Ver.di: Die nächste Tarifrunde in den Sand gesetzt

Helga Müller/Mattis Molde, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nachdem die öffentlichen Arbeit„geber“Innen auch bei der zweiten Verhandlung Anfang November 2021 kein Angebot gemacht hatten und der niedersächsische Verhandlungsleiter noch davon redete, dass die Forderungen von ver.di nicht umsetzbar seien aufgrund der hohen Verschuldung durch die Ausgaben gegen die Corona-Krise, kam es nun nach zähen Verhandlungen am 27. und 28. November zu einem Ergebnis.

In der Vorwoche mobilisierten sich noch Zehntausende von KollegInnen in mehrtägigen Warnstreiks, kämpferischen Demonstrationen und Kundgebungen. Vor allem die Beschäftigten aus den Unikliniken machten sich Luft über die arrogante Haltung des Verhandlungsführers der Länder, der den mittlerweile Jahrzehnte andauernden Pflegenotstand einfach negierte und von einem vorübergehenden „Engpass“ bei den Pflegekräften sprach, der auf die stark ansteigende vierte Coronawelle zurückzuführen sei.

Ob das Ergebnis tatsächlich den öffentlichen Dienst nun für junge Menschen attraktiver macht  – insbesondere für den Gesundheitsbereich –, vor allem aber die Inflationsrate ausgleicht und somit verhindert, dass die Krise auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird, darf bezweifelt werden. Ver.di-Vorsitzender und -Verhandlungsführer Frank Werneke hatte ja noch vor den Verhandlungen davon gesprochen, dass eine Erhöhung der Gehälter der Pflegekräfte um mindestens 300 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr eine von anderen Punkten sei, um den Beruf wieder attraktiver zu gestalten – auch für KollegInnen, die aufgrund der Überlastung in Teilzeit gingen oder den Beruf ganz verlassen haben.

Das Ergebnis in Zahlen

  • Ab 1. Dezember 2022 Erhöhung der Gehälter (tabellenwirksam) um 2,8 Prozent.
  • Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bekommen ab 1. Januar 2022 mehr Geld durch Erhöhungen der Zulagen: Beispielsweise wird an den Unikliniken die Intensiv- und Infektionszulage von 90 auf 150 Euro erhöht und steigt damit um bis zu 67 Prozent. Das Tarifergebnis bringt etwa für eine Intensivpflegekraft eine durchschnittliche monatliche Einkommenssteigerung von 230 Euro,
  • für PhysiotherapeutInnen von durchschnittlich mehr als 180 Euro,
  • für Beschäftigte in Laborberufen ebenfalls von mehr als 220 Euro (Angaben nach ver.di).
  • Auch der Geltungsbereich der allgemeinen Pflegezulage wurde erweitert: Unter anderem erhalten  LogopädInnen, DiätassistentInnen oder medizinische Fachangestellte die Hälfte der Zulage, also 70 Euro pro Monat.
  • Anfang nächsten Jahres Auszahlung einer steuerfreien Einmalzahlung von 1300 Euro – also nicht tabellenwirksam.
  • Auszubildende, PraktikantInnen und Studierende erhalten zur gleichen Zeit 650 Euro steuerfrei.
  • Die Entgelte von Auszubildenden, PraktikantInnen und Studierenden werden ab Dezember 2022 um 50 Euro und im Gesundheitswesen um 70 Euro angehoben.
  • Die Übernahmeregelung für Auszubildende wird wieder in Kraft gesetzt.
  • Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 24 Monaten (sie endet am 30.09.2023).

Kritik und Schönfärberei

Werneke selbst bezeichnete die Entgeltsteigerung von 2,8 Prozent als „absolut nicht befriedigend“. Gleichzeitig wurde dies in der ersten Stellungnahme von ver.di wieder relativiert: „Mit der steuerfreien Einmalzahlung von 1.300 Euro, der bereits für April 2021 vereinbarten Lohnerhöhung von 1,4 Prozent und den weiteren 2,8 Prozent ab 1. Dezember 2022 wird die Inflation in 2021 und 2022 ausgeglichen werden. Das statistische Bundesamt prognostiziert sie derzeit auf 2,5 Prozent.“

Diese Aussage sorgte für großen Ärger unter den aktiven Mitgliedern. Denn hier wurde mal wieder getrickst und gelogen.

1. Bezüglich der Inflationsrate lauten die Prognosen des Bundesamtes für Statistik: 3 % für dieses und 2,5 % für nächstes Jahr – tatsächlich kann sie natürlich ganz aus dem Ruder laufen. Denn dieses Jahr beträgt sie nur deshalb 3 %, weil sie in der ersten Jahreshälfte niedriger ausfiel, in der zweiten sich aber der 5 % annäherte.

