistisch Unterdrückte und psychisch belastete Menschen.

Neben der Tatsache, dass die von der Regierung prognostizierten Einsparpotentiale durch die nun anvisierten Kürzungsmaßnahmen völlig übertrieben erscheinen, ist daran vor allem problematisch, dass den Betroffenen damit de facto die notwendigen finanziellen Mittel entzogen werden, mit denen diese ihre Existenz sichern können. Ihnen droht die völlige Verarmung.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass ca. zwei Millionen Kinder Bürgergeld beziehen. Sanktionen, die sich gegen ihre Eltern richten, treffen natürlich auch sie. Dabei bekommen sie schon jetzt nicht das, was für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig wäre. Weitere Kürzungen wären daher vor allem für sie fatal, da sie sich langfristig auf ihre Entwicklung auswirken können.

Rechte und neoliberale Scharfmacher:innen

Davon lassen sich die Scharfmacher:innen von rechts allerdings nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Sie befeuern lieber weiterhin die leidliche Debatte um das sogenannte „Lohnabstandsgebot“ und verteufeln in diesem Zusammenhang die letzte Bürgergelderhöhung von 12 % als arbeitsmarktpolitische Generaldummheit. Sie argumentieren dabei, dass die Erhöhung des Bürgergeldes dazu verführe, sich auf Kosten der Allgemeinheit einen faulen Lenz zu machen. Dabei hält die Erhöhung kaum Schritt mit der dramatischen Inflation und ist folglich keine reale. Zugleich „vergessen“ sie gerne, dass die Erhöhung des Bürgergeldes keine gönnerhafte Wohltat ist, die der Staat nach Lust und Laune gewähren kann oder auch nicht. Vielmehr geht es hier um die Existenzsicherung und um einen Rechtsanspruch, der sich aus dem Grundgesetz herleitet.

Ebenso verschweigen sie die Tatsache, dass das von Ihnen hochgehaltene „Lohnabstandsgebot“ auch anders gewahrt werden könnte als durch die Absenkung des Existenzminimus – nämlich durch die Erhöhung der (Mindest-)Löhne. Gegen die Einführung eines Mindestlohns haben sie selbst aber jahrelang gekämpft. Schon alleine daran erkennt man die ganze Heuchelei dieser Parteien und ihrer Führungsfiguren. Aber auch SPD und Grüne spielen das perfide Spielchen mit und drücken nun die Sanktionen durch, die sie zuvor noch als unmenschlich und weitgehend wirkungslos kritisiert haben.

Widerstand aufbauen, Kürzungen bekämpfen!

Umso dringender ist es, dass sich gegen diese Politik auf den Straßen Widerstand formiert. Dabei kommt den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu. Als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse mit Millionen Mitgliedern wären sie dazu in der Lage, den notwendigen Widerstand zu organisieren. Dafür müssen sie aber endlich mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen und anfangen, entschlossen für die Interessen der gesamten Klasse zu kämpfen. Um dorthin zu gelangen, müssen die Mitglieder Druck aufbauen und die Führung ihrer Gewerkschaften zum Handeln auffordern.

Der Kampf gegen die Verschärfungen beim Bürgergeld muss dabei mit dem gegen die weiteren Einschränkungen im Asylrecht sowie mit dem für höhere Löhne und gegen Entlassungen verbunden werden. Dadurch kann der spalterischen Politik der Herrschenden entgegengearbeitet und die Einheit der Lohnabhängigen erkämpft werden. Der Kampf gegen die geplanten Verschärfungen und Kürzungen kann aber letztlich nur erfolgreich sein, wenn er von Massenmobilisierungen, Streiks und  Besetzungen getragen wird und weitergehende Forderungen umfasst, die letztlich auf die Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems zielen.

  • Weg mit allen Bürgergeldgesetzen und Nein zu den geplanten Sanktionen! Für die Kontrolle der Arbeitsagenturen durch Gewerkschaften und Erwerbslosenkomitees anstelle von Ämterwillkür! Allgemeines, uneingeschränktes Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung während der Erwerbslosigkeit!
  • Für die sofortige Wiedereinführung der Vermögensteuer! 115 Mrd. Euro jährlich durch progressive Besteuerung!
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro/Stunde! Für Arbeitslose, Studierende, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16, chronisch Kranke, Schwerstbehinderte und Invalid:innen kämpfen wir für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation ,von 1.100 Euro plus Warmmiete! Die Kontrolle darüber den Gewerkschaften!
  • Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Schließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung/Umstellung der Produktion solcher Firmen!
  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften unter Einbeziehung von Ausschüssen der Lohnabhängigen und aller nicht-ausbeutenden Schichten der Bevölkerung!



Bürgergeld als Bürgerschreck?

Jürgen Roth, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Als bedeutendste Sozialreform der letzten 20 Jahre war es angekündigt worden, das „neue“ Bürgergeld. Wir hatten bereits in Neue Internationale 268 erläutert, warum dieses hochtrabend formulierte Etikett auf einer Mogelpackung, die Hartz IV fast aufs Haar gleicht, nichts zu suchen hat.

Das parlamentarische Gerangel um das Reförmchen, das diese Bezeichnung kaum verdient, hat in einem Kompromiss gemündet, der fernab von einem Abschied von Hartz IV selbst die wenigen Brosamen an Verbesserungen, die das neue Gesetz mit sich bringt, fast vollständig getilgt hat.

Die Debatten in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss werfen aber auch in ihrer unangemessenen Hitze ein Schlaglicht auf die Argumente von Gegner:innen wie Anhänger:innen des Entwurfs der Ampelkoalition.

Minimal ist schon zu viel

Dieser Untertitel beschreibt recht gut die Haltung von CDU/CSU und AfD. Ihre Redner in der 1. Bundestagsdebatte am 10. November überboten sich mit Vokabeln. „Anstrengung, Leistungs- und Risikobereitschaft“ würden durch eine vermeintlich vom Bürgergeld geförderte „Arbeitsverweigerung“ unterhöhlt. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter (ein passender Nachname) verstieg sich sogar dazu zu behaupten, „man müsse unsere Arbeitslosen vor dieser Regierung schützen“. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, richtete das rhetorische Feuer auch gegen die Ampelkoalitionär:innen: „Sie haben mit ihrer Bräsigkeit erst Friedrich Merz ermöglicht“. Er verwies auch auf den Zusammenhang des ALG II mit dem Niedriglohnsektor: „Wir haben ein millionenfaches Lohnproblem.“

Tags zuvor war seine Stellvertreterin Susanne Ferschl konkreter geworden. Es handele sich beim Gesetzentwurf nicht um eine Abkehr von Hartz IV oder gar der „Arbeitsgesellschaft“. Gut sei, dass Ausbildung und Qualifizierung Vorrang vor prekären Bullshit-Jobs bekämen. Der Koalitionsentwurf sieht vor, bei Absolvieren einer Weiterbildung 150 Euro auf die Grundsicherung draufzulegen, bei unterstützenden Maßnahmen, die zur langfristigen Rückkehr in den Job führen, 75 Euro. Die Freibeträge bei Zuverdienst sollen steigen. Ein Berufsabschluss soll in 2 statt 3 Jahren nachgeholt werden können.

Schließlich sei jede/r 4. Empfänger:in von Grundsicherungsleistungen erwerbstätig (Aufstocker:innen). Notwendig seien eine „armutsfeste“ Grundsicherung im Fall der Bedürftigkeit sowie gute, tarifgebundene Arbeit in der Fläche. Lassen wir mal beiseite, dass die von ihr geforderten 200 Euro Erhöhung nur „armutsfest“ in dem Sinne sind, dass sie nicht davor schonen, sondern Armut festschreiben, und tarifgebundene Beschäftigung angesichts der Zaghaftigkeit und Zahnlosigkeit „unserer“ Gewerkschaften noch lange nicht mit guter Entlohnung identisch ist, so hat sich Ferschl von allen Redner:innen am deutlichsten links positioniert.

Holpriger Weg zum Kompromiss

Union und AfD stimmten im Bundestag gegen den Gesetzentwurf, DIE LINKE enthielt sich. Damit nahm die 1. Parlamentskammer die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition an. Sie sah eine Erhöhung des Regelsatzes von 449  auf 502 Euro vor, ferner Lockerungen bei Sanktionen in Gestalt von Leistungsentzug, stärkere Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen, verbesserte Vorgaben zur Höhe des Schonvermögens, das nicht auf die Bezüge angerechnet wird, und Wohnungsgröße.

Viele Sozialverbände und auch Gewerkschaften, die zuvor noch den Ampelentwurf kritisiert hatten, begrüßten jetzt das Abstimmungsergebnis. Dieser „Sinneswandel“ erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Union angekündigt hatte, im am 14. November tagenden Bundesrat, der 2. Parlamentskammer, das Gesetz scheitern zu lassen. Getreu der sozialdemokratischen Politik des „kleineren Übels“ reagierten also unter diesem Druck die SPD-Parteigänger:innen in ihren Vorfeldorganisationen. Nur neigt diese Logik die Wippe des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Lohnabhängigen, führt auf dieser schiefen Ebene schnell zum nächstgrößeren Übel.

Im Bundesrat fiel das Gesetz denn auch prompt durch. Dabei agierten auch einige SPD-geführte Landesregierungen (Brandenburg) im Sinne des nächstgrößeren Übels und enthielten sich der Zustimmung zum Gesetzesantrag der von der eigenen Partei im Bund geführten Koalition.

Folglich ging die Vorlage in den Vermittlungsausschuss am 23. November. Tags zuvor hatten sich rot-grün-gelbe Koalition und oppositionelle Union auf einen Kompromiss geeinigt. Er beinhaltete den Verzicht auf die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit. In den ersten 6 Monaten des Bürgergeldbezugs können nun Jobcenter Leistungen bei Nichtkooperation kürzen. Die geringfügigen Sanktionslockerungen, die die Bundesregierung vorsah, umfassten aber sowieso erstens nur das, was das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 moniert hatte, und zweitens blieben damit die häufigsten Verstöße gegen die Zusammenarbeitsvorschriften mit der Agentur für Arbeit, solche gegen Meldepflichten (80 %), von Sanktionsbefreiung ausgenommen. Im Vergleich zur aktuellen Situation läuft der Deal sogar auf eine Verschlechterung hinaus, denn als Übergang zur Einführung des Bürgergeldes gilt gerade ein Sanktionsmoratorium.

Außerdem sah der vor der Tagung des Vermittlungsausschusses ausgekungelte Kompromiss eine Senkung der Schonvermögenshöhe vor. Für den Haushaltsvorstand gelten jetzt 40.000 statt 60.000 Euro, für jede weitere Person 15.000 statt 30.000. Lediglich eine private Altersvorsorgeversicherung wird von der Anrechnung auf die Sozialleistung ausgenommen und geschützt. Die Karenzzeit, bis es anrechnungsfrei bleibt, sinkt von zwei Jahren auf eines. Ebenfalls nach einem Jahr statt zweien greift jetzt der Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung.

Die Erhöhung des Regelsatzes war auch bei der Union nicht umstritten, wohl weil es sich gar nicht um eine Erhöhung, sondern verspätete und unzureichende Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten handelt.

Vermittlungsausschuss gibt grünes Licht

Nicht überraschend wurde oben geschilderter Deal denn auch in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 23. November abgesegnet. Bundesarbeits- und -sozialminister Heil (SPD) dankte CDU und CSU für ihre Zustimmung. Mit der Einigung sei eine gesellschaftliche Polarisierung entgiftet. Die SPD lobte das Bürgergeld als einen „Systemwechsel“, die Union dafür, gerade diesen verhindert zu haben. So viel zur Einigkeit.

Doch wie war es um die Standhaftigkeit der 2. deutschen Sozialdemokratie alias DIE LINKE bestellt? Gesine Lötzsch gestand freimütig, im Vermittlungsausschuss für ihre Fraktion gegen den Kompromiss gestimmt zu haben. Im Bundestag hatte die Fraktion sich beim Regierungsentwurf enthalten. Besser wäre auch hier ein Nein gewesen auch auf die Gefahr hin, mit AfD und Christenfraktionsgemeinschaft in einen Topf geworfen zu werden.

Parlamentarischer Schlussakkord

Doch nun musste dieser Mehrheitsbeschluss des Vermittlungsausschusses noch durch beide Kammern abgesegnet werden. Der Bundestag stimmte mit 557 Stimmen dafür (98 dagegen, 2 Enthaltungen). AfD und DIE LINKE votierten geschlossen dagegen. Und im Bundesrat? Thüringen stimmte für den Kompromiss. Jedenfalls treten somit die erhöhten Regelsätze ab Beginn nächsten Jahres in Kraft. Die weiteren Neuerungen greifen ab Juli 2023.

Oberjanuskopf Katja Kipping, Berlins Nochsozialsenatorin, argumentierte so für die Richtigkeit diese unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens: „Zu den von der Union erzwungenen sozialen Verschlechterungen haben wir als Linke ganz klar Nein gesagt, im Bundestag“, um gleich nachzuschieben, bei der Abstimmung im Bundesrat gehe es dagegen um die Regelsatzerhöhung und einige Verbesserungen. Wüsste man es nicht besser und glaubte Gen. Kipping, könnte man meinen, es handele sich um 2 entgegengesetzte Abstimmungsthemen.

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, sich nicht auf die parlamentarischen Winkelzüge beider bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verlassen, sondern ihrer Kraft in Betrieben und auf der Straße zu vertrauen. In diesem Zuge ist es gut, DIE LINKE daran zu erinnern, wie eilig sie 2004 auf den Zug der Proteste und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 aufgesprungen ist. Heute verleiht sie Hartz IV Flankendeckung von links, mit welchen rhetorischen Kniffen auch immer sie dies zu tarnen versucht.




Bürgergeld und neuer Mindestlohn: Reform oder Fassadenanstrich?

Jürgen Roth, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023 rückt näher. Mittlerweile ist bekannt, wie hoch die Regelsätze ausfallen sollen. Gleichzeitig wird über die Frage der Sanktionen weiter debattiert.

Was ist der Unterschied?

Das Bürgergeld wird etwas höher ausfallen als die bisherige Grundsicherung, im Volksmund Hartz IV genannt. Schon ein Blick auf die geplanten Veränderungen und Regelsätze verdeutlicht den betrügerischen Charakter der Umbenennung.

Im Prinzip wird im 1. Schritt genauso gerechnet wie bei Hartz IV. Die Regelsätze werden mit Hilfe eines Mischindexes fortgeschrieben, der zu 30 % die Lohn- und zu 70 % die Preisentwicklung abbilden soll. Grundlage sind dabei die Daten aus dem 2. Quartal des Vorvor- und dem 1. des Vorjahres. Nach diesem Mechanismus erhöht sich der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene (Haushaltsvorstände) von 449 auf 469 Euro.

Im 2. Schritt soll auch die zu erwartende künftige Inflation miteinbezogen werden. So kommt der neue Regelsatz für o. a. Personengruppe von 502 Euro zustande, was einer Erhöhung um 53 Euro oder 11,8 % entspricht.

Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Hartz-IV-Regelsatz 2022 gegenüber 2021 um statt 3 Euro (!) von 446 auf 449 Euro angehoben wurde und die reale Preissteigerung die untersten Einkommensgruppen überdurchschnittlich trifft, so kommt die ganze Reform einer weiteren Verarmung gleich.

Regelsätze und weitere Änderungen

Wie bei der Grundsicherung gibt es außer für alleinstehende Erwachsene bzw. Haushaltsvorstände unterschiedliche Regelsätze für verschiedene Personengruppen. Das Bürgergeld soll betragen für volljährige Partner:innen 451 Euro, Kinder zwischen 14 und 17 Jahren 420 Euro, 7- bis 13-Jährige 348 Euro, bis zu 5-Jährige 318 Euro. Das Kindergeld, das allen Eltern zusteht, die diese Leistungen nicht beziehen, wird aber laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.03.2010 (Az. 1 BvR 3163/09) auf Grundsicherung und Bürgergeld angerechnet und der Regelsatz entsprechend gekürzt.

Im Vergleich zur sofortigen Vermittlung in Arbeit soll ab 2023 Weiterbildung eine größere Rolle spielen. In den ersten beiden Jahren des Bezugs soll wie schon während der Coronakrise generell die Wohnung als angemessen betrachtet werden. Ferner werden die Regeln für das Schonvermögen (Ersparnisse, die nicht zuerst aufgebraucht werden müssen, bevor man Grundsicherung bzw. Bürgergeld bezieht) „besonders großzügig“ ausgelegt.

Wenn real wenig bis nichts rumkommt für die Bezieher:innen des neuen Bürgergelds, so sollen die Bezieher:innen wenigstens moralisch etwas aufgebaut werden. Die Jobcenter-Mitarbeiter:innen  sollen gegenüber den Arbeitslosen zu einem „Umgang auf Augenhöhe“ angehalten werden. Das kostet nichts – und ändert auch nichts daran, dass es weiter ein, wenn auch gelockertes Sanktionsregime geben wird.

Sanktionen

Grundsätzlich bleibt es nämlich bei den bisherigen „Mitwirkungspflichten“. Geplant ist allerdings eine 6-monatige Vertrauenszeit, in der es keine Leistungsminderung geben wird. Bei hartnäckigen Terminversäumnissen könne es aber auch in dieser Frist Ausnahmen geben, so der federführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Der Verein Sanktionsfrei erklärt dazu, Kürzungen der Grundsicherung bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter hätten lediglich einschüchternden Effekt, verfehlten aber sonst jede Wirkung (Erleichterung der Arbeitsvermittlung).

Dieses Urteil stützt sich auf eine von dieser Initiative in Auftrag gegebene Studie des Instituts für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (Ines). Sie ergab, dass der Kontakt mit den Jobcentern im Allgemeinen von den befragten Betroffenen größtenteils als hinderlich statt unterstützend empfunden wird. So weit zur „Augenhöhe“.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nennt das Hartz-IV-Sanktionssystem denn auch Missbrauch, der überwunden gehöre. Schließlich gehe es nur um 3 bis 4 % der Hartz-IV-Bezieher:innen, die aufgrund von Terminversäumnissen oder Ähnlichem tatsächlich sanktioniert werden. Für die anderen 97 % stelle es eine reine Drohkulisse dar. Für eine Anhebung des Regelsatzes auf 700 Euro brauche es nur 10 Mrd. Euro.

Auch Marcel Fratzsch, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), monierte am geplanten Bürgergeld die zu geringe Anhebung des Regelsatzes um 11,8 %. Menschen mit geringem Einkommen spürten die Inflation dreimal heftiger als Gutverdienende. Zu Recht spielt er damit darauf an, dass diese beim Grundbedarf (Lebensmittel, Energie) höher als die amtliche ausfällt und dessen Anteil am Haushaltseinkommen bei Grundsicherungsleistungsbezieher:innen ebenso.

Und die FDP?

Doch von der Ampel ist hier nichts zu erwarten. Während die SPD Sozialschaum schlägt, verteidigt die Freie Deutsche Porschefahrer:innenpartei die „Errungenschaft“ von Rot-Grün. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab zum Besten, der „Leistungsgedanke“ und das „Prinzip Fördern und Fordern inklusive Sanktionsmechanismen“ dürften nicht untergraben werden, lobte aber auch den Inflationsanpassungsmechanismus. Schließlich hinkt dieser weit hinter der Realität von Grundsicherungshaushalten hinterher, dürfte aber mit dem Hintergedanken konzipiert worden sein, eine erneute Radikalisierung wie in den Jahren nach dem November 2003 (Riesendemonstration gegen die Agenda 2010) zu verhindern. Die ganze Ampel steht also auf Grün fürs Bürgergeld.

Mindestlohn, Minijobobergrenze und Übergangsbereich

Am 23. Februar wurde beschlossen, dass der gesetzliche Mindestlohn in 3 Schritten erhöht wird: ab 1.1.2022 auf 9,82 Euro, ab 1.7.2022 auf 10,45 Euro, ab 1.10.2022 auf 12 Euro. Zukünftig wird er weiterhin auf der Grundlage von Beschlüssen der Mindestlohnkommission angepasst, erstmals wieder bis zum 30.6.2023 mit Wirkung zum 1.1.2024.

