Mit Corona-Skeptizismus gegen Gates und Merkel?

Georg Ismael, Vortrag vom 15. Mai, Infomail 1104, 16. Mai 2030

Hallo und herzlich willkommen zum wöchentlichen Livestream der Gruppe ArbeiterInnenmacht!

Unser heutiges Thema lautet: „Mit Corona-Skeptizismus gegen Gates und Merkel?“

Ihr habt jetzt noch einmal die Möglichkeit, den Stream zu teilen, FreundInnen und Bekannte einzuladen, an der Veranstaltung teilzunehmen.

In der Zwischenzeit, und während wir auf weitere ZuhörerInnen warten, einige kurze Informationen zu uns:

Wir, die Gruppe ArbeiterInnenmacht, sind eine internationalistische und kommunistische Organisation.  Außerhalb Deutschlands sind wir in sieben weiteren Ländern und auf drei Kontinenten vertreten und gemeinsam in der Liga für die Fünfte Internationale organisiert.

Vor Ort sind wir in Deutschland in Betrieben und Gewerkschaften aktiv. Dort unterstützen wir tatkräftig den Aufbau der Vernetzung kämpferischer GewerkschafterInnen und treten für den Aufbau einer Bewegung gegen die Krise ein. Kurz, wir kämpfen überall tatkräftig dafür, dass die wenigen Reichen, nicht die vielen Arbeitenden zahlen!

Wir engagieren uns in der MieterInnenbewegung, sind in der Umweltbewegung aktiv.

Wir kämpfen entschlossen gegen Rassismus und Frauenunterdrückung.

Wo immer uns möglich, organisieren wir Solidarität und Kampagnen mit anti-imperialistischen Kämpfen und fortschrittlichen Bewegungen in der so genannten Dritten Welt. Besondere Aufmerksamkeit richten wir auf Fragen der Jugend und ihrer Probleme und unterstützen daher auch den Aufbau der Jugendorganisation REVOLUTION.

In den vergangenen Wochen haben wir uns nach Kräften an der Mobilisierung zu linken Kundgebungen und Demonstrationen am Ersten Mai beteiligt.

Wir sind ganz eindeutig MacherInnen. Wir haben aber auch etwas zu sagen. Und das tun wir mit unserer Monatszeitung „Neue Internationale“, unserem theoretischen Journal „Revolutionärer Marxismus“ sowie täglichen Artikeln auf unserer Homepage www.arbeiterinnenmacht.de. So wollen wir nicht nur die bestehenden Verhältnisse kritisieren und Mut auf eine bessere Zukunft schaffen. Wir wollen auch bestehende Bewegungen stärken und ihnen eine sozialistische Ausrichtung geben.

Seit kurzem sind wir auch mit diesem wöchentlichen Livestream auf den sozialen Medien am Start.

So, und für alle lieben Menschen, die sich auch diese Ostern wieder einmal den Kommunismus gewünscht oder zumindest am Monatsende auf den Kapitalismus geschimpft haben, als sie auf ihren Kontostand gesehen haben, … dann liebe Damen und Herren, ist das jetzt Eure Chance, einen Like auf unserer Seite zu lassen und damit euch selbst und unsere Arbeit zu unterstützen.

Nun zu unserem heutigen Thema.

„Mit Corona-Skeptizismus gegen Gates und Merkel“

Unter diesem provokanten Titel wollen wir uns einem zur Zeit kontrovers diskutierten Thema widmen, den so genannten „Hygienedemos“.

Zuerst das Wichtigste, eine deutliche Positionierung. Wir lehnen diese Demonstrationen, ihre Inhalte und Forderungen sowie ihre oft obskuren und fast clownesken Auftritte entschieden ab. Jeder sich als links, ja als fortschrittlich begreifende Mensch kann und sollte sich an diesen Veranstaltungen nicht beteiligen.

Wir finden natürlich, dass jede/r eine Portion Spass verdient hat. Einige aus der Aluhut-Fraktion haben ja auch bereits verlauten lassen, dass gute Laune und Lachen bereits genug wären, um der Pandemie zu begegnen. Sie sind daher auch mit gutem Beispiel vorangegangen, um Belustigungsmaterial für die breite Masse der Bevölkerung zu liefern. Es wäre die beste Satire auf eine verrückte Gesellschaft, … wenn sie es nicht bitter ernst meinten.

Wer nun einen genaueren Blick auf die seit März stattfindenden und seit Ende April wachsenden Demonstrationen von „Widerstand 2020“ und von „Querdenken 711“ blickt, dem wird allerdings schnell das Lachen im Halse stecken bleiben. Veranstaltungen, die sich im März noch relativ unschuldig präsentierten, sind mittlerweile zum Treffpunkt der extremen Rechten, von AntisemitInnen, Hooligans und VerschwörungstheoretikerInnen geworden.

Unsere Besorgnis ist daher nicht abstrakt, dass diese Proteste „die Gesellschaft spalten würden“, wie bürgerliche und reformistische PolitikerInnen wie Saskia Esken von der SPD nun herauf- und herabbeten und damit verwischen, dass ihre Krisenpolitik zwangsläufig die soziale Spaltung vertieft.

Natürlich ist die Gesellschaft gespalten, sie war es auch vor Corona. Aber die aktuelle Lage zeigt die Spaltung deutlich auf. Sie ist, um es anschaulich zu sagen, gespalten in jene, für die 60 % vom Lohn reale Existenzangst bedeuten, und jene, die sich auch dieses Jahr auf die Auszahlung der diesjährigen Dividenden bei Volkswagen und Co freuen können.

Uns erregt daher konkret Besorgnis, nicht dass Menschen den Staat und die Gesellschaft fundamental kritisieren. Uns macht konkret der Inhalt Sorgen, mit dem die Hygienedemos dies tun. Ihre Politik läuft eben tatsächlich auf eine reaktionäre Verschärfung dieser – ja, auch von der bestehenden Regierung betriebenen – Spaltung hinaus. Dies als auch unsere Antwort darauf wollen wir im Folgenden darlegen.

1. Mittlerweile sind die Demonstrationen massiv angewachsen und mobilisieren vor allem in Stuttgart regelmäßig 5.000 oder mehr Menschen.

2. Sie haben sich darüber hinaus unter anderem auf Berlin, Stuttgart, München sowie Chemnitz, Dortmund, Dresden, Flensburg, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Köln, Nürnberg, Pirna und auch Wien ausgebreitet.

3. Mit der Ausweitung der Bewegung ging auch eine weitere Wende nach rechts einher. Rechte und offene FaschistInnen „unterwandern“ die Bewegung nicht nur, sie haben auch einen deutlichen Einfluss auf ihre Führung .

Das reicht von der „Identitären Bewegung“, der NPD, von „ReichsbürgerInnen“, von Kameradschaften und Hooligans (z. B. BFC-Hools in Berlin) über die AfD und ihren „Flügel“ bis zu Magazinen wie „Compact“ und Leuten wie Ken Jebsen. Hinzu kommt eine bittere Melange obskurer VerschwörungstheoretikerInnen, von der Aluhut-Fraktion bis zu  ausgesprochenen AntisemitInnen.

Wie eng die Verbindung zu den scheinbar „überparteilichen“ Gruppierungen wie „Widerstand 2020“ und „Querdenken“ in Stuttgart sind, ist mittlerweile belegt durch direkte Gespräche zwischen SpitzenvertreterInnen der faschistischen Organisation der so genannten Identitären wie Martin Sellner mit dem Corona-Leugner und Widerstand-2020-Sprecher Bodo Schiffmann.

Es geht nun darum zu klären:

  • Warum der konnte Protest Zulauf erhalten?
  • Welchen klassenpolitischen Charakter hat er? Allen Behauptungen zum Trotz versammelt sich dort eben nicht „das Volk“.
  • Wie müssen wir uns dazu verhalten und was braucht es, um dem rechten Protest Einhalt zu gebieten?

Warum konnte der Protest Zulauf erhalten?

Erstens erschienen die Proteste am Beginn als relativ unschuldige Veranstaltungen, als Angebot an alle, die sich gegen die repressiven Einschränkungen des Demonstrationsrechts durch die Regierung wenden wollten. Da sie das praktisch einzige öffentliche Angebot darstellten, zogen sie vermeintlich auch solche an, die tatsächlich gute soziale Gründe für Protest hatten. Sie zogen aber sicherlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und konnten sich als „die Opposition“ behaupten.

Dabei kam den Knallköpfen – Verzeihung: QuerdenkerInnen – zweitens die Politik der „nationalen Einheit“ der Gewerkschaften und der offiziellen „ArbeiterInnenparteien“ von SPD und  Linken zugute. Diese hatten tatsächlich bereits vor den QuerdenkerInnen die gemeinsamen Interessen des Volkes, bei ihnen vor allem von Arbeit„geber“Innen und Arbeit„nehmer“Innen, ausgerufen. So nickten sie über weite Strecken die pro-kapitalistische Regierungspolitik ab. Im Fall der SPD verkauften sie ihre „sozialen“ Seiten. Die Gewerkschaften schlossen nicht nur ideologisch Frieden und veröffentlichten mit den Unternehmerverbänden gemeinsame Appelle an die Regierung. Sie stellten auch die Tarifkämpfe ein, setzten diese auf unbestimmte Zeit aus und akzeptierten allerlei soziale Angriffe wie die Erhöhung der Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche. Dass sie am 1. Mai auf praktisch jegliche Form der Mobilisierung verzichteten, war letztlich nur die Spitze des Eisbergs des sozialen Ausverkaufs.

Das Fehlen einer fortschrittlichen Opposition gegen die vorherrschende Politik schafft zwangsläufig auch Raum für eine reaktionäre Offensive. Diese ist auch deswegen nicht weniger reaktionär, weil sich an ihr auch tatsächlich sozial Benachteiligte und von der Krise Betroffene beteiligen.

Es wäre drittens aber falsch, so zu tun, als hätte es keine anderen Aktionen während der letzten Wochen gegeben. Am Ersten Mai – aber nicht nur da – traten viele Linke einschließlich oppositioneller GewerkschafterInnen auf die Straße, insgesamt wahrscheinlich sogar deutlich mehr als bei den rechten Aktionen. Aber die Linken hatten oft mehr mit Repression und Einschränkungen zu tun. Das Medienecho, zumindest in Berlin, beschränkte sich weitgehend darauf zu erwähnen, dass es Proteste gab. Auf ihren Inhalt wurde allerdings wenig bis kaum eingegangen. Dafür wurde auf praktisch jedem Radiosender Innensenator Geisel zitiert, dass solche Proteste ein großer Unsinn seien.

Welchen klassenpolitischen Charakter haben die Proteste?

Die Hygienedemos und QuerdenkerInnen sind nicht erst seit kurzem „zu rechts“. Sie hatten bereits zuvor einen anderen klassenpolitischen Charakter als linke Proteste. Sie waren von Beginn an von einem kleinbürgerlichen Publikum, und daher auch von kleinbürgerlichen und populistischen Forderungen geprägt. Dies erklärt auch, warum es faschistischen Kräften so leicht fiel, vereinzelte liberale oder vorgeblich linke MitinitiatorInnen rasch zu marginalisieren.

Die blauäugige Herangehensweise „Hauptsache Merkel wird kritisiert“, mit der sich auch manche Linken nun den Aluhut aufsetzen wollen, ändert dennoch nichts an den grundlegend entgegengesetzten Inhalten linken Protestes und der aufkommenden rechten und kleinbürgerlich-reaktionären Bewegung.

Die linken Kundgebungen und Demos richteten sich gegen gesellschaftliche Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse. Sie thematisierten die Situation in Krankenhäusern und Betrieben. Sie stellten nicht in Frage, dass es eine Pandemie gäbe, sondern wer und wie die durch sie ausgelöste Krise bezahlt wird. Linke Proteste suchten nicht nach einer Gruppe von bösen „VerschwörerInnen“, die die eigentliche gute Gesellschaft untergraben würden. Linke Proteste zeigten die tatsächlich bestehenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse auf, die sich durch die gesamte internationale Gesellschaft ziehen. Und im Gegensatz zu den rechten Protesten interessieren sich linke auch für die Forderungen der Geflüchteten und der ArbeiterInnen im Ausland.

Man kann es auch anders sagen. Die rechten Proteste leugnen, teils aus Überzeugung, teils aus Kalkül die Pandemie, um zum normalen Wirtschaften zurückzukehren.

In ihren Begründungen, wenn man das so nennen darf, greifen sie reale Probleme auf, präsentieren sogar eine Form von scheinbarer Kapitalismuskritik, die jedoch auf halbem Weg steckenbleibt und sich letztlich in ihr Gegenteil verkehrt.

Der Shutdown wird als wirtschaftliche Katastrophe begriffen, die „Corona-Lüge“ oder jedenfalls die angebliche Übertreibung der Gefahr werden als Mittel verstanden, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Auf dieser Basis würde eine weltweite Diktatur errichtet, deren inländischer Träger das „Merkel“-Regime wäre.

Und hier kippt das Halbwahre der Anerkennung der Krise und der Existenzangst von Millionen in eine Mythologisierung um; die scheinbare Kapitalismuskritik wird zur Verschwörungstheorie. Hinter den Maßnahmen stecke nämlich ein Mastermind – Bill und Melinda Gates. Die hätten sich die Corona-Sache zunutze gemacht, wenn nicht gar „ausgedacht“. Sie hätten sich der WHO bemächtigt, butterten Milliarden in die Entwicklung des Impfstoffes, den ihre Stiftung dann mit Super-Extraprofiten verkaufte. Willfährige Regierungen wie jene von Merkel wollen daher eine Impfpflicht durchsetzen, damit es einen sicheren Markt gibt.

„Ungereimtheiten“ beirren dabei die KennerInnen der Gates-Verschwörung nicht weiter, wie überhaupt rationale Argumente bei solchen Vorstellungen nicht greifen. Wäre dem so, würde es nicht schwerfallen zu verstehen, dass ein Programm zur Zwangsimpfung den Weltkapitalismus ökonomisch nicht retten kann. Noch mehr aber würde auffallen, dass die aktuelle Krise mit einer Verschärfung der internationalen Konkurrenz einhergeht, die unter anderem die Frage aufwirft, wessen Kapital in der Krise vernichtet wird und welches obsiegt. Die Krise verdeutlicht auch, dass mit der Konkurrenz eine koordinierte Antwort auf die Pandemie wie auf die Krise enorm erschwert, ja verunmöglicht wird. Die Bourgeoisie hat gerade keinen gemeinsamen globalen „Plan“, keinen gemeinsamen Ausweg – und sie bildet auch keine globale „Verschwörergemeinschaft“.

Die Verschwörungstheorien personalisieren aberwitzig die Verhältnisse – und die Krise erscheint daher plötzlich auch nicht mehr als eine der kapitalistischen Produktionsweise, sondern als böse Verschwörung einzelner besonders raffgieriger VertreterInnen des „Finanzkapitals“. Die Ähnlichkeit zu antisemitischen, pseudo-antikapitalistischen Theorien fällt ins Auge.

Hinter dem irrationalen Wahn verbirgt sich freilich handfestes, alles andere als kritisches Interesse.

Das wahre Grundrecht, welches die kleinen UnternehmerInnen zu verlieren fürchten, ist das auf klingende Kassen auch im kleinen Geschäft und Betrieb. Dass sich größere Kapitale deutlich besser in der aktuellen Krise durchsetzen konnten, erscheint ihnen aufgrund ihrer eigenen Position als kleine KapitalistInnen und KleinbürgerInnen daher nicht als ein Problem des Kapitalismus, sondern als eine Verschwörung gegen sie. Es gibt also eine tatsächliche Logik in Bezug auf diese Verschwörungstheorien.

Diese liegt allerdings weniger in der „Theorie“ selbst als darin, wie und warum diese entstehen und warum sie gerade jetzt an Popularität gewinnen.

Linke Proteste hingegen akzeptieren die tatsächliche und potentielle Gefahr der Pandemie. Unsere Kritik an den Einschnitten demokratischer Grundrechte rührt daher, dass wir uns den sozialen Einschnitten und politischen Angriffen entgegenstellen wollen, die nicht nur diese/r oder jene/r KapitalistIn durchführt, sondern diese auch mit dem gesamten kapitalistischen System in Verbindung bringen zu müssen. Wir kritisieren also nicht prinzipiell, dass Maßnahmen während der Pandemie getroffen werden müssen. Wir kritisieren, dass Profite über Gesundheit gestellt werden. Und dass viele gezwungen sind, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, weil sie es sich nicht anders leisten können.

Zusammengefasst könnte man auch sagen: Die rechten KleinbürgerInnen wollen, dass wieder Profite gemacht werden und leugnen eine Gefahr für die Gesundheit.

Wir wollen, dass alle ein Recht auf Gesundheit haben und sehen das Profitsystem als das zentrale Hindernis.

Die Rechten sehen eine Verschwörung am Werk und rufen „das Volk“ zum Widerstand auf.

Wir sehen, dass es keine besondere „Verschwörung“ gibt, sondern die aktuellen Zustände eine ganz „normale“ Situation der kapitalistischen Gesellschaft in der Krise darstellen. Diese Krise kann aber nicht durch die Beschwörung „des Volkes“ – letztlich ein reaktionärer Mythos – sondern die Anerkennung und Aufhebung der tatsächlichen Klassenwidersprüche gelöst werden.

Dieser Bezug auf „das Volk“ und seine „Souveränität“ ist ein durchaus bindendes Element unterschiedlicher rechter Bewegungen. Dies betrifft nicht nur die rechten Proteste in Deutschland. Auch Trump oder Bolsonaro leugneten das Virus, zeigten sich „skeptisch“ und bedienten unterschiedliche Verschwörungstheorien. Auch sie bezogen sich auf das Volk, zum Teil auch gar gegen „die Elite“, zumindest dort, wo es ihnen passte.

Dieser Bezug ist doppelt attraktiv für das KleinbürgerInnentum. Einerseits macht es eigene Forderungen gegenüber dem großen Kapital, meist aber schlicht und ergreifend dieser oder jener Fraktion des Kapitals geltend. In ihrer Auslegung kann natürlich auch ein/e FacharbeiterIn, der/die einen geregelten Lohn und in besonders frechen Fällen sogar einen höheren Lohn erhält, als der/die rechte KleinbürgerIn Einkommen hat, mit zu der Elite gezählt werden. Der Kampf gegen die Elite und die „VerschwörerInnen“ lässt aber nicht zufällig die eigenständigen Interessen der ArbeiterInnen aus dem Blick. Es ist kein Zufall, dass Forderungen nach einem höheren Lohn bei den rechten Protesten kein Gehör fanden. Immerhin ist doch alles prima, wenn die Angestellten dann wieder schwarz auf dem Bau oder im Laden von nebenan schuften dürfen.