2. Im April 2021 wurden nicht die Bezüge der Länderbeschäftigten um 1,4 % erhöht, sondern derer im TVöD (Bund und Kommunen). Der TVöD-L sah eine Erhöhung um 1,29 % ab 1.1.21 vor.

Insgesamt bringt dieser Abschluss nicht einmal einen Inflationsausgleich, sondern schreibt eine Reallohnsenkung fest.

Die Gehaltstabelle des TVöD-L lief am 30. 9. 21 aus. Die neue läuft 24 Monate bis zum 30.9.2023. In dieser Zeit gibt es eine einzige tabellenwirksame Erhöhung, nämlich 2,8 %, und diese erst gegen Ende der Laufzeit ab 1.12.2022. Das heißt: Fast 2 Jahre (23 Monate) bleibt das tabellenwirksame Gehaltsniveau bei +1,29 %, während das Preisniveau im selben Zeitraum (nach äußerst moderaten Prognosen) um mindestens 5,5 % steigt.

Nun kommt noch die Einmalzahlung von 1300 Euro hinzu. Bezogen auf den gleichen Zeitraum von 23 Monaten ergibt diese rund 57 Euro im Monat.

Für Eingangsstufe EG1 machen diese 57 Euro nur plus 2,45 % aus. Mit den 1,29 % vom Anfang dieses Jahres wären dies 3,74 %, also mitnichten ein Inflationsausgleich. In den Einkommensgruppen um die 4 500 Euro brutto, in denen z. B. die meisten Lehrkräfte eingruppiert sein dürften, machen die 57 Euro gerade 1,26 % mehr aus.

Also: Selbst in der untersten Eingruppierungsstufe ergeben Einmalzahlung und prozentuale Erhöhung zusammen für die Jahre 2021 und 2022 keinen Inflationsausgleich, erst recht nicht in den Einkommensgruppen, die für die meisten Beschäftigten gelten.

Angriff abgewehrt?

Zwar konnte tatsächlich der zentrale Angriff der öffentlichen Arbeit„geber“Innen der Länder auf  die Eingruppierungsregeln, den so genannten Arbeitsvorgang, zurückgeschlagen werden – dank der Mobilisierung der KollegInnen. Aber nachdem solche „abgewehrten Angriffe“ in den letzten Jahren regelmäßig bei Tarifrunden auftauchen – ob Metall, Handel oder öffentlicher Dienst – drängt sich die Frage auf, ob diese nicht inzwischen Teil des Tarifrituals geworden sind. So können die miesen Abschlüsse immer noch unter dem Motto „Wir haben Schlimmeres verhindert“ verkauft werden.

Pflege

Wie in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Gemeinden und des Bundes sind auch hier die Pflegekräfte besser bezahlt worden: Auch wenn „das Ergebnis ein weiterer Zwischenschritt auf unserem Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen [ist]. Das werden wir in zukünftigen Tarifrunden fortsetzen“, wie Werneke in der ver.di-Stellungnahme betonte, so ist das in der Realität auch ein weiterer Schritt der Ausdifferenzierung der Gehälter und letzten Endes der Spaltung innerhalb der Belegschaft im öffentlichen Dienst. Es ist unbestritten, dass die Pflegekräfte seit Jahren schlecht bezahlt werden und dies mit einen Grund dafür darstellt, dass viele den Job verlassen und von daher eine entsprechende Gehaltserhöhung seit Jahren ansteht, so darf es eine weitere Ausdifferenzierung nicht geben. Gerade für die Tarifauseinandersetzung bei den Ländern, wo die Kampfbereitschaft nicht sehr hoch ist – wie die Gegenseite sehr wohl weiß –, birgt das die Gefahr, dass die Kampfkraft noch mehr unterhöhlt wird. Zudem liefert die Gehaltsfrage nur einen Grund für die Flucht aus dem Pflegeberuf. Wichtiger sind tatsächlich die Arbeitsbedingungen, was die Forderung nach mehr Personal entsprechend dem Bedarf und einer massiven Arbeitszeitverkürzung einschließt. Auch wenn Werneke von weiteren Verbesserungen für die Pflegekräfte redet, bleibt die Frage offen, ob es zu einer gemeinsamen Entlastungskampagne aller Unikliniken bundesweit für mehr Personal und einen Tarifvertrag Entlastung kommen wird – wie ver.di es noch vor der Tarifrunde in Aussicht gestellt hatte. In einigen Bundesländern scheint es diesbezüglich Vorbereitungen zu geben, aber ob eine einheitliche bundesweite Auseinandersetzung vom Zaun gebrochen wird – was dringend notwendig wäre, um die Kampfkraft zu erhöhen und auch die Möglichkeit zu eröffnen, dass auch Soliaktionen der arbeitenden Bevölkerung zustande kommen –, ist doch eher unwahrscheinlich.

