Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!




Erweiterung der BRICS-Staaten

Yorick F, Infomail 1230, 8. September 2023

Die BRICS Staaten wollen sich mit dem Jahresbeginn 2024 fast verdoppeln. Das wurde auf ihrem Gipfel in Johannesburg (Südafrika) vom 22. bis 24.8.2023 beschlossen. Zu den 5 bisherigen Namen gebenden Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sollen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Argentinien, Äthiopien, Ägypten und dem Iran sechs weitere dazukommen. Einig davon sind schon seit Jahren erklärte Gegner des westlichen imperialistischen Blocks, andere waren jahrzehntelang jedoch dessen strategische Verbündete, die sich aber seit Jahren zwischen den USA und China neu positionieren.

Diese Erweiterung, die unter dem Namen BRICS Plus firmiert, will sich als Gegengewicht zu den 2006 gegründeten geführten G7 positionieren und könnte – wenn auch nicht in unmittelbarer Zukunft – eine ernste Bedrohung für das US-geführten Staatenbündnis werden.

Aktuell leben in den BRICS-Staaten bereits 42 Prozent der Weltbevölkerung, nach der Erweiterung wären es sogar 46. Bedeutsamer ist aber die ökonomische Zunahme: Die aktuellen 31 Prozent Anteil an der Weltwirtschaftsleistung nach Kaufkraft bereinigtem BIP würden sich auf 37 erhöhen. Tatsächlich überholten die BRICS damit bereits die G7. Was als Wendepunkt in der kapitalistischen Weltordnung erscheint, muss jedoch relativiert werden.

Ungleichheit unter den BRICS

Zunächst herrscht innerhalb der BRICS – noch mehr noch als in den G7 – eine extreme Ungleichverteilung der Anteile an diesem BIP vor. China zeichnet verantwortlich für 17,6 Prozent, gefolgt mit großem Abstand von Indien mit 7 Prozent und schließlich Russland (3,1), Brasilien (2,4) und Südafrika (0,6). Nach dem ökonomisch bedeutsameren Nominalwert in US-Dollar, also dem nicht bereinigten BIP, liegen die BRICS immer noch weit hinter den G7. So verfügten sie als gesamter Block 2022 über ein BIP von 26 Billionen US-Dollar, etwa so viel wie die USA alleine.

Nach BIP pro Kopf sind die BRICS noch immer weit abgeschlagen. Selbst wenn man nicht nach der Kaufkraft des US-Dollars rechnet, sondern bereinigte Größen zu Grunde legt, fällt es in den USA mit 80.035 US-Dollar mehr als dreimal so hoch aus wie das chinesische BIP von 23.382.

Auch als BRICS Plus mit allen potenziellen neuen Mitgliedsstaaten bleibt das Wirtschaftsbündnis letztlich eine weitaus schwächere und kleinere Wirtschaftsmacht als der imperialistische Block der G7. Darüber hinaus sind die BRICS in noch höherem Maße divers in ihrer Bevölkerung, dem BIP pro Kopf, ihrer Geografie und der Zusammensetzung ihrer Handelsströme.

Nicht zuletzt herrscht größere Uneinigkeit auch politisch zwischen den Mitgliedsstaaten, während  der G7–Block über lange etablierte Institutionen des globalen Finanzkapitals, gemeinsame militärische Institutionen verfügt und die Hegemonie der USA über ihre imperialistischen Verbündeten größer ist als jene Chinas über die BRICS-Staaten.

Im Gegensatz zu den G7, die unter Führung der USA trotz innerer Konkurrenz relativ einheitliche wirtschaftliche Ziele gegenüber den anderen Ländern verfolgen, haben die BRICS auch in Bezug auf ihre Wirtschaftsstrategie diese nicht. Sie eint – was für die aktuelle Lage schon bedeutend genug ist – vor allem, dass sie ein Gegengewicht gegenüber den USA und den anderen langjährigen imperialistischen Mächten bilden wollen. Sie haben aber keine gemeinsame Zielsetzung bezüglich eine anderen Weltwirtschaftsordnung.

Es eint sie vielmehr der Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen. Und selbst das dürfte schwierig werden. Der Dollar bleibt trotz sinkender Dominanz der USA die weltweit bedeutsamste Währung für Handel, Investition und Devisenreserven. Der Anteil des Renminbi an globalen Währungsreserven hingegen beträgt heute nur etwa 3 %. Selbst China hält noch 58 % seiner Währungsreserven in Dollar. So wurde auch die Diskussion über die Ablösung des Dollars insbesondere aufgrund der Einwände vor allem Indiens auf den nächsten Gipfel im russischen Kasan (Republik Tatarstan) vertagt.

Auch im Hinblick auf die dominanten internationalen Institutionen der kapitalistischen Weltordnung gibt es wenig Aussicht auf eine Ablösung der westlichen Hegemonie. Die New Development Bank (NBD) konnte bisher kein spürbares Gegengewicht als Kreditinstitution gegenüber IWF und Weltbank aufbauen.

Dennoch wird sich die internationale Rivalität in diesem Jahrzehnt politisch, wirtschaftlich und militärisch verschärfen und die Erweiterung der BRICS wird insbesondere für China wohl von größerer Bedeutung sein. Das Bündnis erweitert sich um drei wichtige Lieferanten von fossilen Rohstoffen: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Unter Miteinbeziehung Russlands werden derzeit 60 Prozent der weltweit geförderten Öl- und Gasvorkommen in BRICS-Ländern gewonnen. Demnächst könnte BRICS Plus 80 Prozent der weltweiten Ölförderung kontrollieren.

Innere Spannungen

Vor allem Indien befürchtet eine wachsende Dominanz Chinas innerhalb des BRICS-Bündnisses, insbesondere auch aufgrund des territorialen Streites an der indisch-chinesischen Grenze. Die führende Rolle innerhalb des Bündnisses hat China zwar sowieso inne, aber mit einer Währung, die sich konjunkturell am Renminbi (Yuan; RMB) orientieren würde, könnte es seine dominierende Rolle für die BRICS Staaten ausbauen. Als zweitgrößte imperialistische Macht der Welt betrachtet China die BRICS letztlich natürlich als Mittel, den kriegsgeschüttelten russischen Imperialismus, aber auch aufstrebende und geostrategisch wichtige Halbkolonien enger an sich zu binden und seine ökonomische, militärische und politische Dominanz auszubauen.

Doch das ist bei weitem nicht die einzige Konfliktlinie innerhalb des BRICS-Bündnisses. Damit zusammenhängend bildet die Frage, was das Bündnis eigentlich vor allem in Bezug auf die G7 sein soll, einen immer wiederkehrenden Streitpunkt. Während China und Russland das Bündnis für sich als Unterstützung im Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit dem Westen sehen wollen, sind die meisten anderen alten wie neuen Mitgliedsstaaten gegen eine dezidiert antiwestliche Ausrichtung und erhoffen sich, sowohl mit den G7 als auch den BRICS gute Beziehungen zu unterhalten. So verhalten sich die meisten z. B. in der Frage des Ukrainekrieges nach außen hin neutral.

Staaten wie Brasilien und Indien, aber auch neue Mitglieder wie Ägypten oder die VAE haben zwar ein direktes Interesse daran, China als Partner auf ihrer Seite zu haben, wollen aber auch nicht ihre wirtschaftlich guten Beziehungen mit dem Westen aufgeben. Andere (neue) Mitglieder wie der Iran oder Südafrika stehen hingegen ziemlich eindeutig auf russischer Seite, auch wenn Südafrika sich dem UN-Beschluss des internationalen Haftbefehls gegen Putin beugt und dieser deshalb nur per Videoschalte an der Konferenz teilnehmen konnte. Gerade aufgrund dessen waren vor allem Indien und Brasilien eher abgeneigt gegenüber einer Erweiterung des Bündnisses und forderten einheitliche Kriterien für zukünftige BRICS-Plus-Mitgliedsstaaten, da sie befürchten, innerhalb des Bündnisses an Einfluss zu verlieren und den Kurs vollständig in die Hände v. a. Chinas zu legen.

Diese Konflikte könnten in Zukunft auch durchaus noch größer werden, wenn es um die Aufnahme von 16 weiteren Staaten geht, die bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. 40 weitere haben ihr Interesse bekundet.

Unter den Bewerber:innen sind nämlich so unterschiedliche Staaten wie Kuba oder Venezuela mit einer recht eindeutigen antiwestlichen Ausrichtung, aber z. B. auch Nigeria, welches relativ gute Beziehungen zum Westen pflegt und vor einem potentiellen Krieg in der Sahelzone mit Niger, Burkina Faso und Mali auf Seiten des Westens steht.

Diese Spannungen zeigen zu einem gewissen Grad den Charakter des Bündnisses auf. Es ist offensichtlich nicht das Ziel Chinas und Russlands, eines zu schaffen, welches die Interessen der unterdrückten Nationen des globalen Südens vertritt, sondern ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Ziele zu verfolgen. Aber zugleich müssen sie Kompromisse mit wichtigen halbkolonialen Ländern eingehen, um diese näher an sich zu ziehen oder aus einer engen Westbindung zu lösen. Die Formel, ein umschließendes Bündnis für mehr friedliches Miteinander in einer neuen multipolaren Weltordnung zu schaffen, dient dabei als ideologische Klammer, die realen imperialistischen Ambitionen Russlands und Chinas zu verschleiern – ganz ähnlich wie das Spielen der Demokratiekarte auf westlicher Seite.

Vor welchem Kontext findet das statt?

Noch deutlicher wird das, wenn wir uns angucken, in welchem Kontext, in welcher aktuelle Periode wir uns befinden. Die aktuellen wie auch die nächsten Jahre sind von einer tiefen Überakkumulationskrise, stagnierenden oder fallenden Profitragen geprägt. Natürlich versuchen alle kapitalistischen Staaten, die Kosten von Krieg, Krise, Stagnation auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen (beispielsweise auch durch die Inflation). Aber das wird nicht reichen, um die Weltwirtschaft wieder flottzumachen, zumal innerimperialistische Konkurrenz und der Krieg um die Ukraine gemeinsame Lösungsstrategien mehr und mehr verunöglichen.

Die Tage der unbestrittenen Vorherrschaft des imperialistischen Blocks unter Führung der USA sind vorbei – und damit die Zeiten der ungehinderten Expansion der Handels- und Finanzströme der 1990er Jahre und der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Da die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften in den letzten beiden Dekaden zurückging, hat sich der Kampf der großen kapitalistischen Volkswirtschaften um die Generierung von Profit verschärft.

Und dies führt zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Macht. Der imperialistische Block unter Führung der USA ist zwar immer noch dominant, aber seine Vorherrschaft wird wie nie seit 1945 in Frage gestellt. Das führt dazu, dass sich die innerimperialistischen Konflikte weiter verschärfen. Nicht nur die Konkurrenz zwischen den großen Rivalen USA/EU und China, sondern auch zwischen verbündeten Imperialist:innen tritt immer mehr zum Vorschein (z. B. die Versuche des US-Imperialismus mithilfe Anheizens des Ukrainekrieges Deutschland und Frankreich über die EU weiter an sich zu binden). Als Resultat davon wollen viele Staaten ihren Spielraum zwischen den sich formierenden Blöcken vergrößern, um sich im Zweifelsfall auf die günstigste Seite zu schlagen. Zugleich stehen etablierte Liefer- und Wertschöpfungsketten immer mehr zur Disposition, so dass immer mehr Tendenzen einer „Deglobalisierung“ hervortreten. Der Weltmarkt wird zunehmend fragmentiert, wirtschaftliche, militärische und politische Blöcke formieren sich im Rahmen des imperialistischen Weltsystems.

Nein zu allen imperialistischen Blöcken!

Für uns ist also klar, dass dieser Gipfel nicht, wie von z. B. dem brasilianischen Präsidenten Lula behauptet, einer der unterdrückten Völker des globalen Südens war. Die BRICS sind vielmehr ein Bündnis aus imperialistischen Mächten (China und Russland) sowie halbkolonialen Staaten, die ihrerseits um einen größeren Anteil am Reichtum der Welt kämpfen, inklusive bedeutender Regionalmächte, die selbst gern in den Kreis imperialistischer Mächte aufsteigen möchten (was sicher bei Indien am deutlichsten hervortritt).

Wir sehen in einem Erstarken der chinesischen und russischen Einflusssphäre keinen antiimperialistischen Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Mittel des russischen und vor allem des chinesischen Imperialismus, in der sich im Zuge der Deglobalisierung vollziehenden Blockbildung möglichst viele Staaten als u. a. Einflusssphären, Ressourcenquellen und Absatzmärkte um sich zu scharen, um vor allem wirtschaftlich den USA die Stirn zu bieten.

Bei der Neuaufteilung der Welt zwischen „alten“ Großmächten (USA und die übrigen G7) einerseits und den neuen, aufstrebenden handelt es sich im einen reaktionären, innerimperialistischen Gegensatz, der auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Nationen ausgetragen wird.

Als Revolutionär:innen müssen wir zum einen die Propaganda unserer „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie – des deutschen Kapitals – und seiner Regierung vom „Gipfel der Tyrannen“ als Heuchelei entlarven und den Klassenkampf gegen diese entschlossen führen. Gleichzeitig müssen wir uns mit der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten auch in den BRICS-Staaten im Kampf gegen „ihre“ herrschende Klasse solidarisieren. Dazu aber müssen wir selbst eine internationale Kampforganisation unserer Klasse, eine neue revolutionäre Internationale aufbauen.

Nein zu BRICS, G7 oder NATO – Zerschlagung aller imperialistischen Bündnisse! Für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter:innen und Unterdrückten!




Das Comeback der G7 und die Krise der Globalisierung

Martin Suchanek, Neue Internationale 265, Juni 2022

Bis vor wenigen Jahren erschien das G7-Format als Auslaufmodell der imperialistischen Ordnung. Die Veränderungen der Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung nährten jahrelang die Vorstellung einer neuen „partnerschaftlichen“ und „freien“ Weltordnung. Russland wurde zeitweilig als Partner in die erlauchte Runde der führenden westlichen imperialistischen Nationen aufgenommen (G8). Die stetige, scheinbar unaufhaltsame Ausdehnung des Weltmarktes, die Etablierung internationaler Wertschöpfungsketten sowie der wachsende Anteil der neuen Großmacht China, aber auch Indiens und anderer sogennanter Schwellenländer an der globalen Produktion schienen eine neue Ära anzukündigen. Diese neue Ordnung schien die Nationalstaaten immer mehr in den Hintergrund zu drängen – und damit auch den Antagonismus zwischen den imperialistischen Großmächten.

Die Ideolog:innen der kapitalistischen Globalisierung versprachen eine Welt, in die freie Marktwirtschaft Wachstum, (bescheidenen) Wohlstand für alle, Gleichheit und Demokratie tragen würde.

In der globalisierungskritischen und antikapitalistischen Bewegung stießen diese wohlfeilen Versprechungen von Beginn an auf Widerspruch und Widerstand – oft auch in Form massenhafter und militanter Mobilisierungen gegen Gipfeltreffen der G7/8, der G20, von IWF und WTO. Zugleich übernahmen jedoch große Teile dieser Bewegung einige Illusionen der Globalisierungserzählung.

Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Großmächten sei mehr und mehr in den Hintergrund getreten, da der „neue“ Kapitalismus, der nach 1990 Gestalt angenommen hätte, nicht mehr durch nationale Großkapitale der imperialistischen Mächte, sondern von einem neuen, transnationalen Finanzkapital dominiert würde. Die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Mächten wäre daher nur noch ein Randphänomen, Kriege zwischen den imperialistischen Staaten gehörten im Grunde der Vergangenheit an. Manche verkündeten gar das Ende des Imperialismus, andere vertraten faktisch eine Theorie des Ultraimperialismus, bei dem eine mehr oder minder geeinte Welt des Finanzkapitalismus den Massen und Ländern des globalen Südens gegenüberstehen würde.

Die List der Geschichte erwies sich hier einmal mehr als wirksamer als vorschnelle Kurzschlüsse. Auch wenn diese falschen Theorien scheinbar durch die Entwicklung des Welthandels, die massive Ausdehnung der Finanzinstitutionen und die Kooperation der führenden Nationen unter Einschluss von Mächten wie China und Russland bei einer mehr oder minder partnerschaftlichen Ausplünderung der Welt gerechtfertigt schienen, so saßen sie letztlich Oberflächenphänomenen auf.

Die Entwicklungsdynamik der Weltwirtschaft selbst trieb die „Globalisierung“ an ihre Grenzen. Sie war selbst Resultat einer veränderten Weltordnung – des Sieges der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg und der Restauration des Kapitalismus in China, Russland und Osteuropa, aber auch eine Antwort auf die inneren Krisentendenzen des Kapitalismus – den Fall der Profitraten in den Weltzentren und eine strukturelle Überakkumulation des Kapitalismus. Die Expansion des Weltmarktes, die Verlagerung der Produktion in Länder mit geringeren Lohnkosten und Umweltstandards, die „Flucht“ in Finanzmärkte und der Aufbau spekulativer Blasen, die Zerschlagung von Rechten der organisierten Arbeiter:innenklasse und damit einhergehende Erhöhung der Ausbeutungsrate bildeten allesamt Faktoren, die zeitweilig die Profitabilität des Kapitals erhöhten.

Doch sie konnten seine inneren Widersprüche nicht beseitigen. Die Finanzkrise 2008 und die folgende Rezession markieren den Beginn einer Krise der Globalisierungsperiode selbst, die von einer zunehmenden Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten geprägt war und ist. Die globale Rezession 2020 und die Corona-Pandemie vertieften diese Tendenz noch einmal massiv und signalisieren ihr Ende.

Der Aufstieg Chinas schien lange die Internationalisierung der globalen Produktion und Wertschöpfungsketten nur in eine Richtung vorangetrieben zu haben. Der Aufstieg zur zweitgrößten imperialistischen Macht und zum zentralen Herausforderer des niedergehenden Hegemons USA spiegelt diese Veränderungen der Weltwirtschaft wider. Zugleich trug die Expansion des chinesischen Kapitals auch wesentlich dazu bei, die Bedingungen zu schaffen, auf denen die Konkurrenz selbst nicht mehr die Ausdehnung des Weltmarktes beförderte, sondern dessen Krise und Kontraktion. Anstelle der „Partner:innenschaft“ trat die Formierung konkurrierender Blöcke.

Auch Russland schien für einige Zeit, ein wichtiger, strategischer Partner vor allem für den deutschen und französischen Imperialismus zu werden. Kohl und Mitterrand, vor allem Schröder und Chirac setzten mehr oder weniger offen auf eine Achse Berlin-Paris-Moskau als globales Gegengewicht zu den USA – eine Achse, die natürlich von den beiden westlichen Mächten dominiert werden sollte. Heute erscheint das als Projekt einer weit entfernten Vergangenheit. In Wirklichkeit wurden diese Ziele erst 2013/14 nach dem Maidan und schließlich mit dem Krieg um die Ukraine begraben.

Aus den G8 wurden die G7 – aus einem angeblichen Auslaufmodell ein Instrument zur Koordinierung und Zusammenführung der gemeinsamen Interessen der wichtigsten, westlichen imperialistischen Mächte.




G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?

Veronika Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

Turnusgemäß findet vom 26. – 28. 6. 2022 wieder ein G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft statt. Tagungsort ist wie bereits vor 7 Jahren das Luxushotel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen. Die Klimapolitik, Weltwirtschaft und der weitere Umgang mit der Corona-Pandemie sollten eigentlich im Zentrum des diesjährigen Treffens der Staatschefs der führenden westlichen Industrienationen stehen. Der Kampf um die Ukraine wird es jedoch prägen. Mehr denn je wird der Charakter der G7 als Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt in den Vordergrund drängen. Schien es noch vor einigen Jahren, als wäre das Format nicht mehr „zeitgemäß“, so gewinnt der Gipfel wieder an Bedeutung – und zwar als mehr oder weniger unverhohlenes Treffen einer Mächtegruppe, die sicherstellen will, dass sie auch die zukünftige Weltordnung bestimmt.

Die sieben Staaten stehen allesamt ganz weit oben auf der Liste der größten Klimakiller, engstirnigsten Vertreter des Impfstoffnationalismus und größten Militärmächte der Welt – um nur einige Eckdaten der Leistungen dieser illustren Runde aufzuzählen. Und ausgerechnet sie präsentiert sich als „Retterin“ des Klimas, der Gesundheit, der Weltwirtschaft, von „Freiheit“ und „Demokratie“.

Umso wichtiger ist deshalb auch die Gegenmobilisierung durch alle linken und progressiven Kräfte gegen diesen erlesenen Club führender kapitalistischer Nationen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse und der halbkolonialen Welt beruht.

Wer mobilisiert wogegen?

Bisher haben sich mehrere Dutzend Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem ökologischen, kommunistischen, kapitalismuskritischen, antirassistischen und antimilitaristischen Spektrum zu einer Plattform zusammengefunden, die das Treffen der G7 nicht ungestört über die Bühne gehen lassen will. Neben Parteien wie DKP und DIE LINKE sind bisher u. a. auch mehrere lokale FFF- und XR-Gruppen, bundesweite Organisationen wie SDAJ, Linksjugend [’solid], SAV, ISO, Arbeiter:innenmacht, Revolution, Aktivist:innen aus der Mieter:innenbewegung, Perspektive Kommunismus, der Funke und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus beteiligt.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenmobilisierung, anders als vor sieben Jahren oder auch gegen den G-20-Gipfel in Hamburg, letztlich von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) faktisch dominiert wird, darunter Greenpeace, BUND, Campact, WWF, Oxfam, Naturfreunde, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und attac.

Rolle der NGOs

Schon zu Beginn hat sich in den Gesprächen ihr Alleingang angedeutet. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie ihren Status als gemeinnützige Organisationen riskieren, sollten sie gemeinsam mit Parteien und „Linksradikalen“ zu Aktionen aufrufen. Ein weiterer Streitpunkt ergab sich in der Frage der Gewalt bzw. einer klaren Distanzierung der NGOs von Gruppen, die militante Protestformen nicht bereits im Vorfeld ausschließen.

Über mehrere Wochen kam Gegenmobilisierung daher nicht voran, bis am 6. März die Karten auf den Tisch gelegt wurden. Von den NGOs wurden alle übrigen Gruppen davon in Kenntnis gesetzt, dass die anvisierte Großdemonstration am 25. Juni in München, also die sicherlich größte Aktion, von ihnen selbst geplant wird. Der Rest könne sich jedoch gerne einem Aufruf anschließen.

Man sei sich dessen bewusst, so die Vertreterin von Greenpeace und Sprecherin der an der Plattform beteiligten NGOs, dass man an dieser Stelle undemokratisch agiere, es bleibe ihnen aber aus genannten Gründen keine andere Wahl. Die Demonstration wird nun von einem Trägerkreis allein aus NGOs organisiert und „verantwortet“. Ergänzt soll dieser durch einen „Unterstützerkreis“ werden, der Einzelpersonen verschiedener Milieus einbindet – natürlich nur nach einem vorhergehenden Check durch die NGOs.

Ihr provokatorisches und putschistisches Vorgehen führt nun erneut – wie bereits im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 in Hamburg – zu einer Schwächung sowohl der Proteste als auch der Mobilisierung. Doch damals war es ihnen nicht möglich, das Bündnis zu übernehmen. Diesmal konnten sie die Großdemonstration kapern.

Wir verurteilen dieses undemokratische Vorgehen und die bewusst herbeigeführte Spaltung aufs Schärfste, nimmt es doch allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die politische Gestaltung der zentralen Großdemonstration in München zu nehmen.

Das Manöver der NGOs, selbst ein direkter Kotau vor Regierung und reaktionärer Gesetzgebung, hat freilich weitgehendere politische Gründe. Während die linken Kräfte die Legitmität der G7 selbst zurückweisen und deren Gipfel als Treffen einer imperialistischen Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt begreifen, betrachten erstere die G7 ganz wie die Bundesregierung als (mögliche) Partnerinnen bei der Verbesserung der Welt. Die Kontrolle von Demo, Aufruf und politischer Ausrichtung soll also nicht nur die zukünftigen Spendenkassen von Greenpeace und Co. schützen, sondern vor allem auch all jene Kräfte marginalisieren, die die G7 und kapitalistische Weltordnung grundsätzlich ablehnen!

Aus diesem Grund müssen die Erwartungen an eine schlagkräftige Protestbewegung schon jetzt relativiert werden. Die NGOs bringen zweifelsohne Geld und weitere Ressourcen auf, behalten sich aber das Recht vor, die Demo nach ihren Wünschen auszurichten. Alle anderen Gruppen und Organisationen sind gewissermaßen die nützlichen Idiotinnen, die die wirkliche Mobilisierungsarbeit übernehmen. Zusammengefasst dürfen sie also die Hauptlast tragen, während die NGOs ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufbieten und die Hoheit über die politische Ausrichtung der Demonstration ausüben.

Eigenständige Mobilisierung

Ein schlagkräftiges „Bündnis“ sieht anders aus. Trotz Dominanz der NGOs wäre es jedoch ein Fehler, die Demonstration am 25. Juni in München rechts liegenzulassen. Trotz ihrer mutmaßlich politisch kleinbürgerlichen bis reformistischen Ausrichtung werden wahrscheinlich Zehntausende nach München kommen. Diese müssen wir als Revolutionär:innen, Antikapitalist:innen, antiimperialistischen und Klassenkämpfer:innen zu erreichen versuchen. Daher werden wir auf jeden Fall mit einem eigenen Aufruf, eigenen Parolen, eigenem Material dafür mobilisieren. Wir werden uns auch der geplanten Gegendemonstration am 26. Juni in Garmisch-Partenkirchen anschließen und hoffen, dass das geplante Protestcamp und Workshops zur Diskussion und Aktionsplanung stattfinden können.

Angesichts der aktuellen krisenhaften Zuspitzung der Weltordnung und Weltwirtschaft müssen wir die Gegenmobilisierung nutzen, um eine Bewegung gegen Krise, Militarisierung und Krieg aufzubauen. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung in den Betrieben, Schulen, Vereinen, an den Universitäten und in den Kulturstätten – unsere Organisierung muss jetzt beginnen!




US-Außenpolitik unter Biden: Zurück in die Zukunft?

Jürgen Roth, Neue Internationale 253, Februar 2021

Joe Biden und sein Außenminister Tony Blinken treten ihr Amt in einer schweren Phase an, auf dem Hintergrund einer heftig in die Krise geratenen Volkswirtschaft.

Wirtschaftsprognosen

Im 9. Monat der Corona-Pandemie übernahm der neue Präsident neben knapp 15 Millionen Infektionsfällen und 300.000 Toten eine soziale Krise historischer Dimension. Im Juni letzten Jahres prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Rückgang des US-BIP um 8 %. Mehrere Ausgabenpakete infolge der Corona-Krise könnten das Defizit des Bundeshaushalts auf das höchste Niveau seit dem Zweiten Weltkrieg ansteigen lassen. Zusätzlich trifft dieses auf einen historisch hohen Schuldenstand: 2009 lag der Anteil der öffentlichen Schulden am BIP auf Bundesebene bei 52 %, 2019 bei 79 %; 2020 könnte dieser Wert auf 101 % hochschnellen.

Verteidigungs- und außenpolitisch spielte das jeweilige politische Umfeld stets eine größere Rolle für die Ausgaben als die wirtschaftliche Lage, zumal die USA viel größere Spielräume beim Schuldenmachen haben als andere Länder aufgrund der Stellung des US-Dollar als führendes Weltgeld. So blieben die Verteidigungsausgaben nach der globalen Finanzkrise 2008 auf hohem Niveau und stiegen unter Trump wieder deutlich an. 2018 kam eine vom Kongress eingesetzte Expertenkommission jedoch bereits zum Schluss, dass sich die USA am Rande einer „strategischen Insolvenz“ befänden, ihre militärische Dominanz also nicht länger überall dauerhaft wahren könnten.

Unter dem Schlagwort „principled realism“ (prinzipienfester Realismus) setzte sich eine einseitige, unilateralistische Tendenz in der Außenpolitik unter Trump durch: nationale Abschottungsmaßnahmen gegen Corona, Schutzzollpolitik, Infragestellung multilateraler Institutionen wie der WHO, Rückzug aus internationalen Initiativen zur Bewältigung der Krise. Um abschätzen zu können, wie weit sich die neue Außenpolitik von der unter Trump unterscheiden wird, müssen wir zunächst einen Blick auf die Vergangenheit werfen.

Weltordnung

Jahrzehntelang war die US-Außenpolitik von einem parteiübergreifenden Konsens geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich beide großen bürgerlichen Lager einig, dass die USA offensive Weltpolitik betreiben müssten, um den „Kommunismus“ zu besiegen. Damit wurde das vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten starke isolationalistische Lager („America First!“) marginalisiert. Dieser Konsens überdauerte zunächst das Ende des Kalten Krieges. Das Geflecht professioneller AußenpolitikerInnen – von einem Berater Obamas Blob genannt -, die ständig zwischen Regierung, Denkfabriken und Rüstungsfirmen hin- und herwechseln, war sich bewusst, dass die USA politisch und militärisch globale Führungsmacht bleiben, die internationale liberale Ordnung verteidigen und ausweiten, ihre GegnerInnen wie die „Schurkenstaaten“ Iran und Nordkorea oder „revisionistische“ Mächte wie Russland bekämpfen müssten. Diese „liberale Hegemoniestrategie“ des außenpolitischen Establishments sah also eine Stärkung internationaler Organisationen (NATO, WTO) vor und definierte das Nationalinteresse der USA in der Etablierung einer Weltordnung nach amerikanischen Vorstellungen, in deren Institutionen die USA als wirtschaftlich und militärisch stärkstes Land als Bestandteil einer solch „offenen“ Ordnung automatisch an der Spitze ständen.