Der Irrationalismus und die Wissenschaftsfeindlichkeit der rechten Proteste haben also einen realen klassenpolitischen Kern – sie sind Ausdruck einer reaktionären Bewegung des KleinbürgerInnentums. Daran ändert letztlich auch die Tatsache nichts, dass sich manche Lohnabhängige dazu entschieden haben, ihr Heil darin zu suchen, mit ihren ChefInnen um die möglichst schnelle Wiederöffnung der Ausbeuterbude zu kämpfen, … weil sie keine andere Alternative sehen, um sich über Wasser zu halten.

Für die Lohnabhängigen sind solche Bewegungen daher besonders gefährlich, weil sie dazu führen, dass ihre Interessen unter jene von Kleingewerbetreibenden, kleinen Unternehmen untergeordnet werden. Es ist oft besonders gerade im Handel, in der Gastronomie, im Dienstleistungssektor, wo Löhne besonders gering und Arbeitsbedingungen besonders schlecht sind. Darüber können auch das „familiäre“ Verhältnis und auch der manchmal wirklich vorhandene „gute Wille“ nicht hinwegtäuschen.

Die InitiatorInnen der Proteste knüpfen tatsächlich genau an dieser Entpolitisierung im Bewusstsein der arbeitenden Klasse an. Sie präsentieren sich als über den Parteien und Bewegungen stehend. Sie versprechen, Klassen und politische Standpunkte zu überbrücken und im Volk aufzulösen. Tatsächlich erklären sie allerdings die Interessen der kleinen KapitalistInnen und der KleinbürgerInnen zu denen des Volkes. Dass manche der InitiatorInnen und auch der TeilnehmerInnen an den Aktionen diese Erzählung „ehrlich“ glauben, macht die Sache nicht besser.

Allenfalls konnten sie sich und andere so leichter mit der Vorstellung betrügen, dass es rein zufällig wäre, wer ihren Protest aufgreift, dass eine populistische Ideologie ebenso gut links wie rechts sein könne. In Wirklichkeit hatten die Rechten oder KleinunternehmerInnen einfach damit recht, wenn sie sich als „Volk“ von den Protesten angesprochen fühlten. Sie waren nämlich immer schon präsent – sei es ideell, indem an sie appelliert wurde, sich als Volk zu „erheben“, seien es so illustre rechte Plattform-Macher wie Ken Jebsen, der sich von Beginn an als scheinbar „kritischer“ Journalist, der weder links noch rechts, sondern einfach volksnah sei, gerierte. Das heißt ein Teil des rechten Spektrums drückte in Wirklichkeit immer schon den Protesten seinen ideologischen Stempel auf, auch wenn die organisierte Rechte erst später gekommen sein mag.

Sind jetzt alle KleinbürgerInnen doof, oder wie?

Es bedarf der Erwähnung, dass ganz offensichtlich nicht alle KleinbürgerInnen aktuell mit den Rechten protestieren und dies auch durchaus ablehnen.

Kurzes Beispiel, wie KleinbürgerInnen durchaus auch real betroffen sind, (z. B. Gesundheitssektor) und was wir fordern (Bestreitung des Lebensunterhalts, z. B. durch das Recht auf Anspruch auf Aufstockung oder KurzarbeiterInnengeld gekoppelt an das Einkommen sowie einen Mindestlohn von 13 Euro pro Stunde, aber auch einer Obergrenze, was kompensiert werden kann; Schuldentilgung von KleinschuldnerInnen, insofern es sich um Schulden z. B. bei Banken handelt, Unterstützung bei der Gewerbemiete vor allem aber auch das Aussetzen von Mieten gegenüber großen Immobilienkonzernen und LandbesitzerInnen).

3. Was können wir tun?

Wir als revolutionäre Linke und letztlich auch die breitere ArbeiterInnenbewegung sollten  dieser Gefahr wie folgt begegnen:

  • Wir dürfen die Krise des Kapitalismus selbst nicht verharmlosen, sondern müssen sie in ihrer Tiefe zur Kenntnis nehmen. Sie wird nicht „abfedert“ werden können durch Kompromisse wie das KurzarbeiterInnengeld. Um sich der eigenen Haut und der Gesundheitsgefahren zu erwehren, müssen wir selbst für Demonstrationsrechte, politische Rechte kämpfen, weil diese für den Klassenkampf notwendig sind.
  • Eine solche Bewegung muss klar klassenpolitisch, d. h. an den Interessen der Lohnabhängigen ausrichtet sein. Damit die ArbeiterInnenklasse anderen Schichten der Gesellschaft eine Perspektive weisen kann, darf sie nicht im klassenübergreifenden Brei einer „Volksbewegung“ aufgehen. Wo es sich um eine fortschrittliche kleinbürgerliche Massenbewegung handelt – z. B. in der Umweltbewegung – müssen wir um eine andere Ausrichtung, um eine klassenpolitische Führung kämpfen. Wo es sich wie bei Hygienedemos, „Querdenken“, „Widerstand 2020“ um Teile einer reaktionären Bewegung handelt, muss dieser offen entgegentreten werden. Es geht hier also auch um die Frage, wer wen für was gewinnt: ob die rechten KleinbürgerInnen Lohnabhängige für die Rettung des kleingewerblichen Kapitalismus oder ob die linken ArbeiterInnen Schichten des KleinbürgerInnentums für eine fortschrittliche Überwindung des Kapitalismus hin zu einer demokratischen Planwirtschaft gewinnen.
  • Wir müssen daher scharf alle vorgeblichen linken Kräfte kritisieren, die die Bewegung schönreden. Sie verharmlosen nicht nur die Corona-Gefahr, sie verharmlosen auch den reaktionären Charakter dieser Bewegung, die Gefahr, dass sich eine rechts-populistische oder gar faschistische Bewegung etabliert – und sie verharmlosen auch den Fakt, dass die Bewegung Wasser auf die Mühlen des Kapitals ist, insofern die Forderung nach Öffnung von Unternehmen und Geschäften genau dessen Verwertungsinteressen entspricht.
  • Es braucht zuletzt aber auch vor allem einen Bruch mit Sozialpartnerschaft und Klassenkollaboration, mit der Politik der nationalen Einheit. Dass sich rechte KleinbürgerInnen nun als politische und soziale Opposition aufspielen können, ist nicht zuletzt dem Stillhalten der Gewerkschaftsführung und der  von SPD und Linken zuzuschreiben.



Massenentlassungen von Studierenden – wie können wir uns dagegen wehren?

Peter Böttcher, Infomail 1102, 4. Mai 2020

Die Corona-Pandemie zeigt wie kaum ein anderes Beispiel, dass die kapitalistische Produktionsweise für gesellschaftliche Krisen besonders anfällig ist. Die als Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus beschlossenen Lockdowns führen überall auf der Welt zum Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität und damit zu massiv fallenden Aktienkursen. Die Profitverluste der Unternehmen während des Lockdowns und der plötzlich nicht mehr vorhandene Bedarf an Arbeitskräften führen zu Kurzarbeit, unbezahltem ,,Zwangsurlaub“ und auch zu Entlassungen.

Am heftigsten zeigen sich die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft in den USA. Innerhalb von wenigen Wochen wurden dort fast 30 Millionen Menschen arbeitslos. Selbst bürgerliche AnalystInnen in den Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen bis Ende Mai um weitere 20 Millionen ansteigen wird. Mit den bis März dieses Jahres etwa sieben Millionen erfassten Arbeitslosen kommen die USA bis Anfang Juni wahrscheinlich auf etwa 50 Millionen Arbeitslose, wohlgemerkt bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 328. Millionen Menschen. Und dabei befinden wir uns noch am Beginn der kommenden Weltwirtschaftskrise, die nun durch die Corona-Pandemie ausgelöst (aber wohlgemerkt nicht verursacht!) wurde.

Es sieht also düster aus um unsere Zukunft und um dies zu sehen, müssen wir nicht mal auf die von der Pandemie besonders hart betroffenen USA blicken.

Lage von Studierenden

Dass es auch in Deutschland nicht viel besser aussieht und gerade die Jugend besonders hart von den Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen betroffen ist, zeigt unter anderem die Zahl der Studierenden, die infolge der Corona-Krise ihre Beschäftigung verloren haben. Laut „junge welt“ vom 15. April haben demnach über 750.000 der insgesamt ca. 2 Millionen lohnarbeitenden Studierenden (69 % der 2,9 Mio. Studierenden) seit dem Lockdown kein Einkommen mehr oder jedenfalls deutlich weniger.

Da laut Sozialbericht des Deutschen Studentenwerks 59 % der erwerbstätigen Studierenden angeben, mit ihrem Verdienst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind diese von der aktuellen Situation besonders betroffen. Auch jene Studierende, die von monatlichen Zuwendungen ihrer Eltern abhängig sind, geraten im Falle von Kürzungen des Unterhalts durch deren Kurzarbeit oder Einkommensverluste in eine finanzielle Notlage.

Natürlich kann die Regierung da nicht einfach tatenlos zusehen und hat sich etwas besonders Perfides in dieser Notsituation einfallen lassen: Aktuell diskutiert die Bundesregierung über den Vorschlag der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), zinslose Kredite an bedürftige Studierende zu vergeben. So sollen die Studierenden indirekt selbst die Folgekosten der von den Regierungen beschlossenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bezahlen, indem sie sich selbst verschulden. Den Vorschlag des Deutschen Studentenwerks, das Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für „Pandemie verschuldete Härtefälle“ zu öffnen, hat die Bundesregierung abgelehnt. Immerhin soll das BAföG während der Corona-Krise weitergezahlt werden. Jedoch erhalten ohnehin nur etwa 18 % der Studierenden BaföG-Zahlungen (Stand 2016).

Dabei haben die genannten Probleme der Studienfinanzierung und der prekären Arbeitsverhältnisse, die dazu führen, dass man soeben von einen Tag auf den nächsten seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten kann, ihren Ursprung in der neoliberalen Sparpolitik der Herrschenden. Diese haben seit Jahrzehnten in den Bereichen Bildung, Forschung und Lehre Kürzungen vorgenommen und diese chronisch unterfinanziert. Die Kosten für den Staat sollten unter dem Diktat der sogenannten „Schwarzen Null“ möglichst niedrig gehalten werden, was zu allerlei „Reformen“ in den Bereichen der Ausbildungsförderung und der Bildungsfinanzierung führte.

Dass heute 2/3 der Studierenden lohnabhängig sind und sich gezwungen sehen, schlecht bezahlte, befristete Arbeitsverträge unter miesen Arbeitsbedingungen zu unterschreiben, dass in der Studiengangordnung vorgeschriebene Praktika unbezahlt sind, dass studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte oftmals die Arbeit erledigen, die eigentlich in den Aufgabenbereich von in Vollzeit angestellten und verhältnismäßig besser bezahlten wissenschaftlichen MitarbeiterInnen fallen, das alles sind Probleme, die schon lange vor der Pandemie existierten. Die Corona-Krise hat die miserablen Verhältnisse, unter denen eine Vielzahl der Studierenden leiden, nur für alle deutlich sichtbar an die Oberfläche gebracht und weiter zugespitzt.

Die kommende Weltwirtschaftskrise, welche sich schon vor Corona anbahnte, wird diese Verhältnisse noch weiter verschlechtern. Wir werden mit krassen Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich, aber auch mit weiteren Angriffen auf unsere Arbeitsrechte und weiteren Massenentlassungen rechnen müssen. Die bisherigen Auswirkungen der Corona-Krise sind nur ein Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommen wird. Selbst bürgerliche ÖkonomInnen gehen davon aus, dass die kommende Krise alle bisherigen Wirtschaftskrisen der Menschheit in den Schatten stellen wird. Und ob das Virus durch die aktuellen Maßnahmen (Stichwort Öffnungen der Schulen, Unis, Kindergärten und Geschäfte) tatsächlich wirkungsvoll zurückgedrängt werden kann, ist fraglich. Es ist auch nicht auszuschließen, dass es auch noch zu einer zweiten oder sogar dritten Infektionswelle kommen kann.

So oder so werden wir mit Angriffen der herrschenden Klasse auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen konfrontiert werden. Wenn wir diese nicht einfach hinnehmen, sondern erfolgreich abwehren wollen, müssen wir Widerstand aufbauen. Hierzu müssen wir uns organisieren und Forderungen aufwerfen, für die wir kollektiv kämpfen können, um somit Druck von unten aufzubauen. Wenn jemand von uns wegen der Corona-Krise entlassen werden soll, dann müssen wir alle zusammen dagegen streiken! Dafür müssen wir uns in die Gewerkschaften einbringen und diese zur Unterstützung auffordern!

In der aktuellen Lage treten wir im Kampf gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf uns Studierende für folgende Forderungen ein:

  • Keine Entlassungen und uneingeschränkte Lohnfortzahlungen für alle lohnabhängigen Studierenden!
  • Bedingungslose Ausbildungs(Studien-)finanzierung durch Besteuerung der Reichen!
  • Tarifverträge für alle studentisch Beschäftigten, massive Ausfinanzierung von Bildung, Forschung und Lehre!
  • Während studentisch Beschäftigte in Forschung und Lehre oft die besser bezahlten Vollzeitstellen wissenschaftlicher MitarbeiterInnen als „billige Arbeitskräfte“ ersetzen, erhalten Studierende in Praktika für die beinahe gleichen Arbeiten, die von den KollegInnen ausgeführt werden, wegen „im Studium vorgesehener Praktika“ keine Bezahlung:
  • Darum gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit! Gesetzliche Pflicht zur Entlohnung aller Arbeitstätigkeiten von Studierenden bei mindestens 15 Euro/Stunde! Bei Nichteinhaltung durch private Unternehmen müssen diese entschädigungslos enteignet werden!

Da der Kapitalismus die Ursache für die Probleme und Widrigkeiten darstellt, denen wir als Jugendliche tagtäglich begegnen, müssen wir diesen letztlich durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzen.

Schließlich ist jede Form von Lohnarbeit, durch die der von den ArbeiterInnen geschaffene Mehrwert privat von den UnternehmerInnen angeeignet wird, immer mit Ausbeutung verbunden. Darum treten wir für eine Gebrauchswert orientierte Produktionsweise ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln ein. Jedoch kämpfen wir auch für jegliche Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ausgebeuteten im Hier und Jetzt.

In einer Gesellschaft, in der demokratisch für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird, wäre die Umsetzung von Maßnahmen und die Unterstützung Hilfsbedürftiger kein Problem, da diese nicht der Profitlogik und den Sparzwängen unterliegen würden. Für eine solche Gesellschaft, in der nicht mehr irgendwelche ChefInnen oder PolitikerInnen über unser Leben bestimmen, sondern in der die Entscheidungen von uns Lohnabhängigen selber getroffen werden, wollen wir mit Dir zusammen kämpfen.




SPD-Bundesparteitag: Alles kann, nix muss?

Tobi Hansen, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

In der Stunde der Not ist auf „linke“ SozialdemokratInnen
Verlass. Auf dem Altar der „Einheit“ der Sozialdemokratie opferten Norbert
Walter-Borjans und Saskia Esken ihren bei der Urabstimmung um den Parteivorsitz
gerade errungenen Erfolg. Ein „Kurswechsel“ fand auf dem Parteitag nicht statt.
Er wurde vertagt, verschoben – die Große Koalition macht samt Olaf Scholz
weiter.

Dabei hatte der Sieg der beiden keynesianisch orientierten
KandidatInnen Walter-Borjans und Esken für einige Tage den SPD-Apparat, die
Bundestagsfraktion ebenso wie die bürgerliche Konkurrenz verunsichert.
Womöglich würden die beiden „unerfahrenen“ AußenseiterInnen nicht nur
Scholz/Geywitz übertrumpft haben, sondern auch noch die SPD-Politik ändern und
die Große Koalition beenden.

Nicht nur AfD, FDP und CDU, sondern auch etliche bürgerliche
Medien malten den „Linksschwenk“ der SPD an die Wand. Der Partei drohe der
Untergang, wenn sie keine „staatspolitische Verantwortung“ zeige, also den Kurs
beende, der sie an den Rand der politischen Existenz gebracht hatte. Genährt
wurden diese Befürchtungen durch die teilweise „radikalen“ Forderungen der
neuen Vorsitzenden und ihrer UnterstützerInnen.

Einige davon gingen zwar in die Beschlüsse des Parteitags
ein. Sie stellen jedoch angesichts der wichtigsten politischen Entscheidung des
Parteitages wenig mehr dar als eine Beruhigungspille für Jusos, Parteilinke und
GroKo-GegnerInnen. Entgegen den Hoffnungen und Forderungen des linken
Parteiflügels entschieden sich die neuen Vorsitzenden und der Parteitag dafür,
über die Fortführung der Bundesregierung erst gar nicht abzustimmen. Der
Parteitag verpflichtete die SPD-Regierungsmitglieder zu – nichts.

Einigkeit über alles

Dies entsprach der Parteitagsregie, auf die sich die neuen
Vorsitzenden und der alte Vorstand, Parlamentsfraktion und Apparat im Vorfeld
geeinigt hatten. Kampfabstimmungen sollten zu allen Fragen vermieden werden –
und das wurden sie auch.

Relativ rasch nach der Urabstimmung wurde klar, dass im
gemeinsamen Antrag des geschäftsführenden Vorstandes und der neu gewählten
Vorsitzenden kein Ende der Bundesregierung gefordert wurde. Stattdessen soll es
„Nachverhandlungen“ und Gespräche mit der Union geben, so die Kompromisslinie.
Vor allem die DGB-Bürokratie hatte ihre Vorstellungen für den Fortbestand der
Großen Koalition deutlich geäußert.

Der neue Vorstand wurde relativ einhellig gewählt: Norbert
Walter-Borjans erhielt 89,2 % und Saskia Esken 75,9 % der Stimmen.

Die gesamte „Einhelligkeit“ wurde bei der Wahl zu den
stellvertretenden Vorsitzenden deutlich. Da jedoch eine Kampfabstimmung
zwischen Juso-Chef Kühnert und Arbeitsminister Heil „drohte“, wurde die Zahl
der StellvertreterInnen einfach erhöht. Eine Kampfabstimmung hätte schließlich
den „Burgfrieden“ zwischen dem Regierungslager und den neuen Vorsitzenden
ziemlich gefährdet. Daher wurde noch am ersten Tag die Anzahl der zu Wählenden
auf 5 erhöht. Beide Kandidaten, Heil und Kühnert, kamen durch, wenn auch mit
den schlechtesten Ergebnissen. Kühnert landete mit 70,4 % knapp vor Heil mit 70
%.

Klara Geywitz, die mit Scholz zuvor gescheitert war, wurde
ausdrücklich auf Vorschlag der neuen Vorsitzenden als Vizechefin gewählt (76,8
%) genau wie die eher „links“ verortete Landesvorsitzende aus Schleswig-Holstein
Serpil Midyatli (79,8 %) und die Landeschefin aus dem Saarland Anke Rehlinger
(74,8 %).