Ab 1.10.2022 wird zudem die Minijobobergrenze (nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) auf 520 Euro (von 450 Euro) erhöht, so dass die monatliche Höchstarbeitszeit für Minijobber:innen ab 1.1.2022 bei rund 45 Stunden (450 Euro : 9,82 Euro = 45,82), ab 1.7.2022 bei rund 43 Stunden (450 : 10,45 = 43,06) lag und ab 1.10.2022  rund 43 Stunden betragen wird (520 : 12 = 43,33).

Ab 1.10.2022 wird außerdem die Entgeltgrenze für Beschäftigte im Übergangsbereich angehoben. Von 450,01 bis 1.300 Euro steigt sie auf 420,01 bis 1.600 Euro. In dieser Zone steigen die Sozialabgaben nur schrittweise bis zum vollen Satz. Das soll die Anreize erhöhen, über einen Minijob hinaus zu arbeiten (Midijobbereich). Oft wird dieser vergessen. Insgesamt entlasten alle ganz oder teilweise sozialversicherungsfreien Tätigkeiten nur das Kapital, aber nicht die Beschäftigten, denn diese schauen bei Arbeitslosigkeit und Rente eben ganz oder teilweise in die Röhre! Von daher konterkariert ihre Ausweitung die minimalen Verbesserungen beim Mindestlohn.

Europaparlament

Am 15. September stimmte das Straßburger EU-Parlament für einheitliche Entgeltstandards. Die Zustimmung der Mitgliedsstaaten gilt als Formsache. Mindestlöhne gelten demnach als fair, wenn sie 50 Prozent des Bruttodurchschnittsarbeitseinkommens entsprechen. Zudem müssen die Länder Aktionspläne zur Steigerung der Tarifbindung ausarbeiten, wenn diese bei unter 80 % liegt. Nach Zustimmung bleiben ihnen 2 Jahre Zeit für die Umsetzung der Richtlinie in nationale Gesetze. Die nordischen Länder, in denen es zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber dafür eine starke Tarifbindung gibt, wittern Einmischung in ihre nationalen Angelegenheiten.

Doch darf die EU gar keine konkreten Lohnhöhen vorschreiben. Die Richtlinie verpflichtet Mitgliedsstaaten nicht einmal, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen! Richtlinie heißt im EU-Jargon also, dass sich niemand danach richten muss.

Kommentare

Die deutschen Gewerkschaften begrüßten den Straßburger Beschluss dennoch als wichtigen Schritt für mehr soziale Gerechtigkeit, Erfolg der Gewerkschaften und Ausgangspunkt für ein solidarisches Miteinander und gegen den sozialen Unterbietungswettbewerb im europäischen Binnenmarkt. So tönte Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. An Lobhudelei nicht nachstehen wollte ihm die Europaabgeordnete der Linkspartei, Özlem Alev Demirel. Anders als die fatale Troikapolitik stärke die Richtlinie den Ausbau von Tarifverträgen, schaffe die Grundlage für angemessene Mindestlöhne oberhalb der Armutsschwelle. Mit Ausnahme von zweien liege dieser in Ländern, in denen ein gesetzlicher Mindestlohn gelte, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Angesichts der Preissteigerungen bleibe aber selbst die Bundesregierung mit ihrer beschlossenen Anhebung auf 12 Euro auf Armut programmiert. Diese sieht indes keinen Anpassungsbedarf.

Der Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments, Dennis Radtke (CDU) kaufte diesen Schönfärber:innen und Gesundbeter:innen fast noch den Schneid ab. Zwar unterstrich auch er, Arbeit„nehmer:innen“rechte seien gestärkt worden und damit die Sozialpartnerschaft, doch kritisierte er u. a. auch die BRD, dass den gesetzlichen Mindestlohn zu erreichen möglich sei, indem Urlaubs-, Weihnachtsgeld, Schmutz-, Lärmzulagen und sogar Trinkgelder eingerechnet werden können.

Alle vergaßen, auf die Ausnahmen der deutschen Mindestlohnregeln zu verweisen: Pflichtpraktikant:innen, Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Auszubildende, ehrenamtlich tätige Mitarbeiter:innen, Langzeitarbeitslose, Freiberufler:innen und Selbstständige (beide Letzteren fallen oft unter die Kategorien Scheinselbstständige, eine „Erfindung“ der famosen Agenda 2010) erhalten keinen Mindestlohn. Nicht zu vergessen: Beschäftigte in Behindertenwerkstätten (Durchschnittslohn: 1,35 Euro!) und Gefängnissen. Seit dem 1. Januar 2020 gibt es eine eigene Mindestvergütung für Auszubildende.

Forderungen

Statt leeren Gewäschs und Schönrederei braucht es einen Kampf um effektive Verbesserungen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen:

  • Weg mit Bürgergeld und Grundsicherung! Mindesteinkommen von 1.600 Euro!
  • Arbeit oder voller Lohn! Gesetzlicher Mindestlohn von 15 Euro ohne Ausnahmen!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung von Firmen, die sich weigern, diesen zu zahlen, unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Verteilung der Arbeit auf alle: 30-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich! Für ein Programm öffentlicher, nützlicher Arbeiten zu Tariflöhnen!
  • Automatische Preisgleitklausel gegen die Inflation: Gleitende Skala der Löhne und Sozialeinkünfte, überwacht von Arbeiter:innenpreiskontrollkomitees!



Nieder mit Lindner – Keine Kürzung bei den Arbeitslosen!

Jonathan Frühling, Infomail 1192, 11. Juli 2022

Es kam, wie es kommen musste: Nachdem in der Coronapandemie Milliarden an die Wirtschaft ausgeschüttet und Schulden über 100 Mrd. für Kriegsmaterial aufgenommen wurden, zeichnen sich jetzt erste Vorstellungen über Kürzungen des Staatshaushalts ab. Das soll dafür sorgen, dass die Schuldenbremse 2023 zum ersten Mal seit 2019 wieder greifen kann.

Vorerst hat Finanzminister Christian Lindner die Brotkrumen der Arbeitslosen im Visier. Es sollen ab 2023 nur noch 4,2 Millionen statt wie bisher 4,8 Mrd. für die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen ausgegeben werden – ein sattes Minus von 609 Millionen. Das Geld wird momentan für staatlich finanzierte Jobs in der freien Wirtschaft für Langzeitarbeitslose ausgegeben. 42.000 Beschäftigte würden so ihren Lebensunterhalt verlieren.

Selbst aus der SPD kommen Stimmen, die die Wirtschaftlichkeit dieses Vorhabens kritisch sehen. Die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen kann nämlich helfen, den Fachkräftemangel in Deutschland abzudämpfen. Das Ergebnis des „sozialen Arbeitsmarktes“ gilt zudem als erfolgreich. Auch sind Wiedereingegliederte nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen, weshalb selbst die CDU den Vorschlag des Krawall-Neoliberalen Lindner ablehnt.

Doch bei nüchterner Betrachtung stellt sich auch die Frage, wieso der Staat das Kapital überhaupt von unseren Steuergeldern dafür bezahlt, Langzeitarbeitslose einzustellen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um eine Lohnsubvention des Staates an die Wirtschaft. Besser wäre hier der Zwang zur Einstellung bei vollen tariflichen Entgelten statt Geldgeschenken. Außerdem ist das Geld, was dadurch jährlich eingespart wird, eher marginal. Die Ankündigung Lindners erfolgt also vor allem aus dem Grund, weiter den Druck auf die Arbeiter:innenklasse zu erhöhen, wodurch Langzeitarbeitslosigkeit in Zukunft wahrscheinlich den lebenslangen wirtschaftlichen Ruin bedeuten wird. Außerdem verknüpft er den Vorschlag demagogisch mit der Ablehnung von Steuererhöhungen, um so auf Kosten der Ärmsten der Armen Sympathien für seine Partei zu holen. Es wird also in neoliberaler Manier schön nach unten getreten.

Dabei sind Steuererhöhungen genau das, was wir brauchen – und zwar bei den Reichen! Statt das menschenunwürdige Hartz-IV-System weiter zu beschneiden, sollte die Regierung das Geld bei denen holen, die es im Überfluss haben. Die Besitzer:innen und Manager:innen von VW, Bayer und Co. müssen sich nämlich keine Angst über einen kalten Winter oder steigende Lebensmittelpreise machen. Außerdem gibt es noch immer umweltschädliche Subventionen für Diesel oder Kerosin. Hier muss der Rotstift dringend angesetzt werden.

Bei den Kapitalist:innen dagegen mangelt es vielleicht hier und da an Materialien und Vorprodukten, aber sicher nicht an Zuwendungen durch die Regierung und vielerorts auch nicht Profiten. Dem „Rest“ der Bevölkerung steht hingegen ein kalter Winter bevor. Während das Gasangebot sinkt, steigen die Preise enorm. Viele werden sich eine warme Wohnung nicht mehr leisten können. Nebenbei frisst die Inflation Löhne und Sozialleistungen auf. Auch hierzulande verringert sich der Lebensstandard. Um Lindner sein eigenes Argument vorzuhalten: Wir können uns weitere Kürzungen nicht leisten!

Die angekündigten Maßnahmen werden nur die ersten einer ganzen Reihe von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse darstellen, die in Zukunft folgen werden. Sie verdeutlichen einmal mehr, wie die sog. Fortschrittsdiskussion tickt. Es ist wichtig, für diese gegenwärtige und drohende Gefahr das Bewusstsein der Massen zu schärfen.

Regierung und Kapital stimmen Deutschland bereits darauf ein, dass die „fetten Jahre“ vorbei sind. Für Hartz-IV-Empfänger:innen und die über 20 %, die prekär beschäftigt sind, klingen diese Formulierungen sowieso wie Hohn. Lasst uns also dafür sorgen, dass vor allem für das Kapital die fetten Jahre der Bereicherung vorbei sind!

Wer die Krise bezahlen wird, ist noch nicht entschieden. Das werden wir noch auf den Straßen und in den Fabriken mit Streiks und Demonstrationen ausfechten müssen. In diesem Kampf stehen besonders die Gewerkschaften in der Pflicht. Sie müssen endlich mit der Politik der Partnerschaft mit Kapital und Regierung brechen und stattdessen für wirtschaftliche, soziale und politisch Forderungen mobilisieren, die unsere Lebensbedürfnisse sichern.




Minijobs: Der Weg in die Altersarmut wird ausgebaut

Paul Neumann, Infomail 1179, 5. März 2022

SPD und Grüne versprachen in ihren Wahlprogrammen, Minijobs abschaffen. Die Koalitionsvereinbarung verkündet nun das Gegenteil: Minijobs sollen ausgebaut werden. Die Geringfügigkeitsgrenze soll von 450 auf 520 EUR sozialversicherungsfrei angehoben werden. Das freut alleine die Unternehmer:innen und Wohlhabende, werden doch für sie prekäre Arbeitsverhältnisse wie Minijobber:innen und Haushaltshilfen noch lohnender. Für die in Minijobs Beschäftigten sind Entqualifizierung und Altersarmut vorprogrammiert.

Geringfügige Beschäftigung

Mit der Agenda 2010 in den Jahren 2002 – 2004 wurde neben der Schaffung eines Niedriglohnsektors auch die „geringfügige Beschäftigung“ neu geregelt. Seitdem steigt die Zahl der Minijobs kontinuierlich an. 2019 waren ca. 7 Millionen Menschen in einem 450-Euro-Job beschäftigt, d. h. jedes 5. Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein prekäres. Nur für ein Drittel stellt der Minijob einen Nebenverdienst dar, aber für zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten das alleinige Einkommen. Das ist mit massiven negativen Folgen verbunden: Eine Einzahlung in die Renten- und Sozialkassen findet praktisch nicht statt. Der/Die „Arbeitgeber:in“ kann einen Pauschalbetrag zur Rentenversicherung über die Minijobzentrale einzahlen, was aber lediglich bei 450 EUR Einkommen zu einem Rentenzuwachs in Höhe von 3,64 EUR/mtl. führt, so dass ca. 80 % der Minijobber:innen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Ebenso sind sie nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, was in der Corona-Krise für ca. 2 Millionen entlassene Minijobber:innen fatale Folgen hatte. Weder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosen- noch Kurzarbeiter:innengeld, so dass sie Leistungen beim Jobcenter beantragen mussten. Darüber hinaus werden ihnen grundlegende Rechte systematisch vorenthalten. Grundsätzlich stehen geringfügig Beschäftigten die gleichen Rechte zu wie Vollzeitbeschäftigten. So haben sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz oder Elternzeit. Die Realität sieht anders aus. Laut einer Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) erhält rund ein Drittel keinen bezahlten Urlaub und fast der Hälfte wird die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Ebenso werden gesetzliche Pausen und Ruhezeiten eher selten eingehalten. Zudem verfügen mehr als die Hälfte über eine Ausbildung in dem Bereich, in dem sie beschäftig sind, werden aber i. d. R. mit Mindest- oder Aushilfslohn abgefertigt.

So ist es kein Wunder, dass eine eigenständige Existenzsicherung mit einem Minijob nicht möglich ist. Die materielle Abhängigkeit, besonders von Frauen, von einem Partner mit Einkommen wird so gefördert. Wer nicht in dieser „glücklichen“ Lage ist, wie viele alleinerziehende Frauen, dem/r bleibt nur der Gang zum Jobcenter. 2020 bezogen mehr als 1 Millionen berufstätige Menschen, als sog. Aufstocker:innen, Leistungen nach SGB II (Hartz IV). Ein Drittel davon ist als Minijobber:in beschäftigt. Durch die rot-grüne Koalition wurde mit der Agenda 2010 faktisch ein Kombilohn zugunsten der Unternehmen geschaffen, der auf Kosten der Lohnabhängigen jährlich mit 10 Milliarden EUR subventioniert wird und zusätzlich den Sozialversicherungen Einnahmeausfälle von über 3 Milliarden EUR beschert.

Wurden jahrelang Minijobs, gerade für Langzeitarbeitslose, also Hartz-IV-Bezieher:innen, als Brücke zurück in den 1. Arbeitsmarkt angepriesen, zeigt die o. g. Studie des IAB, dass das Gegenteil der Fall ist: Minijobs verdrängen im großen Stil reguläre Arbeitsverhältnisse und stellen nur in sehr geringen Umfang eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt dar. Einmal Minijobber:in, immer Minijobber:in ist die Realität. Betroffene verbleiben vielmehr „oft im Niedriglohnsegment und arbeiten in vielen Fällen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, so die Bilanz des IAB. Allein in Kleinbetrieben sollen lt. IAB 500.000 reguläre Arbeitsplätze durch Minijobs abgebaut worden sein.

Was tun die Gewerkschaften?

Haben die Gewerkschaftsspitzen von 2002 – 2004 unter Rot-Grün aktiv an der Regierungs-/Unternehmer:innenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung des VW-Personalvorstandes Hartz mitgewirkt und die Legalisierung von Minijobs als Nebenerwerb und die Entgrenzung der Tätigkeit von 15 Wochenstunden unterstützt, so ist ihr Verhalten heute ambivalenter. Schließlich haben „hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob in der Corona-Krise verloren – ohne jede Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren“ (Guido Zeitler, Gewerkschaft NGG). Der DGB fordert, geringfügige Beschäftigung sollte vollständig sozialversicherungspflichtig werden.

Die Konsequenz aus diesen Einsichten, die Organisierung von prekär Beschäftigten voranzutreiben, um für die Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, bleibt jedoch aus. Stattdessen setzen die Gewerkschaften auf folgenlose Appelle an die Regierung und fordern staatliche Regulierung. Nach dem Willen des DGB sollen Beschäftigte vom Staat besser über ihre Rechte aufgeklärt und Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz härter bestraft werden.

Haushaltshilfen

Deutlich wird dieser staatskorporatistische Umgang des DGB mit der wachsenden prekären Beschäftigung am Beispiel von Minijobs in Privathaushalten. Von den ca. 3,6 Millionen Haushaltshilfen, die in deutschen Haushalten arbeiten, sind ca. 80 % nicht über die Minijobzentrale angemeldet, also illegal beschäftigt. Ein Großteil arbeitet als Pflegekräfte in den Familien.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich hier das Modell der „24-Stunden-Pflege“. Das System der 24-Stunden-Pflege alter Menschen in den eigenen vier Wänden funktioniert vor allem, weil Zehntausende schlecht bezahlter ausländischer Pflegekräfte, vorwiegend Frauen aus EU-Osteuropa und der Ukraine, sie betreuen, pflegen und versorgen. Für das deutsche Pflegemodell sind die osteuropäischen Betreuungskräfte mittlerweile systemrelevant. Ohne sie würde das System zusammenbrechen, sie ersparen den Pflegekassen Milliardenbeträge. Dafür schaut der Staat seit Jahren weg und toleriert die durch die Bank prekären Arbeitsbedingen der osteuropäischen Pflegekräfte. Die arbeiten in der Regel unter sehr fragwürdigen Bedingungen: rund um die Uhr, kein Urlaub, wenig Geld (1.300 – 1600 EUR). „Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Laissez-Faire durch ein Grundsatzurteil nun Grenzen gesetzt. Das höchste deutsche Arbeitsgericht entschied, dass einer Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur vermittelt wurde und die nach eigenen Angaben rund um die Uhr eine über 90 Jahre alte Seniorin in Berlin versorgte, der deutsche Mindestlohn zusteht – auch für Bereitschaftszeiten. Das System der 24-Stunden-Pflege gerät damit ins Wanken.“ (ARD,Tagesschau, 25.06.2021)

Das Grundsatzurteil setzt dieser Praxis nun Grenzen? Oder? Davon ist noch nichts zu sehen und nichts zu erwarten. Danach stehen einer 24- Stunden-Pflegekraft über 9.000 EUR/mtl. zu. Das können sich nur wenige leisten. Zudem ist der Entscheid erstmal ein Einzelurteil für die bulgarische Pflegekraft. Dass nun massenhaft Klagen bei den Arbeitsgerichten eingehen, ist bisher nicht der Fall und auch nicht zu erwarten. Denn auch die meisten migrantischen Pflegekräfte sind auf die Scheißjobs angewiesen, da Besseres nicht zu haben ist – nicht in Deutschland und in ihren Heimatländern schon gar nicht. So schränkt man sich ein, wohnt im Haushalt der Pflegebedürftigen, pflegt, kocht, putzt und kümmert sich 12 Std. am Tag und schläft auf dem Sofa neben dem Pflegefall in Dauerbereitschaft. Für Unterkunft und Verpflegung werden i. d. R. noch einige Hundert EUR angerechnet, sodass oftmals weniger als 1.000 EUR netto an die Familie ins Heimatland geschickt werden können, die dort ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern. „Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte“, so der Forderungskatalog von Andreas Westerfellhaus, des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem „Megathema der Politik“ werden. Das Ziel sei weder, funktionierende Pflegesettings zu zerstören noch prekäre Arbeitsbedingungen und fragwürdige rechtliche Konstellationen zu tolerieren.

Das Gesundheitsministerium sieht das offenbar anders. Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutzvorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern, schreibt es. „Bedarf für Änderungen mit Blick auf das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der internationalen Arbeitsorganisation sieht die Bundesregierung nicht“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei. Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

So bleibt erst einmal alles beim Alten.

Im Konzept des DGB, mit dem schönen Namen „Arbeitsplatz Privathaushalt – Gute Arbeit ist möglich“, steht nicht etwa die Interessenvertretung der meist migrantischen Beschäftigten im Zentrum, sondern die Bezuschussung professioneller Dienstleister:innen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung im Haushalt. Auch sollen nicht mehr die Vermittlungsagenturen, bei denen die ausländischen Haushaltshilfen rechtlich angestellt sind und die fette Vermittlungsprovisionen kassieren, nach den Plänen des DGB für die Sozialversicherungsbeiträge aufkommen, sondern der Staat. Zudem soll der Zoll bisher unzulässige Kontrollen in Privathaushalten durchführen, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen.