Diese Sichtweise wird nach dem Scheitern des „Kriegs gegen den Terror” (Irak, Afghanistan) und dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht zunehmend angezweifelt. Erst unter Trump erlangte die isolationistische Strömung innerhalb der Republikanischen Partei, die in den 1990er Jahren wieder sichtbar wurde (Patrick Buchanan), die Oberhand. Er brach tatsächlich mit diesem langjährigen außenpolitischen Konsens. Nationale Alleingänge, Abkehr von WTO und NATO sollten das Aufgeben der Führungsrolle der USA im Einklang mit anderen Großmächten flankieren. Trump geriet deshalb nicht zum Kriegsgegner. Seine isolationistischen Instinkte fanden ihre Grenze am Staatsapparat, an der Tatsache, dass ihre Macht immer noch auf globalem Freihandel, Dollar-Dominanz und militärischer Stärke basierte. An den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten störte ihn vor allem, dass sie verloren wurden. Trump trat damit in gewisser Weise in Obamas Fußstapfen. Dieser mahnte bereits einen langfristigen Rückzug aus o. a. Region an zugunsten einer Konzentration auf eine bewusstere Steuerung der Globalisierung, um die industriell-technologische Vormachtstellung gegen China zu verteidigen. Letzteres ist inzwischen parteiübergreifend akzeptiert.

Handel als Waffe

Seit die globale Dominanz des Westens erschüttert ist, werden Freihandelsabkommen als das gesehen, was sie immer auch schon waren: nicht bloß Instrumente des Wirtschaftswachstums, sondern Mittel zur Festigung politischer Macht. Als ein solches betrachten die Westmächte auch die Freihandelszone RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership; Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft) in Asien, die 15 Staaten, 30 % der Wirtschaftsleistung und ein Drittel der Weltbevölkerung unter Chinas Einfluss bringt. Doch auch Marshallplan und Truman-Doktrin waren zwei Seiten derselben Medaille. Bis Mitte der 1990er Jahre deckte das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) 80 % des Welthandels ab. Seine Nachfolgerin, die Welthandelsorganisation WTO, erwies sich als weniger erfolgreich: eine weitergehende Handelsliberalisierung scheiterte daran, dass die Interessen des Clubs, der 50 Jahre die Geschicke der Weltwirtschaft mitbestimmt hatte, im Zuge des Aufkommens neuer Rivalen (China, Russland) nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Die ab 2010 von den USA inszenierten Abkommen TTP und TTIP zielten bereits weniger auf globale Regeln als auf eine Ordnung, die sich um konkurrierende Wirtschaftsblöcke gruppierte, um insbesondere Normen für neue Technologien im Interesse von EU und v. a. USA durchzusetzen.

Handels- und Militärpolitik in Asien

TTIP sollte als „Wirtschafts-NATO“ dienen (Hillary Clinton), TTP verfolgte mit der Schaffung eines großen Wirtschaftsraums die Schwächung des chinesischen Einflusses in der Pazifikarena. Beide „Freihandels“abkommen waren nach dem Muster gestrickt: EBC (Everyone But China; alle außer China)!

Ihr Scheitern war in geringerem Maße auf breite Massenproteste zurückzuführen als auf die neue US-Regierung. Trump stieg aus den Verhandlungen zugunsten bilateraler mit einzelnen Staaten aus. Es bleibt unklar, inwieweit Biden unter dem Eindruck der RCEP-Gründung einem nachverhandelten TTP beitreten wird. Er dürfte in Verhandlungen mit Chinas Anrainern (Taiwan, Japan, Vietnam), aber auch traditionellen Verbündeten wie Australien ein Einfallstor in diese Region suchen.

Dabei wird er sicherlich mit Garantien für den Kriegsfall durch die weltgrößte Militärmacht wuchern können und damit auf neuer Stufenleiter beweisen, dass Welthandel im Zeitalter des Imperialismus keine friedliche internationale Arbeitsteilung bedeutet, sondern eine Frage von Macht und Krieg bleibt.

Schutzzoll gegen China

Dieser hat weder der US-Wirtschaft genutzt noch der VR China ernsthaft geschadet. Die 10 Länder der ASEAN-Gruppe (Association of Southeast Asian Nations; Verband Südostasiatischer Nationen) haben mittlerweile die USA als größte Handelspartnerinnen der Volksrepublik abgelöst. China erzielte im Dezember 2020 ein Rekordhoch beim Exportüberschuss. Das 2016 gegebene Versprechen Trumps, das Handelsdefizit mit China drastisch zu senken, führte im Jahr 2020 zu einem Rückgang um 310 Mrd. US-Dollar im Vergleich zu 2019. Es liegt aber immer noch höher als zu Beginn seiner Amtszeit.

Die Importzölle haben auch nicht zu einer Abkehr der US-Industrie von China geführt, zu ihrer Rückkehr in „Gottes eigenes Land“. Auch die Hoffnung auf den Ersatz von Importwaren durch eigene Erzeugnisse hat sich zerschlagen. An die Stelle chinesischer Einfuhren traten viel eher solche aus Mexiko und Vietnam. Das weltweite Handelsdefizit der USA kletterte 2020 auf ein Rekordhoch von 900 Mrd. US-Dollar.

Bidens Mannschaft zieht folgende Lehren aus dem Scheitern der Strategie seines Vorgängers: China ist bereits zu groß, als dass man es einfach aus dem Weltmarkt herausdrängen könnte. Zudem brauchen die USA die Volksrepublik als zukünftigen Absatzmarkt und Produktionsstandort. Statt auf Zölle und unilaterale Handels-Deals wird die US-Regierung auf einen neuen Anlauf setzen, um die multinationale Handelsordnung mit einem Viertel der globalen Wirtschaftsleistung weiterhin zu dominieren.

Dies ist ein Angebot an die EU, aber auch andere Länder (Australien, Japan, Kanada usw.). Es enthält aber auch die Forderung, die US-Führung zu akzeptieren und Alleingänge zu unterlassen (Pipeline Nord Stream 2, Investitionsabkommen zwischen EU und VR China Ende 2020). Gleichzeitig enthält es aber auch ein Eingeständnis: dass die USA nicht mehr stark genug sind, um das „Reich der Mitte“ in die Knie zu zwingen! Was ihn von seinem Vorgänger unterscheidet, ist also nicht das Ziel, sondern sind die Mittel, um es zu erreichen.

Europa und Amerika

Auf der EU-Außenministerkonferenz am 7.12.2020 griff Heiko Maas diese Vorstellung von einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft wider China wohlwollend auf. Der Hohe Beauftragte der EU, Joseph Borrell, bekräftigte, man müsse den Wunsch der Vereinigten Staaten erfüllen und mehr „Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten“ übernehmen.

Während Maas betonte, den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO stärken zu müssen, was für die BRD die Anhebung ihrer Verteidigungsaufgaben bis 2024 auf 1,5 % des BIP bedeute, um dem vom transatlantischen Militärbündnis geforderten Ziel von 2 % näherzurücken, setzte Borrell mehr auf eine strategisch-konstruktive eigenständige EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Diese sei Voraussetzung für ein wiederbelebtes enges transatlantisches Verhältnis, das mehr denn je die gewachsene Rolle Chinas als Hauptwidersacher der USA berücksichtigen müsse.

Dieses Bündnis hält der handelspolitische Sprecher der Linkspartei im Europäischen Parlament, Helmut Scholz, für überholt. Eine glaubhafte Handelspolitik gegenüber den USA müsse auf einer regelbasierten multilateralen und fairen Welthandelspolitik im Rahmen und durch die Veränderung der WTO setzen. Träumt Joseph Borrell davon, mit den großen Mächten geostrategisch auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können, erweist sich der Sprecher der Linkspartei als sozialchauvinistischer Gesundbeter der EU. Weder WTO noch EU lassen sich in Pilgerstätten sozialer Gerechtigkeit umdeuten, noch hat es der europäische Staatenverbund auf dem Feld gemeinsamer Rüstungs-, Militär- und Außenpolitik bislang zu mehr als kümmerlichen Ansätzen gebracht.

Joe Biden, ein glühender Verfechter der Irakkriege, wird auch andere Gegenspieler der USA wie Russland, Iran oder Nordkorea aufs Korn nehmen und sich nicht von ihren verteidigungspolitischen Bündnissen in Europa und Asien distanzieren. Die multiple Krise wird allerdings Konflikte mit Bündnispartnern – nicht zuletzt Deutschland – weiterhin offen und teilweise heftiger austragen lassen, wenn es um Lastenteilung geht!

Widersprüche

Die USA sind immer weniger interessiert daran, traditionelle Verbündete privilegiert zu behandeln. Die verzweifelte Suche der EU nach „strategischer Autonomie“, nach eigenständigeren Machtmitteln ist in Zeiten verschärfter Konflikte um die Neuaufteilung der Welt objektiv geboten, will sie sich nicht aus diesem Wettrennen verabschieden. Realistischer ist folglich nicht eine Stärkung, sondern Schwächung der Europäischen Union – auch unter einem Präsidenten Biden. Diese Spaltung entlang der Kraftlinien der beiden Weltmagnete wird in der unmittelbar vor uns liegenden Periode verschärft zutage treten. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erteilte so jüngst – der Maas’schen Position ähnlich – in einer Grundsatzrede den „Illusionen über eine strategische Autonomie“ eine drastische Abfuhr. Militärisch sei Europa weiter auf die USA angewiesen. Man müsse eine „gemeinsame Agenda“ im Umgang mit der VR China finden. Sie fügte allerdings hinzu, dort, „wo es unseren Interessen dient“. Zugleich ist China neben den USA Deutschlands wichtigster Handelspartner. Das weiß auch ein beträchtlicher Teil der hiesigen Großkonzerne.

Diese inneren Widersprüche machen die Rückkehr zu einem geschlossenen westlichen Bündnis unter amerikanischer Führung, ähnlich jenem der ersten 5 Nachkriegsjahrzehnte, objektiv unmöglich. Während mit China der gemeinsame Hauptrivale feststeht, wird die beschworene Widerherstellung der PartnerInnen schaft USA-EU selbst konflikthaft bleiben. Im Moment haben aufgrund der Rivalität zu China wie auch aufgrund ihrer eigenen inneren Probleme sowohl die europäischen Führungsmächte als auch die USA ein Interesse, ihr Verhältnis kooperativer zu gestalten, gegenüber der Trump-Zeit zu „normalisieren“. Dies ändert freilich nichts an den Rissen und Gegensätzen. Wie diese ausgetragen werden, ist offen – doch ausgetragen werden sie.




Die Krise der Globalisierung und die sozialistische Revolution

Ein Aktionsprogramm für die internationale Revolution

11. Kongress der Liga für die Fünfte Internationale, Juni 2019

Einleitung

Der Optimismus, der auf den Feiern zur Jahrtausendwende verbreitet wurde, ist schon lange verflogen. Zwei furchtbare Kriege und Besatzungsregimes sowie eine große Wirtschaftskrise haben das Vertrauen erschüttert, das ExpertInnen und JournalistInnen damals in die Globalisierung und die Neue Weltordnung gesetzt hatten. Heute, am Ende des zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, besteht nur wenig Anlass zu Optimismus. Neben Handelskriegen werden an den Grenzen Europas und Nordamerikas Mauern und Stacheldrahtzäune hochgezogen und multilaterale Verträge und Institutionen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.

Vom Weißen Haus aus torpedierte ein Leugner des Klimawandels praktisch das Pariser Abkommen, das auch nur einen halbherzigen und ungenügenden Versuch der kapitalistischen Welt darstellt, die globale Umweltkatastrophe zu verhindern. Es ist heute klarer denn je, dass dies nur der Sozialismus erreichen kann. So stehen wir in den kommenden Jahrzehnten nicht nur vor einem neuen Kalten Krieg, der zu heißen, regionalen Kriegen führen kann und der nächsten großen Wirtschaftskrise, sondern auch vor der Gefahr, dass in großen Landstrichen die Lebensmittelproduktion von Dürreperioden bedroht ist, was zu Hungersnöten und zur Ausbreitung von Seuchen führen kann. Unwetterkatastrophen nehmen bereits jetzt zu und mittelfristig sind Küstenstädte mit 15-20 Millionen EinwohnerInnen von Überschwemmungen bedroht.

Für Trump und einen Teil der herrschenden Klasse in den Vereinigten Staaten ist das vorrangige Problem das drohende Ende der unangefochtenen Vorherrschaft der USA, die diese von 1989 bis 2008 inne hatten – unabhängig davon, wie hoch die Kosten für den Weltfrieden, für das wirtschaftliche Wohlergehen von Milliarden Menschen oder für die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit waren. Tatsächlich war die sogenannte „neue Weltordnung“ der Globalisierung, die sich auf die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) stützte, zugleich eine, in der diese Institutionen nach der nordamerikanischen Pfeife tanzten.

Diese Anfangsphase der Globalisierungsperiode, in der die USA unangreifbar erschienen, erzeugte jedoch zwangsläufig ihre eigenen Widersprüche. Insbesondere, weil in dieser Phase auch Russland und China als neue imperialistische Mächte auftauchten. Die Wiederherstellung des Kapitalismus vollzog sich in diesen ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten auf sehr unterschiedliche Weise. In Russland ermöglichte die „Urknall“-Zerstörung der zentralen Planwirtschaft eine Form der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals durch eine Schicht ehemaliger DirektorInnen, FunktionärInnen und Krimineller, die zum fast vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaft führte. Dieses Schicksal wurde nur dadurch abgewendet, dass unter Wladimir Putin die Schlüsselinstitutionen der alten Staatsmaschine, die Sicherheitsorgane, die Ordnung wieder herstellten. Dies erlaubte dem russischen Staat langsam, aber sicher, die innere Opposition zu zerschlagen und sich international wieder zu stabilisieren. Wie das alte zaristische Russland, so verdankt auch das heutige kapitalistische Russland seinen Status als Großmacht und damit als imperialistische Macht nicht seiner wirtschaftlichen Stärke, sondern vor allem seiner militärischen Potenz.

In China entschied sich die Führung der Kommunistischen Partei, die im Gefolge des Massakers auf dem Tian’anmen jeden inneren Widerstand zerschlagen und zugleich den Zerfall der Sowjetunion beobachtet hatte, dafür ihre eigenen Herrschaft durch eine systematische Abwicklung der Planwirtschaft, durch die Umwandlung der staatlichen Großindustrie in staatskapitalistische Konzerne und durch die Privatisierung kleinerer Unternehmen zu sichern. Damit verbunden beschloss sie die Wiedereinführung privater Landwirtschaft und Kleinindustrie in den riesigen ländlichen Gebieten sowie die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investitionen in den Küstenprovinzen. Diese Formel erlaubte die längste und nachhaltigste Periode von kapitalistischer Entwicklung in der Geschichte, bei der rund 200 Millionen Bauern und Bäuerinnen in ein neues Industrieproletariat umgewandelt wurden. Dessen massive Ausbeutung erzeugte das notwendige Kapital, um die wirtschaftliche Basis Chinas selbst zu transformieren und gleichzeitig das Land als einen wichtigen Faktor in der Weltwirtschaft zu etablieren, wo es heute hinter den USA an zweiter Stelle steht. Seine Fähigkeit, die Krise von 2008/09 nicht nur zu überstehen, sondern sogar gestärkt aus ihr hervorzugehen, bestätigte Chinas Status als Großmacht, als imperialistische Macht – als eine Macht, die jetzt versucht ihre wirtschaftliche Stellung zu halten und auszubauen, indem sie ihren Einfluss weltweit entfaltet.

Die Erholung Russlands unter Putin und der Aufstieg Chinas unter der Kommunistischen Partei Chinas haben die absolute Dominanz der USA beendet. Die daraus resultierenden Reibungen und Rivalitäten erhöhen die Gefahr von Kriegen, ja selbst eines Weltkrieges zwischen Großmächten. Wie schon zweimal im letzten Jahrhundert steht die Menschheit wieder vor einer Periode, in welcher sich die Alternative so stellt wie es Rosa Luxemburg formulierte: „entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.“

Auch Lenins „Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus“ erweist sich mit seiner Beschreibung desselben als Epoche des „besonders intensiven Kampfes um die Teilung und Neuaufteilung der Welt“ wieder einmal als erstaunlich treffend. Die Entstehung zweier neuer imperialistischer Mächte, Russland und China, im neuen Jahrtausend hat die von den Bushs und Clintons verkündete „neue Weltordnung“ destabilisiert. Die Geschichte scheint doch nicht zu Ende zu sein und der Neoliberalismus wird heute, zumindest als Ideologie, sowohl von der rechten als auch von der linken Seite an den Pranger gestellt: Er wird weithin für die Übel verantwortlich gemacht, die mit diesem Zusammenbruch einhergingen. Nicht nur in Ost- und Südasien und Lateinamerika, sondern auch in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten entwickelt sich das aggressive und anmaßende nationalistische Auftreten der rechten DemagogInnen. Alles hängt jetzt von einer Wiederbelebung einer kämpferischen ArbeiterInnenbewegung ab, um sie in Schranken zu weisen und ihre Angriffe rückgängig zu machen.

Donald Trumps „America First“ oder das „Take back control“ der britischen Brexit-BefürworterInnen sind die prägnantesten Parolen einer wachsenden Liste „starker“ FührerInnen wie Viktor Orbán, Matteo Salvini, Recep Tayyip Erdoğan, Mohammed bin Salman, Narendra Modi, Xi Jinping, Rodrigo Duterte, Jair Bolsonaro. Rassistische populistische Parteien sind in Europa auf dem Vormarsch: Frankreichs Rassemblement National, die Alternative für Deutschland (AfD), die „Schwedendemokraten“ und die italienische Lega. Viele der links von der Mitte stehenden Parteien, die in der Ära von Clinton, Schröder und Blair, sowie von Lula und Chávez in Lateinamerika, zu triumphieren schienen, kamen nicht an die Regierung oder konnten sich nicht an der Macht halten. Im Nahen Osten sind die demokratischen Hoffnungen des Jahres 2011 und des Arabischen Frühlings, in dem Millionen auf die Straße gingen und Diktatoren stürzten, von der totalen Barbarei in Libyen, Syrien und Jemen verdrängt worden, während der Irak und Afghanistan sich nicht von den Invasionen und Besetzungen von 2002/2003 erholen konnten.

Die westlichen Medien, die einst ihren Blick auf den ägyptischen Tahrir-Platz gerichtet hatten, verschließen heute die Augen, wenn General Abdel Fatah El-Sisi weitaus brutaler vorgeht als damals Mubarak. Er begann seine Herrschaft mit dem Massaker an 817 DemonstrantInnen auf dem Rabaa al-Adawiya-Platz in Kairo und hat sie für den Preis von 60.000 politischen Gefangenen und verschwundenen Menschen aufrechterhalten. Doch all das wird ausgeblendet. Auch der mordende saudische Kronprinz bleibt ein geschätzter Verbündeter der USA, Großbritanniens und der westlichen Unternehmen, deren Auslandsinvestitionen zu einem Quell der Unterstützung für den Diktators geworden sind.

Die Hoffnungen der „neuen“ Linken dieser Ära, der AntikapitalistInnen, der PopulistInnen und der SozialistInnen des 21. Jahrhunderts, sind verblasst oder zusammengebrochen ebenso wie die Erinnerungen an die Gipfelbelagerungen, die Welt- und Regionalsozialforen und die Occupy-Bewegung, die durch den Arabischen Frühling inspiriert worden war. Die Tiefe und die Länge der Großen Krise 2008–10 und ihrer Folgezeit stellten die Ideen von Horizontalismus, „direkter Aktion“ und Neo-Utopismus auf den Prüfstand und befanden sie jeweils nach zwei oder drei Jahren alle als untauglich. Eine Neuauflage des linken Reformismus und Neo-Keynesianismus wurde in Griechenland ausprobiert und wird noch in den USA und Westeuropa versucht, aber mit engeren, national begrenztem Horizont und bescheidenen Zielen, die es nicht wagen, den Kapitalismus selbst in Frage zu stellen.

Der Wendepunkt in der Weltlage war die Krise ab 2008. Die Liga für die Fünfte Internationale hielt auf ihrem Kongress 2010 fest, dass damit eine längere Periode eröffnet worden war, die erneut von der historischen Krise des Kapitalismus bestimmt sein würde. Ja, wir hatten dies in den Jahren vor dem eigentlichen Ausbruch der Krise vorhergesagt und diese Vorhersage mit der deutlich sichtbaren Überakkumulation des Kapitals und dem starken Rückgang der Profitrate in den alten kapitalistischen Zentren begründet.

Wir haben vorausgesagt, dass auf die Rezession eine schwache Erholung und eine anhaltende Stagnation in den imperialistischen Kernländern der USA und der Europäischen Union folgen würde. Die anhaltende und sich vertiefende soziale und politische Krise der Europäischen Union, die nicht nur ihre deutsch-französische Führung, sondern auch ihr Überleben als solches in Frage stellt, hat dies bestätigt. Gleiches gilt auch für die regionalen Rezessionen, wie sie Lateinamerika und Südafrika, unter anderem aufgrund der nachlassenden Wachstumsraten Chinas, heimgesucht haben.

Neben diesen wirtschaftlichen Folgen erklärte die Liga, dass diese Krisenperiode die politischen Parteien und Gewerkschaftsorganisationen der ArbeiterInnenklasse auf den Prüfstand stellen würde. Ein Jahrzehnt später müssen wir nun feststellen, dass sie diese Prüfung nicht bestanden haben. Im Großen und Ganzen waren ihre FührerInnen nicht bereit, die kapitalistischen Wurzeln dieser tiefen sozialen Krise zu erkennen und daher nicht in der Lage, wirksamen Widerstand gegen ihre Folgen zu leisten, die auf dem Rücken der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten abgeladen wurden.

Die Krisenperiode schrie nach radikalen, ja revolutionären Kampfmethoden: nach politischem Massenstreik, ArbeiterInnenkontrolle, Aktionskomitees und -räten, Enteignung und Sozialisierung der Produktion. Radikale Jugendliche und ArbeiterInnen der Basis reagierten so gut sie konnten mit heroischen, aber isolierten Kämpfen. Die Gewerkschaftsbürokratie hielt sich zurück und ließ diese Kämpfe an Erschöpfung und mangelnder Solidarität scheitern. Die Kernaussage dieser Ohnmacht der alten Massenorganisationen und auch der neuen, improvisierten Bewegungen war, dass ein alternatives politisches Programm auf der Grundlage der sozialistischen Transformation der Gesellschaft nötig ist oder wenigsten eine wirksame Strategie zur Lösung der Krise auf Kosten der herrschenden und ausbeutenden Klasse.

Dennoch sind diese Niederlagen und der Aufstieg der Rechten noch lange nicht das „Ende der Geschichte“. Wie in der Zeit der neoliberalen Globalisierung wird das gegenwärtige Kräftegleichgewicht durch seine inneren Widersprüche zusammenbrechen. Aufgrund des von ihnen hervorgerufenen Konkurrenzkampfes üben Handelskriege, Kalte Kriege, der Rüstungswettlauf sowie tatsächliche Kriege enormen Druck auf die ArbeiterInnenklasse und die Mittelschichten aus. Im kapitalistischen Konkurrenzkampf zwingen die Bosse ihre Belegschaften dazu, für den verschärften Wettbewerb zu bezahlen und erreichte wirtschaftliche und soziale Errungenschaften, Reallöhne und Arbeitsplätze zu opfern.

Hartnäckig niedrige Profitraten treiben die KapitalistInnen dazu, den Ersatz lebendiger Arbeitskräfte durch „Maschinen“, durch Digitalisierung, Robotisierung und künstliche Intelligenz zu beschleunigen. Anstatt ihr Potenzial zur Verkürzung der Arbeitszeiten und zur Befreiung der Menschen von anstrengenden und gefährlichen Formen der Arbeit zu nutzen, bedrohen diese technologischen Fortschritte die Existenzgrundlagen von Millionen „KopfarbeiterInnen“ und hochqualifizierten TechnikerInnen, genau wie frühere Fortschritte diejenigen der ProduktionsarbeiterInnen bedroht hatten.

Die Globalisierung und die Krise haben die ArbeiterInnenklasse verändert: ihre räumliche Verteilung, die Art der Branchen, in denen sie arbeitet, die Technologien und Kulturen, von denen sie geprägt ist. Sie haben aber auch zu ihrem absoluten Wachstum geführt. All dies spricht dafür, dass eine neue Ära des Klassenkampfes bevorsteht. Zweifellos wird es nicht nur radikal neue Formen des Kampfes geben, sondern auch die Wiederentdeckung derjenigen, die in der Vergangenheit notwendig waren. Was diese Kämpfe jedoch vor allem zeigen werden, ist, dass eine Strategie zur Machteroberung der ArbeiterInnenklasse notwendig ist und jede Strategie braucht StrategInnen, die sich in Parteien organisieren.

Darüber hinaus bedeutet die zunehmende Internationalisierung von Produktion, Finanzwesen und Handel, dass die neue Periode der imperialistischen und kapitalistischen Rivalitäten revolutionäre Situationen schaffen wird, die ganze Kontinente, ja die ganze Welt erfassen können. Niemals zuvor hat die ArbeiterInnenklasse ihren ureigenen Internationalismus mehr gebraucht als heute. Er ist notwendig, nicht nur um der Ausbreitung des nationalen Chauvinismus entgegenzuwirken, sondern auch um unsere Kräfte über Grenzen und Ozeane hinweg zu vereinen. Eine solche Entwicklung erfordert wieder eine internationale Führung, die über die nationale Engstirnigkeit hinausgeht, die die Lehren aus den vergangenen Niederlagen, aber auch den Siegen ziehen kann und diese dann auch verbreiten.

Kurz gesagt, die Ereignisse des kommenden Jahrzehnts werden einmal mehr die Wahrheit von Trotzkis Beobachtung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs bestätigen, dass „die historische Krise der Menschheit auf die Krise der revolutionären Führung zurückgeht“. Um diese Krise zu lösen, ist jede revolutionäre Gruppierung verpflichtet, ihren politischen Ausweis, also ihr Programm für die kommenden Kämpfe zur Überprüfung durch die militanten KämpferInnen vorzulegen. Dazu gehören auch die Taktiken, die notwendig sind, um revolutionäre Parteien in jedem Land wiederaufzubauen und sie zu einer neuen Internationalen, der Fünften, zu vereinen, die auf den Errungenschaften ihrer Vorgängerinnen aufbaut.

Eine anhaltende Krisenperiode

Das zaghafte Wachstums des Bruttoinlandsprodukts der Obama-Jahre erhielt 2017 durch Trumps Steuergeschenke einen gewissen Schub, was zu einem Boom an der Wall Street und steigenden VerbraucherInnenausgaben führte. Aber ein Großteil des Wachstums seit dem Finanzcrash von 2008 war auf einer Kombination aus Quantitative Easing (QE), der Politik der gelockerten Geldvergabe, und niedrigen Zinsen begründet. Die US-amerikanische Bundesbank Fed war sehr vorsichtig mit Zinserhöhungen, da schon eine Erhöhung des Leitzinses um 0,25 Prozent zu einem abgeschwächten Wachstums geführt hatte. Die gegenwärtige Rate liegt auf dem Niveau von 2,8%, auf das es langsam von den 0,25 Prozent des Jahres 2008 angehoben worden ist. Das ist nur die Hälfte des durchschnittlichen Zinssatzes seit 1971 und wird der Fed wenig Spielraum in der nächsten Krise lassen.

Sowohl kapitalistische als auch marxistische ÖkonomInnen prognostizieren den nächsten großen Abschwung der Weltwirtschaft für 2020. Dies geschieht nach einem Jahrzehnt, das von einer schweren Rezession geprägt war, gefolgt von einer langen Phase der Stagnation, unterbrochen von regionalen Krisen und einer fieberhaften Erholung auf der Grundlage von Krediten. Dies war verbunden mit einer stark zunehmenden Ungleichheit und einer Stagnation, wenn nicht sogar einem Rückgang der Reallöhne. Eine scharfe Wende im Handelskrieg zwischen den USA und China, eine durch den Brexit ausgelöste schwere Krise der EU oder anhaltende rezessive Ereignisse in den „Schwellenländern“ Brasilien, Argentinien, Südafrika, der Türkei usw. könnten einen weiteren schweren Crash auslösen. Kein Wunder also, dass die wirtschaftliche Erholung keine politischen Bedingungen geschaffen hat, die den derzeitigen Regierungen zugutekommen.

Die Verschuldung dürfte wieder einmal im Zentrum der kommenden Probleme stehen. Außerordentlich reichlicher und billiger Kredit war das Ergebnis der Art und Weise, wie die Zentralbanken die Große Rezession milderten, d.h. durch Quantitative Easing. Die US-Notenbank kaufte giftige Anlagepapiere in drei Wellen auf, bis in das Jahr 2017 hinein, was auch als „ Umverteilung von unten nach oben“ bezeichnet  worden ist (Reason Foundation, eine linksliberale US-Denkfabrik). Infolgedessen sind die US-VerbraucherInnen mit jeweils mehr als einer Billion Dollar in jedem der folgenden Bereiche verschuldet: Hypothekenkredite, studentischen Darlehen und Kreditkartenschulden. Die Verschuldung der Unternehmen ist zweieinhalb Mal so hoch wie 2008, ein Großteil der Firmen ist als „Subprime“ eingestuft, d.h. gefährlich überbewertet. Der in Dallas lebende Ökonom John Mauldin schätzt, dass sich die Schulden, die ungedeckten Pensionszusagen und die anderen Verbindlichkeiten auf dieser Welt auf fast „eine halbe Billiarde Dollar“ oder 500 Billionen Dollar summieren, was er als „nicht aufrechtzuerhalten“ bewertet.

Die negativen Langzeitauswirkungen des Crashs 2008 haben politische Reaktionen sowohl  der Rechten als auch der Linken gezeitigt. Der anhaltende Rechtsruck im politischen Kräfteverhältnis der letzten Jahren ist das Ergebnis des Scheiterns verschiedener Widerstandsbewegungen, unter anderem des Arabischen Frühlings, der lateinamerikanischen „Rosa Flut“ sowie der griechischen und anderer europäischer Anti-Austeritäts-Bewegungen. Er gipfelte in den Wahlerfolgen verschiedener rechter Persönlichkeiten auf der ganzen Welt. Zum Teil ist er auf Verrat der Führungen und auf strategische Fehler und Niederlagen der Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten zurückzuführen. Jetzt kann es keinen Zweifel mehr daran geben, dass die ArbeiterInnenbewegung, mit wenigen Ausnahmen, in der Defensive ist.