Der erweiterte Parteivorstand, welcher von 36 auf 24
verkleinert wurde, inkludiert zum einen einige Kabinettsmitglieder (Giffey,
Schulze, Roth, Maas). Außerdem wurden „Fraktionslinke“ wie Miersch, der bei der
Wahl das beste Ergebnis erzielte, neben rechten SozialdemokratInnen wie
Pistorius gewählt. Berlins Bürgermeister Müller oder Ex-Parteivize Stegner
flogen immerhin deutlich aus dem Vorstand.

Kräfteverhältnis?

Ausgeschlossen von dieser Regie des Parteitages versuchte
das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis, den
Antrag für den sofortigen GroKo-Ausstieg doch durchzubringen. Dies wurde sehr
deutlich abgelehnt. Kühnert, zuvor die „Führungsfigur“ des No-GroKo-Lagers,
verteidigte und veranschaulichte den Kompromiss vor dem Parteitag. „Er verspüre
keine Oppositionssehnsucht in der Partei“, ließ er verlauten – und sprach
sodann gegen die Parteilinken. Keine Oppositionssehnsucht verspüren zweifellos
Kabinett, Fraktion und die bisherige Führung in Bund und Ländern. Die neuen
Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken konnten sich durch die
Einbindung der vormaligen Konkurrenz und den Aufstieg von Kühnert zunächst eine
Machtbasis schaffen, zuvor hatten sie de facto keine. Unisono waren auch alle
SozialdemokratInnen aus fast allen Lagern überzeugt, dass sie nur gemeinsam die
programmatische Erneuerung schaffen, an Glaubwürdigkeit wiedergewinnen und
alles aus der GroKo rausholen können. Neu im Amt landeten sie somit bei einer
Neuauflage der gescheiterten Nahles-Politik, das Land zu regieren und im
„Erneuerungsprozess“ zugleich virtuelle Opposition zu spielen. Diese Politik
scheiterte auf ganzer Linie – eine Wiederholung wird die Sache nicht besser
machen.

Die neuen Vorsitzenden werden zunächst gemeinsam mit
Vizekanzler Scholz und Fraktionschef Mützenich im Koalitionsausschuss die
„Gespräche“ führen. Dies gilt schon mal als „Erfolg“ einer anspruchslos
gewordenen Sozialdemokratie. Esken betonte, dass „die Parteien die Verträge
machen“ werden. Walter-Borjans/Esken vertreten zwar eine klassische
keynesianische Umverteilungspolitik und wollen mit der neoliberalen Agenda der
Regierungszeit brechen – aber nicht jetzt und nicht in der Praxis. Nach den
Beschlüssen des Parteitages zeigt sich nun auch Finanzminister Scholz bereit,
für Investitionen die „schwarze Null“ hinter sich zu lassen. Selbst Kreise der
Union würden die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bis 2021 zunächst
unterschreiben. Ein unverbindliches „Mehr“ für Klimaschutz und Digitales ließe
sich für die Große Koalition ohnedies gut verkaufen.

Dies soll allen Ernstes eine „strategische“ Ausrichtung
darstellen. Das Profil soll „geschärft“ werden, die „sensationellen Ergebnisse“
der SPD-MinisterInnen, allen voran die Grundrente von Hubertus Heil, sollen
gewürdigt werden. Walter-Borjans/Esken stünden zwar weiterhin für ein
frühzeitiges Ende der GroKo zur Verfügung – aber sie wollen und werden es
selbst nicht aktiv in Angriff nehmen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften,
ihre Apparate und FunktionärInnen scheinen derzeit die verlässlichsten
Agenturen für den Erhalt der Bundesregierung zu sein, auch wenn – ähnlich wie
in der SPD – unter der Oberfläche auch dort Konflikte schwelen.

Auch wenn der Parteitag die „Einheit“ erhalten sollte, so
versuchen beide Seiten, BefürworterInnen wie GegnerInnen der GroKo, die
Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Eine wichtige Rolle wird
dabei die Fraktion einnehmen, die sich zuvor noch recht deutlich für
Scholz/Geywitz als neue Vorsitzende ausgesprochen hatte. Dort stellt die
„Parlamentarische Linke“, der auch Saskia Esken angehört, ca. ein Drittel der
Abgeordneten. Zusammen mit dem „Netzwerk“ und dem „Seeheimer Kreis“ sind das
ihre tragenden internen Zusammenschlüsse.

Die „Parlamentarische Linke“ war zwar nie sonderlich
„links“, jedoch im Unterschied zum „Seeheimer Kreis“ immer stark an den
Forderungen der Gewerkschaften, Verbände, NGOs orientiert. Was die neuen
Gespräche in der Bundesregierung im Koalitionsausschuss angeht, wird die
entscheidende Frage sein, ob die neuen Vorsitzenden eine Basis in der Fraktion
erobern können. Die neuen Vorsitzenden sind nur auf Zeit bestellt. Die
endgültige Haltung zur Bundesregierung ist noch nicht festgelegt, wie auch
Entscheidungen zu den nächsten Wahlen noch anstehen. Der Parteitag stellte nur
eine weitere Station der tiefen Krise der SPD dar.

Ergebnisse und Perspektiven

Auch wenn Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken und Kevin
Kühnert de facto zunächst den Nahles- Kurs fortsetzen, so haben sie dafür aber
erst mal neue Mehrheiten. Recht langsam soll eine Verabschiedung von der
„Agenda-Politik“ hin zu einer der Umverteilung (Mindestlohn, Grundrente, Hartz
IV) eingeleitet werden – und all das bei laufender Regierungsbeteiligung
inklusive aller anfallenden Widersprüche zwischen Beschlüssen und Praxis.

In der kommenden Periode wird diese an sich schon
widersprüchliche und selbstmörderische Politik erst recht fatal. Erstens wird
die Union selbst den Preis für die GroKo und damit für Zugeständnisse der SPD –
z. B. in Fragen der Rüstungs- und Verteidigungspolitik – nach oben treiben.
Zweitens verengt die kommende Krise den Verteilungsspielraum selbst für eine
zahme keynesianische Politik.

Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich auch in der SPD
mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken der Wunsch der Mehrheit der
Parteimitglieder manifestierte, mit der offen neoliberalen Politik Schluss zu
machen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der vorsichtige, kompromisslerische Versuch,
den „Sozialstaat“ wiederzubeleben, vom deutschen Kapital, den
Unternehmerverbänden wie auch den bürgerlichen Medien heftig denunziert und
diskreditiert wird. Glaubt man manchen LeitartiklerInnen, so erscheinen die
vorsichtigen Reformbeschlüsse als Weg zu Sozialismus und Chaos. Die mediale
Schlammschlacht gegen Saskia Esken, ihre teuren Schuhe und ihre soziale
Unverträglichkeit im Landeselternbeirat von Baden-Württemberg wird
aufgebauscht. Eine ähnliche Neugier gibt es nicht, wenn es um Friedrich Merz
geht, wahrscheinlich wäre das Material zu umfangreich.

Die Nervosität der deutschen Bourgeoisie erklärt sich
natürlich vor allem aus der Krise der gesamten bürgerlichen Parteienlandschaft,
der EU und des drohenden Zurückfallens in der internationalen Konkurrenz.

Bezüglich der SPD zeigt sie sich gespalten. Einerseits
könnten die Sozialdemokratie, die liebgewonnene Marionette, und die mit ihr eng
verbundenen Gewerkschaften in der kommenden Krise noch einmal zur Befriedung
der ArbeiterInnenklasse gebraucht werden. Daher könnte das Auslaufmodell GroKo
noch nützlich werden, auch wenn abzusehen ist, dass sich die treue Dienerin SPD
nach Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan, Agenda 2010, EU-Formierung,
Krisenpaketen, Austerität verbraucht hat.

Zum anderen fürchtet die herrschende Klasse, dass sich ein
Machtwechsel in der SPD zu einer späten Wiederbelebung eines linken Reformismus
à la Corbyn auswachsen könnte. Die Niederlage der Labour Party kommt daher auch
innenpolitisch durchaus zur rechten Zeit. Vor allem aber möchte die Bourgeoisie
verhindern, dass die unter Schröder vollzogene Wende der SPD zur „neuen Mitte“
revidiert wird.

Konflikte

Auch wenn die neuen Vorsitzenden die grundsätzlich
bürgerliche Ausrichtung der Sozialdemokratie keineswegs in Frage stellen
wollen, so ist es vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet schon ein
Skandal, dass sie zu einer keynesianisch orientierten Umverteilungspolitik
zurückkehren und die Agenda-Politik hinter sich lassen wollen.

Diesen Konflikt, diese Krise der SPD sollten auch die
sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen für ihre Ziele nutzen. Der
Gegensatz zwischen den über 100.000, die mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken
auch gegen die Fortsetzung der GroKo stimmen wollten, und der Parteiführung
muss zugespitzt werden – auch mit dem Ziel, ihr Ende zu erzwingen.

2020 kann durch Kämpfe gegen Massenentlassungen,
Tarifrunden, Klimakatastrophe, Mietenwahnsinn und weitere soziale Bewegungen
ein Ende der GroKo herbeiführen. Das erfordert aber, diese Kämpfe und Konflikte
in die DGB-Gewerkschaften zu tragen, die Basis von Linkspartei und SPD zum
gemeinsamen Kampf aufzufordern gegen Klimawandel, für Mindestlohn, Vermögens-
und Reichensteuer.




Armut und Prekarisierung: Hartz IV muss weg!

Tobi Hansen, Neue Internationale, Dezember 2019/Januar 2020

Im November verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Ausgehend von einem Urteil des Sozialgerichts von Gotha musste überprüft werden, ob die umfangreichen Sanktionen des Hartz-Regimes noch mit dem Auftrag vereinbar wären, das „Existenzminimum“ zu sichern.

Selbst dem Gericht kamen diesbezügliche Zweifel. Es zog
damit immerhin eine banale Wahrheit in Erwägung, die Menschen, die auf Hartz IV
angewiesen sind, längst bekannt ist. Ein wie auch immer definiertes
„menschenwürdiges“ Leben gibt es für diese Bevölkerungsgruppe letztlich nicht.

Sanktionen

Die seit 2004 ausgesprochenen Sanktionen gehen in die
Hunderttausende, ja Millionen – pro Jahr! Für Arbeitslose war stets klar, dass
auch der „volle“ Satz ein „Existenzminimum“ mehr schlecht als recht sichert.
Das belegt allein schon der Ansturm auf die Geldautomaten an jedem Monatsende
in der Hoffnung, wieder Geld zu bekommen. Der Regelsatz für Alleinstehende
betrug 2004 335 Euro, 15 Jahre später liegt er bei 422 Euro. Zusätzlich werden
nur die Miete für eine „angemessene“ Wohnung und die Versicherungskosten
übernommen.

Was die Existenz noch sichern soll, welche Wohnung als
angemessen gilt, darüber entscheidet eine Bürokratie, deren Willkür alle
EmpfängerInnen ausgeliefert sind. Die sog. Sachverständigen rechneten rund um
den Warenkorb, versuchten dabei, die „soziale Teilhabe“ zu integrieren, und
hegten nach 2004 auch den Plan, bis zu zwei Drittel vom Regelsatz als
Sanktionen zu kürzen. Auch das würde nach ihren Berechnungen zum Überleben noch
reichen.

Diese Willkür wurde auch bei den Sanktionen umgesetzt.
Erscheint der/die stigmatisierte Hartzi nicht zum Termin, erfolgt eine Kürzung
von 10-30 %. Auch bei Verspätungen dürfen die SachbearbeiterInnen nach eigenem
Gutdünken entscheiden. Wer zu wenige Bewerbungen pro Monat schreibt oder
angebotene Billigjobs „verweigert“, gilt als „unwillig“ – und kann auch
sanktioniert werden.

Wenn die Entwürdigung und Bestrafung mit
Lebensmittelgutscheinen anstelle von Geld den/die Arbeitslose/n noch immer
nicht gefügig gemacht hat, wird auch die Leistung für die Wohnung gestrichen
bzw. eine Mieterhöhung nicht übernommen.

Mit diesem System wollte die damalige SPD-Grünen-Regierung
den Standort Deutschland für die 
Globalisierung fit machen. Der damalige SPD Fraktionschef Müntefering
brachte mit der Aussage „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ nicht nur
seine Menschenverachtung zum Ausdruck, sondern auch, wie weitreichend die SPD
dem deutschen Kapital bei der Verarmung der ArbeiterInnenklasse behilflich sein
kann. Das Hartz- und Agenda-System markiert eine strategische Niederlage für
alle Lohnabhängigen, nicht nur die Erwerbslosen. Ohne dieses System wäre die
Ausdehnung „prekärer“ Arbeit, des Billiglohnsektors und erhöhter
Konkurrenzdruck auf die tariflich Beschäftigten unmöglich gewesen.

Dieses System wird grundsätzlich auch vom Verfassungsgericht
nicht in Frage gestellt. Nur seine schlimmsten, menschenverachtenden
„Auswüchse“ sollen abgeschafft oder gemildert werden.

Was wird umgesetzt?

So wird nach 15 Jahren festgestellt, dass die komplette
Streichung der Geldmittel und Zahlungen für die Unterkunft verfassungswidrig
gewesen sind und dem Menschenrecht und der Auslegung des Begriffs
Existenzminimum widersprechen. Nur Kürzungen bis zu 30 % sollen erlaubt sein.
Ausgenommen davon wären noch immer Menschen unter 25, da deren Situation gar
nicht verhandelt wurde.

Somit werden zunächst nur Kürzungen über 30 % ausgesetzt.
Die „Fachebene“ soll nun entscheiden, wie das Urteil praktisch umgesetzt werden
kann und ob die unter 25-jährigen Arbeitslosen auch darunter fallen könnten.
Die TechnokratInnen kapitalistischer Unterdrückung, z. B. im SPD-geführten
Arbeitsministerium, waren schon findig. Möglicherweise gebe es „Lücken“ im
Urteil des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit der Bild-Zeitung, welche nach dem
Urteil den Notstand ausrief, da jetzt die „FaulenzerInnen“ und
„SchmarotzerInnen“ wieder ganz einfach mit Hartz IV überleben könnten,
überlegen BeamtInnen des Arbeitsministeriums, inwieweit addierte Sanktionen
weitergeführt werden können. Die Idee ist so simpel wie zynisch. Wenn die
Kürzung um 60 % verboten ist, dann wäre vielleicht eine sechsmal ausgestellte
10%-ige legal.

Weder bei der Urteilsverkündung noch in der anschließenden
öffentlichen Debatte wurde die Frage gestellt, wie eigentlich mit den
vollstreckten illegalen Sanktionen jenseits der „erlaubten“ 30 % umgegangen
wird? Ein Recht auf Rückerstattung der Leistungen, auf Entschädigung für den
Verlust von Wohnungen, für Obdachlosigkeit … wurde offenbar erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Dabei betrafen allein von 2009-2019 die nun als
verfassungswidrig festgestellten Sanktionen insgesamt zwischen 700.000 und eine
Million Menschen pro Jahr.

An dieser Fortschreibung des Unrechts lässt sich ermessen,
wie ernst „linke“ SPD-Versprechungen zu nehmen sind. Während Malu Dreyer als
Interimsvorsitzende mit dem Satz „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“
hausieren ging, beriet das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium über
die Fortführung des Sanktionsregimes.

Die Linkspartei fordert die Umsetzung des Urteils und fände
es schön, wenn auch alle Sanktionen abgeschafft würden – eine
Aktionsperspektive zur Abschaffung des Hartz- und Agenda-Systems präsentiert
aber auch sie nicht.

Eine breite Empörung über die staatliche Abzocke der
Arbeitslosen bleibt aus, obwohl es viele drastische Fälle gibt, wo Menschen
aufgrund von Kürzungen ruiniert wurden. So wurden erst vor kurzem die
Leistungen für eine physisch und psychisch erkrankte Hartz-IV-Bezieherin in
Bayern auf 4,24 Euro gekürzt, weil das Einkommen ihres Mitbewohners, eines
Gelegenheitsjobbers, gegen Hartz-IV verrechnet wurde. Da ihr Betreuer
fürchtete, dass sie zu Hause verhungern oder sich das Leben nehmen könnte, wurde
sie in die Psychiatrie eingewiesen.

So geht die Pauperisierung und Verelendung breiter Teile der
Klasse weiter, daran ändert auch der Mindestlohn wenig. Höhere Kosten für
Wohnung, Energie und Verkehr fressen für die Masse jede Erhöhung von Lohn und
Lohnersatzgeldern weg.

Was tun?

Schon 2004 stellte sich die DGB-Spitze gegen die
Anti-Hartz-Bewegung und die Montagsdemos. Die Gewerkschaften nahmen das Urteil
des Verfassungsgerichts zwar positiv auf, aber in den letzten 15 Jahren haben
sie praktisch keinen Finger für die Arbeitslosen krummgemacht.

Im Kampf gegen das gesamte Hartz-IV-System sollten wir uns
daher auch heute auf DGB, SPD, ja selbst auf die Linkspartei nicht verlassen.
Sie müssen vielmehr zu Gegenaktionen getrieben werden.

Gerade den Linken in den Gewerkschaften wie den
AktivistInnen in den sozialen Protesten (Mieten, Sozialinitiativen), aber auch
in neuen Bewegungen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Es geht um einen Neuanlauf gegen alle Hartz- und
Agenda-Gesetze. Dieser muss mit Themen wie Kampf gegen Altersarmut oder prekäre
Beschäftigung verbunden werden. Die Forderung nach Abschaffung von Hartz IV
müsste dabei mit dem Kampf um ein Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus
Warmmiete für alle Erwerbslosen und RentnerInnen verknüpft werden, das jährlich
entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten erhöht wird.




SPD-Vorsitz: Klare Niederlage für Scholz/Geywitz – Große Koalition am Ende?

Tobi Hansen, Infomail 1079, 6. Dezember 2019

Die SPD-Basis
hat sich gegen die VertreterInnen des Parteiestablishments, Finanzminister und
Vizekanzler Scholz und die Bundestagsabgeordnete Geywitz entschieden. Im 2.Wahlgang
votierten letztlich 16.000 Mitglieder mehr für das Duo Walter-Borjans/Esken,
die 114.995 Stimmen gegenüber 98.246 Stimmen für Scholz/Geywitz erhielten. Mehr
Mitglieder als 54 % konnte die entscheidende Runde jedoch
nicht mobilisieren, sicherlich
dem scheintoten Zustand der
Partei geschuldet, auch wenn die Stimmen für
Walter-Borjans/Esken als ein womöglich letztes Lebenszeichen gedeutet werden
können.