Während in Europa und weltweit immer mehr Gewerkschaften prekär Beschäftigte organisieren und diese Schichten der Arbeiter:innenklasse vielerorts schon das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bilden, um mit konsequenten Arbeitskämpfen für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, setzen die deutschen Gewerkschaften auf staatliche Regulierung und Kontrollen statt auf gewerkschaftlichen Kampf mit den Betroffenen.

  • Abschaffung aller nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsmodelle!
  • Keine Beschäftigungsmodelle unterhalb des Mindestlohn im Beschäftigungsland, wie z. B. für Haushaltshilfen, Saisonarbeitskräfte/Erntehelfer:innen, Werk- und ausländische Arbeitsverträge!
  • Aufnahme von allen in Deutschland beschäftigten Ausländer:innen in die Gewerkschaften.



Armut und Prekarisierung: Hartz IV muss weg!

Tobi Hansen, Neue Internationale, Dezember 2019/Januar 2020

Im November verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Ausgehend von einem Urteil des Sozialgerichts von Gotha musste überprüft werden, ob die umfangreichen Sanktionen des Hartz-Regimes noch mit dem Auftrag vereinbar wären, das „Existenzminimum“ zu sichern.

Selbst dem Gericht kamen diesbezügliche Zweifel. Es zog
damit immerhin eine banale Wahrheit in Erwägung, die Menschen, die auf Hartz IV
angewiesen sind, längst bekannt ist. Ein wie auch immer definiertes
„menschenwürdiges“ Leben gibt es für diese Bevölkerungsgruppe letztlich nicht.

Sanktionen

Die seit 2004 ausgesprochenen Sanktionen gehen in die
Hunderttausende, ja Millionen – pro Jahr! Für Arbeitslose war stets klar, dass
auch der „volle“ Satz ein „Existenzminimum“ mehr schlecht als recht sichert.
Das belegt allein schon der Ansturm auf die Geldautomaten an jedem Monatsende
in der Hoffnung, wieder Geld zu bekommen. Der Regelsatz für Alleinstehende
betrug 2004 335 Euro, 15 Jahre später liegt er bei 422 Euro. Zusätzlich werden
nur die Miete für eine „angemessene“ Wohnung und die Versicherungskosten
übernommen.

Was die Existenz noch sichern soll, welche Wohnung als
angemessen gilt, darüber entscheidet eine Bürokratie, deren Willkür alle
EmpfängerInnen ausgeliefert sind. Die sog. Sachverständigen rechneten rund um
den Warenkorb, versuchten dabei, die „soziale Teilhabe“ zu integrieren, und
hegten nach 2004 auch den Plan, bis zu zwei Drittel vom Regelsatz als
Sanktionen zu kürzen. Auch das würde nach ihren Berechnungen zum Überleben noch
reichen.

Diese Willkür wurde auch bei den Sanktionen umgesetzt.
Erscheint der/die stigmatisierte Hartzi nicht zum Termin, erfolgt eine Kürzung
von 10-30 %. Auch bei Verspätungen dürfen die SachbearbeiterInnen nach eigenem
Gutdünken entscheiden. Wer zu wenige Bewerbungen pro Monat schreibt oder
angebotene Billigjobs „verweigert“, gilt als „unwillig“ – und kann auch
sanktioniert werden.

Wenn die Entwürdigung und Bestrafung mit
Lebensmittelgutscheinen anstelle von Geld den/die Arbeitslose/n noch immer
nicht gefügig gemacht hat, wird auch die Leistung für die Wohnung gestrichen
bzw. eine Mieterhöhung nicht übernommen.

Mit diesem System wollte die damalige SPD-Grünen-Regierung
den Standort Deutschland für die 
Globalisierung fit machen. Der damalige SPD Fraktionschef Müntefering
brachte mit der Aussage „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ nicht nur
seine Menschenverachtung zum Ausdruck, sondern auch, wie weitreichend die SPD
dem deutschen Kapital bei der Verarmung der ArbeiterInnenklasse behilflich sein
kann. Das Hartz- und Agenda-System markiert eine strategische Niederlage für
alle Lohnabhängigen, nicht nur die Erwerbslosen. Ohne dieses System wäre die
Ausdehnung „prekärer“ Arbeit, des Billiglohnsektors und erhöhter
Konkurrenzdruck auf die tariflich Beschäftigten unmöglich gewesen.

Dieses System wird grundsätzlich auch vom Verfassungsgericht
nicht in Frage gestellt. Nur seine schlimmsten, menschenverachtenden
„Auswüchse“ sollen abgeschafft oder gemildert werden.

Was wird umgesetzt?

So wird nach 15 Jahren festgestellt, dass die komplette
Streichung der Geldmittel und Zahlungen für die Unterkunft verfassungswidrig
gewesen sind und dem Menschenrecht und der Auslegung des Begriffs
Existenzminimum widersprechen. Nur Kürzungen bis zu 30 % sollen erlaubt sein.
Ausgenommen davon wären noch immer Menschen unter 25, da deren Situation gar
nicht verhandelt wurde.

Somit werden zunächst nur Kürzungen über 30 % ausgesetzt.
Die „Fachebene“ soll nun entscheiden, wie das Urteil praktisch umgesetzt werden
kann und ob die unter 25-jährigen Arbeitslosen auch darunter fallen könnten.
Die TechnokratInnen kapitalistischer Unterdrückung, z. B. im SPD-geführten
Arbeitsministerium, waren schon findig. Möglicherweise gebe es „Lücken“ im
Urteil des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit der Bild-Zeitung, welche nach dem
Urteil den Notstand ausrief, da jetzt die „FaulenzerInnen“ und
„SchmarotzerInnen“ wieder ganz einfach mit Hartz IV überleben könnten,
überlegen BeamtInnen des Arbeitsministeriums, inwieweit addierte Sanktionen
weitergeführt werden können. Die Idee ist so simpel wie zynisch. Wenn die
Kürzung um 60 % verboten ist, dann wäre vielleicht eine sechsmal ausgestellte
10%-ige legal.

Weder bei der Urteilsverkündung noch in der anschließenden
öffentlichen Debatte wurde die Frage gestellt, wie eigentlich mit den
vollstreckten illegalen Sanktionen jenseits der „erlaubten“ 30 % umgegangen
wird? Ein Recht auf Rückerstattung der Leistungen, auf Entschädigung für den
Verlust von Wohnungen, für Obdachlosigkeit … wurde offenbar erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Dabei betrafen allein von 2009-2019 die nun als
verfassungswidrig festgestellten Sanktionen insgesamt zwischen 700.000 und eine
Million Menschen pro Jahr.

An dieser Fortschreibung des Unrechts lässt sich ermessen,
wie ernst „linke“ SPD-Versprechungen zu nehmen sind. Während Malu Dreyer als
Interimsvorsitzende mit dem Satz „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“
hausieren ging, beriet das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium über
die Fortführung des Sanktionsregimes.

Die Linkspartei fordert die Umsetzung des Urteils und fände
es schön, wenn auch alle Sanktionen abgeschafft würden – eine
Aktionsperspektive zur Abschaffung des Hartz- und Agenda-Systems präsentiert
aber auch sie nicht.

Eine breite Empörung über die staatliche Abzocke der
Arbeitslosen bleibt aus, obwohl es viele drastische Fälle gibt, wo Menschen
aufgrund von Kürzungen ruiniert wurden. So wurden erst vor kurzem die
Leistungen für eine physisch und psychisch erkrankte Hartz-IV-Bezieherin in
Bayern auf 4,24 Euro gekürzt, weil das Einkommen ihres Mitbewohners, eines
Gelegenheitsjobbers, gegen Hartz-IV verrechnet wurde. Da ihr Betreuer
fürchtete, dass sie zu Hause verhungern oder sich das Leben nehmen könnte, wurde
sie in die Psychiatrie eingewiesen.

So geht die Pauperisierung und Verelendung breiter Teile der
Klasse weiter, daran ändert auch der Mindestlohn wenig. Höhere Kosten für
Wohnung, Energie und Verkehr fressen für die Masse jede Erhöhung von Lohn und
Lohnersatzgeldern weg.

Was tun?

Schon 2004 stellte sich die DGB-Spitze gegen die
Anti-Hartz-Bewegung und die Montagsdemos. Die Gewerkschaften nahmen das Urteil
des Verfassungsgerichts zwar positiv auf, aber in den letzten 15 Jahren haben
sie praktisch keinen Finger für die Arbeitslosen krummgemacht.

Im Kampf gegen das gesamte Hartz-IV-System sollten wir uns
daher auch heute auf DGB, SPD, ja selbst auf die Linkspartei nicht verlassen.
Sie müssen vielmehr zu Gegenaktionen getrieben werden.

Gerade den Linken in den Gewerkschaften wie den
AktivistInnen in den sozialen Protesten (Mieten, Sozialinitiativen), aber auch
in neuen Bewegungen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Es geht um einen Neuanlauf gegen alle Hartz- und
Agenda-Gesetze. Dieser muss mit Themen wie Kampf gegen Altersarmut oder prekäre
Beschäftigung verbunden werden. Die Forderung nach Abschaffung von Hartz IV
müsste dabei mit dem Kampf um ein Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus
Warmmiete für alle Erwerbslosen und RentnerInnen verknüpft werden, das jährlich
entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten erhöht wird.




SPD: Neubestimmung oder neue Illusionen?

Tobi Hansen, Infomail 1044, 1. März 2019

Die bürgerlichen Medien standen für die Regierungsparteien Spalier. Alle berichteten über die „Profilschärfung“ bei „Debattencamp“ und Vorstandsklausur der SPD. Bei der CDU heißt das „Werkstattgespräche“. Sozialdemokratie und Unionsparteien war es schließlich schon vor einiger Zeit „gelungen“, in den Meinungsumfragen gemeinsam unter die 50-Prozent-Marke zu sinken. Die SPD sackte an ihrem Tiefpunkt gar auf 12 oder 13 % ab – deutlich hinter die Grünen. Die Partei will nun Hartz IV „hinter sich lassen“ – Grund genug, dass am „Debattencamp“ Jubel ausbrach. Schließlich beschloss der Vorstand einstimmig das Papier „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ .

Bei der CDU hatte zwar die neue
Vorsitzende Kramp-Karrenbauer (AKK) die Anwesenden zunächst als SozialdemokratInnen
begrüßt. Nach diesem Lapsus wusste sie aber sehr wohl, was der mittlere und
obere Funktionärsstamm der Union hören wollte. Als Botschaft blieb übrig, dass
sich „ein 2015“ nicht wiederholen solle. Dies ist explizit nicht auf den
syrischen Bürgerkrieg gemünzt, sondern auf die Grenzöffnung der damaligen
Bundesregierung. Grenzen zu, Abschiebezentren, die „funktionieren“, und soziale
Auslese bei möglichen EinwanderInnen – das war die Botschaft für die CDU. Dort
fiel im Nachklang speziell der „Merz-Jünger“ Carsten Linnemann, Vorsitzender
der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT; „Mittelstandsunion“) der
CDU/CSU und deren Stellvertretender Fraktionschef, auf, welcher noch mehr
direkten staatlichen Rassismus einforderte.

Als Ergebnis stiegen beide
„GroKo“-Parteien in der WählerInnengunst. Glaubt man den aktuellen Umfragen,
könnten sie sogar wieder eine Mehrheit erreichen und die SPD holt gegenüber den
Grünen auf.

Im Chor der Hofberichtserstattung
wurde die „Profilschärfung“ allgemein begrüßt. Wenn die SPD wieder
sozialdemokratischer wäre und die CDU die innere Sicherheit vertreten würde,
könnte die AfD eingedämmt werden. Stabile demokratische Verhältnisse wären für
immer gesichert. „Vergessen“ wurde dabei, dass diese Parteien weiterhin
regieren, den Aufstieg der AfD wie auch den eigenen Niedergang zu verantworten
haben und die Probleme, die zu ständig neuen Regierungskrisen geführt haben,
nicht verschwinden werden.

Auch wenn die aktuellen Manöver
der Regierungsparteien Stabilität vortäuschen, bleibt ihr Zustand äußerst
fragil, doch zumindest scheint die Koalition bis zu den EU-Wahlen gesichert.
Die Fraktions- und Parteichefin der SPD, Nahles, feierte mit dem
Vorstandsbeschluss die programmatische „Erneuerung“. Somit herrschen auch in
der SPD erst mal „Burgfrieden“ und „Einigkeit“.

In beiden Regierungsparteien haben
sich die Vorstände zunächst durchgesetzt, die parteiinternen KritikerInnen
besänftigt und gezähmt. Speziell beim „Forum Demokratische Linke 21“ (DL21) in
der SPD erwuchs danach beinahe Begeisterung für die aktuelle Führung.

Bei allem Spott, der für diese
AkteurInnen nur allzu gerechtfertigt scheint, dürfen wir die aktuelle
Führungskrise des deutschen Imperialismus nicht vergessen. Inmitten der
globalen Spannungen erweist sich die EU als schwaches Glied innerhalb der
imperialistischen Ordnung. Die Führungsmächte Deutschland und Frankreich präsentieren
sich als Getriebene der inneren Widersprüche der Europäischen Union – nicht als
deren schlagkräftige Führung. Neben Brexit, italienischen Staatsschulden,
selbsternannten neuen FührerInnen des Volkes wird die deutsch-französische
Führung vor allem durch den aggressiven US-Imperialismus, aber auch den
Aufstieg Chinas herausgefordert.

In den aktuellen Handelskonflikten
finden Deutschland und Frankreich keinen gemeinsamen Handlungsauftrag für die
EU-Kommission. Zwar wollen beide Schutzzölle des US-Marktes möglichst
verhindern (z. B. gegen Autos, landwirtschaftliche Erzeugnisse),
allerdings strebt Deutschland einen umfassenden Vertrag an, z. B. eine
Neuauflage eines TTIP, während die französische Regierung dies derzeit ablehnt –
auch aus Furcht davor, dass dadurch die aktuellen Proteste gegen Macron
nochmals an Fahrt aufnehmen könnten.

Unter diesen Gesichtspunkten muss
auch der Versuch der Regierungsparteien betrachtet werden, sich zu
stabilisieren. Für die EU-Wahlen, die Zusammenstellung einer neuen Kommission
braucht der deutsche Imperialismus zumindest eine stabile politische
Vertretung.

Gleichzeitig sortieren sich die
Regierungsparteien neu sowohl für ein mögliches vorzeitiges Ende der GroKo wie
für die kommenden Europa-, Landtags- und Bundestagswahlen. Mit der aktuellen
„Profilschärfung“ versuchen beide, wieder mehr „Selbstständigkeit“ zu
suggerieren. Dies erklärt z. B. die aktuelle Gesetzesoffensive der SPD.

SPD – Erneuerung abgeschlossen?

Schon nach dem Debattencamp wurde
der Abschied von Hartz IV verkündet. Das Bürgergeld sollte dieses Kapitel für
die SPD beenden.

Hauptsächlich wird hier allerdings
inhaltliche Kosmetik betrieben. Dem aktuellen Vorstand scheint es sicher, dass
mit der Weiterführung von Hartz IV, „Agenda 2010“ und aktueller GroKo-Teilhabe
keine Wahlen mehr gewonnen werden können. Eine „soziale“ Neuorientierung soll
nun der SPD aus dem Dilemma helfen. Allerdings können wir keine konkreten
Forderungen erwarten. Nur hier und da scheint etwas Erkenntnis durch, was das
Hartz-IV-System angerichtet hat. So heißt es in „Ein neuer Sozialstaat für eine
neue Zeit“ auf Seite 14: „Das Bürgergeld wird Regelungen beinhalten, mit
denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den
Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht und gleichzeitig die alte
Winterjacke aufgetragen ist.“

Hartz IV hat
Armut „produziert“, der angegliederte Niedriglohnbereich wird weiterhin
Generationen in die „Armutsrente“ schicken. Zehntausende wurden obdachlos,
Millionen mussten sich an der „Tafel“ anstellen, wurden sozial ausgegrenzt und
ausgeschlossen. Mit Winterjacken und Waschmaschinen sieht’s dann auch schlecht
aus. Das abgeschaffte System der Sozialhilfe kannte „Sondermittel“ für Dinge
des täglichen Bedarfs. Diese wurden abgeschafft durch Hartz IV – durch die SPD.
Wir erfahren in der Aneinanderreihung mancher sozialer Phrasen in dem Beschluss
auch nichts über konkrete Erhöhungen der Geldmittel. Anscheinend wird das
Bürgergeld in Höhe des Hartz-IV-Satzes bleiben – da bleiben Winterjacke und Waschmaschine
Illusion.

Die konkretesten
Maßnahmen sind bei zwei Sachverhalten geplant. Einmal sollen die Ersparnisse
aus dem Arbeitsleben beim Bürgergeld bis zu 2 Jahren geschont werden, während
sie bislang bei Hartz IV zuerst aufgebraucht werden mussten. Des Weiteren soll
das Sanktionsregime zumindest verändert werden. Dazu wird folgendes formuliert:

„Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen gehören
abgeschafft. Die strengeren Sanktionen von unter 25-Jährigen sind sogar
offenkundig kontraproduktiv. Auch darf niemand wegen Sanktionen Angst haben,
obdachlos zu werden, daher wollen wir die Kürzung der Wohnkosten abschaffen.
Eine komplette Streichung von Leistungen soll es nicht mehr geben.“

Es
bleibt wohl das Geheimnis der SPD, was unter einer „sinnvollen“ oder gar
„würdigen“ Sanktion zu verstehen ist – von einer Komplettabschaffung des
aktuellen Regimes ist jedenfalls nicht die Rede.

Wir
wollen außerdem daran erinnern, dass einer sechsstelligen Zahl von
EmpfängerInnen die „Leistungen“ komplett gestrichen wurden und Millionen
Teilkürzungen hinnehmen mussten, dass sicherlich eine fünfstellige Zahl in den
15 Jahren durch das Hartz-IV-Regime obdachlos wurde, dass viele unter 25-Jährige
Schikanen erlebt haben und vor allem in den Niedriglohnbereich gehetzt wurden.
Unerwähnt bleibt auch die „voraussetzende“ Kürzung von ALG 1 und Hartz IV. Wer
sich nämlich nicht rechtzeitig gemeldet hatte, wird von der Arge mit 3 Monaten
kompletter Sperre bestraft.

Vor
allem vergisst die SPD, dass die entwürdigenden Sanktionen keinen Betriebsunfall
der rot-grünen „Reformen“ darstellen, sondern ein unerlässliches Mittel zum
Zweck – die Schaffung eines Niedriglohnsektors von Millionen und Abermillionen
Menschen, um das deutsche Kapital richtig konkurrenzfähig zu machen.

Die
zwangsmäßige Beschäftigung in Leih- und Zeitarbeit stellt nicht zufällig die
hauptsächliche „Sanktion“ gegen die Arbeitslosen dar. Hiermit wurde
festgeschrieben, dass die Ware Arbeitskraft eben nicht bestmöglich qualifiziert
wurde, sondern möglichst billig verkauft werden musste. Dass der SPD nach 15
Jahren auffällt, dass die strengeren Sanktionen und Vorschriften für unter 25-Jährige
sogar „offenkundig“ kontraproduktiv sein könnten, stellte eine kaum
überbietbare  Heuchelei und Verhöhnung
ebendieser Jugendlich dar. Besonders jugendliche MigrantInnen waren und sind einer
massiven Hetze ausgesetzt. Sie wären zu dumm, zu faul, um zu arbeiten. Daher
galten für sie besonders scharfe Vorschriften zur „Wiedereingliederung“ in den
Arbeitsmarkt.

Nach
mehreren Jobs in der Leih- und Zeitarbeit sehen viele jüngere Menschen keine
Perspektive in diesem System der Lohnarbeit. Da gleichzeitig das Klagen über
den „Fachkräftemangel“ quartalsweise auftaucht, muss sich wahrscheinlich sogar
ein SPD-Vorstand fragen, ob nicht eine „Korrektur“ nötig wäre, ob nicht
Qualifikation vor der Hilfsarbeit stehen sollte.