Rechtsgerichtete Regierungen und PräsidentInnen, allen voran Donald Trump, nutzen den bürgerlichen Staat, um Wohlfahrts-, Gesundheits- und Bildungssysteme zu zerschlagen und Dauerarbeitsplätze mit gewerkschaftlich ausgehandelten Löhnen durch unsichere Arbeit auf Basis von Armutseinkommen zu ersetzen. Einige, wie Bolsonaro, setzten sich offen das Ziel neoliberaler „Reformen“, d.h. den Abbau der Wohlfahrtsleistungen sozialdemokratischer Regierungen und sogar die Zerschlagung der ArbeiterInnen- und Volksbewegungen, die sich für sie eingesetzt haben. Solche Regierungen zielen darauf ab, demokratische Freiheiten und Gewerkschafts-/Arbeitsrechte zu zerstören, die in den letzten Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten erreicht worden sind.

In vielen Ländern beobachten wir auch den Aufstieg reaktionärer populistischer Straßenbewegungen, die auch an der Wahlurne Massenunterstützung gewinnen können, indem sie rassistische Demagogie benutzen und ArbeitsmigrantInnen, nationale und religiöse Minderheiten und Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, angreifen. Viele dieser Bewegungen zeigen zunehmend proto-faschistische Tendenzen einschließlich einschüchternder Straßenmobilisierungen und offenen Drohungen gegen die organisierte ArbeiterInnenbewegung. Wenn der ArbeiterInnen- und Volkswiderstand nicht wächst und effektiver wird, wird die nächste Wirtschaftskrise diese Trends verstärken. Deshalb müssen wir die Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse lösen.

Konflikte zwischen imperialistischen Staaten

Die Maßnahmen der herrschenden Klassen zur Verteidigung ihres eigenen Reichtums und Status’ gehen in zwei Richtungen. Wie schon immer bestehen sie aus einer Reihe von Angriffen auf den Lebensstandard und die Lebensbedingungen der ArbeiterInnenklasse und der ländlichen und städtischen Armen. Heute, wo sie die multilateralen Wirtschaftsvereinbarungen ignorieren oder verworfen haben, haben sie jedoch auch begonnen, sich gegenseitig die Kosten der Krise aufzuzwingen. Der Gipfel dieser Strategie stellt Trumps „Make America Great Again“ dar, seine Drohungen mit Handelskonflikten und Aufrüstung an die Adresse von China, Russland und indirekt auch der Europäischen Union. Trump hat die USA aus dem Streitschlichtungsorgan der Welthandelsorganisation WTO abgezogen und gedroht, diese ganz zu verlassen.

Insbesondere für China bedeutet weiteres Wachstum zwangsläufig die Dominanz der Vereinigten Staaten in immer mehr Regionen der Welt in Frage stellen. Dies verkörpert das Ziel von Xi Jinping, sein Land zu einer globalen Supermacht zu machen. Bei Auslandsinvestitionen in Süd- und Ostasien, in Lateinamerika und Afrika ist China bereits global aufgestellt. Im Jahr 2009 hat China die Vereinigten Staaten als Afrikas größter Handelspartner überholt, seine Unternehmen verdienen 180 Milliarden Dollar pro Jahr. Wer glaubt, dass Chinas einfach nur Entwicklungshilfe leisten wolle, sollte beachten, dass seine Zinssätze tatsächlich höher sind als die der Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank, IWF usw.) und dass Sri Lanka, als es mit seinen Kreditzahlungen in Verzug geriet, um eine riesige neue Hafenanlage in Hambantota zu bauen, verpflichtet wurde, diese für 99 Jahre an China zu vermieten – so wie Großbritannien Hongkong für 99 Jahre gepachtet hatte, was China sein „Jahrhundert der Demütigung“ nennt.

China baut auch seine Marine und seine Landstreitkräfte aus, um sein Besitz zu schützen, wenn es auch noch viele Jahre dauern wird, bis es mit den US-Flotten mithalten kann. Die informelle Allianz mit Russland hat dazu geführt, dass chinesische Kriegsschiffe bei Marinemanövern auftauchen, nicht nur im Nordpazifik, sondern auch im Mittelmeer und sogar in der Ostsee. Pekings Strategie besteht darin, lokale „starke FührerInnen“ zu fördern, die ihre Pläne befürworten wie die berühmte „neue Seidenstraße“-Initiative (OBOR, One Belt One Road: eine Zone, eine Straße), die Donald Trump so angeprangert hat. Dies deutet darauf hin, dass die OBOR in den kommenden Jahrzehnten zu einer Verwerfungslinie wird, entlang der es zu politischen Erdbeben und Eruptionen kommen kann.

Für die ArbeiterInnenklasse und ihre Verbündeten stellen keine der imperialistischen Mächte – weder die alten noch die neuen noch deren Bündnisse – historisch fortschrittliche Kräfte, ja nicht mal „kleinere Übel“ dar. SozialistInnen dürfen sich weder auf die Seite der einen noch der anderen stellen, egal ob „kritisch“ oder nicht. Natürlich ist es eine andere Sache, die Konflikte und Rivalitäten der imperialistischen Mächte untereinander taktisch zu nutzen. Wo immer Bewegungen gegen Repression und die Verweigerung demokratischer Rechte entstehen, sei es in den imperialistischen Ländern selbst oder in von ihnen abhängigen „Klientel“-Staaten, werden andere imperialistische Länder versuchen, sich mit diesen Bewegungen zu verbinden und diese für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. SozialistInnen können und müssen sich mit demokratischen und revolutionären Kräften solidarisieren, die gegen innenpolitische Repression, militärische Intervention oder wirtschaftliche Blockade kämpfen. Während wir einerseits solchen demokratischen Bewegungen das Recht zugestehen, sich finanzielle und militärische Mittel aus jeder möglichen Quelle zu beschaffen, warnen wir anderseits in jedem Fall vor der Illusion, dass die imperialistischen FeindInnen ihrer einheimischen FeindInnen ihre FreundInnen seien. Wir müssen nachdrücklich davor warnen, sich diesen falschen FreundInnen unterzuordnen und sich von ihnen instrumentalisieren zu lassen.

Kalte Kriege werden heißer

Die momentan ruhigen Konflikte zwischen den USA, der Europäischen Union und Russland drohen in dem Moment auszubrechen, in dem die jeweiligen ProtagonistInnen in innenpolitische Schwierigkeiten geraten. Die von Obama nach der russischen Besetzung der Krim 2014 eingeleitete Europäische Rückversicherungs-/Abschreckungsinitiative kostet im Haushaltsjahr 2018 10 Milliarden Dollar. Trotz aller feindseligen Äußerungen Trumps, die die EU-Länder verängstigen und zu höheren Militärausgaben treiben sollen, bleibt das militärische Bekenntnis der USA zur NATO mit fast 64.000 in Europa stationierten US-SoldatInnen nach wie vor stark. Trump hält auch an dem von der Obama-Administration begonnenen eine Billion Dollar teurem nuklearen Modernisierungsprogramm fest.

Die imperialistischen Mächte haben direkt oder indirekt in zwei Bürgerkriege in der Ukraine und in Syrien eingegriffen und sie blutiger und zerstörerischer gemacht. In der Ukraine förderten die USA eine ihrer „Farben-Revolutionen“, die darauf abzielte, die Reichweite der Nato weit in die Nachbarschaft Russlands auszudehnen. Die „Maidan-Revolution“ von 2014 war eine von reaktionären und rechten Kräften geführte Massenbewegung, die in einem, von faschistischen Milizen angeführten, Staatsstreich mündete, unterstützt durch das Pogrom von Odessa und dem Angriff auf die russischsprachigen Regionen im Osten. Dies hatte Putins Annexion der Krim zur Folge und führte zu 10.000 Toten und 1,7 Millionen Flüchtlingen. Die Rolle Russlands im anschließenden Bürgerkrieg zwischen Kiew und der Ostukraine war jedoch durch und durch reaktionär, da sie zur effektiven Ausschaltung der unabhängigen antifaschistischen und sozialistischen Kräfte führte, analog zur Vernichtung der revolutionär-demokratischen Kräfte in Syrien. Diejenigen Linken, die dem imperialistischen Russland nicht entgegentreten, können keine wirksame Anti-Kriegsbewegung führen.

Das Ergebnis ist, dass die gesamte Ukraine jetzt schrecklich verarmt und gespalten ist, von einem nationalistischem Antagonismus geplagt wird, von Faschisten verseucht ist und von korrupten OligarchInnen ausgebeutet wird. Gegen Russland hat der Westen Sanktionen verhängt und ein neuer Kalter Krieg brach aus, der Putins Ansehen als starker Führer, der sein Land gegen die Aggression der USA und der EU verteidigt, vorübergehend erhöht hat.

Syrien ist das Land, wo sich die neu entflammte Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten am zerstörerischsten ausgewirkt hat. Putin unterstützte die bösartige Konterrevolution, die Baschar al-Assad gegen den syrischen Frühling und die demokratischen RevolutionärInnen des Landes entfesselte. Der Intervention Russlands bzw. der iranischen/Hisbollah-Truppen gelang es, das Blatt mit der Luftwaffe der ersten und den disziplinierten brutalen KämpferInnen der letzteren zu wenden. Das Eingreifen der USA unter Obama und Trump verdand humanitäre Heuchelei mit sehr begrenzter logistischer Hilfe, die sorgfältig dosiert wurde, um nicht offen mit der russischen Hegemonie in Syrien zusammenzustoßen.

Das Ergebnis ist so barbarisch wie das der US-Invasion im Irak nach 2003, bis heute hunderttausende Tote; fünf Millionen SyrerInnen sind aus ihrem Land geflüchtet und sechs Millionen wurden innerhalb der Landesgrenzen aus ihren Häusern vertrieben – die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung des Landes – und mehrere Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe abhängig. Viele derjenigen, die in Europa Zuflucht suchten, wurden schließlich von den EU-Staaten zu Wasser und auf dem Landweg ausgesperrt.

Die Verantwortung für diese Barbarei liegt nicht nur bei den ImperialistInnen, sondern auch bei den rivalisierenden Regionalmächten, die sich an diesem Krieg beteiligen: Katar, Saudi-Arabien, Türkei, Iran und in geringerem Maße Israel. Sie unterstützten die verschiedenen Seiten und trugen zum blutigen Chaos   bei. In Verbindung mit dem anhaltenden Chaos im Irak ermöglichte dies die Ausweitung des Islamischen Staates (IS) und das ungeheuerliche Ausmaß seines „Kalifats“. Dies war der Vorwand für ein US-amerikanisches Engagement im Bündnis mit den Rojava-KurdInnen, aber auch die de facto Duldung von Assad als geringerem Übel. Das provozierte wiederum Erdoğans Eingreifen, um seinen Krieg gegen die KurdInnen zu führen. Nicht zuletzt trug der Dschihad-Terrorismus sowohl zur Erhöhung der Zahl der Asylsuchenden in Europa als auch durch terroristische Anschläge zur rassistischen Feindseligkeit bei, mit der viele dieser unschuldigen Opfer nun konfrontiert sind.

Ein weiteres reaktionäres Nebenprodukt ist die Völkermord-Intervention Saudi-Arabiens in den Jemen und die dortige Version einer Revolution, die zum Bürgerkrieg wurde. Obwohl regionale Mächte und dschihadistische TerroristInnen die unmittelbaren VerursacherInnen all dieser Zerstörung und des Terrors waren, sind es die imperialistischen Mächte, Russland, die USA und deren Verbündete Großbritannien und Frankreich, die die größte Verantwortung für die Barbarei, der die Region ausgesetzt wurde, tragen. Nicht zu vergessen sind die von Saudi-Arabien und dem Westen unterstützte Konterrevolution von Abdel Fatah El-Sisi in Ägypten und Trumps Zusammenspiel mit den Saudis bei der Vorbereitung eines Angriffs gegen den Iran und die PalästinenserInnen. Im Jemen leiden 14 Millionen ZivilistInnen Hunger und nach Angaben der Organisation Save the Children dürften zwischen April 2015 und Oktober 2018 bereits 84.700 Kinder gestorben sein.

Tragischerweise versagte die Linke in Westeuropa und den USA vollkommen dabei ernstzunehmende starke Solidarität mit den angegriffenen demokratischen RevolutionärInnen in Ägypten, Syrien und dem Jemen mobilisieren oder die imperialistischen Mächte und ihre eigentlichen Beweggründe an den Pranger stellen. Der Glaube, dass „Imperialismus“ mit den USA gleichzusetzen ist, dem einige Linke anhängen, insbesondere diejenigen mit stalinistischem Hintergrund, führte dazu den russischen und chinesischen Imperialismus nicht zu verurteilen und anzugreifen. Die Verwirrung, die sich in dem internationalen Kontext sowohl um Syrien als auch um die Ukraine ergab, führte zu wenig internationale Solidarität mit den fortschrittlichen Kräften in beiden Ländern und organisierte auch generell keine internationale Opposition gegen den „Krieg gegen den Terrorismus“ oder koordinierte ArbeiterInnensolidarität mit den Opfern der „Flüchtlingskrise“ in Europa.

Der Nahe Osten ist weiterhin das explosivste Pulverfass der Welt. Die Versuche Trumps, des saudischen Kronprinzen, Israels und des ägyptischen Diktators, ein Bündnis gegen den Iran und seine Verbündeten zu schmieden, haben andere Staaten in der Region dagegen aufgebracht und drohen, einen Flächenbrand in der gesamten Region zu entfachen. Allerdings könnte in den kommenden Jahrzehnten Ost- und Südasien als dem Schauplatz der Rivalität zwischen den USA und China zur Arena einer noch größeren und tödlicheren Auseinandersetzung werden. Im pazifischen Raum führt die Siebte Flotte der US-Marine jährlich rund 160 bilaterale und multilaterale Übungen durch, beispielsweise die jährliche Malabar-Übung mit Indien und Japan mit Flugzeugträgern aus allen drei Ländern. Im Südchinesischen Meer provozieren die Navigationsfreiheitsoperationen (FONOPs) die von China beanspruchten Gebiete.

Die „Dritte Welt“

Trotz aller seiner Übel bewirkt die fortgesetzte Herrschaft des Kapitalismus auch soziale Veränderungen und teilweise sogar Entwicklung. Immerhin wurde in China die größte ArbeiterInnenklasse geschaffen, die die Welt je gesehen hat. Obwohl ihr immer noch das Recht auf unabhängige Organisierung verweigert wird, hat diese Klasse bereits gezeigt, dass sie sowohl den KapitalistInnen als auch dem Staat große Zugeständnisse abringen kann, durch Kämpfe für sicherere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und für soziale Rechte in den Megastädten, in denen sie arbeitet.

Nicht weniger bedeutend gewesen ist die Einbeziehung von Millionen von Frauen, in der Regel jungen, in die moderne Industrieproduktion in Ländern auf der ganzen Welt. Sie müssen oft unter fast sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten und haben dennoch mutige Kämpfe sowohl gegen die wirtschaftliche Ausbeutung als auch gegen ihre eigene soziale Unterdrückung geführt und sind eine dynamische und lebendige Kraft in die Reihen der ArbeiterInnenklasse der Welt.

Der krisenhafte Charakter des modernen Kapitalismus spiegelt sich auch in den plötzlichen Ausbrüchen von sozialer Krise und Revolution wider, die auch Regimes treffen, die seit langem für ihre repressive Stabilität bekannt sind. Mehr als jede andere Bewegung drückte der Arabische Frühling nicht nur die Sehnsucht nach Demokratie und Menschenrechten aus, sondern auch den notwendigerweise internationalen Charakter jeder ernsthaften revolutionären Bewegung.

Innerhalb kurzer Zeit zeigte sich jedoch auch hier die entscheidende Rolle der Führung. Da es keine etablierte und organisierte ArbeiterInnenpartei gab, mit einer verbindlichen Strategie die Macht der Polizei und des Militärs zu brechen und diese durch die ihre eigenen Klassen-Organisationen, also durch die Macht von Gewerkschaften, Parteien, Milizen und ArbeiterInnenräte zu ersetzen, übertrug die Massenbewegung in Ägypten, die eine Schlüsselrolle spielte, die Führung der Bewegung an klerikale Kräfte, die später durch einen bonapartistischen Militärputsch unter El-Sisi blutig zerschlagen wurden. Die daraus resultierende Diktatur ist sogar noch repressiver als die Mubaraks.

In einer von wirtschaftlicher Unsicherheit und zunehmender nationalistischer Rivalität geprägten Welt wird ein Schock in einem Land schnell auf andere Länder übertragen. Der Arabische Frühling inspirierte Massenbewegungen, oft von Jugendlichen angeführt, rund um den Globus und führten zur Besetzung  sogar der Wall Street und öffentlichen Plätzen in vielen Ländern. Aber auch diese waren nicht in der Lage, geraden Kurs zu halten, da sie der Aufstandspolizei mit nichts Handfesteres entgegen zu setzen hatten als die Überzeugung, für die Rechte der „99 Prozent“ einzustehen.

In anderen Teilen Nordafrikas und des Nahen Ostens führte die Instabilität zu Interventionen sowohl von globalen als auch von regionalen Mächten. Dies wiederum verbreitete die Instabilität noch weiter und führte nicht nur zur zunehmenden Konfrontation zwischen den USA und Russland, sondern auch zur „Flüchtlingskrise“ innerhalb der Europäischen Union, an deren Grenzen Millionen verzweifelter Geflüchteter standen.

Diese Krise hat die Ausbreitung rassistischer populistischer Erfolge bei Wahlen (Aufstieg der AfD in Deutschland, Brexit-Referendum) und auf den Straßen (Pegida, Tommy Robinson-Marsch in Großbritannien) massiv beschleunigt. Der Aufstieg der Rechten und der extremen Rechten und die Aktionen der rechten Regierungen in Polen, Ungarn und sogar Italien drohen die Europäische Union zu zersetzen, wobei letztere sicherlich auch die Idee eines föderalen europäischen Superstaates prüfen wird, der in der Lage ist, sich der Konkurrenz Chinas und den USA zu stellen.

Donald Trump repräsentiert eindeutig die US-Version des Aufstiegs der populistischen Rechten, während der des hinduistischen Nationalismus und der Wahlsieg Narendra Modis in Indien 2019 deutlich machen, dass Nationalismus sich nicht auf die etablierten „Metropolen“ beschränkt. Myanmars Völkermord an den Rohingyas und die Verfolgung der UigurInnen in China sind Beispiele dafür, wie lange etablierte Diktaturen sich in eine noch totalitärere Richtung bewegen und mit „demokratischen“ HeuchlerInnen wie Aung San Suu Kyi im Schlepptau. Der atemberaubende Triumph des halbfaschistischen Jair Bolsonaro, während Lula im Gefängnis verrottete, bestätigt das Ausmaß der Rechtsverschiebung in den letzten Jahren. Bemerkenswert ist auch die Rolle der Religion in diesen reaktionären Bewegungen (nicht nur die verschiedene Islamismen, sondern auch evangelikale ChristInnen in Nord- und Südamerika sowie hinduistische und buddhistische Chauvinismen in Südasien usw.). Diese sind Beete zur Aufzucht neuer faschistischer Ideologien und Massenbewegungen.

Die Krise der Europäischen Union

Die Europäische Union mit 513 Millionen Menschen, einem gemeinsamer Binnenmarkt und mit freiem Personen-, Kapital- und Warenverkehr macht 24,6 Prozent des Welt-BIP aus. Die Produktivkräfte des europäischen Kapitalismus sind längst über die Staatsgrenzen in Europa hinausgewachsen und schaffen Produktionsketten, in denen Komponenten mehrere Grenzen überschreiten, bevor sie die VerbraucherInnen erreichen. Just-in-time-Produktion ist der dramatische Ausdruck dafür. MarxistInnen haben immer die Idee abgelehnt, dass die Auflösung großer Einheiten ein Weg wäre deren Macht und Dominanz einzuschränken. Vielmehr sind wir dafür, sie so zu transformieren, zu vergesellschaften und zu planen, dass die Menschheit vorankommt. Der Sozialismus erfordert eine kontinentale (und schließlich globale) Dimension der integrierten Produktion. Die Perspektive des „Sozialismus in einem Land“ ist heute noch reaktionärer als damals, als Stalin dieses Dogma verkündete.

Die Produktivkräfte in 28 verschiedene Nationalstaaten einzusperren, die Grenzkontrollen und Zollschranken wieder einzuführen, den wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs einzuschränken, die zwischenstaatlicher Rivalitäten anzuheizen, die Arbeiterklassen dieser Staaten im Namen einer fiktiven nationalen Unabhängigkeit weiter zu spalten – all das kann nur den wirtschaftlichen Zusammenbruch fördern und den Trend zu einem neuen Wettrüsten und letztlich zu einem dritten imperialistischen Weltkrieg verstärken.

Die Krise, die die EU seit 2008 heimsucht, zeigt, dass die kapitalistischen Klassen Europas nicht in der Lage sind, die historisch fortschrittliche Aufgabe der Vereinigung des Kontinents zu erfüllen. Die dominanten Mächte des Kontinents, insbesondere das wiedervereinigte Deutschland, haben sich als unfähig erwiesen, ihren nationalen kapitalistischen Egoismus zu überwinden. Wie das Schicksal Griechenlands und in geringerem Maße Portugals, Spaniens, Italiens und Irlands zeigt, hat das imperialistische Zentrum über den Euro die Peripherie niederkonkurriert und in Schuldknechtschaft geworfen. Wenn diese Dominanz nicht überwunden wird, wird sie unweigerlich zu einer Revolte und einem Zerfall der Union führen.

Die Vereinigung Europas ist eine Aufgabe, die schon vor einem Jahrhundert notwendig gewesen wäre  – wie die KommunistInnen schon damals richtig erkannt hatten – bevor das Blutbad der beiden Weltkriege Millionen europäischer ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, Angehörige unterdrückter Nationen und „Rassen“ vernichtete. Diese Aufgabe fällt heute der ArbeiterInnenklasse zu. Das Mittel, mit dem sie erreichen werden kann, ist die europaweite Revolution.

Diese Revolution ist steht auf der Tagesordnung, weil sie objektiv notwendig ist, um die Zerstörung von Mensch und Material durch Krise und Krieg zu vermeiden, und weil sie von den ArbeiterInnen Europas ausgehend von den heutigen Kämpfen gegen Austerität, Privatisierung, Ungleichheit, Rassismus und Umweltzerstörung realisiert werden kann.

RevolutionärInnen können die Europäische Union, wie sie ist, mit ihren Institutionen wie der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank mit ihrem Euro und den ihnen zugrunde liegenden Regeln, die dafür sorgen, dass die südeuropäischen Staaten streng gemaßregelt werden, nicht einmal eine Minute lang und auch nicht „kritisch“ unterstützen. Ebenso wenig können wir ihre militärische und diplomatische Hilfe für das von den USA betriebene Abenteuer in der Ukraine, ihre Kriege im Nahen Osten, ihre rassistische Politik der Festung Europa gegen Einwanderung unterstützen. Die EU braucht mehr als Reformen, sie braucht eine Revolution.

Die Hindernisse, die einer solchen Perspektive im Wege stehen, sind keine objektiven. Sie liegen in der Spaltung der europäischen ArbeiterInnenklasse, ihrer bürokratischen und bürgerlichen Gewerkschafts- und Parlamentsparteienführungen. Aber auch schon eine europaweite Widerstandsbewegung gegen die Austerität, gegen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates und der Gewerkschaftsrechte, die Opposition gegen den imperialistischen Kriegszug erfordert politische Koordinierung und so bald wie möglich die Gründung einer neuen internationalen Partei der ArbeiterInnenklasse, einer Fünften Internationale.

Nur in diesem Zusammenhang kann verstanden werden, wie rassistisch, nationalistisch und reaktionär der Brexit ist. Große Teile der britischen Linken, die „Lexiteers“ der Kommunistischen Partei Großbritanniens, Corbyn’s Labour-Führung, die SWP und die Sozialistische Partei (CWI) sind von der Idee besessen, die große Mehrheit der Mitglieder der Labour Party und der Gewerkschaften, die weiterhin für die Integration mit Europa eintreten, zu übergehen, um die rückständigeren Schichten der Klasse anzusprechen. Dies ist kein zufälliger Wahrnehmungsfehler, sondern ein Ausdruck ihrer strategischen Schwäche, sei es der Theorie des „Sozialismus in einem Land“ oder (in Wirklichkeit der wahrscheinlichere Grund) ihre sozialdemokratische Politik der kleinen Schritte.

Daher ist unser Slogan nicht der Austritt aus der EU und die Rückkehr zu „unabhängigen“ (kapitalistischen) Nationalstaaten, sondern der Weg zu einem vereinten sozialistischen Europa, einer Föderation von ArbeiterInnenstaaten, hervorgegangen aus der europaweiten sozialen Revolution. Das bedeutet nicht, dass wir zögern, gegen die Politik der EU oder der Eurozone in einzelnen Staaten zu kämpfen wie z. B. gegen das Sparprogramm der Troika gegenüber Griechenland oder sie daran zu hindern, Industrien, Infrastrukturen oder Dienstleistungen zu privatisieren oder ihre Verstaatlichung zu blockieren. Wir kämpfen für sofortige demokratische Änderungen oder Übergangslosungen in der EU (z. B. europaweiter Verzicht auf Sparprogramme, demokratische Kontrolle und ArbeiterInnenkontrolle über die EZB und die nationalen Bankensysteme, Aufhebung aller auf Privatisierung abzielenden Maßnahmen in den EU-Verträgen). Aber eine Strategie mit europaweiten Aktionen, Generalstreiks usw. kann zusätzlich dazu beitragen, den Widerstand durch Solidaritätsaktionen von den nationalen Krisenherden auf die anderen Staaten auszuweiten.

Alte und neue ArbeiterInnenparteien

In der Regel führten die politischen Auswirkungen der neuen Periode dazu, die Basis etablierter Parteien und Gewerkschaften in der Bevölkerung zu untergraben und manchmal zu beseitigen und gleichzeitig die Gesellschaft sowohl nach links als auch nach rechts zu radikalisieren. Die neue Periode hatte auch Auswirkungen auf die Bewegungen, die bereits vor 2008 existierten. Dies zeigt sich besonders deutlich in Lateinamerika, wo die bolivarischen, populistischen und sozialdemokratischen Regime, die im letzten Jahrhundert ins Amt gekommen waren und in den frühen 2000er Jahren aufblühten, jetzt mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Wirtschaftsmodelle des (reformistischen) Sozialismus des 21. Jahrhunderts, die weitgehend auf dem Export von Rohstoffen basierten, erwiesen sich als rein temporäre Vorteile, die von Chinas nicht nachhaltigen zweistelligen Wachstumsraten abhingen.

Auf der linken Seite haben wir den Aufstieg von Syriza, Podemos und des Bloco und die Bewegung gehabt, die Jeremy Corbyn zum ersten linken Führer der Labour Party in Großbritannien seit Anfang der 1930er Jahre gewählt hat. Auch in den USA verzeichneten wir das Wachstum von Black Lives Matter, Bernie Sanders’ gutes Abschneiden in den Vorwahlen 2016 der Demokraten und eine Reihe von „demokratischen sozialistischen“ KandidatInnen für die Bundesstaats- und Stadtregierungen bei den Halbzeitwahlen 2018.

In den reichen imperialistischen Ländern Europas und einigen privilegierten Ländern des Südens dienen sozialdemokratische Pateien, Labour-Parteien und kommunistische Massenparteien den KapitalistInnen seit langem als alternative Regierungsparteien, wie auch die beiden wichtigsten kommunistischen Parteien in Indien (CPI und CPI-M) auf regionaler Ebene. Die südafrikanische Kommunistische Partei innerhalb des Bündnisses des Afrikanischen Nationalkongresses hat dies seit dem Ende der Apartheid ebenfalls getan. In Brasilien hat die ArbeiterInnenpartei (PT) im neuen Jahrhundert den gleichen Weg eingeschlagen.

Was sie gemeinsam haben, ist eine privilegierte Schicht von BürokratInnen und ParlamentarierInnen, die den Kapitalismus in der Praxis als ein ewiges System betrachten und den Bossen dienen, ob in der Regierung oder in der Opposition. Sie vereiteln die Versuche ihrer ArbeiterInnenbasis, diese Parteien als effektive Kampfmittel zu nutzen. In Europa und Asien haben diese Parteien, obwohl sie für ihre Dienste einst im Gegenzug begrenzte soziale Reformen erhalten hatten, in den letzten zwanzig Jahren unter dem Diktat der KapitalistInnenklasse die neoliberale, marktfreundliche Politik übernommen. In der Zeit nach 2008 wurden aus ihren „Reformen“ stattdessen Sparprogramme, Privatisierung und Lohnsenkung. Sogar die PT tat dasselbe, als der Ölboom endete.

Mit der Wiedereinführung des Kapitalismus in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und in China sind auch die stalinistischen kommunistischen Parteien der Welt weit nach rechts gegangen. In West- und Mitteleuropa haben sie einen Teil des politischen Raumes eingenommen, den die neoliberale Sozialdemokratie verwaist hinterlassen hatte. Mit anderen Worten, sie haben zwar den Neoliberalismus kritisiert, aber in der Praxis, sobald sie auch nur ein bisschen Regierungsbeteiligung bekamen, haben Parteien wie Rifondazione Comunista in Italien, die Parti Communiste Français und Die Linke in Deutschland auch Sozialabbau und Privatisierungen durchgeführt.