Für die gesamte
Parteiführung der SPD stellt das Ergebnis eine schallende Ohrfeige, eine
weitere Niederlage dar. Schließlich hatten sich in der Stichwahl fast alle
„prominenten“ und „erfahrenen“ SozialdemokratInnen für Scholz/Geywitz
ausgesprochen. Fast niemand aus dem Kabinett hielt sich an die interne
„Verabredung“, keine Wahlempfehlungen auszusprechen. Vielmehr positionierten
sich fast alle für Scholz/Geywitz. Die Parlamentsfraktion war erst recht
deutlich gegen Walter-Borjans/Esken aufgestellt. Für
diese Kräfte ging es nicht nur um die Parteiführung, sondern zugleich auch um das Weiterleben der
Großen Koalition, in die sie die Partei nach der verheerenden Niederlage bei
den Bundestagswahlen 2017 manövrierte hatten.

Die dritte
CDU/CSU/SPD-Koalition unter Merkels Kanzlerschaft stand nie unter einem guten
Stern, jetzt könnten ihre letzten Wochen angebrochen sein.
Die Krise der Union wie auch
eine mögliche Neuausrichtung der SPD lassen Neuwahlen 2020 wahrscheinlicher
werden.

Auch die bürgerlichen Medien hatten in den letzten Wochen Vizekanzler Scholz äußerst wohlwollend begleitet, würdigten selbst seine Steuerfahndungsabteilung
für Reiche. Zahlreiche bürgerliche
ExpertInnen und JournalistInnen
stellten der Großen Koalition gar eine
„sozialdemokratische Handschrift“ aus – so als hatte die SPD von der
Öffentlichkeit unbemerkt Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse
umgesetzt.

Trotz aller
Schönfärberei verloren der „Scholzomat“ und damit auch die aktuelle
Regierungsmannschaft und Führung der SPD.

Die Wahl kommt
durchaus einer Zäsur in der Partei
gleich: Das
Führungspersonal, das die Bundesregierungen seit 1998 mitgestaltet hat, das
verantwortlich ist für Jugoslawienkrieg und Agendapolitik, wurde 20 Jahre
später endgültig abgewählt.
Die Frage bleibt nur: Kämpfen die neu
gewählten Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen für einen wirklichen Bruch
mit dieser Politik und damit mit der Großen
Koalition oder werden selbst ihre linkeren reformistischen Versprechen und der
von ihnen geforderte Bruch mit
dem Neo-Liberalismus auf dem Altar
der „Parteieinheit“ geopfert, wird der Regierung und der Parlamentsfraktion unter
linkeren Vorsitzenden praktisch eine Fortsetzung ihrer Politik gestattet?

Wofür stehen
Walter-Borjans und Esken?

Für die
Boulevardmedien und das aufgeschreckte BürgerInnentum Deutschlands stellt die Wahl eine Katastrophe dar. „Der SPD ging es doch schon schlecht, jetzt stürzt sie sich ins Chaos“, titelte die
„Süddeutsche Zeitung“ am 30. November, die FPD zitierend.
HinterbänklerInnen und Unerfahrene würden nicht nur die SPD in den Ruin,
sondern auch die Republik in die Neuwahlen treiben.
So wettern diejenigen, die sich stets gut auf die RegierungssozInnen
verlassen konnten und nun Zweifel daran haben, dass der neue Vorstand ähnlich
willfährig ist.

Auch der
ehemalige NRW-Finanzminister
Walter-Borjans (2010–2017) wie auch die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken nährten diese „Befürchtung“, schließlich wollten sie zumindest den
aktuellen Koalitionsvertrag neu verhandeln. Der Frage nach der Zukunft
der Großen Koalition wichen sie jedoch schon im Wahlkampf um den Vorsitz aus –
und tun es weiter. Es gibt kein explizites Ja oder Nein. Dies wollen sie von
Nachverhandlungen abhängig machen.

Wie fast alle
zur Wahl stehenden KandidatInnen wollten sie die programmatische und politische
Erneuerung der SPD betreiben, diese wieder zur linken „Volkspartei“ machen.
Walter-Borjans selbst strebt Wahlergebnisse von 30 % + x an. Beide spielten besonders die soziale und ökologische
Karte, versprachen einen Mindestlohn von 12 Euro, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer und höhere Steuern für Reiche sowie ein
Ende der „schwarzen Null“, also eigentlich klassisch sozialdemokratische
Politik.

Beide stehen
zweifellos weit weniger links als der britische Labour-Vorsitzende Corbyn. Sie sind klassische
UmverteilungsreformistInnen, wobei MdB Esken einen linkeren Akzent wählt
als der ehemalige Landesfinanzminister Walter-Borjans.

Vor dem
Parteitag

Vom 6–8.12 findet der Bundesparteitag der SPD
statt. Dieser soll eine Bilanz der Bundesregierung ziehen und entschieden, ob
die Partei die Koalition fortführen soll. Derzeit sieht es vor allem nach
unklaren Machtverhältnissen aus. Nicht nur die beiden Vorsitzenden sollen gemäß
der Urabstimmung gewählt werden. Große Teile des Bundesvorstands wie auch die
stellvertretenden Vorsitzenden werden neu bestimmt. Hier wird sich zeigen, wer die neue
Parteiführung dominiert, wer über reale Mehrheiten verfügt. So kündigte
Bundesarbeitsminister Heil seine Kandidatur zum stellvertretenden Vorsitzenden
an. Zur Zeit versucht er, in seinem Ministerium doch noch höhere
Hartz-IV-Sanktionen als vom Verfassungsgericht genehmigt durchzusetzen. Heil
und andere BefürworterInnen der Bundesregierung aus Kabinett und Fraktion
werden versuchen, den neuen Vorsitz
„einzurahmen“, ihn quasi
politisch kaltzustellen durch Mehrheiten im Vorstand. Den Parteiapparat wissen
sie ohnedies auf ihrer Seite.

Um Esken und Walter-Borjans zu stützen, erklärte sich auch der Juso-Vorsitzende Kühnert bereit, „Verantwortung“ zu übernehmen und als stellvertretender Vorsitzender zu kandidieren. Zugleich relativierte er – ganz auf Beschwichtigung des rechten Flügels und der Zentrums der Partei setzend – die Forderung nach einem Bruch der Koalition. Man müsse, so Kühnert, die Sache schließlich vom Ende her denken. So äußerte er gegenüber dem Bonner Generalanzeiger: „Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.“

Hier kommt die
Furcht des linken Flügels der Partei vor dem eigenen Sieg, vor den Konsequenzen
der eigenen Forderung und Kritik an der Großen Koalition deutlich zum Ausdruck.
Noch schwerer als die Fortsetzung der
arbeiterInnenfeindlichen, imperialistischen Politik an der Regierung wiegt die
„Einheit der Partei“, denn die wollen auch die „Linken“
in der SPD nicht riskieren. So droht der Sieg der GroKo-KritikerInnen und
GegnerInnen der Parteiführung bei der Wahl zum Parteivorsitz durch eine Reihe
von Zugeständnissen, „Sondierungen“, Formalkompromissen zu versanden.

Selten waren die
innerparteilichen Machtverhältnisse so unklar vor einem Bundesparteitag, selten
war die Lage so offen wie jetzt. Die neuen
Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen wollen aber einer
Klärung dieser Fragen ausweichen, zunächst am besten eine direkte Entscheidung zu Fortsetzung oder Bruch der Koalition vermeiden. Vielmehr
soll es ein – möglichst vage
formuliertes – Mandat für
Neuverhandlungen mit den Schwerpunkten Investition, Klima, Soziales und
Digitales geben, das die Entscheidung über die GroKo vom Parteitag praktisch
auf Vorstand, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion verlagert.

Gewerkschaftsbürokratie

Schon am 1.
Dezember machte die Spitze der DGB-Gewerkschaften ihre Position deutlich. Nach
der Entscheidung verkündete DGB-Chef Hoffmann via Bild-Zeitung, was er vom
neuen Vorstand verlange: „Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollten die
Regierung in der zweiten Halbzeit nach Kräften unterstützen, um die offenen
Projekte aus dem Koalitionsvertrag erfolgreich umzusetzen.“

Ganz ähnlich äußert sich ver.di-Vorsitzender Wernecke: „Die Halbzeitbilanz der Regierung kann aus Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnensicht sowie gesamtgesellschaftlich in mehreren Punkten Positives vorweisen. Dazu gehören die Stabilisierung des Rentenniveaus, Investitionen in Kitas und aktuell die Nachunternehmerhaftung bei Paketdiensten sowie der Ausbildungsmindestlohn und die Schaffung der Voraussetzung für tarifliche Bezahlung in der Altenpflege.“ (https://www.jungewelt.de/artikel/366373.verdi-zur-halbzeitbilanz-der-gro%C3%9Fen-koalition.html)

Wer an der GroKo
so viel Positives zu finden weiß, der lebt offenkundig in einer anderen Welt.
Die DGB-Bürokratie stellt jedenfalls
klar, wofür sie in den
nächsten Wochen und Tagen eintritt – für den Erhalt der Koalition.
Dass dafür auch die SPD endgültig geschreddert werden kann, deuten zumindest
Umfragen an. Die Gewerkschaftsführung ignoriert das geflissentlich. Zusammen
mit dem Kabinett, der übergroßen Mehrheit der Fraktion, den meisten regierenden
SPD- MinisterpräsidentInnen und BürgermeisterInnen sind die DGB-Führung wie
auch jene der Einzelgewerkschaften eindeutig gegen den neu gewählten Vorstand
aufgestellt.

Dass die
Gewerkschaftsführungen und -apparate ihre Augen vor dem Selbstmordkommando
GroKo für die Sozialdemokratie verschließen, entspring freilich kaum mangelnder
Sorge um ihre Partei. Die Politik der Sozialpartnerschaft und der Klassenzusammenarbeit
ist über Jahrzehnte zur politischen Natur dieser Bürokratie geworden, so dass
ihnen eine Politik ohne „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit dem Kapital und deren
direkten politischen Vertretungen als Unding, Unsinn, ja als Unmöglichkeit
erscheint. So wie selbst SPD-Linke wie Kühnert im Falle eines Koalitionsbruchs
einen „Kontrollverlust“ in Rechnung stellen, so erscheint der
Gewerkschaftsbürokratie – von den sozialdemokratischen ParlamentarierInnen ganz
zu schweigen – Einfluss nur über Kabinette, Institutionen und
sozialpartnerschaftliche Gremien möglich.

Allen, die sich
von dieser Denke nicht einseifen lassen wollen, soll außerdem die mögliche
Verantwortung für Niederlagen bei Neuwahlen und für das Zerbrechen der Partei
in die Schuhe geschoben werden.

Seit der
Wahlentscheidung werden alle nicht müde zu erwähnen,
dass die SPD ja „eine Partei“ sei und alle zusammen weitergehen wollten
und müssten. Diese Floskeln
sind zum einen ein gutes Anzeichen für den Kampf,
der hinter den Kulissen stattfindet. Schließlich kann sich der Regierungsflügel
nicht sicher sein, am
Parteitag überhaupt eine
Abstimmung zu gewinnen.
Schließlich war schon 2017 die
Entscheidung für die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen knapper als beim Mitgliederentscheid.

Zum anderen gebrauchen
gerade der rechte Flügel, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion das
Gerede von der Einheit demagogisch, ja stellen es auf den Kopf. Würden der
Parteitag oder die neuen Vorsitzenden einen Bruch der Koalition betreiben, so
würde sie das womöglich aus der Partei drängen. Einige HinterbänklerInnen,
womöglich gar die Mehrheit der Parlamentsfraktion könnte sich gar weigern, die
GroKo zu beenden. Mit anderen Worten, der rechte Flügel droht unter der Hand
mit Bruch von etwaigen „harten“ Parteitagbeschlüssen – und stellt es so dar,
als wären solche Mehrheitsbeschlüsse unzumutbare Gewalttaten gegen das
großkoalitionäre „Gewissen“. Es ist zu befürchten, dass sich
Walter-Borjans/Esken und ihre UnterstützerInnen auf solche Erpessungsmethoden
einlassen – damit würden sie aber nicht nur einen weiteren Zerfall der SPD,
sondern auch den Anfang vom Ende ihres eigenen Parteivorsitzes vorbereiten.

Reaktion der
Union

Nachdem AKK
„ihren“ Parteitag überstanden hat, will sie ihrerseits
den neuen Vorstand der SPD unter
Druck setzen. Wenn die GroKo
in Gefahr sei, gäbe es keine Grundrente – das zeigt zum einen,
wie egal Altersarmut real in Deutschland ist. Der Wirtschaftsrat der Union hat
selbst schon abgeschlossen mit der Koalition und legt nach –
die ganzen „Geschenke“ an die SPD wie die Grundrente bspw. hätten schließlich nichts gebracht. Die
Botschaft an den SPD-Parteitag ist klar: Entweder ihr nehmt die Krumen vom
Koalitionstisch oder ihr kriegt gar nichts!

Diese Drohung
sollte eigentlich alle verzagten und halb-entmündigten SPD-Delegierten und Aktiven
ermuntern, zumindest sich eben nicht erpressen zu
lassen. Auf deren
„Festigkeit“ sollte sich freilich keiner verlassen.

Perspektive für
einen Linksruck?

Die Wahl von
Esken und Walter-Borjans hat immerhin gezeigt, dass es noch ein gewisses politisches Potenzial gibt. Die 114.995
Stimmen waren solche für
einen Bruch mit GroKo und
der Agenda-Politik, eine Fortsetzung der No-GroKo-Stimmung in Teilen der
Partei. Jetzt stellt sich die Frage, ob sich diese anti-neoliberale reformistische Strömung
formiert und tatsächlich den
Kampf gegen den „Agenda 2010“-Flügel, die RegierungssozialistInnen, die
Parlamentsfraktion und den Parteiapparat
aufnimmt. Alle wichtigen Bestandteile ihrer „Erneuerung“ hätten das Potenzial, die DGB-Mitgliedschaft, also die organische
Verbindung der SPD zur Klasse zu mobilisieren und politisch zu erneuern, gerade
auch gegen die dortige
bürokratische Führung, den verlängerten Arm der Großen Koalition in die
ArbeiterInnenbewegung hinein.

Auch wenn großen Teilen der Linken in Deutschland wenig bis nichts
zu dieser Lage einfällt, so kann dies eine zentrale politische Auseinandersetzung werden.

Während die DGB-Spitze vor allem die Koalition und damit ihren vermeintlichen
Einfluss auf die Regierung
retten will, wäre es doch sehr interessant,
was denn eigentlich die sechs Millionen DGB-Mitglieder von den Forderungen und Vorschlägen der neuen SPD-Führung
halten. Das Ende der Schuldenbremse als strategisches Ziel für mehr
Investitionen in die öffentlichen Güter, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer, höhere Besteuerung der Reichen und einen höheren Mindestlohn
von 12 Euro wie auch das reale Ende von Hartz IV,
all diese „neu“ entdeckten Positionen könnten auch Mittel sein, die Basis der SPD und die
Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Auf dieser Grundlage wäre auch eine
gemeinsame Aktion aller Kräfte der Linken und der ArbeiterInnenbewegung
möglich. Genau diesen Kurs müssten die UnterstützterInnen von
Esken/Walter-Borjans einschlagen.

Juso Chef
Kühnert hatte an anderer
Stelle sogar den stellvertretenden BMW-Betriebsrat
daran erinnert, dass sogar die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in der
Gewerkschaftssatzung stehe. Hier kam sogar etwas „Corbynismus“ zum Vorschein.

Das Forum
Demokratische Linke 21 (DL21) um die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, eine Art Pro-Corbyn-Strömung in der
SPD, hat dazu
aufgerufen, die Partei möge sich
hinter dem Vorstand „sammeln“.
Doch was heißt das? Hinter
welchem Vorstand? Einem, der für einen Bruch mit Scholz und Heil steht, oder
einem, der in- und außerhalb der GroKo, Regierung und Opposition gleichzeitig
zu sein verspricht?

Nur ersteres
würde wirklich einen Schritt vorwärts darstellen. Es würde zugleich heftigsten
Widerstand und Hetze nicht nur der bürgerlichen Presse und der Unionsparteien
mit sich bringen –es könnte auch zu einem Bruch mit dem rechten Flügel der SPD
führen und würde einen politischen Kampf um die Gewerkschaften erfordern. Wie
selbst das Beispiel des weit linkeren Corbyn und seiner Massenunterstützung in Labour
zeigt, werden sich der rechte Parteiflügel, die strikt sozialpartnerschaftliche
Gewerkschaftsführung durch Kompromisse und Entgegenkommen nicht besänftigen
lassen. Sie wird solche allenfalls annehmen, wenn sie sich zu schwach fühlt,
die SPD unmittelbar wieder unter ihre Kontrolle zu kriegen.

Die Frage der
Großen Koalition spielt dabei eine Schlüsselrolle. Jede Form der Fortsetzung
oder auch „ergebnisoffenen Überprüfung“ wird letztlich den Rechten und
RegierungssozialistInnen in die Hände spielen. Daher sollten die linken, gegen
die Fortsetzung der Großen Koalition eingestellten Delegierten zum Parteitag
jedes Rumeiern um die Koalitionsfrage ablehnen und die GroKo offen zu Grabe
tragen. Damit hätten sie – nach Jahren der Unterordnung unter Kapital und Unionsparteien
– etwas Positives für die ArbeiterInnenklasse getan.




SPD-Vorsitzendenwahl: NRW gegen GroKo?

Tobi Hansen, Neue Internationale 242, November 2019

Zunächst die
Zahlen: 53 % Wahlbeteiligung, d. h. praktisch 213.693 gültige Stimmen
von 425.690 Mitgliedern. Die Übergangsführung um Dreyer, Schäfer-Gümbel und
Schwesig sowie Generalsekretär Klingbeil wollten auf jeden Fall die über 50 %
als basisdemokratische Erneuerung feiern. Dass die sechs zur Auswahl stehenden Duos
über 200.000 Mitgliedern praktisch egal waren, zeigt auch den zerrütteten
Zustand dieser Partei.

Das Duo „Erfahrung
und Vereinigung“, Schwan und Stegner, erhielt 9,6 % und fuhr somit das
schlechteste Ergebnis ein. Köpping und Pistorius, die LandesministerInnen aus
Sachsen und Niedersachsen, erzielten 14,61 %. Sie hatten eher mit „Law and
Order“ und „Sorgen der BürgerInnen“ zu punkten versucht und wurden mit 14,63 %
knapp von Scheer/Lauterbach geschlagen. Diese hatten deutlich Richtung
Rot-Rot-Grün argumentiert, ein „GroKo“-Ende gefordert wie auch mit Klima und
Gesundheit argumentiert. Eher überraschend war, dass Kampmann/Roth, das
dynamische „Wohlfühl“-SPD-Duo mit 16,28 % den 3. Platz machten, nur
geschlagen von den „FavoritInnen“ im Vorlauf. Das nordrhein-westfälische Duo Walter-Borjans/Esken
holte mit 21,04 % den 2. Platz, knapp hinter Scholz/Geywitz die mit 22,68 %
schlussendlich gewannen.