Welche
Sanktionen „sinnwidrig und unwürdig“ sind, lässt die SPD offen. Immerhin stellt
sie fest, dass es eine komplette Streichung der „Leistungen“ nicht mehr geben
soll. Ansonsten warten wir brav auf das Bundesverfassungsgericht. Dies will „in
einigen Monaten“ eine Entscheidung fällen. Stellen wir uns vor, dass vor den
drei ostdeutschen Landtagswahlen das Sanktionsregime insgesamt für
verfassungswidrig erklärt wird (höchst unwahrscheinlich, wahrscheinlich aber,
dass z. B. die komplette Streichung der Mittel fällt), wird die SPD ihren
„neuen Sozialstaat“ vielleicht wieder reformieren müssen.

Mit
ihrem Beschluss tut die SPD-Führung so, als ob sie einen ungerechten Zustand
beenden will, endlich wieder mehr Respekt und Teilhabe gegenüber den
Arbeitslosen einfordert. Sie stellt fest, dass dieses System nicht zu „besserer
Arbeit“ geführt hat. Aber sie verliert auch kein Wort darüber, warum es eine
SPD-geführte Regierung gegen den Widerstand einer Massenbewegung der
Arbeitslosen durchsetzte.

Vielmehr
entblödeten sich VertreterInnen der damaligen Führung nicht, gegen die aktuelle
SPD-Spitze, speziell gegen Nahles, zu poltern. Die SPD müsse aufpassen, dass
sie nicht zur Linkspartei mutiere und Nahles tauge nicht zur Kanzlerkandidatin.
Ihr fehle, ließ der Agenda-Kanzler Schröder ausrichten, der große ökonomische
Sachverstand. In der aktuellen Lage begeisterten sich freilich nur wenige für
die Ratschläge des Ex-Kanzlers. Ja, solche Querschläge nutzten dem Ansehen der
SPD-Spitze bei Mitgliedern wie WählerInnen eher, als ihr zu schaden.

So
wissen wir zumindest, dass die aktuelle Führung relativ „stabil“ ist. Die sog.
„Parteilinke“ applaudiert und stellt ihren kaum vorhandenen Widerstand gegen
den Vorstand wieder ein.

Und
die Mindestrente kommt auch noch

Nach
Jahren der Rentenkürzung, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, der Agenda
2010, der Ausweitung des Niedriglohnbereichs, der Pfändung der Vermögen von
Arbeitslosen will die SPD nun eine Mindestrente einführen. Von mindestens 950
Euro ist die Rede. Diese soll als „AufstockerInnen“-Rente vor allem den sog.
ArmutsrentnerInnen zugutekommen – inzwischen rund 20 Prozent aller
RuheständlerInnen.

Die
SPD veranschlagt die Zusatzkosten auf rund 5 Mrd. Euro pro Jahr, die Union auf
15. Finanzierbar wäre dies allemal. Mit der großen Koalition wird es aber
selbst das SPD-Modell nicht geben. Die bürgerlichen Medien rechnen schon jetzt
vor, wie der SPD-Vorschlag missbraucht werden könne.  Dafür soll das Beispiel „Zahnarztgattin“ herhalten. Diese
wäre nicht nur durch die Rente des Mannes abgesichert, sondern hätte auch noch
Anspruch auch eine Mindestrente. Mit solchen Tricks soll selbst das ohnedies
bescheidene SPD-Modell madig gemacht werden, würden doch in Wirklichkeit nach
wie vor Millionen RentnerInnen, die keine 35 Jahre Beiträge zahlen konnten,
leer ausgehen.

Viele
der Medien sprachen von einem „Linksschwenk“ der aktuellen Führung. Manche
versuchten, dies zusammen mit der alten Spitze als Bedrohung darzustellen. Der Rest
verortete dies als „Profilschärfung“, welche vor allem bei künftigen Wahlen
helfen könnte.

In
jedem Fall feiert die SPD ihre neue gewonnene „Einigkeit. Die interne
Auseinandersetzung wurde – vorerst – beendet Die „Partei-Linke“ sammelt sich
hinter dem Beschluss des Vorstands. Dies gibt dem auch freie Hand zum einen, um
in der Regierung jeden Tag gegen die gefassten Beschlüsse zu verstoßen, zum
anderen, um die somit „links blinkende“ SPD wieder als Regierungsoption
prozentual aufzuwerten und Hoffungen in einen „Politikwechsel“ und „Mehrheiten
jenseits der Union“ wieder zum Leben zu erwecken.

Verbliebene
„Linke“ wie Simone Lange, welche bei „Aufstehen“ mitmischt, sollten zwar
wissen, was ein Vorstandsbeschluss wert ist, wenn zugleich die Große Koalition fortgesetzt
wird – das ändert aber nichts daran, dass auch sie wieder stärker auf die SPD
orientieren werden.

Das
Entscheidende am Vorstandbeschluss besteht freilich nicht in der offenkundigen
Widersprüchlichkeit zwischen leichtem Blinken nach „links“ und der Fortsetzung
der GroKo. Es liegt vielmehr darin, dass er auch die Handschrift der
Gewerkschaftsbürokratie trägt – bis hin in einzelne Begriffe zur
Qualifizierung, „Zukunft der Arbeit“ usw. usf. Die SPD-Spitze bereitet sich
also nicht nur auf die Zeit nach der GroKo vor, sondern suchte in diesem
Zusammenhang offenkundig auch den Schulterschluss mit der betrieblichen und
gewerkschaftlichen ArbeiterInnenbürokratie.

Umsetzen?

Die
SPD hat sich mit den Beschlüssen einen Notausgang für die GroKo aufgebaut.
Daher versucht sie, sich auch mit sozialen Forderungen verlorengegangene „Glaubwürdigkeit“
zurückzuholen – auch wenn sie natürlich weiß, dass sie jeden Tag in der GroKo
diese untergraben muss. Die „Lösung“ besteht einerseits darin, in der Koalition
so zu tun, als würde sie dafür eintreten oder gar „kämpfen“. Andererseits
werden die Zukunftsvorstellungen bewusst vage gehalten, um nicht durch allzu
konkrete Formulierungen von Mitgliedschaft oder WählerInnen auf konkrete
Versprechen festgenagelt werden zu können.

Die
Linkspartei macht sich zugleich Sorgen darüber, ob ihr die SPD mögliche
WählerInnen abspenstig machen könnte. Schließlich liegen die beiden Parteien in
der Regierungspraxis  auf
Länderebene – siehe Berlin, Brandenburg, Thüringen – näher beieinander, als der
Linkspartei lieb sein kann.

Was
jedoch die Linkspartei und erst recht die SPD-Linke oder die Gewerkschaften
unterlassen, ist Folgendes: Sie fordern von der SPD nicht einmal ein, jetzt für
ihre Verbesserungsvorschläge zu mobilisieren, sie fordern von ihr keinen Bruch
der Großen Koalition oder die Unterstützung für die Forderungen der
Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Kein Wunder, denn dort verhandeln
SPDlerInnen schließlich für die Arbeiter„geber“Innenseite.

Eine
solche klare Positionierung wäre aber nötig. Dafür müssen linke SPDlerInnen,
SPD-Gewerkschaftsmitglieder und die Jusos mobilisieren. Ansonsten setzten sie
bloß ihre unrühmliche Politik der letzten Monate als linke Flankendeckung einer
SPD-Spitze fort.




Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die Begriffe „Prekariat“ oder „Prekarisierung“ sind vor einigen Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelt worden. Mittlerweile haben sie Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Kein Wunder, denn die unter „Prekariat“ subsummierten Schichten der Bevölkerung sind spätestens im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden, das schier unaufhaltsam weiter zunimmt.

Verwendung in der Soziologie

In der Soziologie wird „Prekariat“ auch mit „Unterschicht“ kombiniert oder zumindest festgestellt, dass „die Grenzen fließend sind“. In unserem Artikel wollen wir die soziologische Betrachtungsweise verlassen und das Prekariat einer Klassenanalyse unterziehen. Dabei untersuchen wir, welche Beschäftigungsgruppen und -verhältnisse unter „Prekariat“ zusammen gefasst werden, welche Interessen beim „Arbeitgeber“, dem Kapital, hinter diesem Prozess stehen. Wir stellen uns auch die Aufgabe, programmatische Antworten für diese Teile der Klasse zu entwickeln bzw. das Prekariat als Teil der Arbeiterklasse zu definieren.

Dabei fragen wir, welche Rolle die Gewerkschaften für diese Beschäftigten einnehmen können und wie die DGB-Gewerkschaften auf diese neuen Beschäftigungsverhältnisse reagieren sollten, welche Forderungen und welche Organisierung sinnvoll ist.

Erweitern wollen wir das „Prekariat“ auch um die Bereiche, welche nicht ausschließlich im Niedriglohnbereich zu finden sind. Auf die Gruppen, welche in die „Selbstständigkeit“ getrieben wurden, die entkoppelt worden vom „unbefristeten“ Arbeitsverhältnis. Dazu gehören auch die Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Neustrukturierung des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch das Kapital – sei es durch „Arbeitsverleiher“ oder Internetplattformen fürs Projektmanagement.

Schließlich müssen wir diese Prozesse auch einordnen in die aktuelle Krisenperiode des globalen Kapitalismus. Die Entwicklung eines „Prekariats“ in der BRD steht im internationalen Zusammenhang der kapitalistischen Arbeitsteilung und den Anforderungen an das globale Proletariat bzw. was sich der Kapitalismus darunter vorstellt.

Neben diesen Einordnungen wird es auch wichtig sein, einen Blick auf die Lebenswirklichkeit dieser Teile der Beschäftigten zu werfen, um anhand dessen die Möglichkeiten, aber auch die Einschränkungen für den politischen Kampf wahrzunehmen.

Über wen sprechen wir überhaupt?

Wir beginnen bei der Sprache. Bei Wikipedia lesen wir: „Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ als eine neue soziale Gruppierung. Der Begriff selbst ist ein Neologismus, der vom Adjektiv prekär (schwierig, misslich, bedenklich) analog zu Proletariat abgeleitet ist. Etymologisch stammt das Wort „Prekariat“ vom lat. precarium = ein bittweises, auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis (Prekarium).“ (1)

In dieser sprachlichen Herleitung finden wir einige Hinweise über die Beschäftigungsverhältnisse. Besonders das Prekarium bringt schon inhaltlich die heutige Form der Zeitarbeit auf den Punkt – das auf kurze Zeit befristete Verhältnis des Verkaufs der Ware Arbeitskraft.

Widersprüchlich ist sicher die Definition als „neue soziale Gruppierung“, da der „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ keine neue Entwicklung im Kapitalismus ist, sondern eine wichtige Grundlage des Aufstiegs des Kapitalismus als Weltsystem darstellt. Hinzu kommt, dass diese Lage für die Masse der Lohnabhängigen außerhalb der imperialistischen Zentren (und der degenerierten Arbeiterstaaten, solange sie existierten) immer ein durchaus „normales“ Verhältnis darstellte.

Wenn Soziologen von einer „neuen“ Gruppierung sprechen, dann meinen sie meist den Gegensatz zum „Normalarbeitsverhältnis“. Dieser Gegensatz ist natürlich vorhanden, wie auch die soziale Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse nicht neu ist. Im Gegenteil: die Geschichte des Kapitalismus ist immer von Differenzierungen in der Arbeiterklasse geprägt, die auch einem historischen Wandel unterworfen sind.

Die erste und wichtigste, treibende Veränderung ist dabei die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Diese hat z.B. eine permanente Tendenz zur Entwertung der Ware Arbeitskraft und eine permanente Tendenz, die Arbeiterklasse zum Verkauf der ihrer Arbeitskraft unter ihrem Wert zu treiben – durch die Herausbildung einer „industriellen Reservearmee“ und einer „relativen Überbevölkerung“. So spricht Marx im Kapital schon von der Entwicklung von Schichten des Subproletariats, vom Pauperismus bis hin zum Absinken ins Lumpenproletariat. (2)

Ende des 19. Jahrhunderts analysierte auch Engels, dass das britische Welthandelsmonopol zur Absonderung einer relativ privilegierten Schicht der Arbeiterklasse – der „Arbeiteraristokratie“ führt. (3) Lenin arbeitet später in seiner Analyse des Imperialismus heraus, dass die „Arbeiteraristokratie“ zu einem allgemeinen Phänomen aller imperialistischen Staaten und zu einer sozialen Hauptstütze des Reformismus, zur Basis bürgerlicher Arbeiterparteien – und damit zur Sicherung bürgerlicher und imperialistischer Herrschaft – wird. (4) Dieses Phänomen hat sich bis heute erhalten und lässt sich selbst in halb-kolonialen Ländern, insbesondere den industriell entwickelten finden, wenn auch als weitaus kleinere Schicht innerhalb der Arbeiterklasse.

Bildlich gesprochen: Der „Arbeiteraristokrat“ ist heute jener, dessen Haustarifvertrag höher ist als der Flächentarifvertrag der Branche, der, welcher nach zwei Nullrunden während der Rezession eine Prämie im fünfstelligen Bereich ausgeschüttet bekommt – in der BRD arbeitet dieser meist in der Exportindustrie.

Der „Subproletarier“ wäre heute dann wohl in der Zeitarbeit beschäftigt, wäre „saisonal“ arbeitslos und müsste den Zeitarbeitslohn von der ARGE „aufstocken“ lassen oder hätte am Wochenende noch einen Mini-Job.

Diese simple soziale Gegenüberstellung lässt Zweifel aufkommen, inwieweit der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ eine brauchbare Kategorie ist. Wenn die Soziologie damit die unbefristete Festanstellung mit überdurchschnittlichem Lohn und Sozialversicherung meint, so müssen wir – marxistisch betrachtet – feststellen, dass dieses im Kapitalismus nie „normal“ war, also nie für die Mehrheit der globalen Arbeiterklasse galt. Nur für einzelne Länder waren sie für einen begrenzten Zeitraum von 30-40 Jahren die Regel.

Hinzu kommt, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ selbst nicht einfach vom Kapital zugestanden wurde, sondern meist erst nach Kämpfen der Lohnabhängigen.

Zunahme prekärer Verhältnisse

Der Prozess der „Prekarisierung“ von Beschäftigung lässt sich v.a. in der Zunahme der Zeit- und Leiharbeit in der BRD in den letzten 10 Jahren feststellen. Prekarisierung bedeutet dabei, dass Teile der vormaligen „Normal“arbeitsverhältnisse – grob gesagt unbefristete, tarifliche Beschäftigung – entrechtet wurden.

An erster Stelle steht dabei die zeitliche Befristung der Beschäftigung. Dem folgt zwangsläufig die Senkung des Lohns und die Auslagerung von Produktionsstätten und Sphären aus dem Kernbereich des Unternehmens.

Gleichzeitig werden vormals „volle“ Stellen in Teilzeitstellen umgewandelt. Unter dem Stichwort „Flexibilität“ ist vom 400-Euro-Minijob, über 630-Euro-Stellen und „Teilzeit“ oder Altersteilzeitmodelle ziemlich viel zu finden.

Diese Veränderung des Arbeitsmarktes war eine direkte Folge der „Hartz-Gesetz“ unter Rot/Grün, die Agenda 2010 war seit der  kapitalistischen Wiedervereinigung der heftigste Angriff in der BRD-Geschichte auf das Lohnniveau der Arbeiterklasse und der  Arbeitslosen.

Durch diese Angriffe explodierte der Leih- und Zeitarbeitssektor, ebenso wurde ein staatlicher Zwangsarbeitssektor durch die Ein-Euro-Jobs eingeführt. Für die Ausbreitung der Leiharbeit war das VW-Projekt „5.000 x 5.000“ der Startschuss, dabei bekamen die VW-internen LeiharbeiterInnen damals 5.000 DM brutto, ca. ein Drittel weniger als der damalige Haustarif bei VW. Inzwischen haben alle „Global Player“ des deutschen Kapitals ausgegliederte Beschäftigungsgruppen. Zumeist gehört den Konzernen auch die Leiharbeitsfirma, mit denen ganze Bereiche der Produktion niedriger bezahlt werden.

Auch die Einführung der „Ich -AG´s“ gehört zu dieser Neustrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse, dort entstand ein Druck Richtung Selbstständigkeit inkl. günstiger Kredite, wodurch in Hochzeiten über 100.000 als „Ich AG“ geführt wurden.

Alle heutigen Entwicklungen im „Prekariat“, im Niedriglohnbereich haben daher einen Ausgangspunkt in den Angriffen der Schröder/Fischer Regierung. Hier sollte der Arbeitsmarkt „fit für die Globalisierung“ gemacht werden, dies hieß v.a. Lohnsenkung im großen Stil, Kürzung der sozialen Transferleistungen inkl. der Zusammenlegung von ALG 2 und Sozialhilfe.

Als Folge davon konnte die offizielle Arbeitslosigkeit gesenkt werden, die Beschäftigungszahlen stiegen, während die Lohnstückkosten in den letzten 10 Jahren fielen und die Reallöhne sanken – insoweit war ein wichtiges Ziel des deutschen Kapitals erreicht.

Ausmaß prekärer Beschäftigung

Von den ca. 40 Millionen Beschäftigten, die in der BRD gezählt werden, sind 14 Millionen Stellen nicht oder nur eingeschränkt sozialversicherungspflichtig. Die Zahlen der voll sozialversicherungspflichtigen Jobs sinkt konstant und liegt derzeit bei ungefähr 26 Millionen.

Im Niedriglohnbereich arbeiten derzeit nach verschiedenen Zählungen zwischen 6-8 Millionen Beschäftigte. Dazu kommen die Beschäftigten im Teilzeitbereich mit halben oder „Drittel“-Stellen, Mini-Jobs und in Altersteilzeit.

Die ILO hat folgende Definition für prekär Beschäftigte: „ …die aufgrund ihres Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen, die wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitssituation haben, die nur partiell im arbeitsrechtlichen Schutzkreis stehen und deren Chancen auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht sind.“ (5)

In der BRD orientiert sich die Existenzsicherung am allgemeinen Durchschnittslohn. Dieser lag im 1. Quartal 2011 bei ca. 3.200 Euro brutto. 36% aller Beschäftigten verdienen weniger als 2/3 des Durchschnittslohns, mehr als die Hälfte von diesen verdient weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Diese Lohngruppen stellen den Niedriglohnbereich bzw. die als „Working Poor“ bezeichneten Teile der Klasse dar.

Besonders die Zunahme der „Mini-Jobs“ von 1996-2006 um 163% (6) ist eine entscheidende Triebfeder der Prekarisierung. Hier werden immer mehr „Normalarbeitsverhältnisse“ in Teilzeit- oder Mini-Jobs verwandelt. Immer mehr Menschen müssen mehrere Jobs ausüben, wie auch gleichzeitig größere Bereiche der Klasse unbefristet und unsicher beschäftigt sind. Dabei steigt zwar die Gesamtzahl der Beschäftigten, aber nicht die Zahl der Arbeitsstunden, diese werden nur auf mehr Köpfe und Hände verteilt.

Generation prekär?

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die junge Generation einen Hauptteil der prekär Beschäftigten ausmacht. An dieser Generation werden die Neuerungen des Arbeitsmarkts direkt getestet. Somit ist die Jugend im Niedriglohnbereich führend, ebenso in der Erwerbslosigkeit (doppelt so hoch wie im Durchschnitt).

Laut einer Jugendstudie des DGB arbeiten nur 30% der unter 35jährigen in einem „Normalarbeitsverhältnis“, inkl. unbefristeter Anstellung und einem Lohn von mindestens 2.300 Euro brutto. Einen wichtigen Teilaspekt der „Generation Praktikum“ macht auch die Herausbildung eines wissenschaftlichen Prekariats aus. Zur „Generation Praktikum“ gab es eine Kampagne der DGB-Jugend. Bei den öffentlichen Kundgebungen und Aktionen liefen zumeist AktivistInnen mit weißen Masken, welche die „Gesichtslosen“ der Betriebe und Firmen darstellen sollten – gesichtslos sind diese zumeist auf den Lohnzetteln, aber nicht in den Abteilungen und gegenüber den anderen Beschäftigten.