Als prokapitalistische Regierung handelte die CPI-/ CPI-M-Regierung in Westbengalen als Vollstreckerin der Interessen des ausländischen und inländischen Kapitals gegen die DorfbewohnerInnen und Stammesvölker, deren Land es beschlagnahmen wollte. Die Repressionen gegen die DorfbewohnerInnen von Nandigram in Westbengalen wurden weltweit bekannt. Der Dank für diesen Verrat war eine erdrutschartige Niederlage im Jahr 2011 durch die Allianz Allindischer Trinamul Congress/Indischer National Congress (INC). Und im Mai 2019 ging fast ihre ganze WählerInnenbasis zur BJP über, einer Hindu-nationalistischen Partei.

Im Gegensatz dazu haben einige maoistische Parteien, insbesondere in Nepal und Indien, eine radikalere Rolle gespielt. Die Kommunistische Partei Nepals (NCP), die aus einer Fusion der CPN (Unified Marxist Leninist; Vereinigte Marxistinnen-Leninistinnen) und des CPN (Maoist Centre; Maoistisches Zentrum) 2018 entstanden ist, die beide bei den Wahlen 2017 einen überwältigenden Sieg errungen hatten, erhielt in beiden Parlamentskammern und den meisten Provinzen die absolute Mehrheit. Ihr Bekenntnis zur stalinistisch-maoistischen Strategie der „Revolution in Etappen“, die sozialistische Maßnahmen und ArbeiterInnenmacht rundweg ablehnt, lässt es aber als sicher erscheinen, dass sie auch die anderen Fehler und den Verrat ihrer Schwesterparteien anderswo wiederholen wird.

Die Kommunistische Partei Indiens (MaoistInnen) entstand als Guerilla-Truppe unter den landlosen und armen Bauern und Bäuerinnen und Adivasi (Stammesvölker; wörtlich: UreinwohnerInnen), die darum kämpften, dass ihr Land nicht von multinationalen Unternehmen oder indischen MilliardärInnen übernommen wurde. Sie verfolgen die alte maoistische Strategie, „die Städte zu umzingeln“, aber in einem Land mit einer riesigen und wachsenden ArbeiterInnenklasse sind die Grenzen der Etappen-Theorie und der Guerilla-Strategie offensichtlich, sie können keine Strategie für eine sozialistische Revolution in Indien liefern.

Die „bolivarischen sozialistischen“ Regierungen von Hugo Chávez und Evo Morales führten echte Reformen für die ArbeiterInnenklasse und die städtischen Armen durch. Die beiden Anführer, die Anfang der 2000er Jahre an die Macht kamen, nutzten kurzfristig die Rohstoffexporte, profitierten von der scheinbar unersättlichen chinesischen Nachfrage und schütteten Mittel an ihre Klientel-Netzwerke aus. Staaten wie Brasilien und Venezuela waren in der Lage, die Staatsausgaben zu erhöhen und öffentliche Arbeiten durchzuführen, die ihre FührerInnen populär machten. In den Folgejahren hielt das Wirtschaftswachstum die WählerInnen bei Laune und die gewählten FunktionärInnen im Amt.

Die radikalsten Führer der lateinamerikanischen Linken, Hugo Chávez aus Venezuela, Evo Morales aus Bolivien, Rafael Correa aus Ecuador und Luiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien, versprachen große Veränderungen. Die ersten drei konnten dank der massiven sozialen Bewegungen und im Falle von Chávez auch wegen des gescheiterten Putsches der Geschäfts- und Militärelite an die Macht kommen, der dazu führte, dass die Massen der Chavez-AnhängerInnen die entscheidende Unterstützung der unteren Dienstgrade und der NachwuchsoffizierInnen der Streitkräfte in einer echten Volksrevolution gewinnen konnten.

Lula gewann die Präsidentschaftswahl, nachdem die ArbeiterInnenpartei (PT) durch die Mobilisierung der Bevölkerung der Favelas (Elendsviertel) regional und in Städten Regierungspositionen erobert hatte und er konnte ab 2002 sich 14 Jahre lang als Präsident halten. Die Reformen der PT wurden in den Boomjahren durch den Export von Rohstoffen, insbesondere von Öl und Soja, finanziert. Die „bolsa familia“, eine soziale Unterstützung an 12 Millionen arme Familien (50 Millionen Menschen), half, die extreme Armut in Brasilien von 9,7 auf 4,3 Prozent der Bevölkerung zu reduzieren.

Nach 2012, als die Rohstoffpreise fielen, kam das Wirtschaftswachstum zum Stillstand und Argentinien, Brasilien und Venezuela traten Mitte des Jahrzehnts in schwere Rezessionen ein. Die Wirtschaft Venezuelas wurde unter Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro von einer Hyperinflation geradezu verwüstet, was zu einer Flucht von fast drei Millionen Menschen aus dem Land führte und einer riesigen Zahl, die unterhalb der Armutsgrenze lebt. Maduro war gezwungen, harte Sparmaßnahmen durchzusetzen und zu schwerer Repression zu greifen, einschließlich manipulierter Wahlen und illegalen Morden. So wie Venezuela vor zehn Jahren das Ansehen des „Sozialismus“ erhöht hatte, ist Maduros Unterdrückung heute eine Waffe in den Händen der Eliten Lateinamerikas und ihrer US-HerrInnen, um ihn zu diskreditieren. Die Verschärfung der Sanktionen der USA und der EU, insbesondere gegen die staatliche Ölgesellschaft PDVSA, hat bereits zu einem Massenexodus von Menschen, zu Medikamenten- und Nahrungsmittelknappheit und Stromausfällen in Caracas geführt.

Trotz ihrer linkspopulistischen Maßnahmen haben Chávez, Morales und andere bolivarische FührerInnen nie die entscheidenden Sektoren der Großbourgeoisie oder der ausländischen KapitalistInnen enteignet. ArbeiterInnenstreiks und -besetzungen unterdrückten sie oft mit Polizei und Gerichten und verhafteten ihre AnführerInnen. Ihr Kompromiss zwischen Sozialismus und Kapitalismus war nicht nachhaltig. Soziale Reformen und Verstaatlichungen werden erst dann „sozialistisch“, wenn ein ArbeiterInnenstaat sie koordiniert und verteidigt. Nur mit ArbeiterInnenkontrolle im Betrieb und mit ArbeiterInnenmacht im Staat kann es möglich werden, die Verschwendung und das Chaos des Marktes zu beseitigen und durch eine demokratische Planung zu ersetzen.

Eine wiederauflebende Rechte, unterstützt von den USA, konnte eine massenhafte Opposition auf die Straßen Brasiliens und Venezuelas mobilisieren. Im August 2016 führte der brasilianische Kongress einen Verfassungs-Staatsstreich durch, mit dem er die Präsidentin Dilma Rousseff des Amtes enthob und die sozialen Errungenschaften der Lula-Jahre angriff, Lula inhaftieren ließ und ihm die Teilnahme an den Wahlen 2018 verweigerte. Dank dieser Schritte wurde der Rechtsextreme Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt, der damit droht, die Bewegungen der ArbeiterInnen, der armen Bevölkerung und der indigenen Völker zu zerschlagen.

Im Vergleich zum „Antikapitalismus“ der ersten Jahre des Jahrhunderts und zur vom Arabischen Frühling inspirierten „Occupy“-Bewegung zeigen AktivistInnen wie die von Syriza, Podemos und der Corbyn-Bewegung oder die Sanders-AnhängerInnen und Demokratischen SozialistInnen Amerikas ein viel größeres Verständnis dafür, dass Handlungen und Antworten auf Regierungsebene nötig sind. Damit bewiesen sie in dieser Hinsicht eine größere politische Reife. Aber ihr Internationalismus ist bisher geringer entwickelt als bei den früheren Bewegungen und sie sind weniger radikal als die reformistischen Nachkriegsparteien oder die AntikapitalistInnen vor zehn Jahren. Diese Stärken und Schwächen und die Gefahren eines raschen Aufstiegs ohne ausreichende organisatorische Solidität, werden am deutlichsten am Schicksal von Syriza sichtbar.

Syriza, die durch die Abspaltung seines eigenen rechten Flügels nach links getrieben worden war, bekam Unterstützung durch die Massenmobilisierungen der griechischen ArbeiterInnenklasse, weil sie offen seine Weigerung erklärt hatte, an den Sparprogrammen der Troika mitzuwirken. Es überrascht nicht, dass Syriza angesichts seines Ursprungs als Koalition verschiedener Tendenzen kein Programm zur Bekämpfung der Auflagen der Troika entwickelt hatte. Insbesondere sah sich die Partei nicht in der Pflicht, die ad-hoc-Organisationen der Massenbewegung in demokratisch kontrollierte Organe umzuwandeln, die Maßnahmen gegen den Troika-Sparkurs ergreifen konnten.

Viele auf der Linken, angeführt von der Vierten Internationale, dem früheren Vereinigten Sekretariat, sahen in Syrizas schnellem Aufstieg eine Bestätigung ihrer Ablehnung des „leninistischen“ Modells der Partei zugunsten von „breiten“ Bündnissen, die sowohl revolutionäre als auch reformistische Strömungen umfassen. Zwar ist es richtig, sich auf solche Formationen wie Syriza zu beziehen oder sich ihnen sogar anzuschließen, wo immer sie einen Schritt einer großen Anzahl von ArbeiterInnen und Jugendlichen weg vom Liberalismus, der rechten Sozialdemokratie oder dem Populismus darstellen, aber der Verzicht auf Kritik an den grundlegenden Schwächen des Syriza-Projekts bedeutete die Abkehr von revolutionärer Politik. Ebenso trugen sogenannte RevolutionärInnen, die passiv zuschauten und Syrizas Scheitern voraussagten, nichts zur Vorbereitung der ArbeiterInnenklasse auf die bevorstehenden Schlachten bei.

Die schlagartige Kapitulation der Regierung Syrizas am 12. Juli 2015, trotz der über 60-prozentigen Unterstützung für das „Nein“ (Oxi) im Referendum, war nicht nur ein Beweis für einen Punkt der politischen Theorie – sie war der Wendepunkt im Kampf der griechischen ArbeiterInnenklasse, eine strategische Niederlage. Wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit brutaler Ehrlichkeit sagte: „Abstimmen ändert nichts“.

Die Lehren aus Lateinamerika und Westeuropa sind immer noch die von Rosa Luxemburg um die Jahrhundertwende gezogenen: Reform und Revolution sind nicht einfach nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel, nicht nur eine Frage des Tempos des Wandels, von Geduld oder Ungeduld. Wie sie betonte, verkörpern Reform und Revolution unterschiedliche Ziele. Der Reformismus versucht, den Kapitalismus durch Gesetzgebung von oben, durch die Maschinerie des kapitalistischen Staates, vor sich selbst zu retten. Die Revolution versucht, die ArbeiterInnenklasse vor der kapitalistischen Ausbeutung zu bewahren – indem sie sich selbst befreit.

Aufbau einer revolutionären Partei

Es war Karl Marx, der zuerst erklärt hatte, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse von der kapitalistischen Herrschaft ihre eigene Aufgabe sei und niemals von „RetterInnen von oben“ erreicht werden könnte und dass eine ArbeiterInnenpartei unabhängig von allen kapitalistischen Parteien oder Persönlichkeiten sein müsse. Eine solche Partei, betonte er, müsse internationalistisch sein, wie es der Kampfruf aus dem Kommunistischen Manifest und die Grundprinzipien der Ersten Internationale zum Ausdruck bringen: ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt euch!

Sie muss die Einheit von revolutionärer Theorie und Praxis verkörpern. Ausgehend vom Verständnis der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, des Charakters der Ausbeutung, dem unvermeidlichen Wiederauftreten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen, der Befreiung nicht nur der ArbeiterInnen, sondern aller Unterdrückten – existiert ihre Theorie, um angewendet zu werden und die Welt zu verändern. Im Gegenzug bereichert und entwickelt die Praxis einer solchen Partei ihre Theorie.

Es war der russische Revolutionär Lenin, der diese Lektionen zu einem praktischen Leitfaden für den Aufbau einer revolutionären Partei destillierte, deren Aufgabe es sein sollte, die ArbeiterInnenklasse in einem revolutionären Angriff auf den kapitalistischen Staat mit all seinen ausgefeilten Instrumenten der Unterdrückung und Täuschung zu führen. Das Modell der Partei, das Lenin entwickelt hat, kann nicht als feste Formel auf jede Situation angewendet werden. Das Aussehen einer revolutionären Partei kann und wird sich ändern und an die historischen und nationalen Bedingungen anpassen.

Es gibt jedoch grundlegende Prinzipien, die notwendig sind und das Fundament jeder wirkungsvollen revolutionären Partei bilden müssen. Diese wurden zunächst in Lenins klassischem Werk „Was tun?“ beschrieben. Dazu gehörte auch die Aussage, die bis heute sehr umstritten ist:

„Das politische Bewusstsein der Klasse kann der ArbeiterInnenklasse nur von außen, d. h. nur von außerhalb des ökonomischen Kampfes, vermittelt werden.“

Dies bestreitet weder, dass im Kapitalismus das Klassenbewusstsein seinen Ursprung im täglichen Kampf gegen die Bosse und ihren Staat hat, noch bedeutet es, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht selbst emanzipieren könne, dass die ArbeiterInnen von „Außenstehenden“, von einer Elite von Intellektuellen der Mittelschicht oder „BerufsrevolutionärInnen“ geführt werden müssten. Es bedeutet ganz einfach, dass sich die Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen, um ausschließlich wirtschaftliche Fragen, die von Gewerkschaften allein geführt werden, nicht spontan zu einem Kampf für den Sozialismus entwickeln, nicht automatisch ein revolutionäres sozialistisches Bewusstsein schaffen werden. Die Perspektive der Gewerkschaften ist die einer abgegrenzten Branche oder eines bestimmten Betriebs, weshalb diese Abgrenzung an einem bestimmten Punkt dazu tendiert, den Blick auf die ganze Klasse zu verstellen. Außerdem sind die ArbeiterInnen immer starken Einflüssen „von außen“ ausgesetzt: der unaufhörlichen Propaganda durch Schulen, Medien, Kirchen, Moscheen, Tempel, die alle verkünden, dass der Kapitalismus das einzig mögliche System sei.

Dieses Propagandafeuer, das darauf abzielt, die ArbeiterInnen zu spalten und ihnen die Ideen der herrschenden Klasse aufzuzwingen, kann nur durch die Ideen des Sozialismus und der Revolution bekämpft werden und diese kommen „von außerhalb“ der Sphäre des reinen und einfachen gewerkschaftlichen Kampfes, nämlich von einer politischen Partei, deren Ziel es ist, zersplitterte und sektorale Kämpfe in einen politischen Kampf zu verwandeln, der den Kapitalismus als Feind identifiziert. Diese Partei kann nicht außerhalb der Kämpfe der ArbeiterInnenklasse bleiben. Sie muss sich grundlegend von den reformistischen parlamentarischen Parteien unterscheiden, die den Kampf am Arbeitsplatz den Gewerkschaften oder besser gesagt ihren FunktionärInnen überlassen.

Eine leninistische Partei braucht Mitglieder, die die am härtesten arbeitenden AktivistInnen sind, die nicht nur in der Lage sind, zu erklären, was im gegenwärtigen Kampf notwendig ist, sondern auch, dass der Kapitalismus die Wurzel nicht nur für niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau ist, sondern auch für Ausbeutung, Rassismus, Sexismus und Krieg. Sie müssen an den gefährlichsten Orten des Klassenkampfes zu finden sein. Sie müssen sich die Anerkennung ihrer KollegInnen als die zuverlässigsten AnführerInnen, die Vorhut des Klassenkampfes erarbeiten.

Lenins Idee ist, dass die Parteimitglieder Kader sein müssen, eine militärische Analogie, die sich auf die UnteroffizierInnen und FrontoffizierInnen einer Armee bezieht. Sie müssen professionelle RevolutionärInnen sein, also Menschen, die nicht nur ein paar freie Abende der Politik widmen, sondern diese zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. Die große Mehrheit dieser Menschen müssen ArbeiterInnen sein, wenn sie Führung im Klassenkampf sein wollen. Eine revolutionäre Partei kann das Wachstum einer Massenbewegung der ArbeiterInnenklasse, mit der sie untrennbar verbunden ist, enorm ankurbeln. So war es bei der bolschewistischen Partei, die die „spontane“ Revolution vom Februar 1917 in die bewusste Machtergreifung durch die ArbeiterInnenräte im Oktober verwandeln konnte. Diese Schlüsselprinzipien revolutionärer Politik, des revolutionären Programms und des Internationalismus sind heute so relevant wie damals, als Lenin sie entwickelte, und es ist die brennende Aufgabe revolutionärer SozialistInnen, sie in den gewaltigen Kämpfen, denen wir heute gegenüberstehen, in die Tat umzusetzen.

Leider kamen während der großen Massenkämpfe von 2009-2015 viele junge KämpferInnen, die gesehen hatten, dass die Parteien, die sich „Sozialdemokratisch“ ,„Kommunistisch“ oder „Labour“  nennen, generell ein Hindernis für den Kampf waren, zu dem Schluss, dass politische Parteien als solche den Kampf nicht voranbringen konnten. Sie sahen in ihnen das Gegenteil zu den spontanen sozialen Bewegungen wie der Besetzung von Kairos Tahrir-Platz, New Yorks Wall Street, Madrids Puerta del Sol oder Athens Syntagma-Platz. Die Antwort, so dachten sie, sei, sich auf eine direkte Massendemokratie zu beschränken. Aber das Leben hat bewiesen, dass die Demokratie eines einzelnen Platzes und eines kurzen Moments, auch wenn sie manchmal Regierungen oder Diktatoren stürzen kann, diese nicht durch die Macht der einfachen ArbeiterInnen ersetzen kann und daher unzureichend ist. Eine solche Übertragung der tatsächlichen Macht innerhalb der Gesellschaft kann nur stattfinden, wenn eine politische Alternative zu den alten Parteien entsteht, mit der Entschlossenheit und der Fähigkeit, dies auch zu verwirklichen.

Eine revolutionäre Partei muss mit dem Reformismus der alten Linken brechen. Ihre eigenen Mitglieder müssen sie demokratisch kontrollieren. Ihre Rolle besteht nicht in erster Linie darin, Wahlen zu gewinnen, und deshalb sollte sie nicht von ihren Abgeordneten und örtlichen FührerInnen kontrolliert werden, die über die Mitgliedschaft regieren, ihre eigene Politik festlegen und die dafür über Spitzengehälter und Finanzmittel verfügen. Im Gegensatz zu den kapitalistischen Parteien darf die revolutionäre Partei keine großen Versprechungen machen und dann an der Macht das tun, was die Bosse und die Bankiers ihr vorschreiben. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Unterstützung von Millionen Menschen zu gewinnen, indem sie diese in Kämpfen anführt. Wahlen sollten von der Partei genutzt werden, um ihr Programm für Massenaktionen bekannt zu machen, VolkstribunInnen in Räte und Versammlungen zu schicken, um die VertreterInnen der KapitalistInnen anzuprangern, aber vor allem, um „Fensterreden“ an die Massen zu richten. Ihre Aufgabe ist es nicht, mit Ideen zu spielen, die als populär gelten, aber doch nur von den Millionärsmedien diktiert werden. Wenn Parteiangehörige Mandate als Abgeordnete bzw. Ratsmitglieder gewinnen, dürfen nicht diese die Partei kontrollieren, sondern müssen umgekehrt unter Kontrolle der Partei stehen.

Eine solche revolutionäre Partei könnte heute einen enormen Einfluss innerhalb der Widerstandsbewegungen haben, indem sie für Taktiken argumentiert, die die Bewegung voranbringen, indem sie allen Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Stimme verleiht und Rassismus, Sexismus und imperialistische Kriege sowie Ausbeutung und Armut bekämpft. Es ist die Rolle einer revolutionären Partei, sich in jede Bewegung zu stürzen, sei es für höhere Löhne oder mehr Demokratie, für Gerechtigkeit für die national, rassisch oder geschlechtsspezifisch Unterdrückten, wobei sie einerseits den Kampf für die Einheitsfront in jedem dieser Kämpfe damit kombiniert, dass sie anderseits ihre Politik und ihr Programm geduldig erklärt und die besten KämpferInnen in ihre Reihen holt. In den Gewerkschaften würde eine solche Partei die Basis organisieren, um die Führung zu übernehmen. Während die GewerkschaftsführerInnen noch darüber nachdenken, ob sie wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Kürzungen ergreifen sollen, würde eine revolutionäre Partei, die diesen Namen verdient, die Werktätigen darauf vorbereiten, einen Generalstreik zu koordinieren, mit oder ohne die GewerkschaftsführerInnen, und immer für eine revolutionäre Situation vorbereitet sein, in der der Kapitalismus gestürzt werden kann.

Für eine neue, Fünfte Internationale!

Der Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei muss von Beginn an mit dem Kampf für eine neue Internationale verbunden werden. Die Vorstellung, dass starke, national verankerte Organisationen aufgebaut werden müssten, bevor überhaupt eine Internationale möglich wäre, ist grundsätzlich falsch. Sie verkennt und verneint praktisch den internationalen Charakter des Klassenkampfes. In der Praxis muss sie zur Anpassung an den Druck nationaler Milieus – sei es nationalistischer, populistischer oder sozialchauvinistischer Kräfte führen. Die Revolution des 21. Jahrhunderts und eine erneuerte ArbeiterInnenbewegung müssen von Beginn an auf dem Grundsatz des Internationalismus aufbauen – das heißt, hier und jetzt den Aufbau einer neuen, proletarischen internationalen Kampforganisation in Angriff nehmen.

Die aktuelle Weltkrise, die großen Probleme, denen die Menschheit gegenübersteht, können nur im globalen Maßstab gelöst werden. Der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, die Internationalisierung der Produktion, die Angriffe auf die Bewegungsfreiheit von Flüchtenden und MigrantInnen, die drohende Gefahr von Handelskriegen und heißen Kriegen zwischen rivalisierenden imperialistischen Blöcken – um nur einige Probleme zu nennen – erfordern einen grenzüberschreitenden, koordinierten gemeinsamen Kampf und revolutionäre Veränderungen im Weltmaßstab. Ein Rückzug auf nationale „Lösungen“ kann nur die Reaktion stärken, ja stellt selbst einen Ausdruck der Stärkung der Reaktion dar.

Die Antiglobalisierungsbewegung hatte am Beginn des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer neuen Masseninternationale auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hatte Foren des Austausches entwickelt und an ihrem Höhepunkt Massenaktionen – darunter Demonstrationen von Millionen gegen den Irakkrieg – in Gang gesetzt oder koordiniert. Aber letztlich scheiterte sie aufgrund ihrer reformistischen und kleinbürgerlichen Führungen, die in den jeweiligen national verankerte Massenorganisationen – seien es Gewerkschaften oder politische Parteien – nicht für  international getroffene verpflichtende Beschlüsse kämpfen wollten.

Die große Rezession und die verheerenden Auswirkungen der Krise, die Massenbewegungen des arabischen Frühlings, die Kämpfe in Griechenland und die Platzbesetzungen setzten erneut die Notwendigkeit einer Internationale auf die Tagesordnung. Aber auch hier versagte die Linke auf globaler und kontinentaler Ebene. So versagte die europäische reformistische, aber auch die radikale und anti-kapitalistische Linke vollständig vor der Aufgabe, den Widerstand gegen die Austerität europaweit zu bündeln. Sie erwies sich als unfähig, ein europäisches Aktionsprogramm gegen Krise und Kapitalismus auch nur in Ansätzen zu entwickeln. Der Chavismus und die bolivarische Bewegung hatten hingegen trotz ihres populistischen Charakters zeitweilig den gemeinsamen Kampf in Lateinamerika und darüber hinaus proklamiert. Doch dies erwies sich Märchen.

Nach dem Beginn einer neuen, globalen Krisenperiode, nach der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zog sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung auf nationales Terrain zurück. Ihr „Internationalismus“ beschränkt sich im wesentlichen auf Sonntagsreden und Grußadressen. Dies entspricht der Stellung der ArbeiterInnenbürokratie, deren „Verhandlungsmacht“ auf Gedeih und Verderb an eine nationale KapitalistInnenklasse gebunden ist und die dabei hinter der Internationalisierung des Kapitals selbst zurückbleibt.

Aber auch die „radikale“, linksreformistische, zentristische, anarchistische oder libertäre Linke sucht heute ihr Heil in der Konzentration auf das nationale Terrain. Selbst den meisten „internationalen Organisationen“ erscheint es heute unmöglich, ihre Strömung auf ein internationales Programm, eine gemeinsame Strategie und Taktik zu gründen. Entweder sind sie national gelenkte Sekten, um die andere Sektionen wie Satelliten kreisen, oder es sind zunehmend lose Netzwerke, die sich weigern, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Sie werfen damit sämtliche Lehren nicht nur des Scheiterns der Anti-Globalisierungsbewegung, sondern auch der Degeneration der Zweiten und Dritten Internationale über Bord.

Dies bedeutet, dass der größte Teil der globalen Linken gegenüber den spontanen Tendenzen zur Bildung internationaler Bewegungen eine politisch passive, wenn nicht gar eine bremsende Haltung einnimmt. Dabei haben sich in den letzten Jahren immer wieder internationale Kampagnen und Bewegungen entwickelt, die über nationalstaatliche Beschränkungen hinausgehen wollten und auch gingen: Die Frauenbewegung, die seit einigen Jahren ihre Aktionen gegen die globalen sexistischen Angriffe koordiniert; der Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit; die Flüchtlingsbewegungen, die sich gegen die Grenzregime der EU und anderer Blöcke wenden; Ansätze von grenzübergreifender Koordinierung von ArbeiterInnenkämpfen; Solidaritätsbewegungen gegen imperialistische Interventionen und reaktionären Putschversuche. Alle diese Mobilisierungen stellen Ansätze für internationale Abwehrkämpfe, für koordinierte Aktionen dar. Sie gehen jedoch bisher nicht über die „Vernetzung“ eigenständiger nationaler Kampagnen hinaus – erst recht entwickeln sie kein internationales Programm zur koordinierten Aktion.

Diese ist jedoch nicht die Schuld der Massen, die dabei in Bewegung gekommen sind. Es ist vor allem das Versäumnis der organisierten Linken. Viel von ihnen haben aus den Niederlagen die grundfalsche Schlussfolgerung gezogen, dass der Aufbau einer Internationale, der internationale Kampf heute nicht auf der Tagesordnung stünde, dass zuerst größere Organisationen und Bewegungen im nationalen Maßstab aufgebaut und entwickelt werden müssten. Erst auf dieser Basis wäre eine grenzüberschreitende Koordinierung von Kämpfen und Organisierung möglich und sinnvoll. Dieses platonische Verhältnis zum internationalen Klassenkampf stellt ein politisches Grundproblem unserer Periode dar – es ist selbst Ausdruck des globalen Rechtsrucks und der Stärkung des Nationalismus und diese national-beschränkte Politik verschärft das Problem.

Revolutionäre MarxistInnen, InternationalistInnen und Anti-KapitalistInnen müssen diese reaktionäre Tendenz unversöhnlich bekämpfen. Sie müssen sich aktiv den spontanen, internationalistischen Tendenzen unter den ArbeiterInnen, in der Frauenbewegung, der Jugend, den Kämpfen gegen Imperialismus und Umweltzerstörung zuwenden. Nur so wird es möglich sein, diese AktivistInnen und KämpferInnen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen. So wie RevolutionärInnen für die Transformation der Gewerkschaften auch auf internationaler Ebene kämpfen müssen, so müssen sie für länderüberschreitende Aktionskonferenzen und demokratisch verantwortliche Koordinierungen des Kampfes eintreten. Die Sozialforen, die sich Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelten, können dabei als Vorbild dienen, ohne deren Schwächen – den Mangel an verbindlicher Beschlussfassung und gemeinsamer Aktion – zu wiederholen.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in Aufständen auf nationaler Ebene müssen RevolutionärInnen immer die Notwendigkeit einer neuen Internationale hervorheben. Wir treten von Beginn an für ein revolutionäres Programm ein – ohne jedoch die Zustimmung zu diesem zur Vorbedingung für gemeinsame internationale Kampfstrukturen und reale Schritte zum Aufbau einer neuen Masseninternationale zu machen. Um für eine solche Perspektive effektiv und gezielt eintreten zu können, müssen RevolutionärInnen selbst auf der Basis eines gemeinsamen Programms von Übergangsforderungen, eines Programm der sozialistischen Weltrevolution kämpfen. Wir fordern alle GenossInnen, alle sozialistischen und kommunistischen Strömungen, die eine solche Perspektive teilen, zur Vereinigung auf einem internationalen Programm auf, das wir hier zur Diskussion stellen, um gemeinsam für eine revolutionäre Antwort auf die kommenden Angriffe einzutreten.

Befreiung unserer Gewerkschaften von bürokratischer Kontrolle

Überall auf der Welt werden unsere Gewerkschaften von den KapitalistInnen angegriffen. Wenn wir uns bemühen unsere Gewerkschaften wachzurütteln und so aufzustellen, dass sie den Angriffen der Bosse widerstehen können, ist stets das größte Hindernis der lähmende Einfluss der Kaste von BürokratInnen, die unsere Organisationen den Bossen, ihren Regierungen und ihren Gesetzen unterwerfen. Die Angriffe der Bosse sind unerbittlich und bösartig. In den schwächeren und weniger entwickelten Ländern (den Halbkolonien) haben diktatorische Regime die Gewerkschaften zu Instrumenten des Staates gemacht, Streiks verboten und die freie Wahl von GewerkschaftsführerInnen verboten. Unabhängige Gewerkschaften und Betriebsorganisationen müssen aus der Illegalität heraus kämpfen und sind mit Verhaftungen, Folter und Mord konfrontiert. In den letzten Jahrzehnten wurden Gewerkschaften im globalen Süden angegriffen. Sehr große Teile der ArbeiterInnenklasse, auch in der Großindustrie und im staatlichen Sektor, sind aufgrund neoliberaler Angriffe und repressiver Gesetzgebung überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Zersplitterung der Gewerkschaften spiegelt dies wider und verstärkt es ebenso wie die politische Konfusion, die Beschränkung auf abgegrenzte Branchen und der Verrat der Gewerkschaftsführungen. Revolutionäre müssen nicht nur die Organisation der Unorganisierten fordern und dafür kämpfen, dass diese Politik in den bestehenden Gewerkschaften überwunden wird, sondern auch die Initiative zum Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung ergreifen.