Bilanz

Statt durch diese Regelung, die für die Masse Reallohnverlust bedeutet und gleichzeitig bestimmte Gruppen besserstellt, die Einheit der Beschäftigten zu untergraben, hätte ver.di die Kampfkraft im Gesundheitswesen und auch bei einer anderen „systemrelevanten“ Gruppe, den angestellten LehrerInnen, nutzen können, um deutlich mehr herauszuholen. Die durch den TVöDL bezahlten Beschäftigten sind nicht besonders kampfstark. Obwohl 1,1 Millionen diesem Tarifvertrag unterliegen, sind viele davon kaum gewerkschaftlich organisiert und auch nicht die kämpferischsten. Die Mobilisierungen in dieser Tarifrunde, bei denen sich die Beschäftigten der Unikliniken und der angestellten LehrerInnen hervorgetan haben, fielen aber durchaus besser aus als zu früheren Zeiten. Es hätte ein Aufbruch auch für diese Sektoren werden können. Das miese Ergebnis und die Spaltung im Abschluss verhindern auch dies.

Betriebsgruppen, Gremien auf allen Ebenen sollten mit Resolutionen das Ergebnis und die Schönrederei kritisieren. Da es keinen Streik gab, gibt es auch keine Urabstimmung und es wird schwer sein, eine solche durchzusetzen. Wohl aber sollten auf allen Ebenen Voten verlangt werden.

Die Aufforderung an die Tarifkommission, das Ergebnis nicht anzunehmen, ist dabei eher symbolisch und nur sinnvoll in Verbindung mit Schritten, die das entsprechende Gremium auch machen kann. Sie sollten eine solche Ablehnung mit der Frage verbunden werden, wie die Krise und die Pandemie bekämpft werden können.

Nach den Niederlagen bei der Tarifrunde TVöD vor gut einem Jahr und bei der Metall- und Elektroindustrie, bei Stahl und Handel und den vielen kleineren Runden, ist klar, dass die Gewerkschaftsbürokratie ihren Teil dazu beiträgt, dass die ArbeiterInnenklasse für Krise und Pandemie zahlen soll. Ganz im Einklang mit der Politik der alten und neuen Regierung, die auf Steuererhöhungen für die Reichen verzichten und die Umverteilung von unten nach oben fortsetzen will, werden die Arbeitenden zur Kasse gebeten.

Die Kampfkraft in Tarifkämpfen wird verschenkt, wenn es nicht gelingt, in den Gewerkschaften oppositionelle Gruppen und Strömungen aufzubauen, die gegen die Politik der Bürokratie vorgehen, für die Weltmarktstellung der deutschen Konzerne und die politischen Ambitionen des deutschen Imperialismus wichtiger sind als die Lage der arbeitenden Klasse. Sie wird verschenkt, wenn die Zehntausenden, die sich in den Tarifrunden engagieren, nicht verstehen, dass der Kampf auch politisch geführt werden muss, eine umfassende Bewegung gegen die Abwälzung der Krise ansteht. Uns zwar ab jetzt.




Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Gebt uns fünf!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 260, November 2021

Gebt uns fünf! So lautet eine Forderung der derzeit laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder: 5 % mehr Lohn, mindestens 150 Euro und eine Laufzeit von einem Jahr. Zusätzlich zu diesen Hauptpunkten fordern die beteiligten Gewerkschaften – allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – 100 Euro mehr für alle Auszubildenden, eine Höhergruppierung der Beschäftigten sowie einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte neben besseren Arbeitsbedingungen für prekär beschäftigte Hochschulangestellte.

Klingen 5 % mehr Lohn bei einer Tariflaufzeit von einem Jahr zunächst einmal sehr radikal, vergeht einem das Lachen innerhalb von Minuten, wenn man dies mit der aktuellen Inflation von über 4 % vergleicht. Gleichzeitig steht natürlich wie bei jeder Tarifverhandlung auch noch die Frage im Raum, ob es überhaupt zu einem Abschluss von 5 % kommt oder  die Gewerkschaften Kompromisse eingehen und entweder bei der Frage der Prozente zurückschrauben oder die Vertragslaufzeit verlängern werden.

Gerade für die unteren Lohngruppen spielt der finanzielle Aspekt eine zentrale Rolle. Schon in den letzten Jahren blieben große Teile des öffentlichen Dienstes mehr und mehr hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück. Die Preissteigerung lebensnotwendiger Güter wie Wohnung, Heizung und Strom liegt zudem noch deutlich über der Inflationsrate, sodass eigentlich 5 % längst nicht genug sind, um die Kaufkraft zu halten. In Anbetracht dieser Fakten müsste eigentlich ein Plus von 8 – 10 % gefordert werden.

Führung der Kampagne

Dabei ist der finanzielle Aspekt der Tarifrunde für viele KollegInnen längst nicht das einzige, für manche nicht einmal das drängendste Problem.