So kennt fast jeder Azubi auf der Berufsschultour der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg PraktikanntInnen im Betrieb und fast jeder kennt auch ein Hauptmerkmal – die PraktikantInnen arbeiten umsonst. Diese Sklaven-Praktika bestimmen den Markt und gelten oft als Voraussetzung für zukünftige Einstellungen oder für einen Ausbildungsplatz. Die Hälfte dieser Stellen wird nicht entlohnt – trotz Vollzeit und oft vergleichbarer Arbeit wie die Festangestellten. Wenn dann doch Lohn oder “Entschädigung“ gezahlt wird, dann werden 30% der Praktika mit weniger als 500 Euro entlohnt. Davon kann niemand leben. Dort müssen dann die Einkommen der Eltern oder Erspartes dran glauben.

Die Azubis wissen auch, dass diese PraktikantInnen KonkurrentInnen am Arbeitsplatz sind. Zwischen 16 und 18 müssen viele Jugendliche ein Praktikum machen, um überhaupt Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Gerade für Jugendliche mit einem mittleren Schulabschluss (z.B. Realschule) oder mit Hauptschulabschluss ist das Praktikum meist die Einstiegserfahrung in den Arbeitsmarkt.

Dieser Einstieg wird mittlerweile aber auch für viele HochschulabsolventInnen zur ersten Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. Inzwischen berichten auch bürgerliche Medien regelmäßig über die Praktika-Rotation von Uni-AbsolventInnen bei Großkonzernen. Es wird davon geredet, wie die Hoffnung auf eine Festanstellung beständig schwindet und das nächste Praktikum begonnen wird. Besonders die „Projektabteilungen“ der Konzerne, welche meist selber schon „outgesourct“ sind, beschäftigen so immer wieder dutzende PraktikantInnen – per Kooperation mit den jeweiligen Fachbereichen an den Unis wird so für steten Nachschub gesorgt.

Ideologisch verbrämt wird dieses Dilemma der kapitalistischen Arbeitswelt durch das Motto „einen Fuß in die Tür bekommen“. Damit wird seit Jahrzehnten das Umsonst-Praktikum beworben. So könne man sich am besten für eine feste Stelle präsentieren. Daraus haben die meisten Unternehmen eine Beschäftigungsnische geschaffen, in der den PraktikantInnen regelmäßig die Tür wieder zugeschlagen wird, was aber kein Problem ist, da die nächsten schon auf Abruf bereit stehen.

Sollte die Erwerbslosigkeit am Beginn stehen, dann sorgt die Arbeitsagentur für die Eingliederung in den Niedriglohnbereich. Wenn 18jährige nach der Schule Hartz IV beantragen, da sie keine Ausbildungsstelle bekommen haben, investiert die ARGE keine Mittel in die Ausbildung und Qualifizierung der Jugendlichen; sie werden vielmehr zu den Leih- und Zeitarbeitsfirmen gejagt. Nach der nun gültigen Eingliederungsvereinbarung darf der Jugendliche keinen Zeitarbeitsjob mehr ablehnen. Wenn er/sie das dennoch tut, droht sofort eine 20prozentige Kürzung und im nächsten Schritt die Streichung von Geldleistungen. Diese Jugendlichen landen zumeist in Hilfsarbeiterjobs, werden saisonal von Zeitarbeitsfirmen an die Großfirmen verschachert und bilden eine Kernschicht des Niedriglohnsektors in Deutschland.

Auf der anderen Seite finden wir die jungen AkademikerInnen, die seit der BA/MA-Reform einige akademische Privilegien verloren haben. Dort nimmt die Prekarisierung v.a. die Form der Befristung an, von Teilzeitarbeit und geringeren Aufstiegsmöglichkeiten. Während die Fachbereiche mit Drittmittelförderung durch Unternehmen neue Stellen schaffen können bzw. dortige Privilegien weiter Bestand haben, sind andere Fachbereiche von Kürzungen und Rationalisierungen betroffen, gerade dort tritt eine „Proletarisierung“ verschiedener akademischer Mittelschichten ein.

Prekariat, Arbeitslose, ArbeiterInnen

Während die Soziologie das Prekariat als „Grenzgänger des Arbeitsmarkts“ vom „normalen“ Proletariat trennt, muss eine Klassenanalyse tiefer greifen. Die soziologischen Trennungen beziehen sich auf Lebenswelten und Einstellungen, also eher Beobachtungen an der Oberfläche – wobei dann „grundlegende Unterschiede“ festgestellt werden und deswegen die Gruppen sozial getrennt werden. Solche Erscheinungen der Lebenswelt bzw. die Unterschiede sind natürlich wichtig, um das Prekariat gesellschaftlich zu verorten, um daraus eine Perspektive des sozialen und politischen Kampfes zu entwickeln und letztlich Forderungen für diese soziale „Schicht“ der Arbeiterklasse zu entwickeln, genau wie es für Arbeitslose, weibliche Beschäftigte, MigrantInnen und die Jugend ebenso nötig ist, spezifische Forderungen aufzustellen und Organisationsformen zu schaffen, die ihrer Benachteiligung innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen entgegenwirken.

Gerade dort, wo die prekär Beschäftigten zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit pendeln, gehören diese „Grenzgänger“ natürlich zum Proletariat und teilen dessen Interessen, wie sie auch objektiv die Interessen der Arbeitslosen vertreten müssten, da auch sie mit Hartz, mit Aufstockung etc. ihre Erfahrungen haben. Natürlich werden diese Gruppen sozial und politisch gegeneinander in Stellung gebracht, die ideologische Spaltung der Arbeiterklasse will niemand bestreiten, ebenso wenig die massive Zunahme der Konkurrenz untereinander, welche die Spaltungen vertieft.

Aber im Gegensatz zur Soziologie muss es das Ziel einer marxistischen Analyse sein, die Interessen der Gesamtklasse zu formulieren und alle „neuen“ Entwicklungen darin zu integrieren. Wir fixieren uns eben nicht nur auf die soziotopischen Unterschiede, sondern richten unseren Blick auf die gemeinsamen Interessen im Klassenkampf gegen Kapital und bürgerlichen Staat – und da gibt es sehr viele Überschneidungen. Daher müssen hier die Entwicklungen bei den Erwerbslosen, den Beschäftigten und darunter und dazwischen dem Prekariat stets als Ganzes verstanden und analysiert werden – nur so wird ein gesamtgesellschaftlicher Kontext deutlich.

Die Arbeiterklasse verändert sich in ihrer Zusammensetzung, die Bedingungen der Ausbeutung werden derzeit neu bestimmt, die Prekarisierung ist ein Hauptmittel dabei. Wenn dort soziologische „Schnitte“ angebracht werden, dient dies meist einer ausführlichen Einzelbetrachtung der jeweiligen Existenz, was sicherlich auch interessant ist – allerdings entwickelt es eben keine wissenschaftliche Antwort auf das „Warum“, sondern bleibt beim „Wie“ stehen. So bleibt die Kapitalismus-Analyse meist auf ein „Ende des Postfordismus“ beschränkt, seitdem verändern sich die Arbeitsprozesse und deswegen auch die sozialen Verhältnisse.

Natürlich müssen wir bei der Klassenanalyse auch die neuen Formen der Selbstständigkeit berücksichtigen. Dort werden Viele ins Kleinbürgertum gedrängt, meist unfreiwillig, sei es nun als selbstständige/r KurierfahrerIn, AltenpflegerIn oder als „Freelancer“ in der IT Branche. Während dort Teile der Arbeiterklasse ausgesondert werden, für die es dann meist keine „normalen“ Festanstellungsverhältnisse mehr gibt, gibt es auch eine verschärfte Konkurrenz im Kleinbürgertum selbst. Zuletzt wurde dies v.a. beim „wissenschaftlichen Prekariat“ untersucht. Dort befindet sich v.a. das „Bildungsbürgertum“ in einer gewissen „Prekarisierung“, heißt konkret Verlust von festen Stellen und Privilegien – was auch mit „Proletarisierung“ bezeichnet werden könnte.

Internationale Arbeitsteilung im Imperialismus

Die Aussonderung bestimmter Teile der Arbeiterklasse ist kein neues Phänomen, es liegt in der Natur des Kapitalismus selbst, stets „überflüssige Arme“ (Arbeitskräfte) zu reproduzieren. Seit Beginn des industriellen Kapitalismus ist die Entstehung der Erwerbslosigkeit eine Konstante, wie auch zyklische Veränderungen der Höhe der Erwerbslosigkeit, immer auftreten.

Marx zitiert im Kapital den Professor für politische Ökonomie H. Merivale: „gesetzt, bei Gelegenheit einer Krise raffte die Nation sich zu einer Kraftanstrengung auf, um durch Emigration einige 100.000 überflüssige Arme loszuwerden, was würde die Folge sein? Dass bei der ersten Wiederkehr der Arbeitsnachfrage ein Mangel vorhanden wäre. Wie rasch auch immer die Reproduktion von Menschen sein mag, sie braucht jedenfalls den Zwischenraum einer Generation zum Ersatz erwachsener Arbeiter. Nun hängen die Profite unserer Fabrikanten hauptsächlich von der Macht ab, den günstigen Moment lebhafter Nachfrage zu exploitieren und sich so für die Periode der Erlahmung schadlos zu halten. Diese Macht ist ihnen nur gesichert durch Kommando über Maschinerie und Handarbeit. Sie müssen disponible Hände vorfinden; sie müssen fähig sein, die Aktivität ihrer Operationen wenn nötig höher zu spannen oder abzuspannen, je nach Stand des Markts, oder sie können platterdings nicht in der Hetzjagd der Konkurrenz das Übergewicht behaupten, auf das der Reichtum dieses Landes gegründet ist.“ (7)

Hier wird recht deutlich, welche Funktion die „industrielle Reservearmee“ im Kapitalismus hat – als disponible Ware Arbeitskraft, als Masse, welche den konjunkturellen Anforderungen des Kapitals gehorcht, je nach den Bedingungen der Konkurrenz.

Der Begriff und die arbeitsrechtliche Stellung des „Tagelöhners“ bringt diese abstrakte Beschreibung recht konkret auf den Punkt. Dieses Phänomen ist in der BRD mit Hartz IV auch wieder Realität. In bestimmten „Arbeitsagenturen“ können Erwerbslose ab 4 Uhr morgens im Wartezimmer Platz nehmen und ab dieser Zeit gebucht werden. Auf „erweiterter Stufenleiter“ vollstrecken dann die Zeit- und Leiharbeitsunternehmen dieses Prinzip, in dem diese Unternehmen die konjunkturell zusätzlich erforderliche Arbeit organisieren und auch die „konjunkturunabhängigen“ Arbeitsplätze der „Kernbelegschaften“ angreifen bzw. in die Zeit- und Leiharbeit integrieren.

Der entscheidende Faktor der „Flexibilität“ ist neben der zeitlichen Befristung v.a. die Lohnhöhe. Der „Tagelöhner“ oder Zeit- und Leiharbeiter kostet zwischen 25-50% weniger Lohn und Sozialabgaben (also indirekte Lohnbestandteile). Somit stellt der gesamte Niedriglohnbereich einen Übergang zwischen Erwerbslosigkeit und Beschäftigung dar, konkret zu bemessen an arbeitsrechtlichen Bedingungen und Lohnhöhen – quasi eine „Pufferzone“, durch die das Kapital den Wert der Ware Arbeitskraft beständig senkt, mit direkten Auswirkungen auch auf die Sektoren der Beschäftigten und der Erwerbslosen.

Die Leiharbeit bedroht direkt die Arbeitsbedingungen der Tarifbeschäftigten. Die KollegInnen arbeiten für ein Drittel weniger im gleichen Betrieb, oft werden sogar ganze Produktionszweige oder Abteilungen auf diese Art ausgegliedert. Diese Ausgliederungen weg vom branchenüblichen Tarifvertrag werden meist vom Kapital mit konjunkturellen Erfordernissen begründet. Als hauptsächliche Drohung, welche dann auch meist von den Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten akzeptiert wird, ist die Drohung der Verlagerung bzw. dass andere Standorte diese Arbeit zu günstigeren Konditionen übernehmen könnten. Angefangen mit dem VW-Modell „5.000 x 5.000“ haben alle Großkonzerne, Zulieferer, Mittelstand und Handwerk dieses Modell der Aufsplittung der Beschäftigungsstruktur übernommen.

Damit einhergehend wurden in der BRD mit der Agenda 2010 die größten Sozialkürzungen vorgenommen. Der ominöse „Lohnabstand“ zwischen Beschäftigten und „Arbeitslosen“ wurde angepasst – speziell zwischen Niedriglohn und Sozialleistung.  Diese Sozialleistung wurde auf das „Existenzminimum“ gesenkt, inklusive des Niedriglohnbereichs ist ein gutes Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung beim Einkommen unter 70% des Durchschnittslohns angekommen und somit, je nach statistischer oder soziologischer Erklärung, armutsgefährdet bzw. „Working Poor“.

Das Kapital hält die „Pauper“ chronisch an der Existenzgrenze. Somit steht diese Gruppe stets in Konkurrenz zu zwei Seiten – zu den „Tarifbeschäftigten“ und den Erwerbslosen, allerdings meist mit der Gefahr, in die Erwerbslosigkeit zu rutschen und weniger mit der Aussicht, eine tarifliche Entlohnung zu erreichen.

Solidarität in der Arbeiterklasse begann oft mit Solidarität am Arbeitsplatz, im Betrieb. Sich nicht nach Abteilungen, nach Standorten und Berufsgruppen spalten zu lassen, gehörte zu den Grundlagen gewerkschaftlicher Entwicklung und Entstehung. Dieses Prinzip wird durch Niedriglohn und Prekariat aufgeweicht bzw. hier schlägt das Kapital offen zu.

Diese Entwicklungen und Zusammenhänge innerhalb der Arbeiterklasse machen einen marxistischen Ansatz der Analyse und Methode dringend notwendig. Beschäftigte, Erwerbslose und das Prekariat sind nur verschiedene Formen der Ausbeutung im Kapitalismus, sind nur verschiedene Abteilungen der Arbeiterklasse. Für diese Gruppen muss eine gemeinsame Klassenpolitik praktiziert werden. Nur wenn wir die Zusammenhänge zwischen Beschäftigten, Erwerbslosen und dem zahlenmäßig steigenden Prekariat analysieren und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber dem Kapital formulieren können, ist es möglich, die soziologische und politische Spaltung innerhalb der Klasse zu überwinden.

Prekäre Situation in den Mittelschichten

In der soziologischen Forschung, hauptsächlich bei Dörre und Castel (8) wird die Kategorie „Prekarisierung“ von verschiedenen Standpunkten aus untersucht. Aus der Sicht einer Klassenanalyse sind die Auswirkungen der Prekarisierung auf die lohnabhängigen „Mittelschichten“, die Arbeiteraristokratie und in Teilen des Kleinbürgertums interessant, auch wenn in der Soziologie diese klassenmäßig unterschiedlichen Schichten oft irrtümlich unter „Mittelschicht“ zusammengefasst werden.

Die soziologische Forschung stellt in diesen Schichten eine „gefühlte Unsicherheit“ fest, welche auf zunehmende Prekarisierung zurückzuführen ist, gerade bei den Teilen, die (noch) nicht davon betroffen sind.

Speziell die „Unsicherheit“ und die Entwicklungen in den Mittelschichten müssen politisch-ökonomisch analysiert werden – in welchen Klassenzusammenhängen gibt es Veränderungen? In der Soziologie wird die Prekarisierung dieser Gruppen oft getrennt vom Prekariat untersucht, speziell aufgrund milieu-typischer psychosozialer Entwicklungen in den Mittelschichten.

Diese „Mittelschichten“ erreichen meist den Einkommensdurchschnitt bzw. übertreffen ihn. Teile der deutschen Arbeiteraristokratie gehören dazu, auch die höheren Angestellten und Beamten des Öffentlichen Dienstes, bis zu den klassisch kleinbürgerlichen Gruppen wie Apotheker, Kaufmann, Selbstständige und Freiberufler wie Architekten, Anwälte etc.

Getrennt davon sind die Angehörigen des „Mittelstandes“ zu betrachten. Dieser ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt und gehört eigentlich zur Kapitalistenklasse, dazu zählen Unternehmen mit einigen tausend Beschäftigten. Viele von diesen Unternehmen sind direkt an die deutsche Exportindustrie, also an das Monopolkapital, gekoppelt.

In unserer Betrachtung wollen wir die Beschäftigten untersuchen und weniger die Produktionsmittel-Besitzer im industriellen Mittelstand, obwohl diese natürlich auch in der Krise neuem Druck von Seiten des Großkapitals ausgesetzt sind.

Die Prozesse der Prekarisierung bringen Unsicherheit in diese lohnabhängigen Mittelschichten. Verstärkt tritt diese Unsicherheit in den Krisenperioden des Kapitalismus auf – was für das Proletariat gilt, trifft auch auf die Mittelschichten zu. Das Großkapital verstärkt die Konkurrenz untereinander. Um dem Fall der Profitrate und v.a. der Profitmasse entgegenzuwirken, verschärft das Großkapital den sozial-ökonomischen Druck.

Diesen Druck bekommen auch kleinere Kapitale zu spüren, z.B. als Zulieferer – so wie diese beiden Kapitalfraktionen ihrerseits den Druck auf das Handwerk erhöhen. Sei es das Aufweichen der deutschen Handwerksordnung, inkl. des Meisterzwangs und der -gebühr oder der Zugang von Internet-Apotheken auf dem deutschen Markt – hier geraten auch Überreste des ständischen deutschen Kleinbürgertums unter Beschuss, die zuvor noch Jahrhunderte überdauert hatten.

Beispiel IT-Branche

Diese Branche galt bis zum Platzen der „New Economy“-Blase 2000/01 als potentieller Hochlohnsektor, die Firmen hatten eigene Fachleute beschäftigt, um ihre Unternehmen fit für das Internet zu machen. Dementsprechend explodierten auch die Ausbildungsquoten Jahr für Jahr. In Indien werden pro Jahr mehrere hunderttausend IT-Fachkräfte ausgebildet – die Ware Arbeitskraft erscheint in Hülle und Fülle.

Bald fingen die Unternehmen jedoch damit an, ihre IT-Abteilungen auszugliedern bzw. an selbstständige Dienstleister zu vergeben. Zur Konfiguration eines Programms oder zur Erstellung einer Software braucht die IT-Fachkraft keine Produktionshalle und auch keine feste Beschäftigung – daraus entwickeln diese Firmen eine völlig neue Beschäftigungsstruktur.

Während die ausgebildeten IT-Fachkräfte oft nur in Dienstleistungsunternehmen überhaupt feste Stellen finden, beginnen die Großkonzerne eine grundlegende Umstrukturierung hin zum „freien Mitarbeiter“. „Frei“ bedeutet in diesem Zusammenhang v.a. die Freiheit des Unternehmens, frei von Sozialabgaben zu sein und keine unbefristeten Stellen zu haben.

Eine andere, oft damit verbundene Form besteht darin, Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Abteilungen ins Unternehmen zu verlagern. So haben Firmen wie IBM angefangen, mittels des Internets einen neuen Arbeitsmarkt aufzubauen. Mit Plattformen wie „Topcoder“ oder „Liquid“ werden Auftragsarbeiten des Konzern virtuell angeboten und die „freien“ Mitarbeiter können dann ihre Angebote abgeben und treten in Konkurrenz zu den (noch) fest Beschäftigten.

Diese Auftragsarbeiten können dazu führen, dass verschiedene Projektgruppen als „freelancer“ für das Unternehmen einen Auftrag erledigen – unabhängig voneinander und ohne die Möglichkeit, gemeinsame Interessen (wie Lohn, Honorare) gegenüber dem Unternehmen zu vertreten. Die Ware Arbeitskraft wird über das „Werkzeug“ der IT-Fachkraft ausgegliedert – mit dem Laptop, so ist die bestechende Logik, kann ja jeder zu jeder Zeit an jedem Ort diese Arbeit machen. Damit ist dem Kapital fast etwas Historisches gelungen: es hat die Arbeitskraft aus ihren sozialen, kulturellen und örtlichen Zusammenhängen heraus gebrochen, in der „Cloud-Plattform“ treten alle „Anbieter“ in Konkurrenz zueinander, nach dem Ebay-Versteigerungsprinzip entscheidet das Unternehmen, welche Konditionen die günstigsten sind.