In den entwickelten kapitalistischen Demokratien wurden gesetzliche Rechte der Gewerkschaften in jahrzehntelangen Klassenkämpfen errungen ,so dass der Staat die Gewerkschaften integrierte statt sie in die Illegalität zu treiben, indem er ihren FührerInnen Privilegien gewährte und sie in Strukturen der Klassenzusammenarbeit einband. Aber die KapitalistInnen hörten nicht auf Rechte abzubauen und unterwarfen die Gewerkschaften immer größeren rechtlichen Beschränkungen, um eine effektive Gewerkschaftsarbeit und Massenanwerbung zu behindern. Westliche Gerichte demonstrieren immer wieder den Klassencharakter des bürgerlichen Rechts, indem sie eingreifen, um Streikbeschlüsse zu kippen, Gewerkschaftsgelder zu beschlagnahmen und gewerkschaftsfeindlichen Firmen den Rücken zu stärken.

Heute findet das Kapital unabhängige Gewerkschaften immer unerträglicher. Wir müssen unsere Gewerkschaften verteidigen, für ihre Unabhängigkeit von KapitalistInnen und Staat kämpfen, den Kampf aufnehmen und Millionen neuer Mitglieder aus bisher nicht organisiertenBereichen, aus den prekären und überausgebeuteten Teilen der ArbeiterInnenschaft, also vor allem junge Menschen, MigrantInnen oder „Illegale“, zu gewinnen. Dieser Kampf wird auf unnachgiebigen Widerstand von innen, von der hoch bezahlten und undemokratischen Gewerkschaftsbürokratie treffen, die ihre Aufgabe als ewig begreift: Vereinbarungen in einer auf ewig kapitalistischen Wirtschaft auszuhandeln. In Krisenzeiten werden diese Deals dann zu Zugeständnissen an die Bosse, Löhne und Arbeitsbedingungen werden für Arbeitsplätze geopfert oder umgekehrt.

Die Ideologie der bürokratischen Gewerkschaftsführungen ist Gift für das Klassenbewusstsein des Proletariats. Anstelle des Internationalismus setzten sie vor allem in den imperialistischen Zentren auf Standortlogik und Wettbewerbsfähigkeit „ihres“ Unternehmens. Auf diese Weise tragen die GewerkschaftsbürokratInnen zusammen mit dem sozialchauvinistischen Reformismus der Sozialdemokratie und der selbsternannten „SozialistInnen“ Verantwortung dafür, dass sich in Zeiten des Rechtsruck rassistische Ideologien und nationale Borniertheit auch in Teilen der ArbeiterInnenklasse einnisten kann bzw. diese nicht wirkungsvoll bekämpft wird.

Die BürokratInnen fungieren oft als Polizei für Staat und Unternehmen, indem sie AktivistInnen schikanieren und mithelfen, sie vom Arbeitsplatz zu entfernen. RevolutionärInnen organisieren sich innerhalb der Gewerkschaften, um ihren Einfluss zu erhöhen bis hin zur Übernahme der Führung, während sie gleichzeitig immer ehrlich zur Basis sind und so offen bezüglich ihrer Ziele, wie es die staatliche Repression und die Gewerkschaftsbürokratie zulassen. In den bürokratischen Gewerkschaften regen wir die Bildung von Basisbewegungen an, die darauf abzielen, die Durchführung von Streiks und anderen Formen des Kampfes zu demokratisieren und die feste und überbezahlte Kaste der SpitzenfunkionärInnen durch gewählte und jederzeit abwählbare VertreterInnen zu ersetzen, die den gleichen Lohn wie alle erhalten.

Aber auch die demokratischste Gewerkschaftsbewegung hat ihre Grenzen. Die syndikalistische Idee, dass Gewerkschaften unabhängig sein sollten nicht nur von den Bossen, sondern auch von den politischen Parteien der ArbeiterInnenklasse, kann den Widerstand der ArbeiterInnen und den Kampf für ArbeiterInnenmacht nur schwächen. Stattdessen zielen RevolutionärInnen darauf ab, die Gewerkschaften so auszurichten, dass sie nicht nur für die Interessen einer Branche, sondern auch für die der ArbeiterInnenklasse als Ganzes kämpfen: über Industriesektoren, Berufs- und Betriebsgrenzen hinweg, für Befristete ebenso wie für das Stammpersonal, für die gegenwärtigen und auch die zukünftigen Beschäftigten, nicht nur in einem Land, sondern auch international. Wir fördern Klassenbewusstsein, nicht nur beschränktes, gewerkschaftliches Bewusstsein. Auf diese Weise können die Gewerkschaften wieder zu echten Schulen des Sozialismus und zu einer massiven Stütze für eine neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei werden.

Eine neue ArbeiterInnen-Internationale und revolutionäre Parteien in jedem Land haben die Pflicht, die bestehenden Gewerkschaften wo immer möglich zu erneuern, aber auch nicht vor einem formalen Bruch und der Bildung neuer Gewerkschaften zurückschrecken, wo die reformistische Bürokratie die Einheit unmöglich macht. Unorganisierte prekär Beschäftigte können ebenso organisiert werden wie diejenigen in neuen Hightech-Industrien trotz tyrannischer UnternehmerInnen und trotz Strukturen, die gemeinsame Aktionen durch Klassenkollaboration im Betrieb untergraben. Wir brauchen Organisationen in den Betrieben, die weder dem Diktat noch den Schmeicheleien der Bosse nachkommen (wie die meisten Betriebsräte), sondern die ArbeiterInnen mit militanten Kampfmethoden wie Massenstreiks, Besetzungen und, wenn nötig, einem Generalstreik verteidigen. Die Gewerkschaften dürfen nicht bürokratisch von oben nach unten kontrolliert werden, sondern müssen demokratisch sein, wo Unterschiede frei diskutiert werden können, wo FührerInnen kontrolliert und, wenn nötig, sofort abgewählt werden können.

Wir können nicht warten, bis die Gewerkschaften umgewandelt worden sind; wir müssen jetzt kämpfen. Wir fordern deshalb unablässig von den derzeitigen FührerInnen für die dringenden Bedürfnisse der Massen kämpfen, und wir warnen zugleich die Basis davor, ihnen zu vertrauen. Wir kämpfen für die Bildung von Basisbewegungen in den bestehenden Gewerkschaften, damit der Würgegriff der BürokratInnen gebrochen und trotz allem Aktionen durchgeführt werden können.

Obwohl wir für politische Organisierung innerhalb der Gewerkschaften sind, sind wir gegen politisch gespaltene Gewerkschaften, denn das fördert nur die Uneinigkeit und überlässt viele dem Einfluss der ReformistInnen oder sogar noch weiter rechtsstehenden Führungen. Wir kämpfen für die Bildung von Industriegewerkschaften, um das Gewicht der Beschäftigten gegenüber den UnternehmerInnen zu erhöhen. Dort wo noch mehrere Gewerkschaften in einer Branche oder in Konzernen und Betrieben bestehen, treten wir für ihre Vereinigung auf einer klassenkämpferischen Grundlage ein und für gemeinsame Komitees unter Basiskontrolle für Aktionen und Verhandlungen.

Wir kämpfen für die gewerkschaftliche Organisierung der großen Zahl unserer noch nicht organisierten Schwestern und Brüder, um die Gewerkschaften für junge ArbeiterInnen und rassistisch Unterdrückte zu öffnen. Wenn GewerkschaftsbürokratInnen dies verhindern, müssen neue Gewerkschaften gegründet werden. Unsere Leitlinie lautet: Zusammenarbeit mit den offiziellen FührerInnen, wo immer möglich, aber ohne sie, ja gegen sie, wo nötig!

Wir brauchen Gewerkschaften und Massenorganisationen, die die Masse der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten wirklich vereinen können und nicht von Männern oder Angehörigen von bessergestellten Schichten dominiert werden, die ausschließlich aus der bestimmenden nationalen oder ethnischen Gruppe innerhalb eines bestimmten Landes stammen. Das bedeutet, dass wir die Forderung nach vollen Rechten und volle Vertretung in den gewerkschaftlichen Führungsstrukturen für die unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse und der Armen unterstützen, für Frauen, Jugendliche, Minderheiten und MigrantInnen. Deshalb kämpfen wir für:

  • Die Organisierung der nicht organisierten ArbeiterInnen, einschließlich Frauen, MigrantInnen und Befristeten!
  • Gewerkschaften, die unter der Kontrolle ihrer Mitglieder stehen!
  • Für das Recht auf unabhängige Treffen (Causus) für alle sozial unterdrückten Gruppen: Frauen, rassistisch unterdrückte Minderheiten, LGBTIA-Menschen.
  • Einheit aller Gewerkschaften auf demokratischer und kämpferischer Basis, völlig unabhängig von den Bossen, ihren Parteien und ihren Staaten!

Ein Aktionsprogramm, das den Widerstand mit dem Kampf für die soziale Revolution verbindet

Allzu lange zerfielen die Programme der ArbeiterInnenparteien weltweit in ein Minimalprogramm stückweiser Reformen, die jederzeit von den KapitalistInnen wieder weggenommen werden können, solange diese die Macht im Staate haben, und andererseits– wenn es überhaupt auftauchte – ein Maximalprogramm, welches das Fernziel Sozialismus aufstellt, das aber von den aktuellen Forderungen abkoppelt ist und als weit entfernte Utopie präsentiert wird, anstatt es mit den wirklichen Auseinandersetzungen, die um uns herum stattfinden, zu verknüpfen.

Das Programm einer neuen Internationale muss mit diesem gescheiterten Modell brechen. Es muss eine Reihe zusammenhängender Übergangsforderungen vorschlagen, die die Losungen und Kampfformen, die nötig sind, um die kapitalistische Offensive abzuwehren, mit den Methoden verbindet, die wir brauchen, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, die ArbeiterInnenklasse an die Macht zu bringen und mit sozialistischen Produktionsplanung zu beginnen.

Dieses Übergangsprogramm greift alle lebenswichtigen sozialen, ökonomischen und politischen Tagesforderungen auf einschließlich jener unmittelbaren und demokratischen Forderungen, die auch vor der Abschaffung des kapitalistischen Eigentums erfüllt werden können: garantierter Mindestlohn, tatsächliche gleiche Bezahlung für Männer und Frauen, spürbare Besteuerung der Reichen und Großkonzerne. Gleichzeitig warnt es, dass der Kapitalismus in seiner historischen Krise solche Reformen nur angesichts der Bedrohung seiner Macht und seines Eigentums zugestehen wird. Selbst dann werden die KapitalistInnen versuchen, ihre Zugeständnisse rückgängig zu machen, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist und der Druck durch den Klassenkampf nachlässt.

Heute ist die Vorstellung, wir könnten den Sozialismus auf einem langsamen und friedlichen Weg sozialer  Reformen und gewerkschaftlicher Verhandlungen erreichen, noch utopischer als in der Vergangenheit. Ein Programm für Sozialismus muss die grundlegenden „Rechte“ der KapitalistInnen in Frage stellen: das Recht auf Ausbeutung, darauf den Profit über Menschen zu stellen, darauf auf Kosten der Armen reich zu werden, auf Umweltzerstörung und darauf unseren Kindern eine Zukunft zu verweigern.

Die heutigen Schlachten zu gewinnen, heißt, mit Blick auf die Zukunft zu kämpfen. Eine 5. Internationale wird deshalb Forderungen aufstellen und Organisationsformen vorschlagen müssen, die nicht nur die aktuellen Probleme des Kampfes lösen, sondern die Werktätigen dazu befähigen die Macht zu ergreifen und auszuüben. Die Kombination dieser Elemente ist keine künstliche Übung. Sie hängen aufgrund der realen Klassenkampfbedingungen in dieser Periode des kapitalistischen Niedergangs eng miteinander zusammen.

Um das Tor zur zukünftigen Gesellschaft aufzustoßen, fordert unser Programm die Durchsetzung der ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion und deren Ausweitung auf immer weitere Bereiche, von Fabriken, Büros, Transportwesen und Einzelhandelsketten, auf Banken und Geldinstitute. Das bedeutet: Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses; Vetorecht der Beschäftigten gegen Entlassungen; ArbeiterInneninspektion und -kontrolle darüber, was und wie produziert wird; automatische Lohnerhöhung für jede Preissteigerung zur Inflationsbekämpfung und die Verstaatlichung (Enteignung) ohne Entschädigung von KapitalistInnen, deren Sabotage zu Störungen führen soll.

Außerdem muss der Kampf dafür, diese Forderungen durchzusetzen, sie den Bossen aufzuzwingen ganz neue Organisationsformen anwenden, die über das traditionelle Vorgehen von GewerkschafterInnen oder einer Partei, die ausschließlich darauf orientiert ist, Wahlen zu gewinnen, hinausgehen. Bei jeder Ebene des Kampfes muss es zur Norm werden, dass demokratische Versammlungen aller Beteiligten die Entscheidungen treffen. Diesen Versammlungen verpflichtete, gewählte und absetzbare Delegierte sollten mit der Durchführung der Entscheidungen und der Kampfleitung beauftragt werden. Von durch die gesamte Belegschaft gewählten Streikkomitees über Preiskontrollkomitees, die alle Lohnabhängigen des Wohnbezirks, Männer wie Frauen einschließen und ArbeiterInneninspektionsteams, die die Firmenbilanzen prüfen, bis zu bewaffneten Streikposteneinheiten, die Streikende schützen, sind solche Organisationen nicht nur erforderlich, um heutige Schlachten zu gewinnen, sondern die Grundlagen für die Kampforganisationen von morgen zu bilden in der Auseinandersetzung um die Staatsmacht und danach in den zukünftigen Organen des ArbeiterInnenstaats.

ArbeiterInnen, die heute im Kampf gegen Sozialabbau und Sparprogramme stehen, können einzelne oder mehrere dieser Forderungen gegen bestimmte Angriffe erheben, aber das sozialistische Ziel des Programms wird nur erreicht werden können, wenn sie als zusammenhängendes System von Losungen für die Umwandlung der Gesellschaft aufgegriffen und erkämpft werden. Das volle Übergangsprogramm stellt eine Strategie für ArbeiterInnenmacht dar. Aus diesem Grunde sind unsere Forderungen auch keine passiven Appelle an Regierungen oder UnternehmerInnen, sondern Parolen für die Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse zum Sturz und zur Enteignung der KapitalistInnen.

Wir zahlen nicht für ihre Krisen – gegen Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Ungleichheit

Vor dem Ausbruch der Großen Krise im Jahr 2008 lag die Arbeitslosigkeit in den USA, dem reichsten Land der Welt, bei rund 5 Prozent. Bis Oktober 2010 hatte sie sich auf einen Höchststand von 10 Prozent verdoppelt. Nach Angaben der Behörde für Arbeitsstatistik (Bureau of Labor Statistics) gingen bis zu diesem Zeitpunkt 8,8 Millionen Arbeitsplätze verloren. Obwohl die Arbeitslosigkeit im Jahr 2018 infolge der Erholung im Februar 2018 auf 4,1 Prozent und im August auf 3,9 Prozent gesunken war, lebten laut Bundesstatistik noch 12,6 Prozent der AmerikanerInnen unter der Armutsgrenze, rund 43,1 Millionen. Wo ist also der ganze Reichtum? Nun, in den Taschen von 540 US-MilliardärInnen mit einem Gesamtnettobetrag von 2.399 Billionen Dollar, mehr als einem Viertel sowohl der weltweiten Gesamtsumme der Vermögenswerte als auch der weltweiten Personenzahl. Die reichsten 1 Prozent der Haushalte erhielten 2013 rund 20 Prozent des Einkommens vor Steuern. Die untersten 50 Prozent verdienten 2014 13 Prozent.

Weltweit leben drei Milliarden Menschen, fast die Hälfte der Weltbevölkerung, von weniger als zweieinhalb Dollar pro Tag. Mindestens 80 Prozent der Menschheit lebt von weniger als 10 Dollar pro Tag. Weit über eine Milliarde Menschen leben in absoluter Armut. Rund 2,6 Milliarden Menschen haben keine sanitäre Grundversorgung und 1,6 Milliarden leben ohne Strom. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, in denen sich die Ungleichheit unerbittlich vergrößert. Es ist empörend, dass die KapitalistInnen Millionen und Abermillionen von Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und Teilzeitkräften als ihre Reservearmee einsetzen, die nur dann beschäftigt wird, wenn die Gewinne auf ihrem Höhepunkt sind, und in Zeiten der Rezession oder Stagnation beiseitegeschoben wird und für sich selbst sorgen muss. Ob kleine Unternehmen oder internationale Konzerne, sie verlagern ihre Fabriken, Banken und Büros dorthin, wo sie den maximalen Profit erzielen können, angetrieben vom Wettbewerb mit ihren KonkurrentInnen. Die kapitalistische Produktion saugt die ArbeiterInnen ständig auf, bevor sie sie wieder ausspuckt, wobei die KapitalistInnen erwarten, dass die Kosten für deren Unterhalt von der ganzen ArbeiterInnenklasse, dem Familienverband oder zunehmend von den Lebensmittelspenden/Tafeln und von Flüchtlingslagern getragen werden. Wir fordern, dass sie ihre Rechnung bezahlen.

Darüber hinaus droht mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Robotern eine massiver Ersetzung lebender Arbeitskraft. Autonome Waffen ersetzen bereits SoldatInnen und selbstfahrende Autos FahrerInnen. Wie alle früheren Wellen der Mechanisierung gezeigt haben, träumen im Kapitalismus die UnternehmerInnen nur davon, die Arbeitskosten zu senken, nicht die Arbeitsstunden. Die KI bedroht die Arbeitsplätze von Büroangestellten in großem Umfang. Doch die ArbeiterInnenklasse hat schon vor langer Zeit gelernt, dass die Einschränkung der Anwendung neuer Technologien („Maschinenstürmerei“ oder Luddismus) eine hoffnungslose Reaktion ist. ArbeiterInneninspektion und -kontrolle, Arbeitszeitverkürzung und die Beseitigung gefährlicher Formen der Arbeit müssen zu sozialen Zielen werden. KI und Roboter könnten im Rahmen einer geplanten und sozialisierten Wirtschaft die Menschheit enorm befreien, die menschliche Arbeit verbessern und mehr Möglichkeiten für die menschliche Intelligenz schaffen, kreativ tätig zu werden.

Angesichts der Offensive der alten und neuen Bosse müssen wir für eine ArbeiterInneneinheitsfront kämpfen, für die gemeinsame Aktion der ArbeiterInnenklasse sowohl in jedem Land als auch über die Grenzen und Meere hinweg:

  • Gegen alle Betriebsschließungen und Entlassungen, gegen jede Lohnkürzung!
  • Gegen Massenentlassungen – Weiterbeschäftigung der ArbeiterInnen bei vollem Lohn durch die Unternehmen oder den Staat!
  • Für Streiks und Besetzungen von allen Betrieben, die von Schließung bedroht sind!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung aller Firmen, die Entlassungen ankündigen, mit Produktionsverlagerung drohen, weniger als den Mindestlohn bezahlen, Arbeitsschutzrichtlinien nicht beachten oder keine Steuern zahlen! Die gesamte Belegschaft soll die Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle und eigener Leitung weiterführen!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung der Banken und Fusion zu einer einheitlichen Staatsbank unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für ein Programm öffentlicher Arbeiten zwecks Verbesserung von Sozialdiensten, der Gesundheitsversorgung, des Wohnungswesen, des öffentlichem Verkehrsnetzes und des Zustands der Umwelt unter Kontrolle der ArbeiterInnen und ihrer Wohngemeinden!
  • Kürzt die Arbeitswoche, nicht die Stellen! Aufteilung der verfügbaren Arbeit auf alle Arbeitsfähigen! Gleitende Skala der Arbeitszeit zur Verkürzung des Arbeitstages und Eingliederung der Arbeitslosen ohne Lohnverlust oder sonstige Einbußen!
  • Für einen nationalen Mindestlohn, festgelegt von ArbeiterInnenkomitees in einer Höhe, die allen ein erträgliches Leben sichert!
  • Gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse: gegen alle Arten ungeschützter, informeller oder befristeter Arbeitsverträge (Prekarisierung)! Alle solche Verträge sollen in unbefristete mit vollen Schutzrechten umgewandelt werden! Löhne und Arbeitsverhältnisse sollen durch Kollektivvereinbarungen geregelt und durch Gewerkschaften und betriebliche VertreterInnen kontrolliert werden!
  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedes Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von VertreterInnen aus Betrieben, Elendsvierteln, ArbeiterInnenorganisationen, Frauen, KleinhändlerInnen und VerbraucherInnen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die ArbeiterInnen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!
  • Offenlegung der Bücher: Auf der ganzen Welt feuern Regierung und PrivatunternehmerInnen ArbeiterInnen, melden Konkurs an, fordern Sparmaßnahmen und mehr Effizienz, nötigen zu Produktivitätsverbesserungen. Die Antwort der Beschäftigten in den privaten Industrie und im Öffentlichen Dienst muss lauten: „Offenlegung der Bücher! Öffnet alle Konten, Datenarchive, Finanz-, Bank-, Steuer- und Geschäftsführungsinformationen zur Einsichtnahme für die ArbeiterInnen!“
  • Kampf der Arbeitsverdichtung! Nieder mit der Verschärfung des Arbeitstempos und der „Effizienzsteigerungen“ durch die Bosse! Sie sind nur Versuche, die Ausbeutung zu steigern und Profite hochzutreiben und gefährden unsere Gesundheit, Sicherheit und Leben.
  • Nein zu Ausgliederung und Verlagerung ohne Zustimmung der Arbeitenden! Statt Konflikten zwischen LohnarbeiterInnen unterschiedlicher Nationalität um die selben Arbeitsplätze: Angleichung der Bezahlung nach oben, Bildung internationaler Verbände aus ArbeiterInnen in gleichen Firmen und Branchen! Kollektivabmachungen und Rechtsgleichheit für Angestellte von Subunternehmen, als wären sie Beschäftigte bei dem Generalunternehmen!
  • Für ArbeiterInnenkontrolle gegen Managemententscheidungen! Nein zu Co-Management, „Sozialpartnerschaft“ o. a. Formen von Klassenzusammenarbeit, mit denen unsere Gewerkschaften die Angriffe der Bosse verwalten! Stattdessen: Für ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion und die Einführung neuer Technologien zum Nutzen der ArbeiterInnen und ihrer Familien, nicht zu Zwecke des Jobverlustes oder zur Verarmung.

Besteuerung der Reichen, nicht der Armen

Während Milliarden in Armut leben, lebt eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus. Im Jahr 2016 erreichte die Zahl der MilliardärInnen 1.810. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Direkt unter den MilliardärInnen leben Hunderttausende von MultimillionärInnen in schamlosem Luxus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und 16.000 Kinder jeden Tag an den Folgen des Hungers sterben.

Diese Klasse von ParasitInnen erhebt bei jedem Versuch, sie zu besteuern und ihren Reichtum neu zu verteilen, ein lautes Geschrei. Sie verschieben ihr Geld in „Steuerparadiese“ und manipulieren ihre Staatsangehörigkeit oder ihren aufenthaltsrechtlichen Status, um Steuerzahlungen überhaupt zu umgehen. Gleichzeitig starten sie ständig Kampagnen, dafür dass die ArbeiterInnenschaft das Gros der Steuerlast bezahlt mittels indirekter Steuern auf Waren des Grundbedarfs wie Treibstoff, Lebens- und Genussmittel, und die Steuern auf Geschäftstätigkeit und Vermögen dafür drastisch gesenkt werden.

Nicht ArbeiterInnen und kleine Selbständige sollen zahlen, sondern die Reichen, KapitalistInnen, Industrielle, Bankiers und Finanzleute!

  • Beschlagnahme des Privatvermögens der MilliardärInnen und Superreichen!
  • Für starke Besteuerung der Reichen zwecks Finanzierung von Sozialwesen, Schulen, Krankenhäusern und eines massiven Programms zur Beseitigung der Armut!
  • Kampf der Steuerhinterziehung! Abschaffung der Steueroasen und Steuervermeidungs-Branche!
  • Weg mit allen indirekten Steuern! Streichung aller staatlichen und privaten Schulden!
  • Verstaatlichung der Aktienbörsen!
  • Übernahme der kapitalistischen Großindustrie! Für entschädigungslose Verstaatlichung der Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle!

Stopp der Privatisierung – für eine massive Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen

Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und sinkenden Lohneinkünften in Aufschwüngen wie Rezessionen zielen eine Reihe von erbarmungslosen Austeritätsprogrammen – zynisch „Reformen“ genannt – darauf ab, die Steuerlast für die Reichen zu mindern und ArbeiterInnen sowie Arme dazu zu bringen, immer mehr für immer schlechtere Leistungen im Gesundheitswesen, in der Bildung und für Sozialeinrichtungen zu bezahlen. Öffentliche Dienstleistungen außerhalb des Bereichs privaten Profits, die die ArbeiterInnen als Ergebnis von mehr als einem halben Jahrhundert Kampf abgetrotzt haben, werden abgebaut oder dem privaten Kapital übergeben, um daraus ein Vermögen zu machen. Die MillionärInnen, die bereits von unserer Arbeit profitieren, wollen auch aus unserer Kindheit, unserem Alter, unserer Krankheit Kapital schlagen. Sie besitzen die Frechheit zu fordern, dass Wohlfahrt und Renten gekürzt werden sollen, „um die Selbstständigkeit zu fördern und die Kultur der Abhängigkeit zu bekämpfen“!

  • Keine einzige Streichung öffentlicher Dienstleistungen, keine einzige Privatisierung!
  • Verteidigung der besten bestehenden Sozial- und Gesundheitssysteme und Ausweitung auf die Milliarden Menschen, die bislang überhaupt noch nicht in den Genuss dieser Einrichtungen kommen konnten! Verstaatlichung privater Schulen und Kliniken! Erziehung und Krankenhäuser unter Kontrolle von ArbeiterInnen und NutzerInnen! Schulen, Hospitäler, ÄrztInnen, Arzneimittel und Universitäten sollen für alle frei zugänglich und kostenlos sein!
  • Keine Rentenabsenkungen, sondern Erhöhung und Ausdehnung auf alle noch nicht Bezugsberechtigten! Verstaatlichung privater Rentenfonds und Verschmelzung zu einer einheitlichen, staatlich garantierten Rente/Pension!
  • Keine weiteren Privatisierungen! Verstaatlichung grundlegender Infrastruktur wie Wasser, Energie und Verkehr! Kündigung aller Verträge zur (teilweisen) Vergabe von öffentlichen Diensten an Private, Aufhebung aller Sonderwirtschaftszonen und aller staatlicher Vergünstigungen an Unternehmen; Forschung und Entwicklung unter staatliche Kontrolle, finanziert aus der beschlagnahmten privaten Profiten!
  • ArbeiterInnen und Arme sollen sich zusammentun, um einen Forderungskatalog für grundlegende Infrastruktur-Verbesserungen, für ein umfangreiches Programm öffentlicher Arbeiten zu erstellen.
  • Für entschädigungslose Enteignung!

Jahrelang schien die Idee der Verstaatlichung im Staub der Geschichte verschwunden. Weit entfernt davon die Verstaatlichung von Privateigentum auch nur zu erwägen, privatisierten prokapitalistische Regierungen rund um den Globus den öffentlichen Sektor. Elementare Dienste und Einrichtungen wie Wasser- und Elektrizitätswerke, Gesundheits- und Bildungswesen wurden den KapitalistInnen übergeben, die sie zu Profitzwecken und nicht zur Befriedigung von Bedürfnisse betrieben.

So wichtig öffentliche Dienstleistungen auch sind, vor allem, wenn sie zum Zeitpunkt der Erbringung nicht bezahlt werden müssen, sondern aus einer progressiven Besteuerung oder aus einer Pflichtsozialversicherung finanziert werden, sind sie doch immer noch kein Sozialismus. Wenn sie ihre notwendigen Materialien und Dienste von KapitalistInnen kaufen müssen, Entschädigungen an ehemalige EigentümerInnen zahlen müssen, mit Privatunternehmen konkurrieren oder kapitalistische Managementmethoden anwenden und allgemein immer  von Kürzungen durch kapitalistische Regierungen bedroht sind, können sie sich nie ganz aus der Zwangsjacke des Profitsystems befreien. Die ArbeiterInnen müssen lernen, die kapitalistische Verstaatlichung von der Sozialisierung und Enteignung durch die ArbeiterInnenklasse zu unterscheiden, deren Ziel es ist, die Bosse für immer zu enteignen. Nur so können öffentliche Dienste von der Wiege bis zur Bahre von höchster Qualität geplant und erbracht werden, um die Bedürftigkeit abzuschaffen und die Gleichheit zu verwirklichen.

  • Keine Überbrückungskredite oder Lohnstundungen für KapitalistInnen auf Kosten der ArbeiterInnen und Angestellten!
  • Keine Sozialisierung von Verlusten oder Rettung bankrotter Unternehmen durch Steuergelder!
  • Verstaatlichung der Vermögen, nicht der Verluste!
  • Der Staat als neuer Eigentümer muss sich konsequent der Methode verweigern, Teile der Belegschaft zu entlassen, um dann die Firma billig wieder an KapitalistInnen zu verscherbeln.
  • Keine Entschädigung für enteignete KapitalistInnen!

Anstelle einer Mischung aus Staats- und Privateigentum innerhalb des chaotischen  Fressen-und Gefressenwerdens der Marktwirtschaft, wollen wir einen demokratischen Produktionsplan, gemäß dem alle Ressourcen der Welt inklusive der menschlichen Arbeit rational und entsprechend dem Willen der Menschen eingesetzt werden. Dann können wir wirklich gemäß den Bedürfnissen der Menschen produzieren, nicht für die Habgier einiger weniger. Letztlich verknüpfen KommunistInnen den Kampf um Enteignung dieser oder jener Industrie immer mit der Notwendigkeit, die Kapitalistenklasse als ganze zu enteignen. Denn das Staatseigentum wird günstige Resultate liefern „nur, wenn die Staatsmacht selbst vollständig aus den Händen der AusbeuterInnen in die der Werktätigen übergeht“, wie es Trotzki formulierte.