Vom 19.–29.
November wird per Urabstimmung zwischen diesen beiden Duos entschieden. Beim
Bundesparteitag vom 6.–8. Dezember soll das Siegerduo durch die Delegierten
bestätigt werden. Während in der britischen Labor Party die Abstimmung über den
Parteivorsitz zu hunderttausenden Eintritten führte, wollten 47 % der SPD-Mitgliedschaft
darüber nicht abstimmen und schon gar niemand neu eintreten. Da war z. B.
die „NoGroKo“-Kampagne der Jusos 2018 deutlich erfolgreicher. Mehrere zehntausende
Eintritte folgten. Jetzt unterstützt die Jugendorganisation Walter-Borjans/Esken.

Während Scholz/Geywitz
vor allem für ein geräuschloses Weiterregieren in der Bundesregierung stehen –
Scholz macht Vizekanzler und Geywitz Parteiführung –, steht das „NRW“-Duo für
eine Rückbesinnung auf die „linke“ Volkspartei, inkl. Steuergerechtigkeit, digital
für alle und etwas Sozialromantik. Vor allem will es auch eine andere
Regierungspolitik, weiß neben den Jusos auch den größten Landesverband hinter
sich wie wahrscheinlich auch die dortigen DGB-GewerkschafterInnen.

Dass die Konkurrenz
zur aktuellen Bundes-SPD aus NRW kommt, ist nicht überraschend. Hier lebt mehr
als ein Drittel der Mitglieder der Partei und der aktuelle Landesvorstand steht
der GroKo kritisch gegenüber.

Eine „finale“
Krise?

Die zerfaserte
SPD-Linke könnte in diesen Vorstandswahlen und den begleitenden Diskussionen
über die GroKo gewinnen. Es ist aber weder klar, ob sie die politischen
Entscheidungen herbeiführen kann, noch wohin sie eigentlich will – inwieweit
die Jusos, die man nicht insgesamt auf „Kühnert-Kurs“ sehen sollte, die DL 21
um Mattheis/Hirschel oder gar Landesverbände wie Bayern und NRW tatsächlich die
GroKo platzen zu lassen bereit wären.

Gerade deshalb
wäre eine breite Diskussion in den Gewerkschaften, Betrieben, Ortsverbänden,
Stadtteilen, Quartieren eine gute Möglichkeit, tatsächlich große Teile der
Mitgliedschaft zu mobilisieren für ein GroKo-Ende und für einen Bruch mit der
neoliberalen und sozialpartnerschaftlichen Spitze in Partei und letztlich auch
den Gewerkschaften zu kämpfen. Dazu ist die SPD-Linke derzeit jedoch nicht in
der Lage.

Die
krisengeschüttelte SPD erodiert in ihrer aktuellen Krise so sehr, dass sie
ihren letztmöglichen „Sinn“ für den deutschen Imperialismus verlieren könnte.
Dieser besteht ja gerade darin, ihre soziale Basis unter den Lohnabhängigen
„einbinden“ zu können und zugleich als tüchtige Vollstreckerin der
Gesamtinteressen des Kapitals zu fungieren. Bundesweite Umfragewerte von 13 %
lassen Zweifel an dieser Fähigkeit aufkommen. Wird der aktuelle Kurs
fortgesetzt, so könnte für die Partei tatsächlich die „finale“ Phase ihrer
Krise anbrechen.

Für
sozialistische, kommunistische, revolutionäre Linke beinhalten diese Krisen,
Umbrüche und Wendepunkte jedoch Chancen, wenn sie in die Konflikte der
reformistischen Organisationen eingreifen, von deren linken Flügel einen
innerparteilichen Kampf wie auch Mobilisierungen auf der Straße fordern – und
zugleich immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären Alternative, einer
neuen und kommunistischen ArbeiterInnenpartei betonen.




SPD-Vorstandswahlen: Richtungsentscheid für die Große Koalition (GroKo)?

Tobi Hansen, Infomail 1073, 23. Oktober 2019

Nach dem krachenden Rücktritt von Andrea Nahles hat der
geschäftsführende Vorstand der SPD zunächst auch der Bundesregierung Zeit
verschafft – zumindest bis zum regulären SPD-Parteitag im Dezember. Allzu laut
waren die Rufe nach einem direkten GroKo-Abschied nach den katastrophalen
EU-Wahlergebnissen. Schon davor wollten z. B. die Jusos, aber auch die
Landesverbände NRW und Bayern den Parteitag inklusive „Halbzeitbilanz“ und
Entscheidung über die Fortführung der GroKo vorziehen.

Der kommissarische Vorstand aus Schwesig, Dreyer und
Schäfer-Gümbel nahm Dampf aus dem Kessel und setzte eine Mitgliederbefragung um
den Posten der Parteivorsitzenden an, an der sich etwas mehr als 10 %
beteiligten. Jetzt laufen die „Vorwahlen“ für den neuen Vorsitz. Eine
Doppelspitze aus Mann und Frau soll es werden. Dementsprechend zogen 8 Duos und
der dann doch genehmigte Einzelkandidat des Seeheimer Kreises, Karl-Heinz Brunner,
durch die Lande. Bei der Mitgliederbefragung stehen jedoch nur noch sechs zur
Wahl. Anfang September hatten Simone Lange/Alexander Ahrens ihre Kandidatur
zurückgezogen. Mitte September folgte ihnen Karl-Heinz Brunner, am 12. Oktober
meldeten sich ebenfalls Hildegard Mattheis/Dierk Hirschel aus dem Rennen ab. Unter
den beiden SiegerInnen sollen dann ebenfalls per Urabstimmung die neuen
Vorsitzenden bestimmt werden.

Auf sog. „Regionalkonferenzen“ stellten sich die
KandidatInnen vor.

Professor Lauterbach, welcher mit Genossin Scheer eines der
ersten Duos bildete, berechnete, dass jedes Duo insgesamt je 9 Minuten und 20
Sekunden Redezeit hätte, also ein „Speed Dating“ mit kleiner Fragerunde der
Mitgliedschaft stattfinde. Manche vergleichen das Format auch mit dem
ARD-Klassiker „Herzblatt“.

Alle KandidatInnen eint, dass sie engagiert die SPD als
„linke Volkspartei“ wieder entdecken, für Soziales, Investitionen, Klima,
Digitales und den Weltfrieden begeistern wollen. Das aktuelle Wahlprogramm wie
auch sehr viele Versprechen werden ausgebreitet, nur kaum ein Wort darüber,
warum dies alles nicht in der recht langen Regierungsverantwortung angegangen,
geschweige denn umgesetzt wurde, oder warum die Regierungspolitik Millionen in
die Armut geschickt hat.

Stattdessen versuchen die KandidatInnen, sich als zupackende
Führung zu inszenieren, eine, die mal Wahlen gewinnen könnte, die das Volk
mitnehmen will, quasi den Gegenentwurf zur Amtsvorgängerin.

Die KandidatInnen

Entscheidender ist die Frage, wie sich die Duos zur Frage
der GroKo verhalten. Das „vorletzte“ nominierte Duo Scholz/Geywitz steht am
klarsten für die Weiterführung der Regierung. Schließlich berichtet der
Bundesfinanzminister und Vizekanzler, dass die aktuelle Regierungspolitik schon
die Umsetzung der meisten Versprechen beinhalte.

Für alle KandidatInnen gilt zur GroKo die allgemeine
Aussage, dass sie sich natürlich an die Entscheidung des Parteitages halten
würden wie auch, dass sie alle „ergebnisoffen“ diskutieren wollten.

Deutliche Absagen an die GroKo finden wir eigentlich nur bei
3 Duos. Da wäre das zuletzt nominierte aus Walter-Borjans/Esken
(Ex-Finanzminister NRW aus Köln/MdB aus Calw/Landesliste Baden-Württemberg),
das quasi als „Antwort“ auf Scholz/Geywitz einen Tag vor Ablauf der Frist
seinen Antritt erklärte. Die Nominierung des Landesverbandes NRW deutet auf das
Abstimmungsverhalten der dortigen Delegierten hin, die ein Drittel der
Mitgliedschaft repräsentieren. Allein deshalb hat dieses Duo sehr gute Aussichten,
die Endrunde zu erreichen.

Ebenfalls deutlich haben sich Scheer/Lauterbach für die Beendigung
der GroKo ausgesprochen. Diese werben ebenso wie ehemals Mattheis/Hirschel (MdB
aus Ulm/Landesliste Baden-Württemberg und Vorsitzende des Forums Demokratische
Linke 21; DL 21/ver.di Bundesvorstand) offen für ein rot-rot-grünes Bündnisse
auf Bundesebene. Diese drei Duos stehen bzw. standen deutlicher für ein Ende
der „Agendapolitik“, eine eher keynesianische Umverteilungspolitik, für einen
wahrscheinlich direkten Bruch mit der Regierungsbeteiligung, anders als ihre KontrahentInnen.

„Lieblingsthema“ dieser eher „linken“ KandidatInnen bilden
die Schuldenbremse, die „Schwarze Null“, die letztlich zu einem massiven
Investitionsstau des öffentlichen Sektors geführt hat und verantwortlich ist
für einen Teil der Misere, die der künftige SPD-Vorstand beenden möchte.
Ebenfalls ist die Steuerpolitik für diese Duos zentral. Höhere Steuern für die
Reichen und Unternehmen wird gefordert. Wenn Lauterbach noch die
Bürgerversicherung ins Spiel bringt, wirkt es wie ein anstehender Bundestagswahlkampf
– alle fordern das Gegenteil der bisherigen Regierungspolitik.

Eher pragmatisch bzw. in der „Mitte“ der Partei geben sich
Schwan/Stegner. Bevor Scholz seinen Antritt erklärte, waren dies sicherlich die
bekanntesten „Gesichter“, eine zweimalige Bundespräsidentschaftskandidatin und
der aktuelle Vizevorsitzende. Sie geben sich als wählbar für alle – vom
„Seeheimer Kreis“ bis zur ziemlich zertrümmerten „Parteilinken“ – und als
„Versöhnungsduo“. Damit mögen sie Chancen bei älteren Parteimitgliedern haben,
aber auch nicht viel mehr.

Dem Duo Pistorius/Köpping (beide LandesministerIn in
Niedersachsen bzw. Sachsen) werden durch die Nominierung zweier Landesverbände
ebenfalls gute Chancen ausgerechnet. Sie appellieren besonders an die kommunale
und Landesebene der Partei. Dies bringt ihnen sicherlich mehr Stimmen als die
Unterstützung durch Ex-Chef Gabriel. Hinsichtlich der GroKo sind sie
pragmatisch gesinnt. Beide setzen eher „Akzente“ bei der Migrationspolitik und
zwar durchaus vorwiegend rechte. Während der niedersächsische Innenminister
Pistorius mit „Law and Order“ die Sicherheitsbedürfnisse der WählerInnen im
Blick hat und „konsequente“ Abschiebungen fordert, kommt Köpping als
Integrationsministerin eher mit den „Sorgen der BürgerInnen“ daher, die man
natürlich ernst nehmen müsste. Ob das die Sorgen des rassistischen Mobs in
Chemnitz waren, lassen wir mal unbeantwortet, aber dieses Duo blinkt deutlich
Richtung Ressentiments gegenüber MigrantInnen.

Ebenfalls sehr pragmatisch, aber sehr hip treten Kampmann/Roth
als „jüngeres“ Duo auf – sie ehemalige NRW-Familienministerin und dortige
Landtagsabgeordnete, er aktueller Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
Im Gegensatz zu Köpping/Pistorius, Schwan/Stegner und vor allem Scholz/Geywitz
geben sie sich rhetorisch teilweise sehr „links“, wollen ein Ende von Hartz IV
(das wollte ja auch Nahles) und auch eine gewisse Abrechnung mit der sog.
„Agendapolitik“. Was das Marketing angeht, sind die beiden ganz vorn dabei. Vielleicht
erreichen sie „ihre“ Generation der um die 40-Jährigen damit, auch wenn
Staatsminister Roth mal übertreibt und die SPD als Bollwerk gegen Nationalismus
und Kommunismus verteidigt und erneuern will.

Gefährlich kann die Kandidatur für Bundesfinanzminister und
Vizekanzler Scholz werden. Als sich niemand aus dem Geschäftsführenden Vorstand
oder der aktuellen Regierungsmannschaft aufstellte, warf der „Top-Sozi“ der
Bundesregierung seinen Hut in den Ring. Immerhin fand er später in der ehemaligen
brandenburgischen Generalsekretärin Geywitz zumindest eine Partnerin. Bislang
wurde seine Rolle bei den Regionalkonferenzen mit jeweils einigen hundert
Mitgliedern eher kritisch hinterfragt, wie auch manche Themen wie „Schwarze
Null“, Schuldenbremse und „Steuergerechtigkeit“ eher geeignet sind, den
Bundesfinanzminister in die Bredouille zu bringen.

Innerhalb der Debatte scheint klar zu werden, dass diesem
Duo nicht zugetraut wird, die GroKo zu beenden bzw. die programmatische
Erneuerung nur irgendwie einzuläuten. Andererseits dürfte Scholz durch Ämterhäufung
auch gewisse Vorteile in der Mitgliedschaft genießen, wenn auch bei denen, die
nicht unbedingt zu den Regionalkonferenzen gehen. Sollte Scholz in der ersten
Wahlrunde scheitern, wäre automatisch seine Zukunft in der GroKo bedenklich bzw.
die Frage aufgeworfen, ob denn ein „schwacher“ Vizekanzler noch gebraucht  wird. Auch die Fortsetzung der GroKo im
kommenden Jahr würde damit unwahrscheinlicher.

Im Oktober Richtungsentscheidung?

Im Verlauf der Regionalkonferenzen sind derzeit auch noch
weitere Rückzüge zu erwarten. Als erstes Duo verließen die OberbürgermeisterInnen
Simone Lange (Flensburg) und Ahrens (Bautzen) die Ausscheidung. Sie riefen zur
Wahl von Walter-Borjans/Esken auf, da diese eine „linke“ Politik vertreten
würden. Am Abschluss der Vorstellung trat mit Mattheis/Hirschel ein weiteres
„linkes“ Duo zurück. Zwar repräsentiert Mattheis als Bundestagsabgeordnete DL
21, nur ist sie inzwischen als einzige Vertreterin dieser „Strömung“ in der
Bundestagsfraktion verblieben. Einstige KollegInnen wie z. B. Andrea
Nahles sind schon länger weg. Der ver.di-Chefökonom Hirschel war der einzige
„Gewerkschafter“, der sich zur Wahl stellte. Bei den Konferenzen trat er
besonders stark gegen Scholz auf, meinte, der Finanzminister „müsse nur das
Geld aufheben“, das quasi auf der Straße liege, um investiert zu werden. Andere
wie Pistorius/Köpping hatten schon den Wert der SPD als „Krisenverwalterin“
erwähnt, wohl wissend, dass die nächste Weltwirtschaftskrise naht. In welche
„Hände“ dann Geld verteilt wird, scheint mit der SPD gesichert.

Der Rückzug von Mattheis/Hirschel und der Aufruf der Juso-Spitzen
haben sicherlich die Chancen für das „NRW-Duo“ erhöht. Gerade die Jusos mit
70.000 Mitgliedern könnten mitentscheidend für die Wahl werden, aber wie auch
bei den Nominierungen von ganzen Landesverbänden ist derzeit schwer absehbar,
ob sich dies im Abstimmungsergebnis niederschlägt.

Dass auch Einzelkandidat Brunner vom Seeheimer Kreis
zurückgezogen hat und eine Wahlempfehlung entweder für Scholz/Geywitz oder
Pistorius/Köpping aussprach, wird aber wahrscheinlich kaum ins Gewicht fallen.

Erstaunlich zurückhaltend geben sich die Gewerkschaften und
auch die ehemalige Führungsriege (abgesehen von Gabriel) mit Empfehlungen. Das
kann ein Hinweis darauf sein, dass die Entscheidung „sehr“ offen ist wie auch,
dass die ehemalige Spitze möglicherweise denkt, dass ihr Unterstützungsaufruf
wenig hilfreich wäre.

Die beiden stärksten Duos werden um den Vorstand
kandidieren. Sollten Scholz/Geywitz gegen Esken/Walter-Borjans antreten, hätte
dies Aspekte einer Richtungsentscheidung. Als Finanzminister in NRW war
Walter-Borjans zwar auch gehorsamer Vollstrecker von Schuldenbremse und
Zwangsverwaltung der Kommunen, machte sich aber durch den Kauf der
Steuergeheimnis-CDs aus der Schweiz einen Namen, tritt sehr entschieden für
Steuergerechtigkeit auf wie auch MdB Esken, die deutlich von „links“ die GroKo
beenden will.

Schlussfolgerungen

Nach den katastrophalen Wahlergebnissen seit 2017, dem Ende
von Nahles, die an dem Kunststück scheiterte, gleichzeitig „programmatische
Erneuerung“ und Vollstreckung der GroKo-/Unions-Politik als Partei und
Fraktionsvorsitzende zu schaffen, könnten nun tatsächlich die Weichen für ein
Ende der Bundesregierung gestellt werden. Dies „trifft“ sich mit möglichen globalen
ökonomischen Krisentendenzen, für die der amtierende SPD-Finanzminister Scholz
bereits mehrere Milliarden in der Hinterhand bereithält.

Würden Scholz/Geywitz gewinnen, würden sowohl der Grundsatz
„Erst das Land, dann die Partei“ wie auch die „Sozialpartnerschaft“ in der
Bundesregierung als mögliche Mottos dienen. Dieses Szenario würde am ehesten
Fliehkräfte Richtung Neuwahlen unterbinden, sowohl bei SPD wie auch der Union.
Die GroKo könnte es sogar bis 2021 turnusgemäß über die Runden schaffen.

Schließlich gilt es, die EU-Kommission unter deutscher
Führung abzusichern und die nächste mögliche Wirtschaftskrise zu verwalten, zum
Wohle des deutschen Kapitals. An den Grünen wird auch 2021 wahrscheinlich keine
Bundesregierung vorbeikommen und ob die SPD jetzt Juniorpartnerin der Grünen
werden will, darf auch bezweifelt werden. Das gilt erst recht für die Union.

Während also die mitgliederstärkste politische Kraft in der
deutschen ArbeiterInnenbewegung in einer tiefen inneren Krise steckt, die
Fragen Regierungsverbleib, Schuldenbremse etc. massive Auswirkungen auf die
aktuelle Bundesregierung wie auch die ArbeiterInnenbewegung haben, so findet
dies ohne tiefere Resonanz in der Klasse, der „Bewegung“, der „Linken“ statt.