Natürlich klappt Gleiches nicht mit der Reinigungskraft, diese wird nie per Laptop reinigen können. Auch in den Konzernen erzeugt das keineswegs immer die gewünschten Ergebnisse. Aber diese Art von Ausgliederung funktioniert insofern, als sie in einem Hochlohnbereich erfolgreich zur Preissenkung der Ware Arbeitskraft führt.

Wenn vormals relativ privilegierte Teile der Beschäftigten unter Druck geraten und ihre soziale Stellung gefährdet ist, dann hat dies stets auch politische Implikationen. Der Statusverlust kann in der Krise zum Verlust der „Klassenzugehörigkeit“ führen, Teile der Mittelschichten werden proletarisiert, verlieren vormals bestehende soziale Errungenschaften.

Andere fallen noch tiefer, werden nicht durch schlechtere feste Beschäftigungsverhältnisse „aufgefangen“, sondern in die Selbstständigkeit getrieben und/oder verlieren komplett ihre soziale Existenz. Diese Situation lässt soziale Angst in den Mittelschichten aufkommen. Diese Angst kann sich leicht zu reaktionären Antworten auf die Krise verdichten, wenn es keine kämpferische Antwort der Arbeiterklasse gibt.

In den Niederlanden oder in Finnland sind derzeit Rechtspopulisten sehr erfolgreich in den kleinbürgerlichen Schichten unterwegs, während der FPÖ in Österreich meistens Ausländer- und EU-Hetze reichten, spielen diese Formationen auch die „soziale“ Karte. Die „Freiheit“ aus den Niederlanden und die „Wahren Finnen“ verweigern die Hilfen für südeuropäische Länder, wollen stattdessen die nationalen „Leistungsträger“ unterstützen – hier werden dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten rechte und autoritäre Krisenlösungen vorgeschlagen. In Griechenland, das derzeit am schärfsten von der Krise geschüttelt ist, sehen wir diese Zuspitzung auch am Zulauf für die Faschistenpartei „Goldene Morgendämmerung“.

In der Krise ist das Kleinbürgertum gewissermaßen orientierungslos, etablierte Parteien können das Kleinbürgertum nicht mehr genügend schützen, die verschärften Konkurrenzbedingungen – losgetreten vom Großkapital – unterwerfen diese Mittelschichten einer Zäsur. Auf diese Veränderungen müssen die Organisationen der Arbeiterklasse, Gewerkschaften und Parteien reagieren, müssen Lösungen anbieten – ansonsten ist sind diese Schichten ein gefundenes Fressen für Rechtspopulisten, Faschisten oder rassistische Hetzer a la Sarrazin.

Ein Beispiel. Genügend Selbstständige sind finanziell nicht in der Lage, alle Versicherungsleistungen als Selbstständige auch zu bezahlen, eine mögliche Pflichtzahlung an die staatliche Rentenversicherung kann das Ende von manch „Ich-Unternehmen“ sein. Wenn ein IT-Selbstständiger eine Initiative gegen die Pflichtzahlung zur Rentenversicherung startet, so startet dieser eine Initiative gegen die objektiven Interessen seiner „Schicht“.

Als Antwort brauchen wir keine neoliberale Aktion gegen die Pflichtversicherung; wir brauchen eine gesetzliche, aus der Besteuerung der Reichen – also der Kapital- und Vermögensbesitzer – finanzierte Mindestrente, welche die Reproduktionskosten deckt. Solange dies nicht politisch-gewerkschaftlich vertreten wird, ist die Abgleitfläche für solche Initiativen sehr groß – diese Initiative orientiert sich vom Staatsverständnis eher an der stockreaktionären „Tea Party“-Bewegung in den USA. Dies bietet keine Perspektive zur sozialen Absicherung.

Frauen und Prekarisierung

Die weibliche Beschäftigung trägt strukturell prekäre Merkmale. 45% aller beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeitverhältnissen mit einer Spannbreite vom 400-Euro-Job bis zur 27,5-Stunden-Woche. Besonders im Einzelhandel wurden Festangestellte abgebaut, in jedem Konsum-Center in der Republik finden wir höchst vielfältige, niedrig entlohnte Teilzeitjobs. 49% der Teilzeit arbeitenden Frauen verdienen weniger als 800 Euro im Monat.

Bei der Prekarisierung und Entrechtung von Arbeitsverhältnissen sind speziell „weibliche“ Beschäftigungsfelder schon immer ein Experimentierfeld im Kapitalismus gewesen. In kapitalistischen Staaten gab es häufig die „Zuverdienerin“ als weibliche Beschäftigungsform, im Verkauf, der Pflege, der Reinigung u.ä. Sektoren sollte die Frau den Hauptverdiener ergänzen, aber gleichzeitig auch den „häuslichen Pflichten“ nachkommen können. Idealerweise trat die Frau dann wieder ins Berufsleben, wenn die Kinder groß waren. Dies war in der alten BRD ein typisches Procedere, während bei den ostdeutschen Frauen heute noch andere Strukturen vorzufinden sind. (9)

Bei weiblichen Vollzeitbeschäftigten können wir eine weitere Gruppe dem Prekariat zuordnen. Dieses Drittel ist im Niedriglohnbereich beschäftigt. So lässt sich sagen, dass gut zwei Drittel aller weiblichen Beschäftigten prekären Zuständen ausgesetzt sind.

Allerdings müssen wir hier auch unterscheiden – „prekäre Zustände“ sagt nicht alles über die sozio-ökonomische Situation der Frauen aus. Wenn sie als Zuverdienerin einen 400-Euro-Job ausübt, so ist dieser Job wahrscheinlich schlecht bezahlt und sie kann wenig Einfluss nehmen – ihr Beschäftigungsverhältnis ist somit prekär, ihre soziale Lage muss es aber nicht sein, wenn denn ein anderes „Ernährereinkommen“ vorhanden ist.

So war in der alten BRD weibliche Arbeit stark auf Teilzeit, auf Zuverdienst orientiert. Dies nimmt aber nun in den Reproduktionsverhältnissen eine immer größere Rolle ein. Der Zuverdienst wird natürlich umso wichtiger, je geringer das (männliche) Vollzeiteinkommen ausfällt, aus Mini-Job wird Teilzeit oder eine Zwei-Drittel-Stelle, je mehr Vollzeitstellen abgebaut werden, desto mehr Teilzeitjobs können geschaffen werden.

Ost/West-Unterschiede und Geschlechterverhältnis (10)

Auch zwanzig Jahre nach der kapitalistischen Wiedervereinigung finden wir noch Besonderheiten in den Beschäftigungsverhältnissen von Frauen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Frauen sind weiterhin überdurchschnittlich Vollzeit beschäftigt, während die „klassische“ Hausfrauenehe im Osten eher wenig zu finden ist (6% aller Haushalte). Weiterhin vorherrschend ist der Unterschied bei den Paaren mit zwei Vollverdienern. Im Osten trifft dies auf 41% aller Paare zu, im Westen auf 23%, hier befinden sich aber auch 25% der Frauen noch in der Hausfrauenehe. Im Gegensatz dazu ist in Ostdeutschland auch ein eher neues “Ernährerinnen-Modell“ aufgetaucht: in 25% aller Haushalte ist die Frau AlleinverdienerIn geworden, davon sind die Hälfte Alleinerziehende.

Hier ist in vielen Bereichen die „männliche“ Beschäftigung verschwunden. Die massive  Deindustrialisierung am Beginn der 90er Jahren hat v.a. männliche Erwerbsbiographien ruiniert. Auch heute pendeln zwischen 350.000 und 400.000 v.a. männliche ostdeutsche „Wanderarbeiter“ in die industriellen Zentren in Süddeutschland, was auch Ausdruck der fehlenden Arbeitsplätze in Ostdeutschland ist.

Speziell die weibliche Alleinverdienerin ist das Resultat dieser Entwicklung. Hier müssen Teilzeitjobs die Hauptlast der Reproduktion tragen können; wenn die 27,5 Stunden-Stelle (höchste Teilzeitform) im Niedriglohnbereich nicht ausreicht, um den vergleichbaren Hartz IV-Satz zu erreichen, dann muss „aufgestockt“ werden. Diese Teile der Klasse stellen in der wiedervereinigten BRD einen Teil der Armutsschicht der Gesellschaft, ihre Lohnarbeit deckt nicht die Reproduktionskosten, ohne Sozialleistungen sind sie nicht lebensfähig.

Dies trifft besonders auf allein erziehende Frauen zu. Hier sind alle soziologischen Risiken geballt. Wenn dann noch schlechte Ausbildung oder Migrationshintergrund dazu kommen, ist der Weg in die Armut vorprogrammiert. Ausdruck dieser Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts war ein Gerichtsurteil aus Hamburg, bei dem festgelegt wurde, dass eine erwerbslose alleinerziehende Frau, sobald das Kind 3 Jahre alt ist, dem Arbeitsmarkt „teilweise“ wieder zur Verfügung stehen müsste. Dies würde den jungen Müttern den „Wiedereinstieg“ ins Berufsleben erleichtern, meinte die Richterin. Im Klartext heißt das, dass die Kürzung der Bezüge ab dem 3. Lebensjahr rechtens sind, wenn die Mutter sich nicht wieder „eingliedern“ möchte – von möglichen Kita-Plätzen und Gebühren stand natürlich nichts im Urteil. Somit zwingt der Staat die Alleinerziehenden in die Teilzeit und nutzt somit die prekäre soziale Situation aus.

Die Rolle der Gewerkschaften – wie organisieren, was nicht organisiert werden soll?

Bei der Frage wie Gewerkschaften mit Niedriglohn, Erwerbslosigkeit, Prekariat umgehen, muss zunächst eine politische Analyse der DGB-Politik erfolgen, um anhand dieser dann die massiven Probleme der Gewerkschaften in diesem Bereich erklären zu können.

Zu Anfang eine Anekdote: Zur Einführung von Hartz IV lud die Kasseler Erwerbslosen-Initiative KEI im Frühjahr 2004 ins regionale DGB-Haus zur Diskussionsveranstaltung ein. Anwesend waren auch einige lokale Gewerkschaftsbosse. Die Initiative legte diesen Fragen vor, wie denn die DGB-Gewerkschaften die Proteste unterstützen könnten bzw. wie in ihrer Mitgliedschaft Aufklärung gegen die massive staatliche und mediale Hetze zu organisieren wäre.

Während einige um warme Worte für die Initiative bemüht waren, brachte der Ortsvorsteher der IG Metall und spätere SPD-Bundestagsabgeordnete seine Position, wie folgt auf den Punkt: Ich vertrete in erster Linie die Beschäftigten, die Arbeit haben. Um die Arbeitslosen können wir uns nicht auch noch kümmern und schließlich muss ja auch irgendwas verändert werden.

Diese Episode illustriert die gängige Praxis der heutigen DGB-Gewerkschaften. Die eigenen Erwerbslosenstrukturen verfügen über „Jahresetats“, für die manch ein Vollzeitfunktionär keine 14 Tage arbeiten muss. Konkret hieß dies z.B. 2.000 Euro für die registrierten knapp 900 erwerbslosen ver.di-Mitglieder der Region Nordhessen. Die Aktivitäten des Erwerbslosen-Ausschusses waren dementsprechend begrenzt. Es reichte für die Teilnahme von mehreren Personen an verschiedenen Konferenzen in diesem Jahr und einen Flyer.

Diese Schilderung zeigt den mühseligen Kampf von Erwerbslosen um gewerkschaftliche Organisierung. Zumeist bleibt die Sozialberatung als einzige reale Unterstützung übrig, von einem „Nischen-Dasein“ zu sprechen ist fast schon eine Übertreibung.

Dementsprechend waren dann auch die Proteste des DGB gegen die Einführung von Hartz IV. Aus den „Montagsdemo“ gegen Hartz IV zogen sich die Gewerkschaften mit höchst fadenscheinigen Begründungen zurück. Angeblich würden Rechte die Demos in einigen ostdeutschen Städten unterlaufen und andernorts würden die PDS und Linksradikale alles in gefährliche Bahnen lenken, so dass sich der DGB zurückziehen müsse.

Diese obskure Mischung aus Verleumdungen und politischer Feigheit hatte nur einen Zweck – der DGB wollte nicht gegen „ihre GenossInnen“ in der Regierung demonstrieren. Im November 2003 war es zu einer Großdemo gegen die Agenda 2010 gekommen. Ca. 100.000 aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen protestierten – „natürlich“ ohne die DGB-Spitze. Danach sabotierte der DGB den Widerstand. Als das nichts half, musste die Bewegung von der Spitze gebrochen werden. 2004 mobilisierten  die Gewerkschaften mehrere Hunderttausend – dann war der Protest am Ende. DGB-Vorsitzender Sommer kündigte zwar öfter „heiße“ Jahreszeiten an, das SPD-Mitglied Sommer blieb aber seiner Regierungspartei treu.

Reformistische Gewerkschaftspolitik und daraus resultierende Widersprüche

Durch die Konkurrenz zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten ist eine der tiefsten Spaltungen der Arbeiterklasse begründet und damit einhergehend auch das Versagen der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im letzten Jahrhundert. In allgemeinen Deklarationen setzen sich natürlich auch heute noch Gewerkschaftsbosse für die Erwerbslosen ein. Zumindest wird Hartz IV „irgendwie“ abgelehnt, während gleichzeitig kein Kampf dagegen geführt wurde und auch bis heute kein Kampf des DGB z.B. gegen Hartz IV und für die Rechte der Erwerbslosen erkennbar ist.

Die sozioökonomische Spaltung zwischen Beschäftigen und Erwerbslosen ist aber einer der Pfeiler der verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse insgesamt – abgesichert durch die „Interessenvertreter“ der Beschäftigten.

In den Gewerkschaften bildet die Politik für die „normal“ Beschäftigten, die „Kernbelegschaften“, die FacharbeiterInnen, letztlich für die Arbeiteraristokratie die soziale Grundlage für die Bürokratie, den Apparat und deren Kontrolle über die Organisation. Rein fiskalisch ist der Apparat darauf angewiesen, besonders die Hochlohngruppen zu organisieren. Diese sichern organisch die Existenz ihrer Interessenvertretung. Es ist heute auch nicht verwunderlich, in welchen Bereichen eine  Organisationsquote von über 80, 90, 95% erreicht wird: in der Automobilbranche, im Stahlbereich, im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, in der Energiesparte – sprich in den industriellen Kernsektoren des deutschen Imperialismus.

Diese Teile der BRD-Arbeiterklasse sind beispielhaft für die Arbeiteraristokratie. Diese Kernsektoren des deutschen Imperialismus sind „Global Player“ der internationalen Konkurrenz. Hier wird der Extraprofit für die deutsche Bourgeoisie erzielt. Die dort Beschäftigten sind die soziale Elite der Arbeiterklasse – in Deutschland ein Zustand, der schon länger als 100 Jahre andauert und sich heute in hohen Haustarifverträgen (zumeist höher als der Flächen/Manteltarif), höheren Prämienzahlungen etc. äußert. Für die Lohnzurückhaltung der IG Metall während der schärfsten Krise 2009 wurden im Aufschwung-Jahr 2011 fast fünfstellige Prämien in den Exportsektionen ausgeschüttet.

Ökonomischer Kern der Arbeiteraristokratie ist ihre enorme Produktivität, diese ist quasi das Herzstück des deutschen Imperialismus, diese steigt jährlich (in manchen Branchen tw. zweistellig) und die Beschäftigten werden konsequent und extrem ausgebeutet. In diesen Bereichen findet die stärkste Verdichtung und Rationalisierung von menschlicher Arbeit statt, dies ist der oft bemühte „Standortvorteil“.

Direkt daran gekettet sind die betrieblichen und gewerkschaftlichen Apparate. Diese hatten in der Geschichte auch schon höchst kämpferische und revolutionäre Ausrichtungen, wie beim Berliner Metallarbeiterverband im 1. Weltkrieg, als von der „aristokratischen“ Berufsgruppe der Dreher die Initiativen für Streiks und später auch für politische Streiks ausgingen, allerdings ist hier auch der Einfluss des „Trade Unionismus“, der reformistischen Standortpolitik, am stärksten ausgeprägt.

Doch die Politik der Bürokratie hat mit einem gewaltigen inneren Widerspruch zu kämpfen. Ihre stetigen Zugeständnisse an das Kapital lassen nicht nur die „unteren“ Schichten der Klasse, ja zunehmend deren Mehrheit im Regen stehen – sie unterminieren sogar die Positionen der Arbeiteraristokratie.

Es ist Teil der inneren Widersprüchlichkeit der Bürokratie, dass es diese Kernsektoren der gewerkschaftlichen Organisierung waren, in denen die Einführung von Leih- und Zeitarbeit als erstes durchgedrückt wurde. Mit diesen Ausgliederungen wurde das Fundament für die Entstehung des Niedriglohnbereichs gelegt, welcher seitdem die Löhne der Kernbelegschaften ständig bedroht. Als Erpressung von Bourgeoisie und Staat zog am meisten die Angst vor der Verlagerung (Osteuropa, China) und dass die BRD nicht mehr konkurrenzfähig sein würde – seitdem hat die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus bedrohlich zugenommen, siehe auch die aktuelle EU-Krise und die stärkere Position des BRD-Imperialismus in Europa.

Die „Standort-Partnerschaft“ und das „Co-Management“, als politisch-ökonomische Strategie der aktuellen Gewerkschaftspolitik greifen entgegen der Intentionen der Bürokraten die Grundlagen der Gewerkschaften jedoch stetig an. Die voll- sozialversicherungspflichtigen Stellen wurden in den letzten 10 Jahren abgebaut und somit auch die Kernbelegschaften angegriffen und unterhöhlt.

Innerhalb eines Jahrzehnts entstand ein riesiger Niedriglohnbereich, auf den die Gewerkschaften wenig Zugriff und die dort Beschäftigten kaum Zugang zu Gewerkschaften haben. In diesen Sektoren ist ein nahezu gewerkschaftsfreier Raum entstanden, in dem das Ansprechen des Betriebsrat zur Kündigung führen kann, die Beschäftigten der Willkür der Geschäftsleitung ausgeliefert sind und viele der erkämpften Arbeitsrechte mit Füßen getreten werden.

Während die gewerkschaftlichen AktivistInnen im Einzelhandel mit Schikanen, Gerichten und Entlassungen rechnen müssen, betreibt die Spitze fortgesetzte „Burgfriedenspolitik“ mit Bourgeoisie und Staat, aktuell besonders devot gegenüber einer schwarz/gelben Regierung. Wie diese Gewerkschaften unter dieser Führung und mit dieser Politik für Mindestlohn, für ein Ende der Rente mit 67 o.a. unmittelbare Kampfziele real kämpfen könnten und wollten, ist heute schwer vorstellbar.

Das gilt v.a. für die Gruppen, die dem Prekariat angehören. Für sie sind Gewerkschaften kaum auffindbar, die Forderungen kaum bekannt – sie kennen oft nur die Konkurrenzstellung gegenüber tariflich entlohnten Beschäftigten. Objektiv wären sie aber genau jene Gruppen, um die die Gewerkschaften kämpfen müssten, hier sind die schlimmsten Auswüchse des Lohnarbeitsverhältbnisses zu finden – aber leider kein entschlossener gewerkschaftlicher Kampf.

Für Erwerbslose, Niedriglohn- und TeilzeitarbeiterInnen, (Schein)Selbstständige, Mini-JobberInnen stellen die heutigen Gewerkschaften keine Interessenvertretung dar. Das Prekariat ist sozioökonomisch nicht organisiert – im Gegensatz zu den „Kernbelegschaften“ des Exportkapitals oder zum Öffentlichen Dienst. Mit der aktuellen Politik verschärft die DGB-Spitze die Spaltung zwischen diesen Teilen der Klasse und passt sich somit auch den Anforderungen von Kapital und Staat an die Lohnarbeit von heute an.

Was ist prekär-selbstständig?

Besonders schwierig gestalten sich gewerkschaftliche Organisierungsprozesse, wenn es um „Selbstständige“ geht. Zwischen „Freiberuflern“, Ich-AGs, Schein-Selbstständigen und den „gezwungenen“ Selbstständigen, gibt es viele Formen, die analytisch geklärt werden müssen.