Die KollegInnen im öffentlichen Dienst – vom Gesundheitswesen, über Verwaltungen bis hin zum Bildungswesen stehen angesichts der Inflation voll hinter den monetären Forderungen. Jedoch spielen die Fragen des Gesundheitsschutzes, der weiteren Strategie der Pandemiebekämpfung, der Arbeitsüberlastung und des Personalmangels eine zentrale, wenn nicht die entscheidende Rolle im Alltagsgeschäft – und faktisch keine in der Tarifrunde.

Die ersten zaghaften Mobilisierungen der LehrerInnen in Berlin rund um die Initiative „Tarifvertrag Gesundheit“ sowie die lang anhaltenden Arbeitskämpfe in den Berliner Krankenhäusern haben gezeigt, dass diese Themen den Beschäftigten wichtig sind und sich auch darum mobilisieren lässt. Warum wurde dies aber nicht zum bundesweiten Fokus der derzeitigen Tarifverhandlungen gemacht bzw. lokal in die Kampagne integriert? Wieso hält sich die Berliner GEW derzeit mit ihrer Mobilisierung rund um ihre Forderungen nach einem „Tarifvertrag Gesundheit“ zurück und verschiebt weitere Aktionen ins nächste Jahr?

Das Argument der Gewerkschaftsführungen lautet hier, dass Forderungen nach Gesundheitsschutz in dieser Tarifrunde nicht verhandlungsfähig wären, d. h. diese „Punkte“ würden derzeit nicht zur Diskussion auf dem Tisch liegen. Hier wird aber gerne vergessen, dass es auch die Gewerkschaftsführungen sind, die die Diskussionspunkte und Schwerpunkte beschließen. Somit könnten sie auch Gesundheitsfragen auf die Tagesordnung setzen und zum Fokus dieser Verhandlungsrunde erklären.

Ein solcher zusätzlicher Schwerpunkt der Verhandlungsrunde würde aber bedeuten, dass die Gewerkschaftsführungen mit ihrer derzeitigen Strategie im Umgang mit der Pandemie brechen müssten: die Ausfüllung ihrer Rolle als stillhaltende SozialpartnerInnen! Hierbei stellen sie sich eng an die Seite der Regierung sowie des Kapitals und malen das Bild einer gemeinsam notwendigen Anstrengung, um die Coronapandemie zu überwinden. Dies bedeutete für die Beschäftigten letztes Jahr absolute Passivität auf der Straße, Nullrunde, erhöhten Arbeitsaufwand bzw. Mehrarbeit im Beruf und gesundheitlich unsichere Arbeitsbedingungen. Jetzt, wo die Regierung den pandemischen Notstand für beendet erklärt, zeigt sich das Fatale der SozialpartnerInnenschaft erneut. Die Beschäftigten müssen sie in Form erhöhter Gesundheitsrisiken und zusätzlicher Belastung nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Kitas oder Schulen ausbaden.

Die Gewerkschaftsspitzen wiederum sind nicht daran interessiert, diese Strategie aktiv zu ändern. Ein Ausdruck dessen ist hier das Ausklammern der Arbeits- bzw. Gesundheitsschutzfragen in der laufenden Tarifrunde.

Die GEW

Exemplarisch lässt sich dies am Verhalten der GEW erkennen. Sie stellt während der Tarifverhandlungen die kleine Partnerin neben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dar, welche auch den Verhandlungsvorsitz innehat. Ver.di gibt somit den Ton vor und die anderen Gewerkschaften haben sich daran zu orientieren. Dies wird innerhalb der GEW gerne als Ausrede verwendet, um ihre Inaktivität damit zu begründen, dass ver.di alles vorgibt und sie selbst „nichts zu sagen hätte“. Aber auch hier muss wieder kritisch die Frage gestellt werden: „Warum tritt die Gewerkschaftsführung der GEW nicht aktiver auf?“

Ihre oben schon angesprochene Initiative in Berlin „Tarifvertrag Gesundheit“ wäre eine gute Möglichkeit, um sich nicht nur als aktive Gewerkschaft während der Tarifverhandlungen darzustellen, sondern auch ein Thema zu besetzen, welches den Beschäftigten wichtig ist und um das auch größere Mobilisierungen durchgeführt werden könnten. Auch wenn der Punkt „Gesundheit“ in den Tarifverhandlungen nicht „auf dem Tisch liegt“, könnte die GEW dies als „Begleitmusik“ ihrer Tarifkampagne in den Fokus stellen und die beiden Themenkomplexe wirtschaftliche Forderungen und Gesundheitsschutz miteinander verbinden. Sie könnte es nicht nur in Berlin zur Mobilisierung nutzen, sondern auch Solidaritätsaktionen für die Berliner Initiative in weiteren Bundesländern fördern, um den Berliner KollegInnen solidarisch bei ihrem Kampf um den „Tarifvertrag Gesundheit“ zur Seite zu stehen, wie auch eine Debatte in anderen GEW-Landesverbänden zu diesem Thema anstoßen und einen Vorstoß „Tarifverträge Gesundheit“ auf Bundesebene lancieren.