Abschaffung des internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank

Das System und die Machenschaften der internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Welthandelsorganisation WTO und Weltbank) wurden durch eine Reihe von mutigen, weltumspannenden Massenbewegungen aufgedeckt und angeprangert. Die heuchlerischen Versprechen dieser imperialistischen Einrichtungen, Schuldenerlasse für die „Dritte Welt“ vorzunehmen und neue Entwicklungsimpulse zu setzen, haben sich als völlig haltlos erwiesen, weil die reichen Länder ihre Versprechen brachen und stattdessen ihre Entwicklungshilfebudgets noch kürzten. Ihre Behauptung, sie hätten ein „neues Modell“ für eine krisenfreie Welt entworfen, brach mit dem Platzen der Finanzblase 2008 zusammen. Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die geglaubt hatten, die internationalen Finanzinstitutionen würden irgendwie verschwinden oder sich selbst reformieren, haben sich schwer getäuscht. Als die angebliche „Gegensteuerung gegen die Krise“ wieder Kürzungsprogrammen Platz machte, gingen der IWF und seine Hilfstruppen wieder zur Offensive über. Heute ist es nötiger denn je, den Widerstand aufzunehmen und zu fordern:

  • Bedingungslose und vollständige Streichung der Schulden aller halbkolonialen Länder!
  • Die imperialistischen Staaten müssen die halbkoloniale Welt für die Ausplünderung ihrer natürlichen und menschlichen Ressourcen entschädigen!
  • Nein zum Protektionismus der entwickelten Länder gegen Produkte des globalen Südens! Abschaffung der amerikanischen Wirtschaftszone NAFTA, der gemeinsamen Agrarpolitik (der EU) u.a. protektionistischer Waffen des Imperialismus! Umgekehrt treten wir jedoch für das Recht von Ländern der „Dritten Welt“ ein, ihre Märkte vor Billigimporten aus den imperialistischen Ländern zu schützen.
  • Abschaffung von IWF, Weltbank und WTO!
  • Verstaatlichung der großen Banken und Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle!

Umweltkatastrophe stoppen, Umweltimperialismus bekämpfen

Die Verschlechterung und Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde schreitet unvermindert fort und nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Die immer häufigeren extremen Wetterereignisse, immer heftigere Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände, ausgedehntere Dürreperioden, das Abschmelzen der Eiskappen, welches zu einem bedrohlichen Anstieg des Meeresspiegels führen wird und viele Länder mit totaler Überschwemmung bedroht, sind alle Indizien für den fortschreitenden Klimawandel auf der Erde.

Der Klimawandel, verursacht durch den massiven Ausstoß von Treibhausgasen, stellt die größte Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten dar. Aber er ist wahrlich nicht die einzige. Die Versauerung und zunehmende Vermüllung und Verschmutzung der Ozeane, die Überlastung und Unterbrechung von Nährstoffkreisläufen, die Übernutzung von Trinkwasserressourcen und Verschmutzung von Gewässern, die Dezimierung der Biodiversität und die Anreicherung von giftigen Chemikalien in der Umwelt – all das sind sehr bedrohliche Entwicklungen für die Existenz der gesamten Menschheit.

Während Eingriffe in die Umwelt und die Nutzung der Umwelt für menschliche Bedürfnisse notwendig sind und auch im Sozialismus fortbestehen werden, ist es der Kapitalismus, der aus seinem grenzenlosen Drang nach Kapitalakkumulation die Umwelt um der Profite willen zerstört. Die großen Wirtschaftsmächte der Welt weigern sich hartnäckig, wirksame Maßnahmen für ein Umsteuern zu ergreifen. Die Unvereinbarkeit kapitalistischer „Entwicklung“ mit der Erhaltung und Wiederherstellung eines für menschliche Gesellschaften wünschenswerten Zustands der Umwelt, von der alles Leben abhängt, wird hier besonders deutlich. Der unstillbare Drang des Kapitals nach maximalem Gewinn forciert nicht nur die Ausbeutung der Menschen, sondern auch der natürlichen Ressourcen, die für den künftigen menschlichen Fortschritt erforderlich sind.

Diese Phänomene, neben der Bedrohung durch einen globalen Krieg, zeugen davon, dass der Kapitalismus ein im Sterben liegendes System ist. Die entscheidende Frage ist, ob er rechtzeitig durch eine revolutionäre Umwälzung überwunden wird, oder ob die Menschheit mit ihm den Weg in die Barbarei und sozialen Rückschritt beschreitet. Trumps Ankündigung von 2017, dass die USA das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen und anderer „Klimakiller“ zurückweisen wollen, bestätigt dies. Doch der US-Rückzug verhüllt die Tatsache, dass weder die „entwickelten“ Hauptemittenten der Welt wie die USA, Japan und die Europäische Union noch die „sich entwickelnden“ Giganten wie China und Indien wirklich bereit sind, die Gewinne der Konzerne zu gefährden, um die notwendigen Emissionsminderungen vorzunehmen. Schlimmer noch: die meisten Regierungen und Großkonzerne ignorieren weiterhin alle Pläne und Vorschläge von WissenschaftlerInnen und UmweltaktivistInnen, wie die bevorstehende Katastrophe zu verlangsamen oder umzukehren ist.

Der Kapitalismus zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern hat sich global zu einem System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung in den halb-kolonialen Ländern wird systematisch ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen intensiviert, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu vermehren. Die sozio-ökologischen Auswirkungen werden systematisch in die Halbkolonien ausgelagert. Der Umweltimperialismus ist gekennzeichnet durch unregulierte Weltmärkte, in denen der Handel zugunsten der reichen, imperialistischen Länder organisiert wird. Grundlage dafür ist die immer weiter zunehmende Konzentration von Kapital und die Unterdrückung der halb-kolonialen Länder mithilfe der Kontrolle über entscheidende Technologien und mittels des Kapitalexports.

Alle Proteste der Betroffenen in den Halbkolonien gegen die Projekte der großen Agro-, Saatgut-, Bergbau-, Energiekonzerne etc. führen sofort zum Auftreten der internationalen Geldgeber und Institutionen, die die Regierungen vor Ort dann meist als willige Vollzugsorgane vorfinden. In den imperialistischen Zentren wird der tatsächlich betriebene Raubbau an Mensch und Natur dann mit zynischen Kampagnen über angeblich „nachhaltige“ Produktion verbunden, die es aber nur für die Menschen dort gibt . Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss, ausgehend von den Betroffenen und den globalen Interessen der ArbeiterInnenklasse, auch zentral Forderungen zum Kampf gegen den weltumspannenden ökologischen Raubbau zu Lasten vor allem der Halbkolonien entwickeln.

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur gemildert und umgekehrt werden, wenn die Kontrolle über die Produktion den Händen der großen Kapitalformationen entzogen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich starker Widerstand gegen Umweltzerstörung und die Bedrohungen des Klimawandels herausgebildet, ausgehend von lokalen Initiativen gegen bestimmte Großprojekte, großen Bewegungen gegen die falschen politischen Antworten z.B. zur Klimapolitik, Widerstand in Halbkolonien, aber auch Umweltbewegungen in den imperialistischen Zentren. In Europa waren es die Jugendlichen, die mit weltweiten Schüler- und Schulstreiks und direkten Aktionen die Vorreiterrolle spielten. Die Arbeiterbewegung muss sich mit ihnen verbinden, ihre Aktionen und Kampagnen unterstützen und erweitern, ohne zu versuchen, ihre Begeisterung zu unterdrücken. In gewissen Bereichen konnte das bisher ungehemmte Handeln der Großkonzerne und ihrer Helfershelfer in Bezug auf Umweltfragen gebremst werden. Es ist notwendig, diese Erfolge zu einer gesellschaftlichen Kontrolle über die sozio-ökologischen Auswirkungen von ökonomischen Entscheidungen auszubauen. Demokratische legitimierte Kontrollorgane aus Beschäftigten, KonsumentInnen, Betroffenen von Großprojekten, um ihre Zukunft kämpfenden Jugendlichen etc. müssen gebildet und befähigt werden, um über Projekte, Gefährdungsstufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen etc. zu entscheiden. Dem Kapital muss systematisch die gesellschaftliche Kontrolle in Bezug auf die sozio-ökologischen Auswirkungen seines Handelns entgegengesetzt werden. Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und die geplante optimale Nutzung der Ressourcen unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen.

Die folgenden Forderungen richten sich nicht einfach an staatliche und supra-nationale Umweltpolitik, sondern sind Forderungen, die sich nur in einer internationalen Bewegung umsetzen lassen, die die zuvor dargestellte Form demokratisch legitimierter gesellschaftlicher Kontrolle über die hier geforderten Maßnahmen durchsetzt.

  • Für einen Notfallplan zum Umbau des Energie- und Transportsystems – weg vom weltumspannenden Verbrauch fossiler Brenn- und Treibstoffe!
  • Die großen Konzerne und imperialistischen Staaten wie die USA und die EU müssen für die Umweltzerstörung bezahlen, die sie im Rest der Welt verursacht haben. Für Reparationszahlungen, um die halb-kolonialen Ländern darin zu unterstützen, den notwendigen ökologischen Wandel herbeizuführen.
  • Für einen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in regenerative Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien!
  • Für ein großes globales Programm zur Wiederaufforstung zerstörter Wälder bei gleichzeitigem Schutz der noch vorhandenen naturnahen Ökosysteme!
  • Für den Schutz und das Recht auf Selbstbestimmung der indigenen Völker!
  • Für die Unterstützung der Kämpfe der von Umweltzerstörung bedrohten Bevölkerungen und indigener Völker!
  • Für ein globales Programm zum Schutz der Wasserressourcen. Für massive Investitionen in Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung!
  • Für ein globales Programm zur Ressourcenschonung, Müllvermeidung und Abfallmanagement.
  • Für die Umstellung der Landwirtschaft auf nachhaltige Anbaumethoden. Für die Enteignung des Großgrundbesitzes und eine Verteilung von Land an die Menschen, die es bebauen (wollen). Für tiergerechte Haltungsbedingungen in allen landwirtschaftlichen Betrieben! Für die Intensivierung der Erforschung nachhaltiger Anbausysteme unter Kontrolle der BäuerInnen und ArbeiterInnen! Wo nötig auch die Verpflichtung zur Anwendung von ökologisch nachhaltigen Anbaumethoden wie der ökologischen Landwirtschaft unter Berücksichtigung der Ernährungssicherheit.
  • Kostenloser Nahverkehr für alle und massive Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme! Umbau des Verkehrssystems zu einem auf Schienenverkehr basierenden System, sowohl bei der Personen, als auch bei der Güterbeförderung. Gleichzeitig massive Reduktion von Auto, LKW und Flugverkehr!
  • Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses! Abschaffung des Patentschutzes! Für die Zusammenführen dieses Wissens, um nachhaltige Alternativen zu bestehenden Technologien zu schaffen. Echte Unterstützung der weniger entwickelten Ländern durch Technologietransfer!
  • Verstaatlichung aller Umweltressourcen, wie Agrarflächen, Wälder und Gewässer.
  • Verstaatlichung aller Energiekonzerne und aller Unternehmen mit Monopolen auf grundlegende Güter wie Wasserwirtschaft, der Agrarindustrie sowie aller Luftverkehrsgesellschaften, Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für eine restriktive Chemikalienpolitik nach dem Vorsorgeprinzip, dh keine Zulassung solche Stoffe, die im Verdacht stehen schädlich zu sein! Für das Verbot von Chemikalien, die erwiesenermaßen oder wahrscheinlich gesundheitsgefährend und/oder umweltzerstörend sind, wie z.B. Glyphosat! Grenzwerte oder Gefahrenstufen in der Chemikalienverwendung müssen von Organen demokratisch legitimierter gesellschaftlicher Kontrolle bestimmt werden!

Für den Umbau unserer Städte

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten, aber die Mehrheit von ihnen in Baracken- und Elendsvierteln ohne richtige Straßen, Beleuchtung, sauberes Trinkwasser oder Abwasser- und Abfallentsorgung. Ihre behelfsmäßigen Konstrukionen werden von Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Tsunamis weggerissen, wie wir es in Indonesien, Bangladesch, New Orleans und auf Haiti gesehen haben. Hunderttausende sterben nicht einfach an diesen „natürlichen“ Ereignissen, sondern an einer von Armut geprägten Infrastruktur. Die Flucht der Menschen in die Städte wird durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, des Großgrundbesitzes und der Agrarindustrie getrieben, ein Leben auf dem Land zu ermöglichen.

Nur wenige BewohnerInnen dieser Viertel haben dauerhafte und sichere Arbeitsplätze. Ihre Kinder haben keinen Zugang zu Tagesstätten, Kliniken oder Schulen. Kriminelle Banden, DrogendealerInnen und Polizei nötigen und erpressen die BewohnerInnen. Frauen und Jugendliche werden in Prostitution und sexuelle Sklaverei oder Sklavereiarbeit in gefährlichen und gesundheitsschädigenden Klitschen (Sweatshops) gezwungen. Echte Sklaverei und der Handel mit Menschen nehmen wieder zu. Dies ist ein weiteres Phänomen, das nach Abschaffung des Kapitalismus schreit! Dieses entsetzliche Anhäufung menschlichen Elends muss ein Ende haben.

Dies kann aber nicht mit dem bisschen Hilfe aus reichen Ländern, Spendenveranstaltungen, NGOs oder von Kirchen, Moscheen und Tempeln betriebenen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht werden. Auch Selbsthilfe- oder Mikrokreditprogramme können diese enormen Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung der Barrios, Favelas und Townships kann, wie sie gezeigt hat, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Durch Massenmobilisierungen in Venezuela, Bolivien und Südafrika konnte sie bereits Reformen durchsetzen. Im Verbund mit der ArbeiterInnenklasse kann sie mittels einer gemeinsam durchgeführten sozialen Revolution den repressiven Staat und die wirtschaftliche Ausbeutung zerschlagen und an ihrer Stelle eine auf Komitees und Räten der ArbeiterInnen und Armen gegründete Gesellschaft aufbauen als Instrument zur vollständigen Transformation unserer Städte.

  • Wohnungen, Licht und Strom, Abwasser- und Müllentsorgung, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel für die EinwohnerInnen der riesigen und rasch wachsenden Armutsviertel, die alle Großstädte der „Entwicklungsländer“ umgeben, von Manila und Karatschi bis Mumbai, Mexiko-Stadt und Sao Paulo!
  • Für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und der Armen! Für einen kostenlosen Personennahverkehr und Berufsverkehr für die ArbeiterInnen!
  • Massive Investitionen in Sozial- und Gesundheitsdienste, Wohnungswesen, öffentliche Verkehrsmittel und eine saubere, nachhaltige Umwelt!
  • Unterstützung der Kämpfe von Kleinbauern/-bäuerinnen, LandarbeiterInnen und Landlosen!

Die Landfrage und das Leben auf dem Land

Noch leben 45 Prozent der Menschheit in Dörfern, auf Plantagen und in den ländlichen Gemeinschaften indigener Völker. Bis 2050, so schätzt die UNO, wird sich diese Zahl auf ein Drittel reduzieren. Die Landflucht ist nicht nur durch den Reiz des Stadtlebens motiviert. Für die meisten MigrantInnen überwiegen die Nachteile der Slums, der Kriminalität und der Überausbeutung die Vorzüge des Stadtlebens bei weitem. Verantwortlich ist vielmehr die Unfähigkeit des Kapitalismus, ein Minimum an würdigem Leben auf dem Land zu bieten. Das Ausbleiben und Scheitern von Landreformen hat die Arbeitslosigkeit in den Dörfern und Landlosigkeit verstärkt. Die Kluft zwischen Einkommen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Kommunikation dort und dem in den Städten verfügbaren ist oft enorm. Darüber hinaus sind die LandbewohnerInnen von der Zerstörung der ländlichen Umwelt durch Industriezweige wie Holzwirtschaft, Bergbau sowie durch Monokulturen und andere wirtschaftliche Aktivitäten betroffen, die zu Überschwemmungen oder zur Auslaugung des Bodens führen. Zugleich konzentriert der Kapitalismus unermüdlich Landbesitz in den Händen einer wohlhabenden Elite oder des internationalen Agrobusiness. Von China und Bengalen bis Südamerika und Afrika werden Bauern/Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften vom besten Land vertrieben und müssen in die Slums der Städte wandern.

Das Leben auf den Plantagen, auf denen Zucker, Kaffee, Tee, Baumwolle, Sisal, Gummi, Tabak und Bananen erzeugt werden, reproduziert viele der Merkmale der Sklaverei und von unfreien Vertragsarbeitsverhältnissen. PlantagenarbeiterInnen werden oft in Schuldknechtschaft gezwungen. Eine Revolution auf dem Lande, angeführt vom Proletariat, den landlosen Bauern/Bäuerinnen oder kleinen LandbesitzerInnen, bleibt immer noch eine mächtige Verbündete der städtischen ArbeiterInnenschaft und diese ist wiederum eine unverzichtbare Unterstützung für ihre Schwestern und Brüder auf dem Land.

  • Enteignung der OligarchInnen, ehemals kolonialer Plantagen und des multinationalen Agrobusiness unter Kontrolle von ArbeiterInnen, armen Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen!
  • Das Land denen, die es bebauen!
  • Abschaffung der Pachtrente und Streichung aller Schulden der armen Bauern/Bäuerinnen!
  • Kostenlose Kredite für den Kauf von Maschinen und Dünger; Anreize, um die SubsistenzbäuerInnen zu ermutigen, freiwilligen Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften beizutreten!
  • Freier Zugang zu Saatgut, Abschaffung aller Patente in der Landwirtschaft!
  • Modernisierung des ländlichen Lebens. Volle Elektrifizierung, Internetzugang und moderne städtische Einrichtungen. Stopp der Abwanderung der Jugend aus dem ländlichen Raum durch die Förderung kreativer und kultureller Aktivitäten.
  • Gegen die Armut auf dem Land; Einkommen, Zugang zu Gesundheit, Bildung und Kultur an die Städte angleichen! Dies allein kann die pathologische Form der Verstädterung des Kapitalismus verlangsamen und umkehren und den Weg zu dem im Kommunistischen Manifest festgelegten Ziel ebnen: „Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.“

Für Frauenbefreiung!

Die kapitalistischen Demokratien versprachen Frauen Gleichheit, aber das galt nicht für alles und vieles bleibt unerfüllt. Im 20. Jahrhundert wurde auch Frauen das Wahlrecht zugestanden, auch dank der ersten Welle feministischer und sozialistischer Agitation vor dem Ersten Weltkrieg und weil die Kriegsanstrengungen der Großmächte es erforderten, Frauen in der Produktion zu beschäftigen und am öffentlichen Leben teilhaben zu lassen. Das Frauenwahlrecht wurde parallel zum allgemeinen Stimmrecht eingeführt und damit auch für die bis dahin nicht stimmberechtigten männlichen Arbeiter. Aber dies bedeutete weder für Frauen noch für die ArbeiterInnenklasse, dass sie von nun an wirklich die politische Macht innehatten. Der Zweite Weltkrieg zog noch mehr Frauen in die Produktion wie es auch die Planwirtschaft in der UdSSR tat. Sie traten in wachsenden Zahlen den Gewerkschaften bei.

Die anhaltende Belastung durch Kinderbetreuung und Hausarbeit behinderte ihren Zugang zu gleich gut bezahlten Arbeitsplätzen oder ununterbrochenen Berufslaufbahnen. Die militante ArbeiterInnenbewegung und die zweite Welle des Feminismus in den imperialistischen Ländern sowie die nationalen Befreiungsbewegungen in der sogenannten Dritten Welt errangen eine Reihe wichtiger Siege für Frauen, darunter das Recht auf selbstbestimmte Verhütung und in einigen Ländern auch darauf, Schwangerschaften abzubrechen. Dies gab Frauen die Wahlmöglichkeit bezüglich der Anzahl und Zeitpunkt von Geburten.

In dieser Zeit rückte auch die patriarchalische Ideologie sowie die geringe Anzahl von Frauen in Führungspositionen in Bildung, Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft stärker ins Blickfeld. Auch gegen häusliche Gewalt in der Familie, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung wurde vorgegangen. Dennoch entsprechen in Europa und Nordamerika die Frauenlöhne trotz der Lohngleichstellungsgesetze im Durchschnitt nur 70 Prozent der Männerlöhne und sind oft sogar noch viel niedriger. Frauen tragen (neben ihrer beruflichen Tätigkeit) immer noch die doppelte Belastung durch Kinderbetreuung, Altenpflege und Haushaltsführung. Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt sind nach wie vor weit verbreitet. Die reproduktiven Rechte der Frauen sind beschränkt und unterliegen ständigen Angriffen.

Selbst diese Teilerfolge der Frauenbefreiung sind auf globaler Ebene äußerst uneinheitlich. Im globalen Süden verstärken die internationale Arbeitsteilung, uralte patriarchalische Beziehungen auf dem Land und religiöse Vorurteile, die von FundamentalistInnen aller Glaubensrichtungen wiederbelebt werden, diese Ungleichheiten. Frauen wird das Recht über ihre eigenen Körper verweigert und das Recht zu entscheiden, ob sie Kinder haben möchten und wenn ja, wann und wie viele. Häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Familie, sogar Mord (sogenannte Ehrenmorde) bleiben häufig weitgehend ungestraft.

In den letzten Jahrzehnten wurden jedoch Millionen von Frauen in die Massenproduktion gezogen, insbesondere in Gewerbebetriebe der Städte Süd- und Ostasiens sowie Lateinamerikas. In Krisenzeiten waren sie in der Textil-, Elektronik- und Dienstleistungsbranche, in denen sie etwa 80 Prozent der Beschäftigten ausmachen, oft die ersten, die entlassen wurden, wobei die Unternehmen oft ihnen ihre Löhne nicht bezahlten, die gesetzlichen Kündigungsauflagen brachen und dabei weder von der jeweiligen Regierung noch von den zuständigen Gerichten behelligt wurden. Am grausamsten ausgebeutet werden dabei die vielen Wanderarbeiterinnen, deren Familien zu Hause ohne ihre Überweisungen verhungern.

Auch heute noch sind von Männern dominierten Regierungen auf der ganzen Welt gierig bemüht, die Frauen bei der Wahl ihrer eigenen Kleidung zu kontrollieren. In Europa fordern RassistInnen Einschränkungen beim Tragen des Hidschab (Kopftuch) oder des Niqab („Gesichtsschleier“) und verhängen Verbote für Frauen, die nach islamischen Vorschriften ihr Gesicht verhüllen. In „islamischen Staaten“ wie Saudi-Arabien und Iran setzt andererseits die Religionspolizei die obligatorische islamische Kleiderordnung durch. Radikale Salafistengruppen und DschihadistInnen haben versucht, alte und unterdrückerische Regeln gegen Frauen wieder durchzusetzen. Wir stehen für folgende Positionen:

  • Gegen jede Form der rechtlichen Diskriminierung von Frauen! Gleiche Rechte für Frauen zu wählen, zu arbeiten, auf Bildung und an allen öffentlichen und sozialen Aktivitäten teilzunehmen!
  • Hilfe für Frauen, um Beschränkung ihrer Beschäftigung im informellen und familiären Bereich zu entgehen! Öffentliche Arbeitsprogramme zur Schaffung von Vollzeitstellen mit angemessenen Löhnen für Frauen!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!
  • Alle Frauen sollten unabhängig von ihrem Alter Zugang zu kostenloser Verhütung und Abtreibung haben!
  • Kampf gegen sexuelle Gewalt in all ihren Formen! Ausbau von in öffentlichem Besitz befindlichen, selbst organisierten Unterkünften zum Schutz vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung! Selbstverteidigung gegen sexistische Gewalt, unterstützt durch die ArbeiterInnen- und Frauenbewegung!
  • Nein zu Gesetzen, die Frauen entweder dazu zwingen, religiöse Kleidung zu tragen, oder es ihnen verbieten! Frauen müssen das gesetzliche Recht haben, sich nach Belieben kleiden zu dürfen!
  • Verbot der Verheiratung von Kindern und von Zwangsehen!
  • Abschaffung der Doppelbelastung von Frauen durch die Sozialisierung der Hausarbeit! Kostenlose 24-Stunden-Kinderbetreuung und ein breites Angebot von preiswerten, guten öffentlichen Restaurants und Wäschereien!

Wir können niemals eine Gesellschaft erreichen, in der alle Menschen gleich sind, wenn wir nicht unsere Entschlossenheit zeigen, sexuelle Ungleichheit in unseren eigenen Widerstandsbewegungen zu überwinden. Wir müssen das Recht von Frauen in der ArbeiterInnenbewegung einfordern, sich unabhängig zu treffen, um Diskriminierung zu erkennen und zu bekämpfen. Für das Recht von Frauen auf eine angemessene Vertretung in Führungsstrukturen und auf die Bildung formeller eigener Strukturen in Parteien und Gewerkschaften.

  • Für eine internationale proletarische Frauenbewegung, um Frauen im Kampf für ihre Rechte zu mobilisieren und ArbeiterInnenkämpfe überall zu stärken! Für die Verbindung des Kampfes gegen das Kapital mit dem für die Frauenemanzipation und für eine neue sozialen Ordnung, die auf wirklicher Freiheit und Gleichheit beruht! Die Aufgabe kommunistischer Frauen besteht darin, eine solche Bewegung aufzubauen und dafür einzutreten, sie auf den Weg der sozialen Revolution zu führen.

Gegen sexuelle Unterdrückung: für die Befreiung von Lesben, Schwulen und Trans-Personen

Die historische Ungleichheit der Geschlechter, die auf die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates als Instrument der Ausbeutenden über die Ausgebeuteten vor Jahrtausenden zurückgeht, führte zu repressiven Regeln und Gebräuchen in Bezug auf Sexualität sowie männliche und weibliche Geschlechterrollen. Heterosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe oder Familien- bzw. Kastenarrangements und Homosexualität wurden streng sanktioniert bis hin zur Todesstrafe. Menschen, die das binäre Geschlechtermodell oder die herrschenden Geschlechterrollen übertreten, wurden stigmatisiert, gemobbt, zum Selbstmord getrieben oder ermordet. In vielen Ländern ist dies auch heute noch der Fall.

Lesben, Schwule und Trans-Personen sind nur in einer Minderheit von Ländern rechtlich gleichgestellt. In vielen Ländern drohen ihnen staatliche Strafen, körperliche Belästigungen und sogar der Tod. In Afrika wurden Schwule und Lesben mit einer Welle von Gewalt und Repressionen überzogen, als sie Forderungen nach gleichen BürgerInnenrechten stellten. Die meisten Religionen billigen diese hasserfüllte Unterdrückung. Die ArbeiterInnenbewegung und die sozialistische Jugend müssen überall für die Verteidigung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen einstehen.

  • Volle rechtlicher Gleichheit für lesbische, schwule und transsexuelle Menschen, einschließlich dem uneingeschränkten Recht zu Lebenspartnerschaften und Ehen!
  • Für ein Ende aller Verfolgungen durch Staat, Kirchen, Tempel und Moscheen! Respekt vor jeder Art von sexueller Orientierung! Jede einvernehmliche sexuelle Aktivität ist eine rein persönliche Entscheidung!
  • Verbot jeglicher Diskriminierung und Hassverbrechen gegen Lesben, Schwule und Trans-Personen! Für das Recht von Trans-Persone zu leben, sich zu kleiden und sich öffentlich zu verhalten entsprechend dem Geschlecht/der Geschlechterrolle, mit dem/r sie sich identifizieren! Keine Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe, beim Zugang zur Lebensversicherung und bei medizinischer Behandlung, beim Zugang zu Arbeit oder zu Dienstleistungen!
  • Für das Recht von Schwulen, Lesben und Trans-Personen, Kinder großzuziehen!
  • Kein Verbot Menschen entsprechend ihrer sexuellen Orientierung zu erziehen! Kein Eingriff in das von Individuen gemeinsam bestimmte Sexualleben. Für den freien Ausdruck aller Formen von Sexualität und Beziehungen!
  • Für das Recht von LGBTIA, in Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien separate Treffen (Caucus) von ihresgleichen zu organisieren, um Unterdrückung zu bekämpfen!

Für die Befreiung der Jugend!

Kapitalistische Krisen treffen die Jugendlichen am härtesten, weil sie der am wenigsten abgesicherte Teil der ArbeiterInnenklasse sind und als erste entlassen werden können. In den Jahren nach der Großen Krise von 2008 lag die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch wie die von Erwachsenen. Es gab weniger Arbeitsplätze für SchulabgängerInnen und Kürzungen der staatlichen Bildungshaushalte, die die Alternative eines Vollzeitstudiums stark einschränkten. Verarmung der Familien verstärkt die brutale Behandlung von Kindern in den Slums der Dritten Welt. Es steht fest, dass die nächste Krise ähnliche Folgen haben wird.