In gleichzeitig stattfindenden Auseinandersetzungen von
sozialen Bewegungen, Fragen des aktuellen Klassenkampfs, der
MieterInnen-Bewegung oder der Klimastreiks finden wir die SPD bspw. auf allen
Seiten wieder, zumeist aber auf jener der Herrschenden.

Die Tatsache, dass 2018 ein Drittel der Mitgliedschaft gegen
die GroKo gestimmt hat und die Entscheidung pro Koalitionsverhandlungen auf dem
Bundesparteitag 2018 knapp war (56 – 44 %), zeigt, dass dort eine
Auseinandersetzung stattfindet. Es wäre die Pflicht der Gewerkschaften, diese
Auseinandersetzung um die Fortführung der GroKo offen zu führen. Die teilweise
recht ausgeschmückten keynesianischen Versprechungen der möglichen neuen
Vorsitzenden sollten von den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften
aufgegriffen und eingefordert werden – sei es bei den Wohnungen, bei der
Klimapolitik, bei Mindestlohn und Mindestrente, bei Stellen für die Pflege und
deren Bezahlung, bei Abrüstung und Ende aller Bundeswehreinsätze im Ausland.

Die Diskussion über die Zukunft der SPD findet zwar sehr
sicher in der Gewerkschaftsbürokratie statt, ziemlich wahrscheinlich mit
stärkerem Pro-GroKo-Flügel bis 2021. Sicherlich werden Teile der Bürokratie aus
den Gewerkschaften den Bundesfinanzminister und Vizekanzler stützen, nur ist
hier auch nicht klar, was das an konkreten Prozenten bringt.

Eine offene Diskussion will die Gewerkschaftsführung aber
keinesfalls. Diese könnte und müsste von in Gewerkschaften und Betrieben
oppositionell gesinnten KollegInnen eingefordert und organisiert werden. Dort
wäre auch zu diskutieren, was man mit einem „Klimastreik“ als
ArbeiterInnenklasse so anfangen könnte und müsste, z. B. in der
Automobilindustrie. Hier könnte die Spaltung vorhandener Bewegungen überwunden
und gemeinsam gekämpft werden – z. B. durch den Kampf für die Zukunft der
Verkehrsbranche wie auch ökologische Nachhaltigkeit mit gleichzeitiger
Beschäftigungssicherung.

Statt sich diesen Möglichkeiten zu stellen, erlebt die
ArbeiterInnenbewegung mit, wie Fridays for Future – eine Massenbewegung zur
Klimapolitik, die de facto von den Grünen geführt wird –,aktuell die
Bundesregierung vor sich hertreiben kann. Als sichtbare, organisierte Klasse
finden die Ausgebeuteten aber nicht statt in diesen Protesten. Vielmehr ist es
nicht gelungen, die Spaltung zwischen den Beschäftigten des Energiesektors und
der Klimabewegung zu überwinden. Teilweise treten Gewerkschaften wie IG BCE
(Hambacher Forst) deutlich feindlich der Klimabewegung gegenüber. Als Bedrohung
der Arbeitsplätze durch letztere dargestellt, übernehmen hier die
„Konzerngewerkschaften“ oftmals die Position der Geschäftsführung.

Eine „finale“ Krise?

Die zerfaserte SPD-Linke könnte theoretisch in diesen
Vorstandswahlen und den begleitenden Diskussionen über die GroKo gewinnen. Es
ist aber weder klar, ob sie die politischen Entscheidungen herbeiführen kann,
noch wohin sie eigentlich will. Inwieweit die Jusos, die man nicht insgesamt
auf „Kühnert-Kurs“ sehen sollte, die DL 21 um Mattheis/Hirschel oder gar
Landesverbände wie Bayern und NRW tatsächlich die GroKo platzen lassen und sich
z. B. Rot-Grün-Rot (oder Grün-Rot-Rot) auf Bundesebene öffnen, ist derzeit
sehr ungewiss. Es gibt wenig organisierte Führung der „Linken“.

Gerade deswegen wäre eine breite Diskussion in den
Gewerkschaften, Betrieben, Ortsverbänden, Stadtteilen, Quartieren eine gute
Möglichkeit, tatsächlich große Teile der Mitgliedschaft zu mobilisieren für ein
GroKo-Ende und für einen Bruch mit der neoliberalen und
sozialpartnerschaftlichen Spitze in Partei und letztlich auch den
Gewerkschaften zu kämpfen. Dazu ist die SPD-Linke derzeit jedoch nicht in der
Lage.

Die krisengeschüttelte SPD erodiert in ihrer aktuellen Krise
so sehr, dass sie ihren letztmöglichen „Sinn“ für den deutschen Imperialismus
verlieren könnte. Dieser besteht ja gerade darin, ihre soziale Basis unter den
Lohnabhängigen „einbinden“ zu können und zugleich als tüchtige Vollstreckerin
der Gesamtinteressen des Kapitals zu fungieren. Bundesweite Umfragewerte von 13 %
lassen Zweifel an dieser Fähigkeit aufkommen. Wird der aktuelle Kurs
fortgesetzt, so könnte für die Partei tatsächlich die „finale“ Phase ihrer
Krise anbrechen.

Ob es mittelfristig gar zu einer Fusion mit der Linkspartei
kommt, wird teilweise schon mal andiskutiert. Sicher scheint, dass es neben
Niedergang auch Umbrüche und mögliche Umgruppierungen im reformistischen Lager
in Deutschland geben könnte. In anderen europäischen Staaten traf den
Reformismus die Krise seiner Politik zum Teil mit noch größerer Härte als die
SPD – z. B. die französische PS. Auch für Syriza oder die PSOE stehen die
Zeichen schlecht, von der SPÖ oder den osteuropäischen SozialdemokratInnen gar
nicht zu reden.

Für sozialistische, kommunistische, revolutionäre Linke
beinhalten diese Krisen, Umbrüche und Wendepunkte jedoch Chancen, wenn sie in
die Konflikte der reformistischen Organisationen eingreifen, von deren linken
Flügel einen innerparteilichen Kampf wie auch Mobilisierungen auf der Straße
fordern – und zugleich immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären
Alternative, einer neuen und kommunistischen ArbeiterInnenpartei betonen.




Klimapaket: Annahme verweigert

Jürgen Roth, Infomail 1070, 27. September 2019

Am 25.9.2019 hat das Bundeskabinett u. a. die Eckpunkte
zum Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen. Diese waren zuvor, rechtzeitig zum
Klimastreik, vom sog. Klimakabinett in der Nacht vom 19. auf den 20. September
verabschiedet worden.

Koalitionszwist und -konsens im Vorfeld

Einer der größten Streitpunkte war die Frage, wie man die CO2-Emissionen
mit einem Preis versehen kann. Die SPD war für einen schnellen Preisaufschlag
ab 2020, um das Wort CO2-Steuer nicht in den Mund nehmen zu müssen. Der
Wirtschaftsflügel der Union hatte jedoch das Nachdenken über neue Steuern zum
Tabu erklärt. Das CDU-Klimakonzept sah denn auch die Einführung eines
Emissionshandels (CO2-Zertifikate) in Bereichen vor, wo dieser noch
nicht gilt: im Verkehrs- und Gebäudesektor.

Der Vorteil aus Unionssicht: Der Handel würde frühestens in
3 Jahren, also nach der nächsten Bundestagswahl 2021, greifen. Die Zertifikate
würden auch von den großen Öl- und Gasversorgern gehandelt, die die Kosten an
die EndverbraucherInnen weiterreichen. Zudem käme das neue Preisschild aus der
Privatwirtschaft, nicht vom Staat. Weil im Verkehrsbereich seit 1990 überhaupt
kein Kohlendioxid eingespart wurde und die Emissionen bis 2030 um mindestens
40 % sinken sollen, müsste die Anzahl der Zertifikate sehr knapp bemessen
sein und ihr Preis und mit ihm der für Kraftstoffe in die Höhe schnellen.
Deswegen trat die Christenunion für einen Preisdeckel ein. Sollte dieser nicht
genug Wirkung zeigen, wollte die CDU weitere Zertifikate emittieren für die Renaturierung
von Mooren und Aufforstung des Waldes. Pflanzt Bäume und fahrt weiter
SUV-Panzer, lautet das Motto dieser Mogelpackung.

Konsens innerhalb der Großen Koalition herrschte beim
Ausgeben von Fördermilliarden: erhöhte Kaufprämien für E-Autos, besondere
Förderung der Elektromobilität bei der Dienstwagenbesteuerung, Aufstocken des
Ladesäulenprogramms, Senkung der Mehrwertsteuer für Bahnfahrkarten,
Steuerförderung der Gebäudesanierung, Abgabe auf Inlandsflüge, Nachlässe bei
der Stromsteuer bzw. unter bestimmten Umständen Erlass der EEG-Umlage. Auf 40
Milliarden Euro jährlich werden die Kosten dessen geschätzt. Ohne CO2-Steuer
und/oder Subventionsabbau entsteht allerdings ein Haushaltsproblem. Die
Regierung stellt sich vor, die Zusatzkosten aus dem Energie- und Klimafonds zu
bestreiten. Dieser speist sich aus Bundeszuschüssen und dem Verkauf von
Emissionszertifikaten an Kraftwerke und energieintensive Industrie und beläuft
sich auf gerade mal 6 Milliarden!

Der Berg kreißte – und gebar eine Maus

Nachdem Deutschland sein angestrebtes Klimaziel für 2020
(40 % Reduktion im Vergleich zum Ausgangsjahr 1990) sicher verfehlen wird,
erwarteten viele nun den großen Wurf, um den Rückstand (Ende 2018: erst
30,6 %) aufzuholen. Doch dem staunenden Publikum wurde ein Mini-Päckchen
serviert, das den Kurs auf die Pariser Klimaziele nicht einhalten können wird.
Beim strittigsten Thema innerhalb der GroKo, der CO2-Bepreisung,
haben sich die Koalitionspartnerinnen auf einen Kompromiss geeinigt. Ab 2021
wird ein nationaler Emissionshandel für die Bereiche Verkehr und Gebäude
aufgebaut. Zunächst sollen die Zertifikate einen Festpreis erhalten, was einer
Steuer gleichkommt und die SPD ihr Gesicht wahren lässt. Der Einstiegspreis
liegt bei 10 Euro pro Tonne. Im Europäischen Emissionshandel werden derzeit 26
bezahlt. Bis 2025 soll er schrittweise auf 35 Euro steigen. Ab 2026 wird eine
von Jahr zu Jahr geringer ausfallende maximale Emissionsmenge festgelegt. Der
Preiskorridor soll sich danach zwischen 36 und 60 Euro bewegen.

Dafür werden die BürgerInnen an anderer Stelle entlastet.
Die Pendlerpauschale steigt um 5 Cent/km. Damit würden anfangs nicht nur die
Preissteigerungen für Benzin und Diesel überkompensiert, sondern es profitieren
zusätzlich am meisten noch die TopverdienerInnen! Aus den Einnahmen soll das
Sinken der EEG-Umlage finanziert werden, beginnend mit ¼ Ct./KWh.

Von einem zuvor noch geäußerten Wunsch nach Ausbau der
Erneuerbaren ist im Entwurf keine Rede mehr. Im Gegenteil: Die Bundesregierung
will einen größeren Mindestabstand von Windkraftanlagen zur Wohnbebauung (1.000
m) einführen. Das soll auch für den Austausch alter Windräder gelten.

UN-Klimagipfel

Dieser tagte am 23.9.2019 in New York. Sprechen durften nur
PolitikerInnen mit vorweisbaren Klimazielen. Dazu gehörten nicht Australien,
Brasilien, Japan und die USA. In diesem Kreis konnte Merkel die beschlossenen
Maßnahmen verteidigen und unter den anderen Habenichtsen glänzen, obwohl sie
angesichts des Mini-Päckchens nicht angeben konnte, wie viel
Emissionseinsparungen es erbringen wird.

Das Kyoto-Protokoll setzte als Ausgangspunkt für die
Bemessung der Klimaziele das Jahr 1990. Mit der Deindustrialisierung
Ostdeutschlands nach der Wende als Folge des Treuhand-Kahlschlags gingen die CO2-Emissionen
um 20 % binnen 10 Jahren zurück. Seither gab es nur einmal einen
nennenswerten Rückgang bei der tiefen Rezession 2009. Danach stiegen die
Emissionen wieder an. Lediglich 2018 führte ein milder Winter zu einer Abnahme.
Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis 2020
um 40 %, bis 2030 um 55 %, bis 2040 um 70 % zu reduzieren. 2050
soll die BRD weitgehend klimaneutral wirtschaften.

Schluss mit Vertröstungen – aber wie?

Es wundert nicht, dass die Grünen, Umweltverbände,
WissenschaftlerInnen und die Klimajugendbewegung das Klimapäckchen als völlig
unzureichend bezeichnen. Mehrere Forschungsinstitute, die in „Climate Action
Trackers“ zusammengeschlossen sind, rechnen vor, dass sich die Erde im
Vergleich zur unmittelbar vorindustriellen Zeit in 16 Jahren um 1,5 °C, bis
2053 um 2 °C und bis Ende des Jahrhunderts um 3,2 °C erwärmt haben wird, falls
keine zusätzlichen Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase ergriffen werden.
Kurz vor Beginn des Klimagipfels verbreitete die UN die Nachricht, 66 Länder
(darunter auch die BRD), 102 Städte, 10 Regionen und 93 Unternehmen hätten sich
bis 2050 zur Klimaneutralität verpflichtet. Ziele in weiter Ferne lassen sich
wohlfeil und ungestraft verkünden. Wie diese erreicht werden können, das
zeigten sie nicht.

Kapitalismus, Klima und Wachstum

Das größte Lager unter den KlimaschützerInnen stellen Leute
vom Schlag des Grünen-Politikers Cem Özdemir. Sie sehen keine Systemfrage.
Ökologie und Ökonomie seien vereinbar. Damit setzen sie das herrschende
Wirtschaftssystem mit Wirtschaften schlechthin gleich. Im Wirtschaftswachstum
können sie keinen prinzipiellen Widerspruch zum Klimaschutz entdecken. Senkung
des CO2-Ausstoßes bleibt für sie eine Frage des politischen Willens,
der sich gegen Partikularinteressen der Kohle- und Autoindustrie durchsetzen
muss.

Ihnen gegenüber stehen die WachstumskritikerInnen. So macht
die „taz“ die „Wachstumsfallen“ „Massenproduktion und Massenkonsum“ aus, die an
ökologische Grenzen stießen. WachstumsfreundInnen wie –gegnerInnen vermengen
dabei munter die stoffliche (die produzierten Güter, Gebrauchswerte) mit der
finanziellen Ebene. Das Streben der Unternehmen nach Profiten ist für sie das
Gleiche wie das Streben der Menschen nach mehr Konsumgütern. Der existierende
Wachstumszwang ergibt sich aber nicht aus der unersättlichen „Natur des
Menschen“, sondern aus der Eigenart des herrschenden Wirtschaftssystems.

Der „Wille“ zum Wirtschaftswachstum ergibt sich aus dem
durch die Konkurrenz auferlegten Zwang dazu. Produktion findet nur statt, wenn
sie sich rentiert, die Geschäftsbilanz wächst. Maßgeblicher Wohlstand in diesem
kapitalistischen System besteht nicht in den produzierten Gütern, sondern im
Wachstum von Kapitalsummen.

Entkoppeltes „grünes“ Wachstum?

Deren VertreterInnen setzen auf Technologie und
Innovationen, die gewährleisten sollen, dass dieser Reichtum sich weiter
vermehrt – aber ohne ökologische Konsequenzen. In der Praxis verursacht
Klimaschutz jedoch Kosten und diese sind ein Konkurrenznachteil für Unternehmen
wie Standorte. Die Umwelt dient den kapitalistischen Unternehmen als
kostengünstige Rohstoffquelle und Schadstoffdeponie. Technisch ist der Klimaschutz
kein Rätsel, aber er muss auch rentabel gemacht werden. Damit sich Klimaschutz
lohnt, versuchen ÖkonomInnen, die oft eine Wirtschaftskrise nicht erkennen,
wenn sie vor der Haustür steht, einen CO2-Preis festzulegen, der den
Ausstoß auf das politisch gesetzte Maß senkt und gleichzeitig Rentabilität und
Wirtschaftsleistung steigert, wodurch Deutschland zur
Klimatechnologie-Exportnation werden soll. Die Realität besteht also nicht im
Kampf „der Menschheit“ um das Klima, sondern im Kampf der Standorte darum, wer
die Kosten des Klimaschutzes zu tragen hat und wer die Früchte ernten wird.
Diesem Kampf wird meist die Schuld dafür gegeben, dass es mit dem Klimaschutz
kaum vorangeht. Doch spiegelt dieses politische Ringen lediglich die
ökonomische Konkurrenz um Kosten und Erträge, um Anteile am Kapitalwachstum,
das eben nicht alle brauchen.




Landtagswahlen: Blaue Augen für die Ministerpräsidenten – Katastrophe für die Linkspartei

Tobi Hansen, Neue Internationale 240, September 2019

Seit Wochen werden die
Wahlen in Brandenburg, Sachsen und am 27. Oktober in Thüringen ausschließlich
unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob die AfD stärkste Kraft werden kann. In
Sachsen und Brandenburg kann das nun beantwortet werden. Die AfD schaffte Platz
1 nicht, wurde aber dort mit großem Abstand jeweils zweitstärkste Partei.

Die sächsische CDU und
die Brandenburger SPD feiern, dass sie trotz enormer Verluste stärkste Kraft
geblieben sind und ohne sie keine Landesregierung gebildet werden kann. Das
soll „die Demokratie“ retten, für „stabile“ Verhältnisse sorgen und den
Anschein vermitteln, dass trotz enormer Wahlerfolge der AfD alles beim „Alten“
bleiben kann.

Bundespolitisch
verschafft dies der Großen Koalition zumindest den Spielraum, dass die
Regierung bis zum Dezember hält. Die CDU kann die Nachfolge von Merkel
vorbereiten. Die SPD-Regierungsbeteiligung hält bis zum Dezember, wo auf einem
Bundesparteitag „planmäßig“ neue Vorsitzende und Vorstand gewählt werden und
eine „Bilanz“ der Großen Koalition gezogen wird.

Das Ergebnis

Laut vorläufiger
amtlicher Hochrechnung haben die Parteien in  Sachsen folgendermaßen abgeschnitten: CDU 32,1 %
(-7,3), AfD 27,5 % (+ 17,8), Linkspartei 10,4 % (-8,5), Grüne
8,6 % (+2,9), SPD 7,7 % (-4,7), FDP 4,8 % (+1). Damit ist eine
Zweierkoalition augeschlossen. Die sog. Kenia-Koalition (CDU, Grüne,
SPD) erscheint als wahrscheinlichste Regierungsvariante.