Eine solche Initiative müsste, ja dürfte sich nicht nur auf die GEW begrenzen, sondern sollte innerhalb der DGB-Gewerkschaften auf Bundesebene kommuniziert und vorbereitet werden. Hierfür könnten ebenfalls die derzeitigen Tarifverhandlungen genutzt werden, um die Debatte unter den KollegInnen verschiedener Gewerkschaften zu organisieren und zu strukturieren.

Digitale Kampagne?

In den Jahren seit dem Ausbruch der Pandemie spielten aber nicht nur das Thema Gesundheitsschutz eine wichtige Rolle im Arbeitsalltag der KollegInnen, sondern auch die Frage, ob Aktionen auf der Straße überhaupt legitim sind und wir uns nicht eher nur im digitalen Rahmen aufhalten sollten. Wie die katastrophale Fehlentscheidung der Gewerkschaften, die Erster-Mai-Mobilisierungen 2019 nicht stattfinden zu lassen, gezeigt hat, ist eine aktive Mitgliedschaft auf der Straße von großer Bedeutung. Wie wird aber die derzeitige Tarifkampagne geführt? Kurz gesagt: Altbekannte Tarifrituale werden mit Onlinekampagnen garniert!

Als Beispiel kann hier wieder die GEW dienen. Anstatt aktiv auf die Belegschaft zuzugehen und in Diskussionsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen die Tarifrunde zu verbreitern und führen, wird dafür eine externe Agentur engagiert. Anstatt dies in die Hände der KollegInnen zu legen, wird es der Berliner Agentur „Ballhaus West“ überlassen. Dadurch wird gewährleistet, dass die Gewerkschaftsführung politisch die Kontrolle über die Kampagne behält und die Schwerpunkte vorgeben kann. Dass eine solche von oben aufgestülpte „Mobilmachung“  von den KollegInnen nicht angenommen wird, zeigt auch eindrücklich die Resonanz auf die Onlinekampagne der GEW in den „sozialen“ Medien. Bis zum 30.10.21 haben sich gerade einmal 393 AbonnentInnen in den Telegram-Informationskanal der GEW für die laufende Tarifrunde verirrt. Eine aktive Beteiligung der Belegschaft bundesweit wie auch eine Mitgestaltung dieser sieht anders aus.

Raus auf die Straße – Aufbau von Streikkomitees!

Den obigen Punkten wird als Argument schnell entgegengebracht: „Wie sollen sich denn die VerhandlungsführerInnen neben den Verhandlungen auch noch um das alles kümmern?“ Wir würden entgegnen: „Das müssen sie gar nicht! Es müssen Basisstrukturen in den jeweiligen Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen aufgebaut werden.“ Diese könnten nicht nur Streikmobilisierungen für die derzeit laufenden Tarifverhandlungen unterstützen, vorbereiten und durchführen, sondern auch Solidaritätsarbeit mit der Bevölkerung entfachen, Gespräche mit betroffenen Menschen wie z. B. Eltern oder PatientInnen führen. Man darf sich ruhig ein Beispiel an der vorbildlichen Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Krankenhausstreik nehmen, der zeigte, wo’s langgehen kann.

Gleichzeitig könnten solche, den Mitgliedern verantwortliche und von diesen gewählte  Streikkomitees auch den Kontakt zu KollegInnen unterschiedlicher Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes bzw. einer Bildungseinrichtung aber auch darüber hinaus organisieren. So könnten Themenfelder und Forderungen gemeinsam erarbeitet werden, um mobilisierungsstark und dynamisch die Tarifrunde zu führen.

Eins ist klar: Die 5 % werden auch nur durch eine starke Gewerkschaft auf der Straße und durch einen massiven, bundesweiten und unbefristeten Streik durchgesetzt werden können, ganz zu schweigen von anderen Forderungen wie nach besserem Gesundheitsschutz.

Daher müssen kämpferische GewerkschafterInnen, Basisversammlungen, Betriebsgruppen und andere gewerkschaftliche Strukturen auch dafür kämpfen, dass es keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, keine Geheimabsprachen mit den Arbeit„geber“Innen gibt. Die Verhandlungen sollten vielmehr öffentlich übertragen werden.

Zweitens sollten die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen, dass es ohne große Mobilisierung keinen Abschluss geben kann, der die Löhne auch nur sichert. Ver.di und GEW sollten daher so rasch wie möglich die Verhandlungen für gescheitert erklären und die Urabstimmung einleiten.

Belegschaftsversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit von Tarifkommission und Streikkomitees sind dabei unerlässlich, um den Kampf zu organisieren und demokratisch zu kontrollieren; um sicherzustellen, dass am Ende keine faulen Kompromisse, sondern Abschlüsse herauskommen, die die Lage der Beschäftigten verbessern und deren Kampfkraft stärken.