Weit davon entfernt, sich für die Jugend einzusetzen, unterdrücken Gewerkschaftsbürokratie und reformistische Apparate der ArbeiterInnenparteien deren Begeisterungsfähigkeit und Rechte. Kein Wunder: Jugendliche sind in allen Ländern eine mächtige revolutionäre Kraft, erfüllt von Kampfgeist, frei von vielen Vorurteilen und konservativen Gewohnheiten, die bürgerliche und reformistische Parteien sowie Gewerkschaften geprägt haben. Sie sind ein wesentliches Element der revolutionären Avantgarde. Eine Fünfte Internationale muss ihnen ermöglichen, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und ihre eigenen Kämpfe zu führen, indem sie die Gründung einer Revolutionären Jugend-Internationale fördert. Wir kämpfen für:

  • Arbeitsplätze für alle jungen Menschen, mit gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen wie für ältere Beschäftigte!
  • Abschaffung schlecht bezahlter Praktika und deren Ersetzung durch eine voll bezahlte Ausbildungsstelle mit Übernahmegarantie!
  • Schluss mit jeder Kinderarbeit!
  • Kostenlose Bildung für alle vom Kindesalter bis zum 16. Lebensjahr sowie höhere Bildung und Ausbildung für alle ab 16, die das wollen, mit garantiertem Stipendium oder Ausbildungsgehalt! Streichung aller Schulden aus Studienkrediten!
  • Für das Wahlrecht ab 16 Jahren oder ab dem Erwerbsalter, falls dies früher beginnt!
  • Keine Verbote von Kleidungsstilen, Musikstilen und Jugendkultur. Volle Meinungsfreiheit!
  • Nieder mit dem verlogenen „Krieg gegen Drogen“. Legalisierung aller Drogen unter einem staatlichen Monopol, um deren Reinheit zu gewährleisten und die Drogenbanden auszuschalten, mit Bildungs- und Gesundheitsdiensten zur Eindämmung und Beseitigung von Sucht und gesundheitsgefährdendem Missbrauch.
  • Für Jugendzentren und menschenwürdige Unterkünfte, die vom Staat finanziert werden, jedoch unter demokratischer Kontrolle der Jugendlichen stehen, die sie nutzen!
  • Für ein Ende aller Kürzungen im Bildungssektor! Für massive Investitionen ins öffentliche Bildungssystem! Mehr LehrerInnen und bessere Bezahlung für diese! Bau von mehr staatlichen Schulen! Verstaatlichung von Privatschulen!
  • Gegen alle Beschränkungen des freien Zugangs zur Bildung! Keine Schul- und Universitätsgebühren!
  • Nein zu allen religiösen oder privaten Kontrollen über das Schulwesen und für weltliche, staatlich finanzierte Bildung!
  • Bei der Entwicklung ihres Sexuallebens sind junge Menschen mit Intoleranz, Unterdrückung und Verfolgung konfrontiert. Sexualerziehung muss in staatlichen Schulen ohne religiöse oder elterliche Einmischung möglich sein, damit die Jugendlichen ihre Sexualität im Laufe ihrer Entwicklung entsprechend ihrer sexuellen Orientierung und ihrer eigenen Entscheidungen leben können.
  • Für strenge Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in der Familie, zu Hause, in Schulen und Kinderheimen oder bei der Arbeit! Kinder vor Missbrauch schützen, ob von Priestern/PfarrerInnen, LehrerInnen, Eltern!
  • Keine Kontrolle des Bildungssystems durch den bürgerlichen Staat! SchülerInnen, LehrerInnen und VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung sollten die Lehrpläne festlegen und die Schulen demokratisch verwalten.

Verteidigung demokratischer Rechte

Im In- und Ausland stellen sich die westlichen ImperialistInnen gerne als VerteidigerInnen und BefürworterInnen von Demokratie dar. Sie lügen. Nach dem 11. September und den Terroranschlägen des Dschihads in Europa im letzten Jahrzehnt verhängten die nordamerikanischen und europäischen Regierungen Anti-Terror-Gesetze, die eine Überwachungsgesellschaft schufen und die Rechte einschränkten oder abschafften, die über Jahrhunderte in Kämpfen der Bevölkerung gewonnen worden waren.

Im globalen Süden werden genau die demokratischen Rechte, die es der ArbeiterInnenklasse, den BäuerInnen, den städtischen und ländlichen Armen ermöglichen, Widerstand zu organisieren und zu mobilisieren, von den Gerichten, der Polizei, den Schlägerbanden der Bosse ausgehöhlt. Auf den Philippinen hat die Polizei in Rodrigo Dutertes Krieg gegen die Drogen innerhalb von zwei Jahren in einem wahren Blutrausch illegale Morde verübt, deren Zahl auf 12.000 bis 20.000 geschätzt wird. In Mexiko und anderen mittel- und südamerikanischen Staaten haben Militär- und Polizei im Namen des „Krieg gegen Drogen“ ebenfalls Morde verübt, vor allem an Linken, GewerkschafterInnen und BauernführerInnen . In Brasilien steht unter Jair Bolsonaro ein schwerer Angriff auf die demokratischen Rechte an.

In Palästina und insbesondere in dem blockierten und wiederholt bombardierten Gazastreifen sind die PalästinenserInnen eine ständige Zielscheibe des zionistischen SiedlerInnenstaats. In Israel und im Westjordanland praktiziert dieser ein Regime, das dem früheren Apartheidsregime in Südafrika nicht unähnlich ist. Der unaufhörliche und heldenhafte Kampf des palästinensischen Volkes verdient die uneingeschränkte Unterstützung einschließlich der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen). Unser Ziel muss das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge sein, die Auflösung des zionistischen Staats und die Schaffung eines einzigen Staates für beide Nationen, ob hebräisch oder arabisch sprechend, in Israel-Palästina sein. Ein solcher Staat kann den vom Zionismus geschaffenen Antagonismus zwischen den beiden Völkern nur auflösen, indem er zu einem sozialistischen wird, in dem also die landwirtschaftlichen Betriebe, die Fabriken usw. Gemeinbesitz werden und ein demokratischer Wirtschaftsplan erstellt wird, um die soziale Gleichheit herzustellen.

Das Gift des Rassismus und von Pogromen gegen Minderheiten und EinwanderInnen wird benutzt, um den Widerstand zu spalten und zu untergraben. Überall auf der Welt sind es die eigenen Massenorganisationen, die den Kampf zur Verteidigung und Ausweitung der demokratischen Rechte aufnehmen müssen. Unsere demokratischen Kampforganisationen sind das Fundament jeder echten „Herrschaft des Volkes“. Durch regelmäßige Wahlen, die Abwählbarkeit von Delegierten und RepräsentantInnen, durch Opposition gegen die Bürokratie und ihre Privilegien kann die ArbeiterInnenbewegung das Sprungbrett zu einer neuen Gesellschaft werden.

  • Verteidigung des Streikrechts, der Rede- und Versammlungsfreiheit, der politischen und gewerkschaftlichen Organisation, der Presse- und Sendefreiheit! Aufhebung aller Anti-Gewerkschaftsgesetze!
  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, ExekutivpräsidentInnen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!
  • Für das uneingeschränkte Recht auf Gerichtsverfahren vor einem Geschworenengericht und für die Wahl der RichterInnen durch das Volk!
  • Bekämpfung der zunehmenden Überwachung unserer Gesellschaft, einschließlich des Internets, und der zunehmenden Macht der Polizei und Sicherheitsdienste! Nieder mit dem Unterdrückungsapparat, für seine Ersetzung durch Milizen, die sich aus der ArbeiterInnenschaft und der Masse der Bevölkerung rekrutieren und von ihnen kontrolliert werden! Gewinnt SoldatInnen für den Bruch mit ihren Vorgesetzten, um Teile von ihnen für die Revolution zu gewinnen!

Wo immer grundlegende Fragen der politischen Ordnung gestellt werden, fordern wir eine konstituierende Versammlung, die die demokratischen Rechte neu definiert und die letztlich über die gesellschaftliche Grundlage des Staates entscheidet. Die ArbeiterInnen sollten dafür kämpfen, dass die Abgeordneten der Versammlung auf demokratischste Weise gewählt werden, unter der Kontrolle ihrer WählerInnen stehen und von ihnen abberufen werden können. Die Versammlung muss gezwungen werden, sich mit allen grundlegenden Fragen demokratischer Rechte und sozialer Gerechtigkeit zu befassen: Agrarrevolution, Verstaatlichung der Großindustrie und der Banken unter ArbeiterInnenkontrolle, Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten, Abschaffung der politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Reichen.

Entreißt die Digitalisierung der Kontrolle durch Staat und Konzerne!

Seit den 1960er-Jahren gehören die Fortschritte in Computertechnologie, Vernetzung und ihre Anwendung auf viele Bereiche in Produktion und Alltag zu den wesentlichen Faktoren im Fortschritt der Produktivkräfte. Mit Internet, mobiler Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz wurden in den letzten Jahren neue Stufen der Entwicklung mit immer höherem Tempo erreicht. Cloud-Computing und andere Elemente im Sharing von Ressourcen, immer engere Koppelung von Produktanforderung und Produktbereitstellung, die abgesicherte Abwicklung von Transaktionen und komplexer Logistik-Ketten über blockchain haben in den letzten Jahren große Potentiale für Produktivitätssteigerungen hervorgebracht. Tatsächlich sind in allen diesen Bereichen jedoch große Monopole vorherrschend (Amazon, Microsoft, Alphabet, Facebook,…), die diese Produktivitätsgewinne für ihre Monopolprofite verwerten. Ein wesentlicher Faktor dafür ist ihre enorme Kontrolle über Daten und Informationen der Nutzer, aus deren Verkauf sie große Gewinne erzielen. Viele Firmen versuchen inzwischen Daten ihrer Beschäftigten unter allen nur möglichen Aspekten zu ermitteln, um sie entsprechend besser kontrollieren und die Konkurrenz untereinander anheizen zu können. Ebenso nutzen Staaten (nicht nur China und die USA) künstliche Intelligenz und ihren Zugriff auf die Netze, um immer umfassendere Informationen über ihre BürgerInnen zu sammeln, sie zu bewerten und gegebenenfalls schnell nutzen zu können.

Die modernen Computertechnologien werden von den Geheimdiensten dieser Welt verwendet, um eine allumfassende Überwachung zu realisieren. Die Enthüllungen um den NSA-Skandal im Jahre 2013 zeugen davon. Seitdem hat sich der Ausbau der Überwachung noch beschleunigt. RevolutionärInnen muss bewusst sein, dass Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, Trojaner-Programme und die massenhafte Speicherung von Daten ein Teil des Klassenkampfes der Herrschenden sind und massiv gegen sie und die ArbeiterInnenbewegung verwendet werden und nicht der „Sicherheit“ der Bevölkerung dienen.

Die Versuche, diese Gefahren einzudämmen, etwa durch Datenschutzbestimmungen (wie die europäische Datenschutzgrundverordnung) oder Vorschriften zur Eindämmung von Hasspostings, sind kaum mehr als Feigenblattaktionen. Kaum jemand kann die angeblichen Möglichkeiten zur Kontrolle über die eigenen Daten wirklich nutzen. Die Masse an Missbrauchsmöglichkeiten durch Staat, Konzerne und rechte Organisationen wächst in einem Tempo, hinter dem alle diese Maßnahmen nur hoffnungslos hinterherhinken.

  • Enteignung der großen IT-Monopole unter Kontrolle der Beschäftigten und demokratisch legitimierter User-Komitees!
  • Für einen Plan zur gesellschaftlich sinnvollen Nutzung der produktiven Fortschritte der IT-Technologie
  • Für die gesellschaftliche Kontrolle (durch demokratisch legitimierte User-Komitees) der von Staat und Betrieben gesammelten Daten und der Verfahren ihrer Nutzung und Vernetzung
  • Keine Überwachung durch das Kapitals und durch Konzernen wie Google, Facebook oder durch Vorgesetzte, die IT nutzen um BürgerInnen und Beschäftigten zu kontrollieren. Eine erste Forderung könnte sein, dass sie die Algorithmen und Datensammelsysteme offen legen müssen.
  • Nein zu Überwachungstools, die das Netzverhalten von Usern und Beschäftigten ausspionieren! Nein zu Uploadfiltern und anderen Verfahren, die die freie Verfügung über die im Netz geteilten Inhalte verhindern sollen und den Netzinhalten die Warenform aufzwingen wollen! Stattdessen Ausdehnung der Share-economy und staatliche Finanzierung ihrer Basis (z.B. staatliche Finanzierung von Open Source unter ProduzentInnenkontrolle statt Abhängigkeit von den „Spenden“ der IT-Konzerne)! 

Von der Verteidigung von Streiks zur ArbeiterInnenmiliz

Alle entschlossenen Streikenden kennen die Notwendigkeit von Streikposten, um von Streikbruch abzuschrecken. Kein Wunder also, dass die KapitalistInnen überall auf der Welt auf drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze drängen, die unsere Streikposten so schwach und ineffektiv wie möglich machen sollen. Gleichzeitig dürfen die Bosse Sicherheitskräfte und private Schlägertrupps einstellen, um die ArbeiterInnen einzuschüchtern. Von Angriffen auf ArbeiterInnendemonstrationen durch hochgerüstete Polizei wie in Griechenland bis zur Verhaftung und Inhaftierung von GewerkschafterInnen wie im Iran reicht die andauernde Verfolgung kämpferischer ArbeiterInnen. Wenn die Polizei und die SchlägerInnenbanden der Unternehmen zu offener Repression greifen, kann selbst die kämpferischste Streikpostenkette unzureichend sein, wie wir beim historischen britischen BergarbeiterInnenstreik von 1984–1985 gesehen haben. Der dramatischste Fall in diesem Jahrhundert war das Massaker von Marikana, bei dem die südafrikanische Polizei auf Anweisung des heutigen Präsidenten und ehemaligen Bergleuteführers Cyril Ramaphosa 42 streikende Bergleute tötete. Jede ernsthafte Auseinandersetzung zeigt die Notwendigkeit eines disziplinierten Schutzes, indem man Waffen einsetzt, die es mit den gegen uns eingesetzten aufnehmen können.

Wir sollten mit der organisierten Verteidigung von Demonstrationen, von Streikposten und von Minderheiten beginnen, die mit rassistischen und faschistischen Übergriffen konfrontiert sind, wie auch mit der Selbstverteidigung sexuell Unterdrückter. Kämpferische ArbeiterInnen müssen immer das demokratische Recht auf Selbstverteidigung geltend machen und eine öffentliche Kampagne für eine Selbstverteidigungsgarde der ArbeiterInnen und des Volkes starten, die sich auf eine Massenbewegung stützt.

In Ländern, in denen es ein Recht auf das Mitführen von Waffen gibt, sollte die proletarische Verteidigungsgarde dieses Recht voll ausschöpfen. Wo die KapitalistInnen und ihr Staat über ein Gewaltmonopol verfügen, sind alle Mittel berechtigt, um dieses Monopol zu brechen. RevolutionärInnen müssen innerhalb der Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und der KleinbäuerInnenschaft für die Bildung von Verteidigungstruppen kämpfen, die diszipliniert, im Kampf erfahren und mit den entsprechenden Erfolg verheißenden Waffen ausgestattet sind. In Schlüsselmomenten des Klassenkampfes sind Massenstreikwellen, ein Generalstreik und die Schaffung einer MassenarbeiterInnenmiliz unerlässlich oder die Bewegung wird im Blut ertrinken wie 1973 in Chile oder 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmenplatz in Peking). Wenn wir uns in einer solchen Situation der Herausforderung stellen, können diese Mittel der Volksverteidigung zum Instrument der Revolution werden.

Für eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus

Die kapitalistische Krise ruiniert die Mittelschichten und lässt sie krampfhaft nach Sündenböcken suchen, während Langzeitarbeitslose immer tiefer in Verzweiflung versinken, was sie anfällig für RassistInnen, RechtsnationalistInnen, religiöse DemagogInnen und regelrechte FaschistInnen macht.

In den imperialistischen Ländern nimmt dies oft die Form des klassischen Faschismus an, der auf Nichtweiße, auf Angehörige nationaler und religiöser Minderheiten, auf MigrantInnen und Roma als Sündenböcke abzielt. Insbesondere in Europa verbreiten sich Islamophobie, Hass auf MuslimInnen, eine schnell wachsende Bedrohung mit Märschen gegen Moscheen und der Hetze gegen Hidschab und Burka, die sich unter dem Deckmantel der offiziellen Ideologie der „Terrorismusbekämpfung“ und der angeblich drohenden „Islamisierung Europas“ ausbreitet. Auch der Antisemitismus ist nicht tot. Die schnell wachsende ungarische Nazi-Bewegung Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) vereint beides in einer giftigen Mischung aus reaktionären Demagogien.

In der halbkolonialen Welt entstehen oft faschistische Kräfte aus Kommunalismus und religiösem Fanatismus, die die Emotionen der Massen auf Minderheiten lenken wie zum Beispiel gegen die MuslimInnen in Indien, die TamilInnen in Sri Lanka, die Hindud, ChristInnen, Ahmadis und SchiitInnen in Pakistan.

Der Faschismus ist ein Mittel des Bürgerkriegs gegen die ArbeiterInnenklasse. Indem er alten Hass aufweckt und irrationale Ängste schürt, mobilisiert er die kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Massen, um die ArbeiterInnenklasse und demokratische Organisationen zuerst zu spalten und dann zu zerstören. Danach konzentriert der Faschismus den gesamten staatlichen Machtapparat  in seinen Händen, um den ArbeiterInnen unter der direkten Aufsicht der Polizei und ihrer Hilfstruppen ein Regime der Überausbeutung aufzuzwingen. Die Bewunderung der FaschistInnen für Massenmörder wie Anders Breivik und Brenton Tarrant belegt ihre brutalen Ziele.

Sein Wachstum als Massenbewegung zeugt von der Tiefe der Krise, die Millionen wütend macht und sie zur Verzweiflung treibt, sowie vom Verrat und dem Versagen der Führung der ArbeiterInnenklasse. Man kann den Faschismus nur besiegen, wenn die revolutionäre Bewegung der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten freigesetzt wird und zu einer ArbeiterInneneinheitsfront aller ArbeiterInnenorganisationen gegen den Faschismus und zu einer antifaschistischen ArbeiterInnenmiliz aufruft, um die Angriffe auf die ArbeiterInnenbewegung und alle Minderheiten abzuwehren. Wie Leo Trotzki sagte: „Wenn der Sozialismus der Ausdruck revolutionärer Hoffnung ist, so ist der Faschismus der Ausdruck konterrevolutionärer Verzweiflung.“ Um dieser Verzweiflung der Massen entgegenzutreten, muss sie eine revolutionäre Klassenoffensive gegen den krisengeschüttelten Kapitalismus umgewandelt werden, gegen das System, das immer wieder den Faschismus hervorbringt. Da der Faschismus seine Stärke daraus bezieht, die Massen zu mobilisieren, die die Auswirkungen der kapitalistischen Krise wütend gemacht haben, wird der Kampf gegen den Faschismus erst dann abgeschlossen sein, wenn seine Wurzel, der Kapitalismus, ausgerottet ist.

  • Für eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen die FaschistInnen!
  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat!
  • Für die organisierte Selbstverteidigung von ArbeiterInnen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Eine antifaschistische Miliz kann es schaffen, faschistische Kundgebungen, Demonstrationen und Treffen aufzulösen und den rassistischen und faschistischen DemagogInnen jede Redetribüne zu verwehren.

Gegen Militarismus und imperialistischen Krieg

Jede kapitalistische Wirtschaftskrise geht auch mit der Gefahr eines Krieges schwanger. Die Konkurrenz zwischen Staaten verschärft sich. Die Herrschenden versuchen, die Menschen vom Klassenkampf abzulenken und in den Kampf gegen den äußeren Feind zu schicken. Von Afghanistan und Irak bis Honduras und Sierra Leone nutzen die großen imperialistischen Mächte wie die USA und Großbritannien ihre direkte Besatzungsmacht oder schüren Putsche und fördern Bürgerkriege, um ihre Marionettenregierungen durchzusetzen. Sie ermutigen die von ihnen abhängigen Regierungen, als regionale PolizistInnen aufzutreten, mit dem Auftrag, konkurrierende Regimes zu untergraben und die Unterdrückung der Bevölkerung zu fördern.

Heute hat der starke wirtschaftliche Abschwung eine Periode der revolutionären Krise des Systems als Ganzem eröffnet und den Kampf zwischen den imperialistischen Mächten um die Neuverteilung der Ressourcen der Welt verstärkt. Zunächst sind die Konturen dieser neuen Rivalitäten, Spannungen und Abgrenzungen zwischen den USA und China, Russland und der EU nur schwach erkennbar. Dennoch drohen damit tödliche Regional- und Stellvertretungskriege und letztendlich ein neuer Weltkrieg, ein verzweifelter Vernichtungskonflikt zwischen den untergehenden Weltmächten und den neuen, aufstrebenden Imperien.

Wenn die ArbeiterInnenklasse die internationale Diplomatie, die Entscheidung über Krieg und Frieden denen überlässt, die uns beherrschen, dann ist es unser Schicksal, deren Kanonenfutter zu werden. Deshalb braucht die ArbeiterInnenklasse eine neue Internationale – wie schon die Erste Internationale in ihrer Gründungserklärung erklärte, um „in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken“.

Die große Anti-Kriegsmobilisierung 2003, die 20 Millionen Menschen in jeder Großstadt der Welt auf die Straße brachte, hat eindeutig bewiesen, dass dies möglich ist. Dass die Bewegung es nicht schaffte, den Krieg zu stoppen, war allein darauf zurückzuführen, dass die Initiatoren, das Europäische Sozialforum und das Weltsozialforum nicht bereit und in der Lage waren, weitere Massenaktionen einschließlich Streiks, Straßenblockaden und Meutereien zu organisieren.

Das riesige Ausmaß der weltweiten Märsche zeigte das Potenzial für globales Handeln der ArbeiterInnenklasse, um Kriege zu stoppen oder in Revolutionen zu verwandeln. Das Versagen der Bewegung, den Irakkrieg zu stoppen, zeigte wie notwendig eine diszipliniertere Organisation mit festen Zielen ist, eine Fünfte Internationale.

Im Kapitalismus haben die ArbeiterInnen kein Vaterland. In den imperialistischen Ländern darf die ArbeiterInnenbewegung niemals die „nationale Verteidigung“ unterstützen und muss immer die Niederlage ihrer MachthaberInnen anstreben, sei es in kolonialen Besatzungskriegen wie im Irak und in Afghanistan oder in jedem Konflikt mit konkurrierenden imperialistischen Staaten. Es ist die Pflicht der RevolutionärInnen, den Krieg auszunutzen, um den Untergang des Systems herbeizuführen, um den imperialistischen Krieg in einen BürgerInnenkrieg zu verwandeln.

Die ArbeiterInnenklasse muss auch die verbliebenen degenerierten ArbeiterInnenstaaten gegen wirtschaftliche Blockaden und militärische Bedrohungen durch imperialistische Mächte verteidigen, ohne dabei deren herrschenden bürokratischen Kasten zu unterstützen. Der Kampf gegen die kapitalistische Restauration erfordert vielmehr dafür zu kämpfen, diese Regime durch eine politische Revolution zu stürzen.

In halbkolonialen Ländern ist es notwendig, die Nation gegen jeden Angriff einer imperialistischen Macht oder ihrer regionalen Handlanger oder Hilfs-Sheriffs zu verteidigen. Gleichzeitig unterstützen RevolutionärInnen die Kriegsführung der Bourgeoisie in keiner Weise. Indem sie für eine Einheitsfront aller nationalen Kräfte gegen den Imperialismus kämpfen, indem sie die Schwächen, das Schwanken und die Zurückhaltung der besitzenden Klassen im antiimperialistischen Kampf aufdecken, streben RevolutionärInnen danach, von anderen Klassen unabhängige Kräfte der ArbeiterInnenklasse an die Spitze des Kampfes zu heben, um die Nation vom Imperialismus zu befreien und zugleich den Weg zum Sozialismus zu öffnen.

In Auseinandersetzungen zwischen Halbkolonien über Territorium oder Ressourcen, die Geschwistermorden gleichen, ist die Niederlage des „eigenen“ Landes das geringere Übel als das Aussetzen des Klassenkampfes im Inneren. Der Krieg muss in einen Aufstand für ArbeiterInnenmacht und Frieden verwandelt werden.

Die großen imperialistischen Mächte, die USA, Großbritannien, China und die EU-Staaten geben Hunderte Milliarden für ihre Kriegsmaschinerie aus. Heute behaupten sie, im humanitären Interesse zu handeln, aber das ist Tarnung für ihr eigentliches Ziel, ihre militärische Herrschaft über die Welt zu behaupten und zu sichern. Auch in ärmeren Ländern werden große Teile des Staatshaushalts für die Armee ausgegeben. In Ländern wie Pakistan und der Türkei versucht das Militär, selbst eine direkte politische Rolle zu spielen.

  • Nein zu imperialistischen Kriegen und Aggressionen! Kampf der imperialistischen Besatzung Afghanistans, des Irak, Palästinas, Tschetscheniens und Venezuelas! Unterstützt den Widerstand! Hände weg vom Iran und von Nordkorea!
  • Für die Schließung aller imperialistischen Militärstützpunkte auf der ganzen Welt! Nein zu US-, EU- und anderen imperialistischen Militärinterventionen!
  • Auflösung aller imperialistisch ausgerichteten Militärbündnisse wie der NATO!
  • Kein Geld, kein Personal für eine kapitalistische Streitmacht, weder für eine Berufs- noch für eine Wehrpflichtigenarmee! Abgeordnete von ArbeiterInnenparteien in Parlamenten müssen gegen alle Militärausgaben kapitalistischer Regierungen stimmen!
  • Militärische Ausbildung für alle unter der Kontrolle der ArbeiterInnenbewegung!
  • Für uneingeschränkte BürgerInnenrechte der SoldatInnen, für die Gründung von SoldatInnenausschüssen und -gewerkschaften sowie die freie Wahl der OffizierInnen! Verteidigung von SoldatInnen, die illegale oder unmoralische Befehle verweigern!
  • In jedem reaktionären Krieg steht die Feindin der ArbeiterInnenklasse im eigenen Land, die eigene Bourgeoisie! Für die Niederlage imperialistischer Regierungen in Kriegszeiten! Für den Sieg von Kolonial-, Halbkolonial- und ArbeiterInnenstaaten über imperialistische Armeen!

Für die Befreiung unterdrückter Nationen und Völker

Der Ausgangspunkt der InternationalistInnen ist, dass die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen aller Nationalitäten sich vereinigen müssen, denn in keiner Nation können sie ihre Probleme isoliert lösen. Eines der größten Hindernis dafür diesen Internationalismus zu verwirklichen ist die nationale Unterdrückung: die Tatsache, dass das Weltsystem auf der systematischen Unterdrückung einiger Nationen durch andere beruht. Dauerhafte Einheit zwischen Nationen kann es nicht geben, solange die eine die andere unterdrückt. Heute wird ganzen Nationen, der palästinensischen, der kurdischen, den Rohingyas, der uigurischen Nation, der belutschischen, den tamilischen in Sri-Lanka, der kaschmirischen, der tschetschenischen, der tibetischen Nation und vielen anderen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Das gilt auch für viele indigene oder in Stämmen lebende Völker. Sie sind ethnischen Säuberungen, der Einsperrung in Konzentrationslager, der Unterdrückung ihrer Sprache und Kultur und im schlimmsten Fall sogar dem Völkermord ausgesetzt. Die ArbeiterInnenklassen, insbesondere diejenigen, deren nationale herrschende Klassen für die jeweilige Unterdrückung verantwortlich sind, müssen Unterstützung und praktische Hilfe im Kampf der unterdrückten Nationen für ihre Befreiung leisten.

  • Für das Recht auf Selbstbestimmung der unterdrückten Nationen einschließlich des Rechts, einen eigenen Staat zu gründen, wenn sie dies wünschen!
  • Für das Recht der indigenen Völker auf ihr Land, frei von Siedlungen, die darauf abzielen, sie zu einer Minderheit zu machen!
  • Gleiche Rechte und Staatsbürgerschaft für Angehörige nationaler Minderheiten!
  • Gegen offizielle Landessprachen! Gleiche Rechte für nationale Minderheiten, ihre Sprachen in Schulen, vor Gericht, in den Medien und im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung zu verwenden! Für das Recht von MigrantInnengemeinschaften, ihre Kinder in der Schule auch in ihrer Muttersprache zu unterrichten!

Rassismus bekämpfen

Rassismus ist eine der tiefsten und bösartigsten der vielen Formen von Unterdrückung, die der Kapitalismus erzeugt. Seine Wurzeln liegen tief in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung. Der Weltmarkt und der Welthandel wuchsen unter der Herrschaft der starken kapitalistischen Mächte, die schwächere Staaten ausplünderten. Die Sklaverei in Amerika, die Früchte des britischen Empire, und entsprechen der Großmächte Niederlande und Frankreich, die Eroberungskriege Deutschlands und Japans erforderten alle, dass die UnterdrückerInnen denjenigen, die sie versklavten, die Eigenschaft Menschen zu sein absprachen. Die AfrikanerInnen, InderInnen, IndianerInnen, die ChinesInnen und SüdostasiatInnen und das jüdische Volk wurden von den neuen Imperialmächten als Untermenschen dargestellt, die der Rechte, die sie widerwillig der eigenen Bevölkerung zu Hause zugestanden hatten, unwürdig wären.

Indem sie systematisch die neue Ideologie des Rassismus verbreiteten, rechtfertigten die imperialen Mächte ihre Verbrechen in Übersee, banden ihr eigenes Volk an die Unterstützung nationaler militärischer Abenteuer, wie kriminell auch immer diese sein mochten, schotteten ihre eigenen ArbeiterInnen vom rebellischen Geist ihrer kolonialen Schwestern und Brüder ab und förderten tiefe Spaltungen zwischen den einheimischen und migrantischen Teilen der ArbeiterInnenklasse im Heimatland.

Heute, nach der großen BürgerInnenrechtsbewegung in den USA und den siegreichen nationalen Bewegungen, die die KolonialistInnen aus Indien, Algerien und Vietnam vertrieben und die Apartheid in Südafrika besiegt haben, schwört die Bourgeoisie der imperialistischen Mächte auf Antirassismus. Dennoch diskriminieren dieselben Regierungen systematisch schwarze, afrikanische, asiatische und migrantische Gemeinschaften in ihren Heimatländern, verhängen rassistische Einwanderungskontrollen und halten für nicht-weiße Minderheiten die schlimmsten Wohnverhältnisse, den niedrigsten Löhne und ständige Schikanen durch die Polizei bereit. Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat die Aufmerksamkeit auf die Morde bewaffneter Cops an jungen AfroamerikanerInnen und ähnliche Verfolgungen gegen AsiatInnen und Latinos/-as gelenkt. In Europa, Ost und West, sind Roma und muslimische Gemeinschaften das Opfer von Polizeirazzien und Zwangsabschiebungen, angestachelt durch eine andauernde abscheuliche rassistische Propaganda der Medien.