Architekten, Anwälte, Notare u.a. Dienstleister am Kapital waren historisch immer bestens beraten, sich „ständisch“, d.h. als Berufsgruppe zu organisieren und so die eigenen Gebühren festsetzen zu können – dies ist die Sahnehaube der „Mittelschicht“, des gut verdienenden Kleinbürgertums. Sie sind selbstständig, weil sie historisch und funktional eng an die Kapitalistenklasse gebunden sind, ja manche sogar zu kapitalistischen Unternehmen wurden (große Kanzleien, große Architekturbüros).

Auf der Spiegelseite der Selbstständigkeit finden wir „freischaffende“ PaketfahrerInnen, den zuletzt auch von Günter Wallraff dargestellten Logistik-Kleinunternehmer, die selbstständige mobile Altenpflegerin oder Reinigungskraft, die Werbedesignerin oder den IT-Entwickler – dieser sehr vielfältige Bereich ist nicht freiwillig selbstständig, kann keine eigenen Gebühren und Honorare festsetzen, sondern kann über diesen Weg allein die Ware Arbeitskraft verkaufen.

Für diese Teile der Arbeiterklasse ist das „Normalarbeitsverhältnis“ in den letzten 10 Jahren systematisch abgeschafft worden, was früher als „Schein-Selbstständigkeit“ galt, ist heute Normalität geworden. Oft sind diese Selbstständigen nur für einen „Arbeitgeber“ tätig. Was früher als Schein galt und verboten war, ist heute die Grundlage dutzender Beschäftigungsstrukturen in verschiedensten Bereichen. Während „klassische“ kleinbürgerlich-selbstständige Sektoren wie VersicherungsvertreterIn oder Gastgewerbe in den letzten 10 Jahren eher abgenommen haben, ist insgesamt die Zahl der Selbstständigen um 500.000 gestiegen, allein mehr als 300.000 im Bereich der privaten Dienstleistungen. Soweit die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wobei wir berücksichtigen müssen, was das Bundesamt nicht erfasst: diejenigen, die einen Minijob haben und gleichzeitig selbstständig auf Auftragsbasis arbeiten, oder Leute, die es „illegal“ mit Hartz IV tun oder nirgends „arbeitsrechtlich“ gemeldet sind.

Im Bereich Erziehung und Unterricht stieg die Zahl von 84.000 im Jahr 2000 auf 140.000 im Jahr 2009, hier finden wir die prozentual größte Steigerung. Die nächstgrößte findet sich im angesprochenen Dienstleistungsbereich von 764.000 im Jahr 2000 auf 1.068.000 im Jahr 2009, es folgt das Gesundheits- und Sozialwesen. Hier stieg die Zahl der Selbstständigen von 320.000 (2000) auf 442.000 (2009).

Die Ausgliederung spart dem Kapital Sozialabgaben, während gleichzeitig den neuen Selbstständigen auch zusätzliche Pflichten und Hindernisse (Krankenversicherung, Sozialkassen) aufgebürdet werden.

Ideologisch wird das alte Selbstständigenmotto (lieber 16 Stunden für mich arbeiten, als 8 Stunden für einen anderen) heute mit den „neuen Anforderungen“ des Arbeitsmarktes, der Globalisierung, der Flexibilität begründet, inklusive aller möglichen Freiheits- und Unabhängigkeitsversprechungen. Der selbstständige Traumjob wird zumeist per Laptop oder Tablet ausgeführt – zu angeblich selbstbestimmten Arbeitszeiten und Orten. Alles ist flexibel und erfolgreich – Arbeit, Freizeit und Urlaub gehen fließend ineinander über – das „alte“ Beschäftigungsverhältnis scheint überholt zu sein, alle können ihre eigenen Unternehmer sein. Dazu sprießen seit einigen Jahren die „Selfmade“-Rezepte am Büchermarkt. Promis, die während der Wirtschaftskrise reich wurden, lassen auch noch darüber schreiben – nach dem Motto „Wie windig komme ich zu meiner ersten Million?“

Über die Kehrseite dieses Unternehmertums berichtet inzwischen sogar RTL. Die Zustände beim Logistik-Riesen GLS werden derzeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Dort wurden die „angestellten Sub-Unternehmer“ in Schulden und Pleite getrieben – diese „Unternehmer“ waren nicht mehr in der Lage, Miete oder Stromrechnungen zu bezahlen und sind oft genug insolvent.

Nicht anders läuft es bei anderen Logistik-Konzernen, besonders DHL/Post vergibt immer mehr Aufträge an Subunternehmen. Diese bekommen dann meist eine Strecke/Gebiet/Region, haben dafür 10-50 FahrerInnen und müssen Zeiten/Quoten erfüllen und werden danach bezahlt. Diese Unternehmen bekämpfen jede  gewerkschaftliche Organisierung am schärfsten – wohl wissend, dass mit tariflicher Bezahlung der Beschäftigten „ihr“ Unternehmen sofort pleite wäre, da sie dann die Anforderungen des Großkonzerns, der diesen Geschäftszweig vorsorglich ausgegliedert hat, nicht erfüllen könnten.

Die Gewerkschaften müssen gerade in den Betrieben mit starker Verankerung dafür sorgen, dass es keine Ausgliederung gibt, dass keine (Schein)Selbstständigen zur Spaltung der Beschäftigten beitragen und dass jegliche Arbeit des Unternehmens unter tariflichen Bedingungen stattfindet. In der aktuellen Situation ist diese Spaltung für das Kapital nützlich, es gibt keine Solidaritätsaktionen oder gar Streiks der „Normalarbeitsverhältnisse“ für die ausgegliederten, prekarisierten Beschäftigten – stattdessen herrschen Konkurrenz und Zwietracht, wobei beide Gruppen immer wieder gegenseitig in Stellung gebracht werden.

Wenn dieser Kampf nicht geführt wird, entstehen immer mehr „gewerkschaftsfreie Zonen“, dies führt zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften und dazu, dass die ausgegliederten Gruppen keinen Zugang zur organisierten Arbeiterschaft bekommen. Von einer formalen Selbstständigkeit sollte sich dabei die gewerkschaftliche Arbeit nicht täuschen lassen bzw. dieses (Schein)Argument überall scharf bekämpfen. Die Gewerkschaften müssen dafür eintreten, dass diese Selbstständigen, die für den Großkonzern arbeiten, die gleichen Konditionen haben wie die Beschäftigten; dass keine Aufträge an Subunternehmen vergeben werden, die Konzerne auch keine eigenen gründen dürfen und somit ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung gemacht werden kann.

Eine wichtige Frage wird also sein: Wie organisieren die Gewerkschaften das Prekariat, wie entwickeln sie gemeinsame Forderungen und Kampfformen und wie können aktive GewerkschafterInnen dafür in den Gewerkschaften kämpfen?

Gewerkschaftliche Versuche

Auch in den Apparaten der Einzelgewerkschaften ist diese Entwicklung angekommen (auch bei deren Beschäftigungsstruktur, speziell in der Jugend) und es gibt erste Anläufe gewerkschaftlicher Aktivität. Ganz allgemein gibt es natürlich eine Kampagne gegen die Leiharbeit, gegen den Niedriglohnbereich und für einen Mindestlohn – also durchaus wichtige Fragen für Teile des Prekariats. Andere Teile, wie die „Selbstständigen“ werden nicht angesprochen bzw. es fehlen den Gewerkschaften passende Konzepte für diese neuen Beschäftigungsgruppen.

Als ver.di einmal zu einer Konferenz der offiziell 90.000 „selbstständigen“ KollegInnen in der Gewerkschaft aufrief, waren eher die Hochlohngruppen unter den ca. 60 anwesenden Selbstständigen vertreten, die Prekarisierten fanden keine Zeit für Konferenzen.

Bei ver.di und GEW gibt es Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, welche sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen befassen und gewerkschaftliche Strategien zu entwickeln suchen, aber dies steckt noch in den „Kinderschuhen“ – während der „prekarisierte“ Arbeitsmarkt inzwischen 36% der Beschäftigten umfasst!

Als beispielhaft für eine gewerkschaftliche Organisierung im Bereich des Prekariats gelten die italienischen Gewerkschaften, von denen alle größeren Verbände inzwischen eigene Gliederungen aufgebaut haben. Deren größte ist die NIDiL (Neue Identität der Arbeit), welche zum größten Dachverband CGIL gehört und mehrere Zehntausend organisiert. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Entwicklungen in Branchengewerkschaften sind 54% der Mitglieder von NIDiL jünger als 40, mehr als die Hälfte weiblich und es herrscht eine höhere Fluktuation in der Mitgliedschaft.

Zweifellos geht auch die Politik in Italien nicht über einen beschränkten reformistischen Rahmen hinaus. Das Beispiel widerlegt jedoch das Märchen, dass diese Schichten „prinzipiell“ unorganisierbar wären. Es verdeutlicht vielmehr, dass selbst „traditionelle“ Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, prekarisierte Schichten der Klasse zu organisieren und eine Perspektive des gewerkschaftlichen Kampfes aufzuzeigen.

Für die DGB-Gewerkschaften liegt eine Gefahr in der bürokratischen Zuständigkeit und zuerst am fehlenden politischen Willen. Während gleichzeitig gleicher Lohn für gleiche Arbeit gefordert wird, tun sich die Branchengewerkschaften bislang schwer, die LeiharbeiterInnen und weiteres Prekariat ihrer Branche zu organisieren.

Nicht selten haben die Apparate genau den Ausgliederungen im Betrieb zugestimmt, in denen jetzt keine Tariflöhne mehr gezahlt und gewerkschaftliche Strukturen auf Schärfste bekämpft werden. Dies ist für deutsche Gewerkschaften ein neues Terrain. Natürlich gab es im BRD-Kapitalismus nach 1945 immer wichtige Bereiche, die gewerkschaftlich nicht oder nur wenig erfasst wurden. Diese waren aber nicht nur kleiner im Verhältnis zu den organisierten Bereichen. Jahrelang war es auch üblich, dass tarifliche Regelungen Allgemeingültigkeit für eine ganze Branche hatten – nämlich immer dann, wenn dominierende Kapitalverbände ein Interesse an der Verhinderung von „Schmutz“konkurrenz hatten und so ihre Monopolstellung sichern wollten.

Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt müssen auch die „Shops“ erobert werden, dass taten DGB-Gewerkschaften einige Jahrzehnte nicht mehr, nicht umsonst gilt „Organizing“ als Lösung des Problems bzw. als erste Antwort.

Organizing soll v.a. in nicht-organisierten Sektoren/Betrieben stattfinden, dort soll gewerkschaftliche Basisarbeit über den Betrieb hinausgehen, die letzten bekannten Beispiele gab es im Bereich der Reinigungskräfte 2009 von der IG BAU. Nach diesem  Konzept bekommen immer einige schwer motivierte junge AktivistInnen, meist zuvor durch Akademien, Stipendien und Trainee-Programmen gejagt, den Auftrag, Mitglieder zu werben, Strukturen aufzubauen und Öffentlichkeit herzustellen.

Als eine der ersten Kampagnen rund um das Prekariat arbeitete die DGB-Jugend unter dem Motto „Generation Praktikum“ und versuchte speziell an den Universitäten, Aktive für das Thema zu gewinnen. Ein Problem war, dass die unbezahlten PraktikantInnen meistens eben nicht nebenher studieren, sie haben meist ein abgeschlossenes Studium und dementsprechend konnte die DGB-Jugend kaum „Betroffene“ organisieren. Schwierig ist es auch, wenn die Praktika bei Großkonzernen angeboten werden, die sonst Tariflohn zahlen und die betriebliche Gewerkschaft nicht wirksam für die Interessen der PraktikantInnen kämpft – die Kampagne zum Thema schuf durchaus etwas Aufklärung, konnte aber keinen Kampf organisieren, geschweige denn etwas am Zustand ändern.

Andererseits konnte die IG Metall auch einen tarifrechtlichen Sieg zur Leiharbeit einfahren. Seit dem Abschluss 2010 ist in der Stahlbranche das Ende der Leih- und Zeitarbeit geregelt, alle damaligen Stellen gingen in Vollzeit und Tarif über (auch wenn es „nur“ 3.3% der Beschäftigten betraf). Daraus entwickelte sich aber keine gemeinsame Kampagne aller Branchengewerkschaften gegen Leih- und Zeitarbeit, stattdessen gibt es gültige Tarifverträge mit Zeitarbeitsunternehmen in Höhe von 7,30 Euro.

Diese Beispiele zeigen, dass die deutschen Gewerkschaften schlecht aufgestellt sind, wenn es darum geht, auf neue Beschäftigungsstrukturen politische Antworten zu finden und gemeinsame Taktiken gegen die Interessen von Kapital und Staat umzusetzen.

Das zentrale politische Hindernis dabei ist die vorherrschende Politik des Apparats selbst, die die bornierten, kurzfristigen (und oft nicht minder kurzsichtigen) Einzelinteressen der privilegierten Schichten der Klasse zum Ausdruck bringt wie auch das Selbsterhaltungsinteresse der Bürokratie als Vermittler zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Selbst dort, wo zentrale Themen der zunehmende Prekarisierung aufgenommen werden, so tauchen die unteren Schichten der Arbeiterklasse nicht als gewerkschaftliches und politisches Subjekt des Kampfes, sondern als Masse auf, die „organisiert“ und „für die“ etwas „geregelt“ werden soll. Sie gilt als Objekt für „Betreuung“ durch die Gewerkschaft und ihre Stellvertreterpolitik.

Der Apparat nimmt die zunehmende Prekarisierung nämlich nicht als notwendige Folge des niedergehenden Kapitalismus wahr, als zutiefst politische Frage, sondern v.a. als organisatorisches Problem.

Eine solche Politik ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Der Kampf um die Organisierung des Prekariats ist daher auch untrennbar mit dem Kampf um die Umwandlung der Gewerkschaften zu Organisationen des Klassenkampfes, mit dem Kampf gegen die Bürokratie und für eine revolutionäre Führung verbunden. Diese grundsätzliche Schlussfolgerung bedeutet keineswegs, die subjektiven Schwierigkeiten zu ignorieren, wenn es gilt, diese „neuen“ Beschäftigungsgruppen zu organisieren. Aber sie sind Voraussetzung dafür, dass diese Organisierungsversuche nicht selbst in den Strudel bürokratische Bevormundung oder quasi-sozialarbeiterischer Betreuung geraten.

Es darf eben nichts dazwischen kommen …

Dieses Motto finden wir oft bei soziologischen Untersuchungen, eine Veröffentlichung sogar per Titel, diese Aussage bringt prekäre Zustände auf den Punkt. Wenn wir zuvor von schlecht bezahlten, befristeten und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen geschrieben haben, so wollen wir hier anschauen, was das genau heißt. Wie ist die Lage dieser Teile der Klasse heute?

Der Kampf ums Existenzminimum und soziale Teilhabe prägt den Alltag der prekären Schichten. Allein die Trennung zwischen Existenzminimum und sozialer Teilhabe zeigt die Abstufung gesellschaftlicher Realität. Der Hartz IV-Satz reicht zur Nahrungsversorgung, möglicherweise auch inkl. Internet und Stromversorgung, dann wird es langsam knapp mit weiteren Anschaffungen.

Die Kategorie „soziale Teilhabe“ soll eine gesicherte Reproduktion beschreiben, die über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgeht und auch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Sicherheit einschließt – wie z.B. Jahresurlaub, regelmäßiger Besuch von Kino, Konzert oder Theater, Essen im Restaurant, Klassenfahrten für die Kinder usw.

Die prekären Schichten kämpfen stets um diese für andere (noch) selbstverständlichen Konsumbedürfnisse. Sie sind stets bemüht, das Existenzminimum zu übertreffen, in bestimmten Gruppen gibt es auch Aufstiegsillusionen – Hauptsache der Gang zum Arbeitsamt kann verhindert werden.

Aufstiegsillusionen können wir v.a. bei Jüngeren beobachten. Junge ZeitarbeiterInnen oder die „Generation Praktikum“ hoffen natürlich, durch Fleiß und Tempo eine Festanstellung zu bekommen. Der selbstständige Webdesigner hofft auf den „Durchbruch“, den Top-Auftrag etc. Neben diesen Hoffnungen gibt es auch stetigen Druck, stetige Angst vor Statusverlust. Natürlich wissen die ZeitarbeiterInnen, dass ihre Stelle jederzeit gekündigt werden kann. Die PraktikantInnen haben auch schon mehrere Stellen gehabt und auch die Neu-Selbstständigen wissen, ab welchem Monat sie die Fixkosten nicht mehr bezahlen können.

Haben sich die verschiedenen Existenzformen des Prekariats einmal an den Status quo „gewöhnt“, gilt das Motto der Zwischenüberschrift. Sicherheit ist nicht planbar, die Unsicherheit ständiger Begleiter.

Gewisse Gruppen des Prekariats erfahren eine soziale Isolation, v.a. gegenüber den eigentlichen „KollegInnen“. Eine selbstständige Altenpflegerin sieht ihre KollegIn eben nicht auf Station oder im Heim wieder, sie hat keinen Kontakt – genau wie die IT-ProgrammiererInnen, die andere Projektgruppen der Firma auch nicht zu Gesicht bekommen. In diesen Arbeitsbereichen wurden kollektive Strukturen beseitigt, die Ware Arbeitskraft komplett individualisiert und somit eine gewerkschaftliche Organisierung erschwert.

Bei allgemeinen Untersuchungen über das Prekariat fällt auf, dass vielfältige soziale und psychische Grenzsituationen auftreten, bislang gab es solche Forschungen meist nur zu den Erwerbslosen. Soziale Unsicherheit, ständiger Druck und Angstzustände führen auch im Prekariat zu einer höheren psychischen Belastung, die sich in Depressionen, Manien und zunehmenden suizidalen Tendenzen ausdrücken. Diese Teile der Klasse erleben eine ständige soziale Bedrohung, sie haben wenig Möglichkeiten zur Regeneration und Reproduktion und verfügen kaum über soziale Schutzmechanismen.

All das ist Folge der Tatsache, dass das Prekatariat jener wachsende Teil der Arbeiterklasse ist, dessen Lohn unter die Reproduktionskosten gedrückt wird.

Einige programmatische Schlussfolgerungen

Der Ausgangspunkt für den Kampf gegen diese Zustände muss daher darin liegen, gemeinsam für die Sicherung der Reproduktionskosten dieses Teils der Klasse und für die Erwerbslosen zu kämpfen. Das kann aber nicht nur durch „Tarifpolitik“, durch das klassische Arsenal der bundesdeutschen Gewerkschaftspolitik, also durch rein ökonomischen Kampf erreicht werden. Es darf vielmehr von Beginn an eines politischen Kampfes.

Alle Formen von Zeit- und Leiharbeit ließen sich einfach mit einem erkämpften gesetzlichen Mindestlohn und der Abschaffung der Befristung von Arbeitsverträgen beenden. Solch ein Mindestlohn sollte die „soziale Teilhabe“ garantieren. Wir fordern daher 1.600 Euro Mindestlohn – damit gäbe es keinen Niedriglohnbereich mehr in Deutschland.

Damit einhergehend brauchen wir eine deutliche Erhöhung der Sozialleistungen. Nur wenn der Arbeitslose oder RentnerInnen ein Mindesteinkommen in der Höhe des Mindestlohnes erhalten, entfällt auch der Druck, jederzeit jede Billigarbeit anzunehmen.

Wenn der Abstand zwischen sozialen Leistungen und Löhnen auf diese Weise abgeschafft wird, können wir auch eine historische Spaltungslinie innerhalb der Arbeiterklasse – die zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen – entschärfen, die Konkurrenz mildern.

Die auftretende Zersplitterung bestimmter Arbeitswelten muss mit und durch die Gewerkschaften bekämpft werden. Die Modelle aus Italien oder den USA mit eigenen Gliederungen der Branchengewerkschaften für das Prekariat können dem Teil der Klasse eine eigene Plattform bieten, dies ist schon mal ein großer Fortschritt.

Ebenso müssen die Gewerkschaften und politischen Gruppen auch Lösungen für das „selbstständige Prekariat“ entwickeln. Eine zentrale Forderung wäre dabei garantierte Gesundheitsversorgung und Mindestrente für alle.