Tarifrunde öffentlicher Dienst Länder: Klotzen nicht kleckern!

Susanne Kühn, Neue Internationale 258, September 2021

Fünf Prozent mehr Gehalt – mit dieser Forderung gehen die Gewerkschaften für die 1,3 Millionen Landesbeschäftigten in die kommende Tarifrunde. Die Laufzeit soll 12 Monate betragen und die Gehaltserhöhung für die unteren Einkommensgruppen mindestens 150,- Euro. Beschäftigte des Gesundheitswesens im öffentlichen Dienst der Länder sollen tabellenwirksam monatlich 300 Euro mehr erhalten. Die Ausbildungsvergütungen sollen um 100 Euro angehoben werden, für studentische Beschäftigte soll es einen Tarifvertrag geben.

Darüber hinaus strebt ver.di einen separaten „Verhandlungstisch“ Gesundheitswesen an, um weitere Verbesserungen für die Beschäftigten auszuhandeln. Die GEW will endlich eine bessere Eingruppierung für viele angestellte Lehrerinnen und Lehrer unterhalb der Entgeltgruppe 13 erreichen – eine Forderung, die bei der letzten Tarifrunde faktisch geopfert wurde.

Ver.di und GEW führen die Verhandlungen, deren erste Runde für den 8. Oktober angesetzt ist,  gemeinsam mit GdP, IG BAU sowie DBB Beamtenbund und Tarifunion.

Einschätzung der Forderungen

Fünf Prozent hören sich auf den ersten Blick ganz gut an. Doch angesichts einer prognostizierten Inflationsrate von 2,4 % für das Jahr 2021 fällt der Einkommenszuwachs längst nicht so großartig aus, selbst wenn die volle Forderung durchgesetzt werden würde. Hinzu kommt, dass auch im öffentlichen Dienst im letzten Jahr die Einkommen stagnierten und die Arbeitsbelastung insbesondere im Gesundheitswesen, bei LehrerInnen und ErzieherInnen massiv zunahm. Gut hört sich auch an, dass der Tarifvertrag 2021 im Gegensatz zum Abschluss von 2019 – 21 auf 12 Monate begrenzt sein soll.

Doch die letzten Tarifrunden im öffentlichen Dienst – ob bei Bund/Kommunen oder Ländern – verliefen immer wieder nach dem gleichen Muster. Es wurde eine spürbare Einkommenserhöhung gefordert und auch bei Warnstreiks mobilisiert. Am  Verhandlungstisch endete das alles mit mageren Ergebnissen, langen Laufzeiten, Auslagerung von strittigen Themen und großen Anstrengungen, die Abschlüsse schönzureden. Wenn eine Wiederholung dieser Erfahrung verhindert werden soll, müssen die Gewerkschaftsmitglieder selbst die Tarifrunde kontrollieren.

In jedem Fall gibt es Anzeichen dafür, dass die Auseinandersetzung auch 2021 ähnlich wie in den letzten Jahren verlaufen könnte, auch wenn wir am Beginn einer gewissen konjunkturellen Erholung stehen. Wie so oft bereiten die Spitzen von ver.di und GEW die Beschäftigten und die ArbeiterInnenklasse nämlich nicht auf eine entschiedene Konfrontation mit den Arbeit„geber“Innen vor.

Vielmehr versuchen sie, selbst höhere Einkommen der Beschäftigten als Mittel darzustellen, den öffentlichen Dienst, also den Staatsapparat im Interesse aller zu stärken. Demzufolge hätten auch die Unternehmen, vor allem aber die Länder selbst ein Interesse an einem attraktiven öffentlichen Dienst, müssten also auch in ihrem eigenen Interesse zufriedenstellende Lohn- und Gehaltsbedingungen bieten, damit die Leute nicht in die Privatwirtschaft gingen.

Ganz in diesem Sinn erklärt die GEW-Vorsitzende Maike Finnern: „Der Staat muss in der Corona-Krise weiter als Stabilisator auftreten. Dafür muss er mit hoch qualifizierten und motivierten Beschäftigten handlungsfähig bleiben. Das zeigt die Corona-Krise Tag für Tag.“

Und die sog. ArbeitgeberInnen?

Bei den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst erscheint der Staat als scheinbar über den Klassen stehendes Organ zur Sicherung von Gemeinwohl und Zusammenhalt. Dumm nur, dass die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), die sog. ArbeitgeberInnenseite, diese Illusionen nicht teilt. Wie immer hält sie die Forderungen der Gewerkschaften für überzogen. Natürlich, so ihr Verhandlungsführer, der niedersächsische Finanzminister Hilbers (CDU), verdienten die Beschäftigten Wertschätzung. Nur zu viel kosten dürfen sie nicht. „Die Gewerkschaften sollten mit ihren Forderungen keine illusorischen Erwartungen wecken, sondern die Realitäten anerkennen“, lässt Hilbers über die FAZ ausrichten. Und unter den Realitäten versteht er die Erfordernisse von Konjunktur und Schuldenbremse.