In Brandenburg ergibt
sich folgendes Bild:
SPD 26,2 % (-5.7), AfD 23,5 (+11,3), CDU 15,6 % (-7,4),
Linkspartei 10,7 % (-7,9), Grüne 10,8 % (+4,6), BVB/FW (Brandenburger
Vereinigte Bürgerbewegung/Freie Wähler) 5,0 % (+2,3). Die FDP scheitert mit 4,1 %
am Einzug in den Landtag.

Hier wird die SPD zu
einer Dreierkoalition gezwungen sein. Als Alternativen stehen Rot-Rot-Grün
oder  „Kenia“ (mit CDU und Grünen)
zur Auswahl. Die Brandenburger CDU schloss zuvor selbst Koalitionen mit der Linkspartei
nicht aus (Novum!), also wird die SPD es sich aussuchen können.

AfD jubelt

Auch die Verfahrensfehler
bei der Listenaufstellung, die zur Beschränkung auf max. 30 Sitze über
Zweitstimmenanteil führten, vermochten die Partei angesichts von 15
Direktmandaten nicht zu schwächen. Die AfD hat ihr Ergebnis gegenüber den
letzten Landtagswahlen verdreifacht und nunmehr bei drei aufeinanderfolgenden
Wahlen (inkl. Bundestageswahl und Europawahl) über 25 % eingefahren.

Wie auch Spitzenkandidat
Kalbitz in Brandenburg gehört Urban zum nationalistischen „Flügel“ innerhalb
der AfD. Dieser wurde somit nun auch bundesweit weiter gestärkt.

Dass die tiefere
Verstrickung des Brandenburger Spitzenkandidaten Kalbitz in das faschistische
Milieu das Wahlergebnis ebenfalls nicht geschmälert hat, lässt auch in der
Bundespartei einige Auseinandersetzungen erwarten, insgesamt wohl aber eine
weitere Entwicklung nach rechts, insbesondere falls, was zu befürchten ist, die
Thüringer AfD unter Höcke im Oktober auch noch einen Wahlerfolg einfahren
sollte.

Zwei Entwicklungen der
AfD im Osten Deutschlands sind dabei entscheidend für den Wahlerfolg. Erstens
gelingt es, die kleinbürgerlichen Schichten äußerst stark zu mobilisieren. So
erhielt die AfD lt. Umfragen in Brandenburg 34 % der Stimmen unter den
„Selbstständigen“, in Sachsen immerhin auch 29 %. Sie konnte damit
eindeutig in klassische CDU- und FDP-WählerInnenschaft eindringen. Vor allem
bei den ehemaligen NichtwählerInnen mobilisierte sie mit Abstand die meisten
Stimmen. Erschreckend ist sicherlich der hohe Anteil an den „ArbeiterInnen“ –
in Brandenburg 44 %. Auch wenn das nicht mit der ArbeiterInnenklasse
gleichgesetzt werden darf und der Anteil unter den Angestellten mit 26 %
deutlich geringer ausfiel, so verdeutlicht es den Einbruch in lohnabhängige
Milieus. Sicherlich wurde das z. B. in Brandenburg noch einmal durch die
besondere Situation in der Lausitz angesichts des Ausstiegs aus der Braunkohle
verschärft. Jedenfalls hat die AfD in dieser Region einige Direktmandate
erobert.

Vor allem Angst vor
Veränderungen, die sozialen Abstieg bedeuten könnten, treibt alle
Bevölkerungsschichten um und an, dies sorgt für große Mobilisierung zur Wahl.

Dabei bilden Rassismus
und Chauvinismus quasi den gemeinsamen „Kitt“, der eigentlich gegensätzliche
soziale Lagen verbindet und die AfD als zweitbeste Vertretung „ostdeutscher
Interessen“ erscheinen lässt.
Mögen auch viele Menschen subjektiv sie aus „Protest” gewählt haben, so hat
sich dieser verfestigt und die “ProtestwählerInnen” lassen sich von Rassismus,
Zusammenarbeit mit offenen Nazis von der Wahl nicht abschrecken.

Das Zusammenwirken der kleinbürgerlichen Schichten mit weiteren rassistischen bis hin zu faschistischen Organisationen der „extremen Rechten“ wie NPD, Der III. Weg, Identitäre Bewegung, „Pro Chemnitz“, einer äußerst militanten „Hooligans gegen Salafisten/HOGESA“-Verankerung in diesen Bundesländern, einer „NS-Musikszene“ usw. zeigt die extrem gute lokale Aufstellung, die sich die AfD zunutze machen kann. Dadurch kann sie sich gemeinsam mit anderen rechten lokalen Kräften und MandatsträgerInnen als die Kraft des Volkes vor Ort darstellen.

Die AfD baut sich gerade in der ehemaligen DDR als
gesellschaftliche Kraft mit Massenanhang im kleinbürgerlich-reaktionären
Spektrum auf, die perspektivisch auch immer größeren Teilen des BürgerInnentums
und des Kapitals eine „verlässliche“ Machtalternative bieten will – von
BürgermeisterInnen in den Kommunen bis hin zur Beteiligung an
Landesregierungen.

Dies tut sie z. B.
mit dem Slogan „Vollendet die Wende“, „Wende 2.0“. Sicher bringt diese
Formulierung auch eine große gesellschaftliche Tragik zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass sich 30 Jahre nach der kapitalistischen Restauration der DDR die
nationalistischen und faschistischen SchergInnen des Kapitals anschicken, die
Wende zu vollenden, ist selbst ein dramatischer Ausdruck der Niederlagen der
ostdeutschen ArbeiterInnenklasse wie des politischen Versagens von SPD und
Linkspartei.

Kandidat Kalbitz, der in
Athen schon mal die NS-Flagge hisste, begründete diesen Slogan mit der sozialen
Realität, nämlich den immer noch niedrigeren Rentenniveaus der Ostdeutschen.
Bevor „andere“ – gemeint sind MigrantInnen und Geflüchtete – Geld bekommen,
sollte doch erst mal die Rente angeglichen werden. So werden reale soziale
Skandale wie Altersarmut, Ungleichheit, das Abhängen ganzer Regionen
angesprochen. Dass Einkommen, Arbeitszeiten, Infrastruktur, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen auch 30 Jahre nach der Wende nicht angeglichen sind, hat
freilich die AfD nicht erfunden. Sie greift vielmehr diese Realität des
Kapitalismus auf und verbindet sie mit nationalistischer und rassistischer Hetze.
Dabei spielen ihr alle anderen Parteien mehr oder weniger willig in die Hände,
die die soziale Misere verharmlosen und Jahr für Jahr erklären, dass sie die
Lebensverhältnisse der Menschen doch verbessert hätten.

Dass die AfD-Wirtschafts-
und -Sozialpolitik eigentlich neoliberal bis auf die Knochen ist, dass sie die
öffentlichen Rentenkassen an Fonds verscherbeln will, spielt in ihrer
öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Zum anderen kann die AfD einfach
darauf setzen, dass sie die “Systemparteien” – also allen anderen – ungestraft
einfach als „LügnerInnen” bezeichnet, selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen
sollten.

Die „Mitte”

Die Ergebnisse von CDU und SPD
und auch der Grünen blieben einigermaßen im Rahmen des Erwarteten. Die Parteien
der Großen Koalition sind mit einem blauen Auge davongekommen und können weiter
regieren. Sie rechnen „Erfolge” – Verteidigung der Ministerpräsidentenposten –
gegen Misserfolge (Verluste an Stimmen) auf.

Die gesamte
Mobilisierungskraft der kleinbürgerlichen wie lohnabhängigen Mittelschichten
drückt sich auch im Erfolg der Grünen, partiell auch der FDP und der BVB/FW
aus. Letzte haben sich vor allem auf Kosten der CDU behauptet. Die Grünen
wiederum haben unter der Jugend allgemein stark gewonnen (20 % der 18–24-Jährigen
in Sachsen, 27 % in Brandenburg). So konnten sie ihr historisch bestes
Ergebnis in den Bundesländern holen, auch wenn sie hinter den Umfragen noch
deutlich zurückblieben.

Somit können die Grünen
einmal eine SPD-geführte Regierung „retten“, das andere Mal die CDU. Das zeigt
auch ihre flexiblen Verwendungsmöglichkeiten für diesen bürgerlichen
Parlamentarismus als Zünglein an der Waage, gewissermaßen als „Ersatz“-FDP.

Klare Verliererin – die
Linkspartei

Dass der allgemeine
gesellschaftliche Rechtsruck der Linkspartei nicht einfach den Rücken stärkt,
stimmt sicher. Ebenso sorgen Regierungsbeteiligungen selten bis nie für gute
Wahlergebnisse. Doch die Ergebnisse vom 1. September können in beiden
Bundesländern nur als katastrophal bezeichnet werden. Bei gestiegener
Wahlbeteiligung halbierte sie sich in beiden Bundesländern. Dabei sind die
extremen Verluste in Brandenburg von 7,9 % angesichts der Politik der
Landesregierung noch einigermaßen nachvollziehbar. In Sachsen fielen sie jedoch
in der Opposition mit 8,5 % noch desaströser aus. Verloren hat die
Linkspartei vor allem an SPD, AfD und Grüne in Brandenburg, in Sachsen an alle
(vor allem CDU und AfD mit 24.000 bzw. 26.000 Stimmen). Hinzu kommt, dass die
Linkspartei trotz der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung kaum an Stimmen
zulegen konnte.

Während die Partei bis
zuletzt ihre Politik in Brandenburg schönredete, träumte der sächsische
Spitzenkandidat Gebhardt vor wenigen Tagen noch von Rot-Rot-Grün. Jetzt vereint
diese Möchtegern-Koalition in Sachsen ungefähr genau soviel Stimmen auf sich
wie die AfD.

Am Wahlabend zeigte sich
das Spitzenpersonal der Linken „betroffen“. Niederlagen in Bundesländern, in
denen die Partei stets um die Spitzenplätze konkurrierte, können auch zu
Zäsuren werden. In Brandenburg schaffte die Linkspartei nach einer verhunzten
„Regionalreform“, meist nur noch mit Postengeschacher und Skandälchen von sich
reden zu machen. Ansonsten blieb sie treue Vollstreckerin von Woidke und setzte
z. B. ein neues Polizeigesetz mit durch. In Sachsen versuchte Rico
Gebhardt, sich und die Linkspartei als Verteidigerin von Humanismus und
Liberalismus neu zu erfinden.

Weder konnte die äußerst
regierungserprobte Brandenburger Linkspartei die Renten angleichen noch Hartz
IV aus der Welt schaffen, geschweige denn dafür sorgen, dass sich militante
faschistische Kreise und Netzwerke nicht weiter ausbreiten. Ähnlich den
weiteren ostdeutschen Landesverbänden wurde brav mitregiert, kommunal auch mal
mit der CDU Übereinkunft erzielt. Die Linkspartei ist Verwalterin der
kapitalistischen Restauration geworden. Und sie wurde auch Opfer der eigenen
und ständig verbreiteten Illusionen in die reformistische Politik des
Mitregierens. Wer andauernd behauptet, dass die Politik einer „Reformregierung“
im Brandenburger Landtag die Verhältnisse wirklich verbessern und so zu einem
„Modell“ der sozialen Transformation werden könne, der braucht sich nicht zu
wundern, dass die WählerInnen irgendwann einmal den reformistischen Versprechen
nicht mehr Glauben schenken wollen.

Dementsprechend sinken
auch die Hoffnungen der WählerInnenschaft, dass diese Partei soziale Sicherheit
und vielleicht sogar Verbesserungen des Lebensstandards durchsetzen könnte –
die Realität programmiert die Wahlniederlage.

Beim Bundesparteitag 2020
wird ein neuer Vorstand gewählt. Objektiv könnten diese Niederlagen dem
Wagenknecht-Lager eher helfen und dem aktuellen Vorstand schaden. Sicherlich
wird die Linkspartei nun alles auf Ministerpräsident Ramelow in Thüringen
setzen.

Die Linkspartei hat längst
aufgehört, als quasi-automatischer Bezugspunkt für Sorgen um sozialen
Abstieg, Arbeitsplätze, Ungerechtigkeit für die ostdeutsche Bevölkerung zu
fungieren. Die Politik der Partei war dabei in den Jahren nach der Wende
sicherlich auch nicht so viel besser, wie heute ein verklärender Blick in die
Vergangenheit suggerieren möchte – aber die Partei verfügte damals (noch als
PDS) über stärkere Basis- und Vorfeldstrukturen, was ihr Image als
„Kümmerpartei“ begründete.

Während diese
gesellschaftliche Verankerung in großen Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung
schwächer wurde, konnte sie weder unter der Jugend noch unter der betrieblichen
ArbeiterInnenklasse eine ähnliche Basis aufbauen. Klimapolitik blieb ihr gerade
in Brandenburg fremd, wo sie um die Braunkohle einen Eiertanz aufführt. Der
geringere gewerkschaftliche Organisationsgrad in Sachsen wie Brandenburg
bedeutet auch, dass es der AfD leichter fiel, in die ArbeiterInnenklasse
einzubrechen, was sich auch in den Stimmengewinnen der Rechten in Regionen mit
sinkender Bevölkerung zeigt. Aber auch die Tatsache, dass sich die Linkspartei
selbst nie um eine stärkere betriebliche und gewerkschaftliche Verankerung
bemühte, dass sie mehr auf die Gewinnung von (linken) BürokratInnen und
FunktionärInnen setzte, drückt sich jetzt in ihren schlechten Ergebnissen aus.

Angesichts dieser
Katastrophe fallen die ersten Erklärungen des Spitzenpersonals der Linkspartei
geradezu lächerlich aus, weil sie in rein konjunkturellen Fragen
(Ministerpräsidentenbonus) die Ursache für das Desaster suchen, nicht in der
parlamentsfixierten lahmen „Reformpolitik“ der Partei selbst.

Was tun?

In Brandenburg wäre es
wichtig, dass gegen eine erneute Regierungsbeteiligung mobilisiert wird. Eine
Fortsetzung der Beteiligung an Rot-Rot-Grün bringt der ArbeiterInnenklasse
nichts, für die Linkspartei wäre der weitere Niedergang vorprogrammiert – und
die AfD würde sich dabei als „die Opposition“ weiter profilieren.

Unsere kritische
Wahlunterstützung für die Linkspartei galt vor allem den WählerInnen und
AktivistInnen der sozialen, der klimapolitischen Bewegung, den
GewerkschafterInnen, wie auch der lokalen „Antifa“, damit sie sich gegen den
Rechtsruck organisieren. Dazu kann die Linkspartei ein „Mittel“ sein und dies
sollte auch bei Wahlen ausgedrückt werden.

Rund um die
Organisationen der ArbeiterInnenbewegung wie auch der sozialen Bewegungen, der
„Linken“ allgemein muss der gemeinsame Kampf gegen die Regierungen wie gegen
die AfD jetzt im Vordergrund stehen. Eine Linkspartei an der Regierung ist
dabei keine Hilfe, im Gegenteil.

Nach den Wahlerfolgen in
Sachsen und Brandenburg werden die AfD wie auch das faschistische Umfeld weiter
versuchen, die „Linke“ einzuschüchtern, „No-Go-Areas“ wie auch „national
befreite Zonen“ auszubauen. Darauf brauchen wir eine Antwort, müssen gemeinsam
mit den Geflüchteten und MigrantInnen unsere Wohngebiete gegen die AfD und
Fascho-Pest verteidigen.

Während die Aufspaltung
des bürgerlichen Lagers voranschreitet, verlieren auch die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien. In Ostdeutschland polarisiert die AfD diese Entwicklung
sowohl in kleinbürgerlichen Schichten wie auch in Teilen der
ArbeiterInnenklasse und rückt dem „Sieg“ bei einer Wahl immer näher.

Die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien SPD und Linkspartei vertiefen ihre strategische Krise,
die bei der SPD ein munteres Führungsquiz eröffnet hat. Beide starren auf den
Aufstieg der AfD wie das Kaninchen auf die Schlange, indem sie sich an ein
parlamentarisches Bündnis nach dem anderen klammern. Statt auf Mobilisierung
und Klassenkampf setzen sie – nicht nur die SPD, sondern auch weite Teile der
Linkspartei – auf ein Bündnis mit bürgerlichen „DemokratInnen“.

In Zeiten kommender
Wirtschaftskrisen, akuter Handelskriege, baldiger Restrukturierungen im
industriellen Sektor, Massenentlassungen und weiterer Prekarisierung der
sozialen Bedingungen, einer vertieften ökologischen Gesamtkrise bedeutet diese
Politik nichts anderes, als die Lohnabhängigen an eine Allianz mit den
„demokratischen“ VertreterInnen des Kapitals zu binden und der AfD-Demagogie in
die Hände zu spielen, dass sie als einzige „die einfachen Leute“ vertrete. Die
Lehre kann nur lauten: Schluss mit diese Politik!

Der Kampf gegen Rechts
darf dabei nicht auf den Kampf gegen die AfD beschränkt bleiben. Eine Linke,
eine ArbeiterInnenbewegung, die Hunderttausende Lohnabhängige von den rechten
DemagogInnen wieder gewinnen will, muss den Kampf gegen die soziale Misere, die
realen Missstände in Angriff nehmen. Dazu braucht es einen Kampf gegen
Billiglohn und Hartz IV, gegen weitere drohende Entlassungen, für ein
öffentliches Programm zum Ausbau der Infrastruktur, von Bildung,
Gesundheitswesen, ökologischer Erneuerung im Interesse der Lohnabhängigen,
kontrolliert von der ArbeiterInnenklasse und finanziert durch die Besteuerung
der Reichen – um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, es braucht den
gemeinsamen Kampf der Linken, der Gewerkschaften wie aller
ArbeiterInnenorganisationen.

Angesicht der drohenden
Angriffe, und um gemeinsamen Widerstand zu entwickeln, brauchen wir
Aktionskonferenzen auch bundesweit, um den Kampf gegen Rechtsruck, AfD,
militante faschistische Gruppierungen und gegen die laufenden und drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, auf Arbeitsplätze und
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu koordinieren.




Von der Hardthöhe nach Brüssel – von der Leyen wird EU-Kommissionspräsidentin

Tobi Hansen, Infomail 1063, 24. Juli 2019

„Brüssel, das ist für mich wie ein nachhause Kommen,“
erklärte die neu gewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit
Blick auf ihre Geburt und ersten Schuljahre in Brüssel.

Nachdem alle SpitzenkandidatInnen der großen Parteiblöcke
bei den Europawahlen – allen voran Manfred Weber von der „Europäischen
Volkspartei“ (EVP) und Timmermans von der „Fraktion der Progressiven Allianz
der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament“ (S&D) – von einer Mehrheit der
europäischen RegierungschefInnen abgelehnt worden waren, zauberte der
französische Staatspräsident Macron die deutsche Verteidigungsministerin von
der Leyen als überraschende Kompromisskandidatin aus dem Hut.