Zum anderen geht es darum, diese „selbstständigen Gruppen“ in tarifliche Arbeitsverhältnisse einzugliedern.

Durch Prekarisierung verschiedenster Formen (Praktika, Leih- oder Zeitarbeit, Selbstständigkeit) drückt sich das Kapital vor den Sozialabgaben, senkt also praktisch den Arbeitslohn. Wo sich Unternehmen gegen eine Eingliederung der „freien MitarbeiterInnen“ oder von LeiharbeiterInnen wehren, müssen sie dazu gezwungen werden – bis hin zur entschädigungslosen Enteignung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle.

Wo diese „freien MitarbeiterInnen“ nicht eindeutig einem Betrieb zuzuordnen sind, die sie praktisch als Scheinselbständige ausbeuten, sollen sie im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten zu tariflichen Bedingungen beschäftigt werden.

Ein solches Programm wird – dazu braucht es wenig Phantasie – auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse, von Regierungen, Unternehmen, Gerichten stoßen. Schließlich geht es „nur“ darum, die Einkommen und Arbeitsbedingungen von rund einem Drittel der Arbeiterklasse so anzuheben, dass sie wenigstens ihre Arbeitskraft dauerhaft erneuern, reproduzieren können.

Doch in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus erscheint es als Utopie, als Zumutung erster Ordnung, dass für immer größere Teile der LohnarbeiterInnen, die Lohnsklaverei nicht einmal mehr ihre Existenz sichert. Selbst in einem der reichsten imperialistischen Länder ist die Bourgeoisie offenbar nicht willens und fähig, für eine Millionenmasse von Lohnabhängigen wenigstens Löhne zu bezahlen, die dem Wert der Ware Arbeitskraft entsprechen. Hier offenbart sich eine grundlegende Tendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die nicht nur ihren ausbeuterischen Charakter, sondern letztlich auch ihre historische Überholtheit offenbart.

„Es tritt offen hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb der Bedingungen der Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“ (11)

Daraus geht hervor, dass eine revolutionäre, realistische Arbeiterpolitik klar vor Augen haben muss, dass der Kampf gegen die Prekarisierung zu keiner dauerhaften, stabilen Lösung im heutigen Kapitalismus führen kann. Sie ist vielmehr eng verbunden und nur dann wirklich Erfolg versprechend, wenn sie mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und der Etablierung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden wird. Es ist ein schlagendes Beispiel für die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms Leo Trotzkis:

„Die Vierte Internationale verwirft die Forderungen des alten Minimalprogramms nicht, soweit sie sich noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte und sozialen Errungenschaften der Arbeiter. Aber sie leistet diese Alltagsarbeit im Rahmen einer richtigen, realen, das heißt revolutionären Perspektive. Sofern die alten ‚minimalen‘ Teilforderungen der Massen mit den zerstörerischen und entwürdigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus zusammenstoßen – und dies geschieht auf Schritt und Tritt – stellt die Vierte Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, deren Sinn darin besteht, dass sie sich immer offener und entschiedener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird aufgehoben vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“ (12)

Fußnoten

(1) Wikipedia, Stichwort Prekariat, www.wikipedia.de

(2) Zur begrifflichen Unterscheidung der unteren Schichten des Proletariats (Pauperismus, Lazarusschicht der Arbeiterklasse) und Lumpenproletariat, das keinen Teil des Proletariats darstellt, siehe Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 673 f.

Im Abschnitt über die „relative Überbevölkerung“ (MEW S. 670 ff) findet sich auf Seite 672 ein Zitat, das der Beschreibung des heutigen Prekariats in vielem verblüffend ähnlich ist:

„Die dritte Kategorie der relativen Überbevölkerung, die stockende, bildet einen Teil der aktiven Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung. Sie bietet so dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft. Ihre Lebenslage sinkt unter das durchschnittliche Niveau der arbeitenden Klasse, und gerade das macht sie zur breiten Grundlage eigner Exploitationszwecke des Kapitals.“

(3) Engels, Brief an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358

(4) Vergleiche u.a. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102 – 118

(5) B. Vogel aus APUZ 33/34 2008 S. 13

(6) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(7) Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 662f

(8) Dörre/Kastel

(9) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(10) Standpunkte RosaLux – Klenner Studie WSI 2010

(11) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(12) Trotzki, Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, In: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 87f




SPD und Hartz IV: Krise als Dauerzustand

Tobi Hansen, Infomail 1030, 16. November 2018

Am Ende des „Debatten-Camps“ der SPD vom 10/11. November hüpfte Vorsitzende Andrea Nahles mit anderen um die Wette. So viel „positive“ Energie hatten wir zuletzt selten von der Partei- und Fraktionschefin gesehen. Zuletzt schien mit den Umfragewerten auch der Selbsterhaltungstrieb in den Keller gegangen zu sein. Das Festhalten an der Großen Koalition ruinierte die letzten Wahlchancen, die ritualhafte Beschwörung der „Sacharbeit“ bildete die makabere Begleitmusik zum Siechtum der Partei.

Nach den Landtagswahlen von Bayern und Hessen wurden die Rücktrittsforderungen gegenüber Nahles wie auch dem gesamten Vorstand zahlreicher und lauter. Die „Linke“ mahnte einen Sonderparteitag Anfang 2019 an, um sich sowohl personell wie inhaltlich neu aufzustellen. Wiederholt wurde die Forderung nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition (GroKo) erhoben, z. B. durch den Landesverband Schleswig-Holstein. Die „Progressive Soziale Plattform“ um den Abgeordneten Marco Bülow und das „Forum Demokratische Linke 21“ (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis wollen eine Urwahl eines neuen Parteivorstandes, inklusive der/des Vorsitzende/n. Dafür würde sich auch Juso- Vorsitzender Kühnert begeistern, während er weiter Nahles politisch stützt. Kühnert bleibt medial das „Gesicht“ der innerparteilichen Opposition. Dass ihn der bayrische Fraktionschef Horst Arnold als neuen Vorsitzenden vorschlug, erhöhte den Druck auf den angeschlagenen Parteivorstand und die Regierungsmitglieder.

Linksschwenk als Rettung?

Als großen Durchbruch feierten Nahles und Klingbeil beim Debatten-Camp die Diskussionen um Hartz IV und Grundeinkommen. In der bürgerlichen Presse machte Nahles mit dem Satz „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Schlagzeilen.

Dies ist gerade für die SPD-Linke ein wichtiges Thema der programmatischen „Erneuerung“, die seit den Auseinandersetzungen um die GroKo versprochen wurde. Zentrale Themen des „Camps“ bildeten die Neuausrichtung des Sozialstaates, die „Vereinbarkeit“ von Umwelt und Wirtschaft wie auch die Perspektive der EU.

Bei der Zukunft der EU wurde deutlich, wie wenig „Linksschwenk“ von der SPD zu erwarten ist. Schon bei der Eröffnung der Veranstaltung machte Nahles „Europa“ zum Schwerpunkt. Sie verlor aber kein Wort zur Austeritätspolitik, zur Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder zu irgendeiner sozialen Perspektive für die Beschäftigten des Euro-Raumes. Stattdessen wurde im Gleichklang mit Merkel, von der Leyen und Macron der Aufbau einer EU-Armee angepriesen. Diese letzte „große“ Idee der Vertiefung des Bündnisses von deutschem und französischem Imperialismus wird dann auch von der SPD mit den gesteigerten „Unsicherheiten“ der globalen Politik begründet. Inwieweit dabei ein weiterer Militärblock „hilft“, bleibt im Ungefähren, aber diesen „Bruch“ mit NATO und US- Imperialismus kann man zumindest noch als „europäisches Projekt“ verkaufen.

Mit der verordneten Aufbruchstimmung, netten Bildern und bis zu 3000 freiwilligen BesucherInnen des Debatten-Camps versucht sich der SPD-Vorstand ins nächste Jahr zu retten. Der nächste Parteitag soll erst Ende 2019 stattfinden. Um vor allem die internen KritikerInnen ruhigzustellen, sollen die Fragen des Sozialstaates vermehrt, wenn auch ohne Folgen für die Regierungspolitik diskutiert werden. Seit der Einführung von Hartz IV, den „Agendareformen“ hat die SPD nicht nur die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, sondern auch ihre Wahlergebnisse halbiert – ein halbherziger, rhetorischer Linksschwenk des Vorstandes soll dieser Entwicklung wohl entgegenwirken.

Sanktionen und Grundsicherung

Die Formulierung von Nahles ist nicht neu. Selbst Arbeitsminister Heil kam schon auf die Idee, dass man „Hartz IV überwinden“ müsse, mindestens einen neuen Namen dafür bräuchte, da dies sonst auf ewig der SPD anhängen würde. Damit reagieren Teile der Führung auch ganz pragmatisch auf Urteile von Sozialgerichten. Diese stellten 14 Jahre nach der Einführung fest, dass die umfangreichen Sanktionen des Hartz-IV-Regimes verfassungswidrig seien und die BRD eine „sanktionsfreie“ Mindestsicherung anbieten müsse. Schließlich führten die Sanktionen bzw. die damit einhergehende soziale Repression dazu, dass sämtliche Geldmittel gestrichen werden können – bis hin zur einer möglichen Obdachlosigkeit der „KlientInnen“. Genau in dieser Frage ergingen die ersten Urteile zugunsten von Menschen, die von Sanktionen betroffen sind. Der Entzug der Wohnung durch den „Sozialstaat“ stünde diesem nämlich nicht zu; dementsprechend seien auch die Sanktionen, die dazu führten, insgesamt „unzulässig“.

So könnten die „Agenda-Reformen“ bzw. deren Weiterführung/Umbenennung eines der entscheidenden Themen der nächsten Zeit werden wie auch für mögliche nächste Bundestagswahlen. Manche SPD-Mitglieder hofften sicher seit dem Debatten-Camp, dass z. B. die Hartz-IV-Sanktionen und das System irgendwie verschwinden und die Partei möglicherweise durch den zuständigen Minister Heil wie auch durch Nahles den „Sozialstaat“ zu Gunsten derjenigen reformieren würde, die ihn brauchen. Ganz praktisch haben Kühnert und der „Parteilinke“ Stegner ihre Ideen zu einer Grundsicherung von sich gegeben, damit können manche Hoffnungen auch gleich begraben werden. Während Kühnert noch spaßige Anreize aus der Freizeitbranche/Industrie der Grundsicherung als Bonbon zusetzen möchte (vielleicht ein Fitness- Programm, Kinogutscheine oder eine Flatrate zur „digitalen Anbindung“), äußerte sich Stegner in der Manier eines Franz Müntefering. In der aktuellen Diskussion hatte Grünen-Chef Habeck ein sanktionsfreies Grundeinkommen in Aussicht gestellt. Stegner konterte dies mit: „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ (Spiegel online 14.11.18).

Dies erklärt zum einen, warum die SPD derzeit in den Meinungsumfragen um die Plätze 3 und 4 kämpft und diejenigen, die Hoffnungen in einen Linksschwenk hegen, dies ganz sicher nicht diesem Personal überlassen dürfen.

Wen Hartz IV hinter sich gelassen hat

Stegner schließt mit solchen Formulierungen an Müntefering, Clement, Schröder an, welche eine Massenverarmung organisiert und Millionen in Existenznot, Verzweiflung, Isolation und Dauerarmut getrieben haben. Diejenigen, die „etwas“ hatten, wurden jahrelang geschröpft, mussten ihre Ersparnisse auflösen, bevor sie eine sanktionsreiche Mindestsicherung überhaupt in Anspruch nehmen konnten. Auch dies gehörte immer zu den Milliardenüberschüssen der ARGE: eine Enteignung des Einkommens der Massen. Millionen Alleinerziehende wurden systematisch existenziell schikaniert. Kindergeld wurde mit dem Hartz-IV-Satz „verrechnet“ – von einem Staat, dem die Ernährung eines Kindes am Tag weniger wert ist als die eines Polizeihundes! Nachgewiesen ist auch, dass MigrantInnen besonders oft zu Unrecht drangsaliert wurden.

Wir können nur ahnen, wie viele Menschen dieses System in den Selbstmord bzw. in mögliche „Vorstufen“ sozio-psychischen Elends getrieben hat, inklusive Suchtkrankheiten.

Gearbeitet wurde unter dem Hartz-System für einen Euro pro Stunde, als Ersatz für viele Stunden Arbeit im öffentlichen Dienst – der 1-Euro-Job war Sinnbild des neoliberalen Umbaus unter Schröder/Fischer. Er diente später bei der Austeritätspolitik in Europa als Blaupause für Kürzungen im Sozialbereich.

Stegners Forderung „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ wäre auch ein interessanter Ansatz für die Kaste der bürgerlichen PolitikerInnen inklusive ihrer Techno- und BürokratInnen, AdjutantInnen, ClaqueurInnen und MitesserInnen, welche allesamt von den Steuereinnahmen durchgefüttert werden. Fast könnte man meinen, das wäre doch mal ein Thema für die „Linke“ – sei es als Partei oder als „radikales“ Spektrum.

Die Zeiten, in denen Erwerbslose gut organisiert waren, gab es ohnedies selten. Die letzte Massenbewegung gegen Hartz IV haben freilich die Führungen der DGB-Gewerkschaften verraten. Eine aktive Politik für Erwerbslose machten sie weder damals noch heute. Ebenso wenig stellen sie sich Hartz IV entgegen. So bleiben vielerorts nur Initiativen übrig, die entweder im rechtlichen oder sozialen Bereich Beratung/Unterstützung organisieren, quasi Selbsthilfegruppen der Deklassierten, da die Gewerkschaften selbst diese Aufgabe nicht übernehmen. Die andere Seite der Organisierung umfasst dann die AktivistInnen für den utopischen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dort finden sich die Linkspartei in Person von Katja Kipping oder in der Neuauflage dann bei den Grünen und Teilen der SPD-Linken wieder, aber ein Kampf der ArbeiterInnenbewegung gegen Hartz IV findet nicht statt.

Wie weiter?

Der Kampf für die sofortige Abschaffung von Hartz IV (wie auch der anderen Hartz- und Agenda-Gesetze müsste mit dem um einen Mindestlohn von 12,50 netto/Stunde für alle, für ein Mindesteinkommen von 1600,- Euro/Monat für alle Erwerbslosen und RentnerInnen und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbunden werden. Dies wären reale Schritte zur Bekämpfung der Armut.

Für diese Forderungen müsste eine SPD-Linke innerhalb wie außerhalb der Partei eintreten. Dafür sollten sich die Gewerkschaften, die Linkspartei und die „radikale Linke“ stark machen.

Ein Aktionsbündnis um diese Forderungen würde einen realen Bruch mit der Agendapolitik darstellen – und könnte zugleich die Regierung wie die SPD-Rechten und BefürworterInnen der GroKo in die Defensive bringen. Die Frage, wie sehr die „soziale“ Neuausrichtung der SPD nur Gelaber zum Hinhalten der Parteilinken und der Basis bleibt oder einen realen Gehalt erhält, ist vor allem eine praktische. Der Kampf gegen das Hartz-IV-System, für ein Mindesteinkommen und einen Mindestlohn, die zum Leben reichen, muss jetzt aufgenommen werden – und zwar in den Betrieben, in Bündnissen, auf der Straße und gegen die Große Koalition!




Skandal in Dortmund – Arbeitsamt geht gegen BettlerInnen vor

Tobi Hansen, Infomail 974, 24. November 2017

Während in Deutschlands Medien das Scheitern der Sondierung und damit eine drohende „Unregierbarkeit“ diskutiert werden, fallen wirkliche Skandale unter den Tisch – keine Sondersendung, kein Brennpunkt, kein ZDF spezial, die für einen Fall, der die realen Probleme und Missstände in diesem Land zeigt, auch nur eine Minute Sendezeit aufwenden.

Dass für Hartz-IV-EmpfängerInnen oft die Unterstützung nicht zum Leben reicht, setzen wir als bekannt voraus. Dass es mit den meisten anderen Sozialleistungen auch nicht leicht ist, „über die Runden“ zu kommen, wissen selbst die bürgerlichen ClaqueurInnen des Privatfernsehens. Nur in den Arbeitsämtern gibt es dazu wohl andere Ansichten.

Betteln als Gewerbe?

Wegen ihrer Armut sind sie auf Tafeln angewiesen. Ohne diese hätten viele Menschen nicht einmal das Notwendigste. Oder sie müssen Pfandflaschen sammeln oder betteln. Dies tat ein Hartz-IV- Empfänger in Dortmund.

Einige Medien haben darüber berichtet, wie das Arbeitsamt auf ihn aufmerksam wurde. Egal ob ihn ein Sachbearbeiter gesehen hat oder ob er angeschwärzt wurde, Fakt bleibt, dass die „Agentur für Arbeit“ (Arge) daraufhin das Betteln als zusätzliches Einkommen angesehen hat.

Michael Hansen wurde aufgefordert, seine „Einnahmen“ aufzuführen, ein Einnahmebuch vorzulegen. Außerdem soll auch seine Bedarfsgemeinschaft ihre Ausgaben offenlegen. Die Arge Dortmund wertet Betteln somit als Gewerbe, der Hartz-IV-Empfänger wird dadurch als „Selbstständiger“ betrachtet, der seine Einnahmen verrechnen soll. Das heißt, seine Bezüge werden gekürzt.

Das Zwangssystem Hartz IV zeigt sich hier wieder einmal von seiner realen Seite. Während die BezieherInnen oft als faul dargestellt werden, zeigt dieser Fall, dass Armut mit Sanktionen belegt wird. Die Arge Dortmund ist der Meinung, dass 409 Euro als Regelsatz ein „auskömmliches Einkommen“ sind. Gut zu wissen, dass dies SachbearbeiterInnen feststellen, von denen niemand mit weniger als 1800 Euro netto aus der Arge nach Hause geht. Die Bedarfsgemeinschaft erhält als Regelsatz 760 Euro plus Miete. Von diesem Satz wurden Michael Hansen seit August monatlich 300 Euro abgezogen. Damit ist die Bedarfsgemeinschaft jetzt auf das Betteln angewiesen, so läuft der Armutskreislauf des Hartz-IV-Systems.

In Niedersachsen führte ein ähnlicher Fall 2009 zu größeren Protesten. Die Arge in Göttingen handelte ähnlich wie die Dortmunder. Durch Proteste war das dem Landesministerium jedoch zu peinlich und die Behörde wurde zurückgepfiffen. Dieses Verhalten der Armutsverwaltung zeigt auf, zu welchem asozialen Vorgehen dieses System fähig ist. Werden künftig auch PfandsammlerInnen verfolgt und gezwungen, Quittungen für ihre „Erlöse“ vorzulegen? Sollen die Besuche der Tafel mit Hartz IV verrechnet werden?

Agieren

Währenddessen zeigen „Panama“ und „Paradise Papers“, wie einfach die Besitzenden und Reichen ihr Geld verstecken können, wie sie selbst versuchen, jeden Cent Steuern zu vermeiden. So wurden beim „Cum-Ex“-Skandal vor allem von Banken und Konzernen satte 31 Mrd. Euro am Fiskus vorbeigeschleust. Der Organisator dieser Operation, Hanno Berger, wird jetzt vom FDP-Spitzenfunktionär Kubicki vor Gericht verteidigt. Wer den Hartz-IV-Empfänger Hansen verteidigen wird, steht in den Sternen. Klar ist aber, wer sich für ihn einsetzen sollte.

Die Linkspartei, die Gewerkschaften, die SPD können hier Farbe bekennen, statt die „soziale Gerechtigkeit“ bloß auf Wahlplakaten und im luftleeren Raum zu beschwören. Schließlich sollten sie in der Lage sein, das Vorgehen der Dortmunder Arge nicht nur zu skandalisieren, sondern wenigstens in diesem Fall die Armutsverwaltung in ihre Schranken zu weisen.

Ansonsten droht der Volksmund recht zu behalten, heißt es so treffend doch: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“

  • Solidarität mit Michael Hansen! Weg mit den Sanktionen der Arge!
  • Weg mit Hartz IV! Für ein Mindesteinkommen von 1600 Euro für alle!