Bei der sogenannten Flüchtlingskrise der EU, der Flucht von SyrerInnen, AfghanInnen, IrakerInnen und JemenitInnen vor dem Krieg sowie SchwarzafrikanerInnen vor der Armut und den Auswirkungen des Klimawandels, werden all diese daran gehindert, das Mittelmeer zu überqueren und sie werden von Lagerhaft und Abschiebung bedroht. Die ArbeiterInnenbewegung muss die ArbeitsmigrantInnen in den gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus integrieren.

  • Nieder mit allen Formen der Diskriminierung von MigrantInnen! Gleiches Entgelt und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit! Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle MigrantInnen, einschließlich des Wahlrechts!
  • Weg mit allen speziellen Gesetzen und Einschränkungen für Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit! Für offene Grenzen! Bekämpfung rassistischer Grenzkontrollen, die die Freizügigkeit der ArbeiterInnen und der Unterdrückten über die Grenzen hinweg verhindern.
  • Für das Recht muslimischer Frauen, religiöse Kleidung (Schleier, Niqab, Burka) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu tragen, wenn sie dies wünschen, und für das Recht der Frauen in muslimischen Ländern und Gemeinschaften, keine religiöse Kleidung zu tragen, frei von gesetzlichem, klerikalem oder familiärem Zwang!
  • Volles Asylrecht für alle, die vor Krieg, Unterdrückung und Armut aus ihren Heimatländern fliehen!
  • Bekämpfung von Rassismus und allen Formen der Rassendiskriminierung! Beginnen wir einen Kampf gegen Rassismus in allen Bereichen der ArbeiterInnenbewegung! Gegen Aktionen oder gar Streiks gegen die Beschäftigung von ausländischen oder migrantischen Arbeitskräften!
  • Die ArbeiterInnenbewegung, insbesondere die GewerkschafterInnen, die in den Medien arbeiten, muss eine Kampagne führen, unterstützt durch direkte Aktionen, um rassistische Hasspropaganda zu beantworten und zu stoppen!

Der Kampf um die Macht

Unser Ziel ist die politische Macht, die Macht, die Welt für immer zu verändern, so dass Ungleichheit, Krisen und Krieg, Ausbeutung und Klassen zu einer fernen Erinnerung werden. Aber RevolutionärInnen allein machen nicht die Revolution. Objektive Voraussetzungen sind erforderlich; eine tiefe wirtschaftliche, politische und soziale Krise, die die herrschende Klasse nicht lösen kann, so dass sie selbst gespalten ist. Auch subjektive Bedingungen müssen erfüllt sein: Die ArbeiterInnenklasse und die untere Mittelschicht dürfen angesichts des Leidens und Chaos’, die die Krise hervorgerufen hat, nicht länger bereit sein, die alte Ordnung zu unterstützen. Unter diesen Bedingungen entsteht eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation und unter solchen Voraussetzungen kann eine revolutionären Vorhut mit einer gewissen Anzahl von KämpferInnen die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse für die Perspektive der Revolution gewinnen.

RevolutionärInnen müssen vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen erkennen und in ihnen die mutigsten VorkämpferInnen für einen Umsturz der Gesellschaft sein. Sie müssen durch bestimmte und korrekte Propaganda und Agitation in Massenbewegungen, Aufständen oder Bürgerkriegen um die Führung kämpfen und mutig den Weg weisen. Für revolutionäre Organisationen und Parteien sind ein Verpassen von revolutionären Situationen, passives Kommentieren, ein von den Massen getrenntes Führen eigener Kämpfe, Furcht vor den revolutionären Massen oder gar ein Unterordnen unter nicht revolutionäre Kräfte unverzeihliche zentristische Fehler, die in der Vergangenheit immer wieder die ArbeiterInnen in Niederlagen geführt haben.

Der Wechsel der Macht von einer Klasse zu einer anderen kann nur durch den Aufstand der ausgebeuteten Massen unter der Führung einer revolutionären Partei und ihrer VorhutkämpferInnen erreicht werden. Da der bürgerliche Staat ein bewaffnetes Unterdrückungsinstrument ist, kann sein Einfluss nur gebrochen werden, indem man die Kontrolle über die bewaffneten Kräfte dem Oberkommando und dem Offizierskorps entreißt, die einfachen SoldatInnen für sich gewinnt und die Einheiten, die der Konterrevolution treu bleiben, gewaltsam auflöst.

Wir können den alten Staatsapparat nicht übernehmen. Wir müssen ihn zerstören und durch einen völlig neuen Staat ersetzen, einen, in dem die ArbeiterInnenklasse, die Bauern/Bäuerinnen und die städtischen Armen die Gesellschaft durch DelegiertInnenräte verwalten, die in den Unternehmen, den Stadtvierteln, den Dörfern, den Schulen und Universitäten gewählt werden. Immer wieder sind solche Gremien in revolutionären Krisen entstanden: von der Pariser Kommune über die russischen Sowjets, die Räte in Deutschland, die Cordones in Chile bis hin zu den Schoras im Iran. Sie entstehen als Kampforgane, als Aktionsräte, aber nur eine klare revolutionäre Führung kann sie befähigen, zu Organen des Aufstands und dann zu den Machtorganen eines neuen ArbeiterInnenstaates zu werden.

Solange es die alte herrschende Klasse gibt und sie in der Lage ist, die Macht zurückzuerobern, muss die ArbeiterInnenklasse alles Notwendige tun, um dies zu verhindern. Während ein ArbeiterInnenstaat die vollste und freieste Demokratie für die ehemals ausgebeuteten Klassen verkörpern wird,  handelt er gleichzeitig als eine Diktatur gegen diejenigen, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen. Das, nicht mehr und nicht weniger, ist was die Diktatur des Proletariats wirklich bedeutet. Auf sie kann nicht verzichtet werden, solange die mächtigsten herrschenden Klassen unseres Planeten nicht entwaffnet und enteignet sind.

Ein ArbeiterInnenstaat darf jedoch nicht zulassen, dass eine Gruppe von BürokratInnen eine Diktatur über die ArbeiterInnenschaft ausübt, noch kann er ein Staat sein, in dem nur eine Partei existieren darf. Die arbeitenden Massen müssen in der Lage sein, ihre unterschiedlichen Ansichten in verschiedenen Parteien zum Ausdruck zu bringen, die im demokratischen Wettbewerb stehen sollen, um die Mehrheit in den ArbeiterInnenräten zu gewinnen und zu halten. Ebenso wenig darf unser Sozialismus einer sein, in dem ein/e PräsidentIn, ein/e Caudillo/a oder ein/e große/r FührerIn alle Initiative in den eigenen Händen konzentriert und sich mit einem Personenkult wie ein Stalin, Mao oder Castro umgibt.

Für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung

Wirtschaftskrisen und Kriege schaffen revolutionäre Situationen und zwingen die ArbeiterInnenklasse, nach Wegen zu suchen, die Regierungsfrage in ihrem Interesse zu lösen. Aber solche sozialen Krisen warten nicht darauf, bis die ArbeiterInnenklasse eine revolutionäre Massenpartei gründet, die bereit ist, die Macht zu übernehmen. Wenn es sie nicht gibt, greift die ArbeiterInnenklasse auf ihre traditionellen Gewerkschafts- und reformistischen Parteiführungen zurück. Wenn rechtsgerichtete Parteien an der Macht sind, wollen unter Umständen selbst reformistische ArbeiterInnen nicht passiv auf die nächsten regulären Wahlen warten, sondern werden versuchen, diese Parteien durch direkte Aktionen (Generalstreiks, Fabrikbesetzungen) zu verjagen und „ihre eigenen“ Parteien an die Macht zu bringen.

RevolutionärInnen müssen davor warnen, dass die reformistischen Führungen, auch wenn sie durch Massenaktionen an die Macht gebracht worden sind, immer noch alles in ihrer Macht stehende tun werden, um der KapitalistInnenklasse zu dienen und den Kampf zu demobilisieren. Die Dinge jedoch auf der Ebene der Denunziation der ReformistInnen zu belassen, würde bedeuten, die Methode unseres Übergangsprogramms aufzugeben, das kein Ultimatum darstellt und nicht verlangt, dass die ArbeiterInnen ihre Organisationen aufgeben müssen, bevor sie für die lebenswichtigen Forderungen und die Losungen der Stunde kämpfen dürfen.

Unter diesen Umständen rufen wir alle existierenden Führungen der ArbeiterInnenklasse, sowohl Gewerkschaften als auch Parteien auf, mit den KapitalistInnen zu brechen und eine Regierung zu bilden, um die Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen, wobei sie gegenüber den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse rechenschaftspflichtig sein sollen. Die ArbeiterInnenorganisationen müssen verlangen, dass eine solche Regierung wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen die Sabotage der KapitalistInnen ergreift, ihre Industrien, Banken usw. enteignet und die ArbeiterInnenkontrolle über sie zuläßt.

Wenn die ArbeiterInnenklasse eine Regierung erstrebt, die die wirtschaftlichen, ökologischen und zwischenstaatlichen Krisen unserer Epoche lösen kann, kann sich diese nicht auf die bestehenden Organe des bürgerlichen Staates stützen, weder politisch, machtpolitisch noch wirtschaftlich, da diese untrennbar mit der Klasse verbunden sind und an der Spitze mit deren Gefolgsleuten besetzt, die diese Krise verursacht hat und die alles dafür tut eine Lösung der gesellschaftliche Krise zu blockieren. Die ArbeiterInnenregierung muss sich also auf die Kampforganisationen der ArbeiterInnenklasse stützen, die dafür organisiert und vorbereitet sind, ihr Programm zur Kontrolle und Enteignung des Großkapitals durchzusetzen. Diese Aufgabe erfordert eine andere Art von Staat oder, wie Lenin sagte, einen Halbstaat, der mit der Selbstverwaltung und der Selbstverteidigung der ProduzentInnen operiert.

Um die unvermeidliche Sabotage durch die Spitzen des BeamtInnenapparats, durch Polizeiprovokationen, durch militärische oder „verfassungskonforme“ Putsche zu verhindern, werden wir den Aufbau und die Bewaffnung einer ArbeiterInnenmiliz brauchen und werden die Kontrolle der OffizierInnenkaste über die einfachen Dienstgrade innerhalb der Armee brechen müssen.

In einer Phase, in der die RevolutionärInnen eine wachsenden Alternative gegenüber den ReformistInnen sind , kann eine solche ArbeiterInnenregierung eine Brücke zur revolutionären Eroberung der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse bilden, bei der alle Macht in die Hände direkt gewählter Räte aus jederzeit abwählbaren ArbeiterInnendelegierten (Sowjets) übergeht und sich die Gründung eines revolutionären Staates vollzieht.

  • Bruch mit der Bourgeoisie: Alle ArbeiterInnenparteien müssen strenge Unabhängigkeit wahren und sich weigern, mit den Parteien der KapitalistInnen Koalitionsregierungen auf lokaler oder nationaler Ebene einzugehen!
  • Für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung: Enteignung der KapitalistInnenklasse! Verstaatlichung aller Banken, Unternehmen, Großhandels-, Verkehrsunternehmen, Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kommunikationsindustrien und -dienstleistungen ohne Entschädigung und unter Kontrolle der ArbeiterInnenschaft!
  • Die verstaatlichten Banken sollten zu einer einzigen Staatsbank unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnenklasse verschmolzen werden, wobei die Entscheidungen über Investitionen und Ressourcen demokratisch getroffen werden als Schritt zur Etablierung eines zentralen Plans unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse und Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft!
  • Einführung eines Außenhandelsmonopols und Kontrolle der Kapitalbewegungen!
  • Eine Arbeiter- und BäuerInnenregierung, die sich auf die Räte (Sowjets) und bewaffnete Milizen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und der städtischen Armen stützt!
  • Die volle Staatsmacht der ArbeiterInnenklasse kann nur durch die Auflösung der bewaffneten Streitkräfte des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparats und seine Ersetzung durch die Herrschaft der ArbeiterInnenräte und der eigenen ArbeiterInnenmiliz errungen werden!

Für die permanente Revolution

In den halbkolonialen Ländern, die nur dem Namen nach unabhängig sind und unter politischer Einflussnahme und wirtschaftlicher Kontrolle durch die großen imperialistischen Mächte stehen, konnten sich die Massen bis heute nur wenige der Grundrechte sichern, die in den ersten kapitalistischen Ländern in der Englischen Revolution der 1640er Jahre, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 festgeschrieben wurden. Ebenso sind in der halbkolonialen Welt von heute viele der grundlegenden Aufgaben der sich entwickelnden Kapitalismus wie nationale Unabhängigkeit, Agrarrevolution, demokratische Rechte und die rechtliche Gleichstellung der Frauen unerfüllt.

Infolgedessen glauben viele nationalrevolutionäre Kräfte heute, die vom bürgerlichen demokratischen Denken und von der „Etappentheorie“ Stalins beeinflusst sind, die auch heute noch von offiziellen kommunistischen Parteien vertreten wird, dass der Weg aus der halbkolonialen Unterentwicklung darin besteht, die demokratische Revolution zu vollenden, echte nationale Unabhängigkeit zu verwirklichen und eine moderne Republik zu errichten mittels eines Bündnisses aller Klassen, die sich der ausländischen Herrschaft widersetzen und die demokratische Entwicklung unterstützen.

Dieses Schema ist die gemeinsame Strategie von unterschiedlichen Kräfte in der halbkolonialen Welt: von der Fatah und der PFLP in Palästina bis hin zur demokratischen Bewegung im Iran, der Kommunistischen Partei der Philippinen und den MaoistInnen in Nepal. Doch die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass die nationale Bourgeoisie in diesen Ländern zu schwach und zu eng mit dem ausländischen Kapital und den imperialistischen Mächten und Unternehmen liiert ist, um eine klassische bürgerliche Revolution zum Sieg zu führen.

Diese Aufgabe fällt jetzt der ArbeiterInnenklasse zu. Um die nationale Revolution im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen zu leiten, müssen die ArbeiterInnen ihre strikte Unabhängigkeit von den KapitalistInnen bewahren und nicht nur die uneingeschränkten demokratischen Rechte sichern, sondern auch die Beschränkungen des Kapitals überwinden. Sie können die Macht nicht in den Händen einer bürgerlichen Klasse lassen, die von Natur aus nicht in der Lage ist, mit dem Imperialismus zu brechen, wohl aber dazu ihre eigenen Privilegien vor den Massen zu sichern. Die ArbeiterInnen müssen direkt die soziale Revolution ansteuern. Dies ist die Strategie der ununterbrochenen oder permanenten Revolution.

Die ArbeiterInnenklasse muss sich für die Verwirklichung voller demokratischer und nationaler Rechte in unterdrückten und halbkolonialen Nationen einsetzen. Sie muss an die Spitze des Kampfes gegen die imperialistische Herrschaft treten, die sich entweder auf Verschuldung, Besatzung, Kontrolle durch multinationale Konzerne oder aufgezwungene und abhängige Regierungen stützt.

  • Die Organisationen der ArbeiterInnenklasse müssen sich für die Bildung einer antiimperialistischen Einheitsfront aller Bevölkerungsklassen unter Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit einsetzen!
  • Keine Beteiligung der ArbeiterInnenorganisationen an einem bürgerlichen Regime, so radikal seine antiimperialistische Rhetorik auch sein mag!
  • Für ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Delegiertenräte!
  • Für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die von der demokratischen zur sozialen Revolution übergeht, das Eigentum vergesellschaftet und Industrie und Landwirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle stellt, die Schulden bei imperialistischen Ländern streicht und die Ausbreitung der Revolution in andere Ländern, die Förderung regionaler Föderationen von ArbeiterInnenstaaten und die sozialistischer Entwicklung in Angriff nimmt!

Der Übergang zum Sozialismus

Der Sozialismus, für den wir streiten, braucht Produktionsmittel in großen Maßstäben in den Händen der ArbeiterInnenklasse, die deren Entwicklung demokratisch planen kann, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, und die Ungleichheit wie auch die Gesellschaftsklassen allmählich aufzulösen.

Unter einem revolutionären ArbeiterInnenstaat wird es keinen monströsen, bürokratischen Plan geben, wie er beispielsweise unter dem Stalinismus existierte, wo eine Kaste von privilegierten BürokratInnen versuchte, alles zentral zu entscheiden. Nach der Revolution wird die ArbeiterInnenklasse die Banken, die wichtigsten Finanzinstitute, die Transport- und Versorgungsunternehmen sowie alle wichtigen Industriebetriebe vergesellschaften. Dies wird die Grundlage für eine Reihe von ineinandergreifenden Plänen bilden, die auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene integriert und koordiniert werden, jeweils von ArbeiterInnen- und VerbraucherInnen debattiert und demokratisch beschlossen.

Dies ist kein Traum, wie die bürgerlichen PropagandistInnen behaupten. Moderne Technologien machen es möglich, Bedürfnisse und Erfordernisse auf dem gesamten Erdball innerhalb von Sekunden herauszufinden und zu kommunizieren und darauf aufbauend die Produktion und die Versorgung zur Befriedigung der Bedürfnisse zu koordinieren. Jedes moderne multinationale Unternehmen arbeitet heute so. Aber im Gegensatz zu kapitalistischen Konzernen werden wir die modernen technologischen Errungenschaften nicht für den Profit einer Handvoll Reicher, sondern für das Wohl aller nutzen.

HandwerkerInnen, LadeninhaberInnen und Kleinbauern und -bäuerInnen werden ihre Familienunternehmen im Privatbesitz behalten können, wenn sie dies wollen. Zugleich werden sie ermutigt, sich von der Unsicherheit der Märkte und der mörderischen Konkurrenz zu befreien, indem sie ihre Produktion in den Dienst des gesamtgesellschaftlichen Plans für die Wirtschaftsentwicklung stellen. Die Idee, dass der Sozialismus auf kleinem Privatbesitz oder Kooperativen beruhen kann, ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die über kurz oder lang nur die Bedingungen einer Marktökonomie wieder herstellen und die Akkumulation von Kapital wieder fördern kann. Nichtsdestotrotz muss die Vergesellschaftung von kleinbäuerlichem Privateigentum, kleinen Läden u.ä. allmählich und freiwillig vor sich gehen und darf nicht zwangsweise geschehen wie unter Stalin.

Unser Ziel: die Weltrevolution

Gleichgültig, ob die Revolution zuerst in einem rückständigen halbkolonialen oder in einem fortgeschrittenen imperialistischen Land ausbricht und triumphiert, es ist lebenswichtig, dass sie sich schnell über deren Staatsgrenzen hinaus ausbreitet. Das ist sowohl notwendig, um die Errungenschaften zu verteidigen, als auch um das volle Potenzial der sozialistischen Gesellschaft auszuschöpfen. Wo auch immer die ArbeiterInnen die Macht erobern werden, werden sie von ausländischen kapitalistischen Mächten, v.a. den großen imperialistischen, attackiert werden. Die wirksamste Form der Verteidigung ist deshalb die Ausbreitung der Revolution auf genau diese Länder durch Unterstützung ihre ArbeiterInnenklassen im Kampf um die Macht. Außerdem ist es unmöglich, den Aufbau des Sozialismus auf nationaler Ebene zu vollenden, wie der Niedergang und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion bewiesen hat. „Sozialismus in einem Land“ ist eine reaktionäre Utopie.

Die in Jahrhunderten vom Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte erfordern eine internationale Ordnung. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Nationalstaat selbst zu einer Fessel für ihre weitere Entfaltung. Deshalb ergibt sich die Notwendigkeit einer Strategie für die Permanente Revolution nicht nur aus dem Kampf gegen den fortdauernden Widerstand seitens der alten herrschenden Klassen, sondern auch aus dem Umstand, dass eine vernünftige und nachhaltige Entfaltung der Produktivkräfte der Menschheit schließlich nur auf Weltebene erfolgen kann.

Auf Grundlage einer weltumspannenden Planwirtschaft und einer Weltföderation sozialistischer Republiken können wir schließlich zu einem gemeinsamen Lebensstandard gelangen und Rechtsgleichheit für die ganze Menschheit erreichen. Als Ergebnis dieses Prozesses werden soziale Klassen und die repressiven Züge des Staates allmählich absterben. Aber zunächst müssen wir das Werk in Gang setzen. In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Systemkrise gebeutelt wird, muss der Kapitalismus in den Abgrund gestoßen werden. Die Weltrevolution – und nichts anderes – ist die Aufgabe der künftigen Fünften Internationale.

  • ArbeiterInnen und unterdrückte Völker der Welt – vereinigt Euch!
  • Vorwärts zu einer neuen, einer Fünften Internationale!



Corona und die Unterversorgung an Medikamenten

Katharina Wagner, Infomail 1099, 15. April 2020

In der im Moment herrschenden Pandemie richtet sich der Blick der gesamten Gesellschaft natürlich verstärkt in Richtung Gesundheitswesen. Vor allem in den Krankenhäusern und  Pflegeeinrichtungen herrschen derzeit gravierende Mängel in Bezug auf Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel und vor allem Personal. Aber auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens ist die derzeitige Situation spürbar.

So wird das Apothekenpersonal jeden Tag mit den auftretenden Problemen der herrschenden Pandemie konfrontiert. Das erlebe ich als angestellte PTA (Pharmazeutisch-technische Assistentin) in einer Apotheke in Baden-Württemberg hautnah. Waren es zunächst Probleme bei der Beschaffung von Desinfektionsmitteln und Mundschutz, weitet sich die Problematik nun aus. Die Lieferfähigkeit vieler Medikamente kann derzeit nicht gewährleistet werden, was vor allem für chronisch Kranke zusätzliche Probleme mit sich bringt. Für viele PatientInnen wie beispielsweise EmpfängerInnen eines SpenderInnenorgans oder Personen, welche unter Autoimmunerkrankungen oder HIV leiden, ist die tägliche Medikamenteneinnahme überlebenswichtig.

Ursachen von Lieferengpässen

Ein Grund für die fehlende Lieferfähigkeit ist sicher in Hamsterkäufen zu suchen, da aufgrund der zunehmenden Unsicherheit viele Ärzte auf Bitte der PatientInnen hin früher als bisher neue Verordnungen für Medikamente ausstellen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat darauf bereits reagiert und die pharmazeutischen UnternehmerInnen und GroßhändlerInnen aufgefordert, „Arzneimittel nicht über den normalen Bedarf hinaus“ an die Apotheken zu liefern (Frankfurter Rundschau, 07.04.2020).

Die verstärkte Nachfrage kann von der Pharmaindustrie nicht sofort durch höhere Produktionsmengen gestillt werden, auch weil die Prüfung und Freigabe der einzelnen Produktionschargen aufgrund notwendiger regulatorischer Vorgaben einige Zeit in Anspruch nehmen. So beträgt beispielsweise die Produktionszeit eines Impfstoffes vom ersten Produktionstag bis zur endgültigen Auslieferung und Abgabe an den Kunden üblicherweise rund 24 Monate. Das liegt zum einen an den zahlreichen Qualitätsprüfungen (QC), welche der Impfstoff durchlaufen muss.

Ein weiterer wichtiger Grund ist aber die Dezentralisation der Impfstoff- beziehungsweise Arzneimittelherstellung. Kaum ein Medikament wird heutzutage noch an einem einzigen Standort hergestellt. Aufgrund der Globalisierung kam es auch zu einer Dezentralisation der Produktion, so dass bei einem einzigen Medikament mehrere Produktionsstätten weltweit beteiligt sind. Vor allem die so genannten Rohstoffe, damit sind zum einen die Wirkstoffe des Medikaments und zusätzlich benötigte Hilfsstoffe gemeint, werden hauptsächlich in den Billiglohnländern China und Indien produziert (https://www1.wdr.de/verbraucher/gesundheit/medikament-knappheit-100.html)

Der Hauptgrund für die Verlagerung der Produktion ist in der Senkung der Produktionskosten aufgrund eines steigenden Preisdrucks zu suchen. Dieser wird zum einen durch die wechselnden Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen verursacht, welche bei der Verordnung und Abgabe von Medikamenten berücksichtigt werden müssen. Auch die Zunahme der Marktanteile von sogenannten Generika, also preisgünstigen Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist, verstärkt den herrschenden Preisdruck zusätzlich.

Die damit einhergehenden längeren Lieferzeiten können gerade in der jetzigen Situation mit im Prinzip geschlossenen Grenzen schnell zu Lieferengpässen führen. Auch wurden seitens einiger Länder, wie zum Beispiel Indien, bereits Listen mit Medikamenten erstellt, welche derzeit nicht exportiert und an andere Länder versendet werden dürfen, um den eigenen nationalen Bedarf zu decken (Frankfurter Rundschau, 07.04.2020). Erschwerend kommt hinzu, dass für manche Wirkstoffe teilweise global nur noch wenige ProduzentInnen existieren. Als Beispiel sei Ibuprofen genannt, eines der weltweit am häufigsten eingesetzten Medikamente zur Behandlung von Schmerzen und Entzündungen. Dieses wird derzeit nur noch von sechs ProduzentInnen hergestellt, neben der deutschen BASF und der US-amerikanischen SI Group jeweils zwei weitere ProduzentInnen aus Indien (Solara, IOLPC) und China (Hubei Granules-Biocause, Shandong Xinhua). Der deutsche Chemieriese BASF wird ab 2021 der einzige Hersteller mit zwei Produktionsstandorten sein. Nächstes Jahr soll an seinem Stammsitz Ludwigshafen eine Anlage in Betrieb gehen. Bis dahin steigert BASF die Produktion am Standort Bishop (Texas). Alle genannten HerstellerInnen besitzen dabei einen Marktanteil zwischen 10–20 % und stößt jährliche Produktionsmengen von 3.000–6.200 t (Stand 2018, https://m.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/sechs-fabriken-fuer-ibuprofen/) aus. Kommt es bei einem/r der genannten HerstellerInnen zu Qualitäts- oder technischen Problemen, sind Lieferengpässe unausweichlich.

Schon vor Corona

Bereits lange vor dem Einsetzen der Corona-Gefahr kam es aus verschiedenen Ursachen zu einem stetigen Anstieg an Lieferengpässen verschiedener Medikamente.

Besonders problematisch ist in der nun herrschenden Pandemie die Tatsache, dass viele der benötigten Wirkstoffe, wie bereits angesprochen, in Asien produziert werden. Aufgrund der hohen Infektionszahlen und der damit verbundenen Drosselung oder gar des Stopps der Produktion sind daher globale Lieferengpässe an dringend benötigten Medikamenten die Folge.

Dies wird mittlerweile auch in den Apotheken deutlich spürbar. Mehrmals am Tag müssen PatientInnen vertröstet oder zurück an den Arzt verwiesen werden, da das für sie benötigte Medikament derzeit nicht lieferbar ist und keine Alternative zur Verfügung steht. Bei einigen Erkrankungen, wie beispielsweise Bluthochdruck, stehen glücklicherweise andere Wirkstoffe als Alternative zur Verfügung, welche durch die jeweiligen ÄrtztInnen verordnet werden können. Anders sieht es dagegen bei HIV oder psychischen Erkrankungen aus. Hier fehlen schlichtweg Alternativen zum bestehenden Medikament.

Ist das benötigte Medikament längere Zeit nicht lieferbar, leidet der/die PatientIn sehr schnell an gravierenden körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, welche sogar lebensbedrohlich werden können. Das Apothekenpersonal steht innerhalb der Medikamentenverordnung an letzter Stelle und ist mit den Ängsten und der berechtigten Verärgerung der PatientInnen konfrontiert. In den meisten Fällen können wir die PatientInnen leider nur vertrösten und zur Not an ihre/n ÄrztIn verweisen, um Alternativen zum bisherigen Medikament zu besprechen. Schnell fühlt man sich dann im Stich gelassen.

Forderungen

Zur Lösung dieser Probleme müsste eine entschädigungslose (Wieder-)Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie durchgeführt und die Produktion von Rohstoffen und Medikamenten unter Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften gestellt werden. Um eine hohe Qualität an Rohstoffen und Medikamenten sicherzustellen, sollten zudem Laborkontrollen an allen Produktionsstätten und innerhalb jedes Produktionsschrittes erhöht werden, ebenfalls kontrolliert von den Beschäftigten und PatientInnen bzw. ihren Verbänden.

Um den herrschenden Preisdruck und daraus resultierende Qualitätseinbußen zu beseitigen, sollten sofort alle Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen aufgehoben werden. Zur Erhöhung der Produktionskapazitäten müssen sofort alle Forschungsergebnisse veröffentlicht und das Patentrecht aufgehoben werden, so dass lebensnotwendige Medikamente für die Masse der Bevölkerung, auch in der Ländern der sog. Dritten Welt, zur Verfügung stünden. Die Medikamentenpreise sollten von Verbänden der PatientInnen und den Beschäftigten festgelegt und die jeweiligen Kosten vollständig von den Krankenkassen übernommen werden.




Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen
Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die
Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja
sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen
Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der
SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die
FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die
neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen
Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem,
was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die
EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen.
Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das
wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren
Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit
markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch
eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen
Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und
sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne
Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die
Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf
viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische
Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale
Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf
massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen
und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung
abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch
wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch
deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter
diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die
herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische,
geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind
bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche
Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen
haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren
oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten
intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie
konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische
Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und
Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen
Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist,
deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA
und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die
insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik
die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt.
Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere
Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften
abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der
Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten
eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren
Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue
globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen
hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU
ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als
ebenbürtig  gegenüber den USA,
China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies
zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen
untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine
Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie
nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen
konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu
Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige
EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem
ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive
„America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen
zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und
internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der
herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem
potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten
gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen
Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen
und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road)
geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die
Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind
zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten
kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse
zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des
Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des
KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren
Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch
eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von
EU-feindlichen, rechtspopulistischen und 
rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die
versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald
kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise
irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das
ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die
Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.