Ihr Wahlergebnis zeigt deutlich auf, wie viel die
deutsch-französische Führung derzeit wert ist. Mit 383 Stimmen erzielte sie
gerade 9 mehr als die erforderliche Mehrheit. Sicherlich stellt das
EU-Parlament den unbedeutendsten Teil der EU-Institutionen dar, aber die knappe
Mehrheit für den Vorschlag des EU-Ministerrats, der versammelten
RegierungschefInnen verweist auf die unsicheren Machtverhältnisse.

Mit 383 Ja-Stimmen erhielt die EVP-Vertreterin 39 Stimmen
weniger als ihr Vorgänger Juncker 2014 (insg. 422). Unter anderem verweigerten
ihr 15 deutsche SPDlerInnen das Votum, während die meisten anderen Mitglieder
der S&D-Fraktion mit von der Leyen gingen.

Die EVP, die S&D und die „neuen“ Liberalen der Fraktion
„Renew Europe“ stützen in ihrer großen Mehrheit von der Leyen. Ebenfalls hat
die polnische Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość = Recht und
Gerechtigkeit) mit 25 Abgeordneten für die ehemalige deutsche
Verteidigungsministerin gestimmt, wohl in der Absicht, mehr Einfluss in der
Kommission zu erhalten, wie auch umgehrt mit Polen ein führender „Visegrád“-Staat
stärker eingebunden werden soll. Auch weitere Abgeordnete aus Osteuropa der EKR
(Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“) unterstützten von der Leyen.
Dies verdeutlicht einerseits den Willen der EVP, mit dem rechts-populistischen
Lager zu kooperieren und andererseits die Absicht, verloren gegangenen Einfluss
der tragenden Kräfte und Mächte der EU in Osteuropa durch dessen Einbindung
wiederzugewinnen.

So konnten auch die Grünen geschlossen mit „Nein“ stimmen
und sich als Opposition präsentieren, ohne zugleich eine permanente politische
Krise und Paralyse der EU zu riskieren. Die europäische Linkspartei stimmte
ebenfalls gegen von der Leyen. Von den NationalistInnen und RassistInnen der
neugegründeten rechten ENF (Europa der Nationen und der Freiheit) kamen
widersprüchliche Signale, wenn auch meist Ablehnung, obwohl ein Teil der italienischen
Lega wohl wegen des Votums des Ministerrates dafür stimmen musste. Die
VertreterInnen der 5-Sterne votierten ebenfalls für von der Leyen.

Wer ist von der Leyen?

Ganz Europa hat durch die plötzliche französische Vorliebe
für Ursula von der Leyen die Langzeitministerin der Kabinette Merkel richtig
kennengelernt. Die Kritik am vormaligen EVP- Spitzenkandidaten Weber zielte
vordergründig auf seine fehlende Regierungspraxis. Diesbezüglich konnte von der
Leyen punkten. Von 2003 bis 2005 war sie in Niedersachsen erstmals
Ministerin  für Soziales, Frauen,
Familie und Gesundheit. 2005 wechselte sie in die Bundesregierung, zunächst als
Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von 2009 bis 2013 für
Arbeit und Soziales und ab 2013 wurde sie zur ersten weiblichen
Verteidigungsministerin. Sie ist damit die einzige Ministerin unter Merkel, die
in allen Kabinetten vertreten war. Seit 2010 ist sie außerdem stellvertretende
Parteivorsitzende der CDU.

Bei der Bundestagswahl 2013 war sie eine der
HauptorganisatorInnen des Wahlkampfes der Union. Nach dem stärksten Ergebnis
der Merkel-Ära von 41,7 % galt sie als potentielle Nachfolgerin der
Kanzlerin und deren Hauptstütze in Union und Kabinett. Diese Rolle wurde ihr
nach der Wahlniederlage 2017 zum Verhängnis. Als stellvertretende Vorsitzende
wurde sie abgestraft (54,5 % 2018) und als Merkel-NachfolgekandidatInnen
brachten sich Kramp-Karrenbauer, Spahn und Merz in Position.

Politisch vertrat sie konsequent den Merkel-Kurs. Innerhalb
der Union stand sie teilweise im „sozialpolitischen“ Lager, stramm auf Linie
und Stabilität der Regierung bedacht. Angesichts der konservativen
CDU-Verhältnisse galt sie wegen ihres Bekenntnisses zum Ausbau öffentlicher
Kinderbetreuung als Ministerin, der Zustimmung zur „Ehe für alle“ (also auch
homosexueller Menschen) als zum „liberalen“ Flügel der Union gehörig –
zweifellos eine problematische Einschätzung der „modernen“ Konservativen, die
eigentlich eine entschiedene Verfechterin der Familie als „Keimzelle“ der
Gesellschaft ist. Anders als extrem bornierte und reaktionäre Konservative geht
sie jedoch davon aus, dass Institutionen wie die Familie nur zu retten wären,
wenn sie auch auf nicht-heterosexuelle Paare ausgedehnt würden.

Diese Rolle der treuen administrativen Vollstreckerin bei
gleichzeitiger „konservativer Modernisierung“ wird in Brüssel gebraucht. Dies
versucht von der Leyen tatsächlich zu leisten. Insofern scheint sie durchaus für
die schwierige Aufgabe geeignet, den Block Deutschlands und Frankreichs
zusammenzuhalten.

Dieser soll durch weitere Personalentscheidungen wieder
befestigt werden. Frankreich erhält den Vorsitz der EZB in Gestalt von Lagarde.
So einfach scheint der Kuhhandel der EU-Bürokratie zu laufen. Die Unterstützung
durch die PiS wird ebenfalls belohnt in Form einer klaren strategischen
Ausrichtung der möglichen Kommissionsagenda. Von der Leyen galt als „Atlantikerin“,
also an einem engen Bündnis mit dem US-Imperialismus orientiert. Als
Verteidigungsministerin vertrat sie auch gegenüber Russland die NATO-Agenda.

In ihrer Antrittsrede legte sie außerdem einen Schwerpunkt
auf die Klimapolitik. Dies lässt möglicherweise die Integration der Fraktion „Die
Grünen/Europäische Freie Allianz“ in die Kommission offen. Schließlich will von
der Leyen, dass die EU bis 2050 „klimaneutral“ wird.

Als deutsche Verteidigungsministerin war sie maßgeblich an
den Vorschlägen zum Aufbau einer EU-Armee beteiligt. Dies wird sicher zu einem
Kernbestandteil ihrer Agenda für die nächsten fünf Jahre , wie auch mit von der
Leyen keine rasche „Besserung“ des Verhältnisses zu Russland zu erwarten ist.

Eine klare transatlantische Orientierung, ein eindeutiges
Bekenntnis zur europäischen Aufrüstung und auch etwas „Green Deal“ – dies wird
das Programm der noch zu bildenden Kommission werden.

Diese Kommission soll das „Beste“ aus den bescheidenen
Verhältnissen rausholen – zuallererst Stabilität, besonders auch in unklaren
„Brexit“-Zeiten. Wenn dann noch die EU-Armee als Prestigeprojekt durchgesetzt
würde, dann wären die aktuellen Regierungen in Berlin und Paris schon zufrieden
– wären hier nicht weitere „Unwägbarkeiten“ wie kapitalistische Krise, Brexit
und die Zuspitzung im Nahen Osten.

Die Krise der EU wird verwaltet

In den nächsten Monaten wird die Brexit-Auseinandersetzung
mit Boris Johnson die EU-Politik maßgeblich bestimmen, wie auch mögliche
Neuwahlen in Großbritannien anstehen könnten. Dies wird die erste
„Bewährungsprobe“ für die Kommission werden. Mögliche Szenarien eines „harten“
Brexit könnten, ja werden auch makroökonomische Verwerfungen nach sich ziehen.
Die kommende Kommission wird auch die nächste Krise meistern müssen – bei einer
geschwächten EU, verschärfter internationaler Konkurrenz und mit geringeren
ökonomischen Reserven.

Ebenfalls ungelöst und seit einigen EU-Gipfeln verschoben
ist eine strategische Entscheidung zum Verhältnis EU–China. Von der
„Atlantikerin“ von der Leyen mag einerseits klassische westliche China-Politik
zu erwarten sein, andererseits muss sie aber auch auf eine Kooperation mit dieser
aufstrebenden Wirtschaftsmacht angesichts ihres immer wichtiger werdenden Marktes,
gerade für das deutsche Kapital, setzen. Dabei könnte es eine abgeschwächte
Unterstützung für den US-Kurs geben, immer vorausgesetzt, dass die Zölle gegen
die EU ausbleiben.

Wie sich dies auf die Lage am persischen Golf auswirken
wird, ist schwer vorhersehbar. Auch hier befindet sich von der Leyen wie die
gesamte EU in einer Zwickmühle. Einerseits wird sich die EU im möglichen
Kriegsfall schwerlich enthalten, sondern sicherlich „Solidarität“ mit den USA
und ihren engeren Verbündeten wie Israel und Saudi-Arabien zum Ausdruck
bringen. Andererseits möchte sie eigentlich die Lage im Nahen Osten entschärfen
und den toten Iran-Deal irgendwie am Leben erhalten.

Um Kommissionspräsidentin zu werden, sah sich von der Leyen schließlich auch genötigt, vor allem der S&D-Fraktion um Timmermans einige soziale Versprechungen zu machen, darunter auch einen europäischen Mindestlohn, den Ausbau von Schutzbestimmungen für Lohnabhängige. Diese könnten schon durch die mögliche „Brexit-Krise“ rasch Geschichte sein. Hinzu kommt, dass eine Einigung zu sozialen Mindeststandards leicht an den zahlreichen neo-liberal ausgerichteten Regierungen wie auch den Parteien im EU-Parlament scheitern kann oder einfach ewig verschleppt wird. Damit könnte von der Leyen weiter leicht „Reformbereitschaft“ signalisieren, wohl wissend, dass diese ohnedies nicht umsetzbar sein werden.

Zugleich werden einige soziale und „grüne“ Prestigeobjekte
der Kommission und der EU verlautbart, allerdings vorzugsweise solche, die
nicht mit den Interessen des Großkapitals kollidieren und/oder rein
symbolischen Charakter haben.

Offensiv sprach von der Leyen die Frage des Beitritts
weitere Länder an, direkt wurden Albanien und Nord-Mazedonien genannt. Weitere
Länder auf dem Balkan einzubinden, entspricht zweifellos den Interessen der
imperialistischen Führungsnationen, ihre Macht in Osteuropa und auf dem Balkan
zu konsolidieren. Auch mit den Ländern des Kaukasus sollen weiter Verhandlungen
bezüglich einer engeren Einbindung stattfinden und zweifellos wird die Ukraine
eine zentrale Rolle für die Außenpolitik der EU in den nächsten Jahren spielen
(inklusive der Neubestimmung des Verhältnisses zur Russland). In all diesen
Ländern geht es (wie auch in der Türke, im Nahen Osten und in Afrika) darum,
China und Russland einzudämmen, wie auch die Erweiterungsperspektive am Leben
zu erhalten.

Diese Staaten in den EU-Binnenmarkt zu integrieren, verweist
auf die einzige aktuelle Erfolgsgeschichte der EU, das Freihandelsabkommen mit
Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), das den zuvor mit Japan und Kanada
abgeschlossenen ähnelt. Hier betreibt die EU weiterhin expansive Globalisierung
– und verbessert damit auch ihre Machtposition gegenüber der britischen
Regierung und der britischen Konkurrenz im Falle eines harten Brexit. Während
Boris Johnson und andere Brexit-Freaks vom „Commonwealth“ und einer
Wiederbelegung des „Empire“ phantasieren, schließt die EU immerhin reale
Wirtschaftsabkommen ab. Beim Brexit kommt von der Leyen zugute, dass ihre
Amtszeit erst am 1. November beginnt, sie daher keine Verantwortung für einen
etwaigen harten Brexit mittragen muss. In der Sache selbst sind weder von der
gegenwärtigen EU-Kommission noch von ihr große Zugeständnisse zu erwarten.

Insgesamt wird sie versuchen, die EU zu retten,
voranzubringen – und zugleich, dies mit dem aktuell die EU dominierenden
Machtblock zuwege zu bringen, der um weitere, heterogene Kräfte (Grüne, Teile
der osteuropäischen Regierungen) erweitert werden soll. Kurzum, sie wird eher
eine Verwalterin der aktuellen Krise der EU, einer weiteren Zuspitzung ihrer
Zerfallstendenzen, denn eine Retterin werden. Ihre Politik wird nicht der
„große Wurf“, sondern eher ein ständiger Kompromiss zwischen widerstreitenden
Kräften sein. Die Tatsache, dass sie als Repräsentantin der
„deutsch-französischen“ Achse gewählt wurde, verweist freilich auch darauf,
dass die politische Ausrichtung der EU vom deutsch-französischen Verhältnis
bestimmt wird.

Eine kommende Wirtschaftskrise, eine weitere Zuspitzung der
imperialistischen Widersprüche bis zum Krieg werden die Zerstrittenheit und
damit die Krise der EU verschärfen. Sie werden aber auch Kämpfe und Gegensätze
entfachen, die die Frage des europaweiten Widerstandes auf die Tagesordnung
setzen und die Frage aufwerfen, welche Rolle die ArbeiterInnenbewegung darin
einnehmen kann.

Europäischer Widerstand nötig und möglich!

Wahrscheinlich werden von der Leyen und die deutsche CDU den
Grünen in Europa einige Avancen machen, um diese in die Kommission zu
integrieren. Hintergrund ist auch die äußerst labile Koalition mit der SPD,
welche mit neuem Vorsitz Ende des Jahres die Regierung verlassen könnte. In
aktuellen Umfragen liegen Union und Grüne fast gleichauf. Über die Mitarbeit in
der EU-Kommission würde der „Oppositionsbonus“ der Grünen etwas schwächer.

Für den 20. September ist der nächste globale Aktionstag von
Fridays for Future geplant. Wieder werden Millionen, zumeist junge Menschen auf
die Straße gehen. Die EU-Kommission wird versuchen müssen, sich selbst „grün“
darzustellen, um einer entstehenden Massenbewegung etwas Wind aus den Segeln zu
nehmen.

Für diesen Tag haben sich selbst in Deutschland auch
kleinere gewerkschaftliche Initiativen gebildet, die zumeist die SchülerInnen
beim Protest für das Klima unterstützen wollen. Initiativen wie ein globaler
und damit auch europäischer Klimastreik wären auch für viele andere Fragen, z.
B. im Kampf für nationale Mindestlöhne und die Verkürzung der Arbeitszeit auf
30 Stunden pro Woche möglich. Natürlich wollen weder die Grünen, die NGOs noch
die Gewerkschaftsführungen, dass ein Klimastreik über einen eintägigen,
letztlich symbolischen Protest hinausgeht oder dieser gar mit (unbefristeten)
Arbeitsniederlegungen und Besetzungen von Schulen und Unis einhergeht.

Eine besonders „klimaintensive“ Industrie, die
Automobilbranche, wäre beispielsweise durch die verdichteten Produktionsketten
und Liefertakte in Europa besonders anfällig für längerfristige Ausfälle.
Dasselbe gilt für die gesamte industrielle Produktion auf dem Kontinent. Ein
wirklicher europäischer/internationaler Klimastreik, durchgesetzt in Betrieb,
Schule und Uni, würde sogar relativ schnell größere Perspektiven aufzeigen –
und er könnte auch für andere Fragen Beispielcharakter erhalten.

Dies wäre eine aktive, revolutionäre Politik der
ArbeiterInnenbewegung in Richtung der Klimastreiks von Millionen von
Jugendlichen, um mit ihnen gegen eine EU des Kapitals, des Rassismus und
Nationalismus, der kapitalistischen Umweltzerstörung zu kämpfen. Gerade gegen
Rechtsruck und imperialistische Interventionen und Aufrüstung wäre dies
erforderlich!

Es ist die Aufgabe für revolutionäre Organisationen, genau
diese Politik und Vorschläge, die Verbindung der Bewegungen, die Mobilisierung
der gesamten ArbeiterInnenbewegung einzufordern – von den reformistischen
Führungen in Gewerkschaften und Parteien wie auch von der Führung der sozialen
Bewegungen.

Bei den aktuellen Führungen der ArbeiterInnenbewegung werden
eher nationale Wunden geleckt. Neben den jeweiligen Niederlagen während der
Austeritätspolitik und Krise verloren fast alle Parteien an die
RechtspopulistInnen. Neu entstandene Formationen wie Podemos und La France
Insoumise konnten davon allenfalls kurzfristig und vorübergehend profitieren –
die europäische Linkspartei als Ganze ebenso wenig. Während Sozialdemokratie
und progressive DemokratInnen den Status quo der Kommission verteidigen,
vermochten auch die Linksparteien nicht mit europaweiten Aktivitäten zu
punkten.

Dies wird von der „radikalen Linken“ auch nicht sonderlich
herausgefordert. Große Teile der zentristischen, sozialistischen Linken agieren
gegenüber den Führungen in Gewerkschaften und Parteien zumeist als Stützen des
„linken“ Apparats, wann auch immer der dann kämpft. Andere ignorieren die
traditionellen ArbeiterInnenorganisationen und/oder die brennenden Probleme der
EU.

Eigentlich wären auch diese neue EU-Kommission, die zu
erwartenden und aktuellen Krisen der EU ein guter Grund für die
ArbeiterInnenbewegung, die politischen und sozialen Organisationen der Klasse
in Europa mal wieder zusammenzuführen. Ähnlich wie in Zeiten einer
„Anti-Globalisierungsbewegung“ und der Sozialforen wäre es heute angemessen,
darüber zu debattieren wie Rechtsruck, Klimakrise, imperialistische Zuspitzung
am besten bekämpft werden können und sei es, um „nur“ verbindlich abzusprechen,
dass man gemeinsam gegen einen möglich Irankrieg mobilisieren wird.

Gegen eine EU des Kapitals, der Krise und des Rechtsrucks
kann eine ArbeiterInnenbewegung in Europa agieren. Es braucht eine politische
Führung und Verantwortung, dies zu tun. Allein die Auswirkungen eines Brexit
für die Beschäftigten dies- und jenseits des Kanals, für die Millionen
ArbeitsmigrantInnen, als äußerst signifikante Demonstration der EU-Krise wären
eine europäische Aktionskonferenz wert – wie natürlich auch der Rechtsruck, die
Umweltkrise, Aufrüstung und Kriegsgefahr. Eine ArbeiterInnenbewegung, die
gemeinsam in Aktion tritt, kann politische Bewegung kontinental anführen,
anstatt den Ereignissen national hinterherzulaufen.