Ohne Streiks und Arbeitskämpfe drohen faule Kompromisse, Abstriche bei den Einkommen oder Laufzeiten oder eine weitere Vertröstung einzelner Beschäftigtengruppen. 2019 traf dies die LehrerInnen.

Dass solche faulen Kompromisse drohen, wissen im Grunde alle aktiven, kämpferischen GewerkschafterInnen. Schließlich kennen sie „ihren“ Apparat, „ihre“ Bürokratie, „ihre“ Vorstände, die eben nicht unter ihrer Kontrolle stehen. Und selbst wer diese Erfahrungen noch nicht gemacht hat, braucht nur den Äußerungen des ver.di-Vorsitzenden Werneke zu folgen. Die Tarifverhandlungen würde, so erklärt er gegenüber der FAZ, „sicherlich nicht einfach“ werden. Doch, so versichert er dem Blatt, die Gewerkschaften seien zwar arbeitskampffähig, Streiks seien aber vorerst kein Thema.

Kampf für die Forderungen

Streiks zum Thema machen müssen die Beschäftigten. Statt des üblichen Tarifrundenrituals sollte entschlossener Kurs auf die Durchsetzung der Forderungen genommen werden – ohne Wenn und Aber. D. h. kämpferische und oppositionelle GewerkschafterInnen müssen nicht nur in der Mobilisierung aktiv sein, um möglichst viele KollegInnen auf die Straße zu holen, sie müssen in ihren Gewerkschaftsgruppen, bei Versammlungen, in Flugblätter, in den Gremien, den Kurs auf die Urabstimmung fordern. Nur so wird sich ein Abschluss durchsetzen lassen, der die Forderungen für alle Beschäftigtengruppen sichert und zudem einen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst mit den Kämpfen bei den Berliner Krankenhäusern und bei der Bahn AG koordiniert.

Das Durchsetzen eines entschlossenen Arbeitskampfes erfordert freilich auch, dass dieser selbst unter Kontrolle der Mitglieder gestellt wird, Aktions- und Streikkomitees auf Vollversammlungen gewählt und von diesen abwählbar sind, die Tarifverhandlungen öffentlich geführt werden und die Tarifkommission von der Basis gewählt und dieser rechenschaftspflichtig ist.

Eine solche Politik in ver.di, in der GEW durchzusetzen, wird selbst eine längere Auseinandersetzung erfordern. Die Tarifrunde bietet jedoch eine Gelegenheit, darum KollegInnen zu sammeln, gemeinsam den Arbeitskampf zu politisieren und über diesen hinaus die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften als klassenkämpferische Opposition aufzubauen und zu verankern.




Systemrelevant und ignoriert – LehrerInnen und ErzieherInnen wehren sich!

Lucie Damsch und Christian Gebhardt, Infomail 1143, 23. März 2021

Fast pünktlich zum einjährigen „Jubiläum“ der Pandemie ist das Thema Corona so präsent wie eh und je. Auch die Bildungseinrichtungen erleben dadurch eine starke Veränderung. Seit fast einem Jahr wird die Betreuungs- und Bildungslandschaft im Zuge der Pandemie von Woche zu Woche vor neue Herausforderungen gestellt, teilweise durch spontane und nicht durchdachte Beschlüsse der Regierungen gebeutelt. Dazu kommen Ängste um die eigene Gesundheit und um die der Kinder und SchülerInnen. Dass uns der Kurs, welchen die Regierungen einschlagen – mit drastischen Einschränkungen und Isolationsmaßnahmen im Privaten und Sozialen auf der einen Seite und extremen finanziellen Zuschüssen für große Unternehmen und die Offenhaltung aller Produktionsbetriebe auf der anderen – nicht zu konstant niedrigen beziehungsweise null Infektionswerten führt, haben wir lange genug hingenommen.

Veranstaltung der VKG

Die Stimmen der Beschäftigten in den Bildungseinrichtungen wurden hierbei lange verschwiegen. Vor allem die der ErzieherInnen wurden oft überhört oder gingen in den Diskussionen rund um die Schulen unter. Um den beiden Bereichen eine Stimme zu geben, organisierte die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) in Berlin eine Onlineveranstaltung mit dem Titel: „Systemrelevant und ignoriert – Lehrer*innen und Erzieher*innen wehren sich!“

Die Veranstaltung war mit rund 40 – 45 TeilnehmerInnen gut besucht. Sie begann mit drei Beiträgen von Beschäftigen aus Schule und Kita. Es sprachen Christoph Wälz (Lehrer und Vorsitzender des GEW-Bezirksverbandes Berlin-Pankow), Lucie Bevermann (Erzieherin und Studentin, Mitglied der Jungen GEW Berlin) und Daniel Keller (Lehrer, VKG Berlin).

Christoph Wälz bezog sich thematisch vor allem auf den „Massenaufstand der LehrerInnen im Januar“, ausgelöst durch eine Petition eines besorgten Vaters in Berlin. Die Senatsverwaltung wollte entgegen der damaligen Stimmungslage als eines der ersten Bundesländer die Schulen wieder öffnen. Die Petition erhielt nicht nur viele Unterschriften, es kam auch dazu, dass sich viele Beschäftigte an Berliner Schulen versammelten, an ihre Gewerkschaft schrieben und von ihr Aktionen einforderten. Auch der Ruf nach Streik wurde von unten immer lauter. Die Protestaktionen und Forderungen zeigten Wirkung: Der Senat gab nach und sagte die Schulöffnungen wieder ab.

Anschließend berichtete Lucie Bevermann von der Situation der ErzieherInnen in Kitas und informierte über die Aktivitäten einer Basisinitiative von GEW-Mitgliedern, in welcher sie aktiv ist. Diese tritt für die Durchführung eines Aktionstages durch die Organisation der GEW für mehr Gesundheitsschutz ein und brachte die Idee eines Aktionstages teilweise erfolgreich in und über die Junge GEW Berlin auch in den Landesverband der GEW mit ein. Zusätzlich bezog sie sich auf die schon vor der Pandemie vorherrschenden schlechten Arbeitsbedingungen von ErzieherInnen und gab diesen oft überhörten Beschäftigtengruppen eine Stimme auf dieser Veranstaltung, wurden und werden ihre Arbeitsbedingungen durch die Pandemie doch noch zusätzlich verschärft. Der klassische Gesundheitsschutz (Abstand halten und Masken tragen) ist in der Arbeit mit den jüngsten Kindern nicht realisierbar. Diese Berufsgruppe setzt sich also tagtäglich einem enormen Risiko aus, um die Kinder zu betreuen. Durch die Beschlüsse der Regierung (in einigen Bundesländern wurden lediglich Bitten an die Eltern gerichtet, ihre Kinder zuhause zu betreuen, so dass diese kein Argument ihren Arbeit„geber“Innen gegenüber hatten, um für eine Betreuung dort entschädigt zu werden) wurde deutlich, dass die Gewährleistung der uneingeschränkten Arbeitskraft der Eltern im Hauptfokus dieser Schritte stand und steht. Des Weiteren waren und sind die beschlossenen Schutzmaßnahmen oft nicht bis zu Ende durchdacht und teilweise fernab jeder praktischen Realisierbarkeit. Um den Forderungen und der Empörung der Beschäftigten Gehör zu verschaffen, verdeutlichte Lucie noch einmal die Idee der GEW-Basisinitiative, als Gewerkschaft aktiv unsere Forderungen in Form eines bundesweiten Aktionstages auf die Straße zu tragen und nicht nur passiv Verbesserungen und Dialog einzufordern.

Als letztes sprach Daniel Keller und fokussierte sich als Sprecher für die VKG Berlin vor allem darauf, die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie herauszuarbeiten und auf die Notwendigkeit einer koordinierten Auseinandersetzung mit gerade dieser hinzuweisen, mit der sich eine jede kämpferische Basisbewegung innerhalb der Gewerkschaften konfrontiert sehen wird. Er unterstrich damit die Wichtigkeit des Aufbaus der VKG über Gewerkschafts- und Branchengrenzen hinweg.

Bildungseinrichtungen öffnen oder schließen?

An die Inputreferate schloss sich eine sehr lebhafte und breite Diskussion an. Sie zeichnete sich nicht nur durch Beiträge von anwesenden politischen Gruppierungen aus, sondern wurde auch durch Erzählungen aus dem Alltag anwesender KollegInnen aus dem Bildungsbereich ergänzt und bereichert. Dies konnte für die VKG Berlin als Erfolg angesehen werden. Im Fokus der Diskussion standen vor allem folgende Themenfelder: der frisch beschlossene Aktionstag am 12.03 in Berlin, die Einschätzung der derzeitigen Stimmung rund um das Thema „Öffnung der Bildungseinrichtungen“ und davon abgeleitet das sehr kontrovers diskutierte Themenfeld #ZeroCovid.

Prinzipiell bestand große Übereinstimmung bezüglich der Notwendigkeit eines Aktionstages und einer darüber hinausreichenden Vernetzung und Organisation der Proteste im Bildungs- und Erziehungsbereich. Auch wurde die Argumentation, dass dieser nach Möglichkeit auf der Straße und in der Öffentlichkeit stattfinden sollte, um mehr Druck aufzubauen, bestärkt. In den letzten Monaten zeigten viele gut organisierte Demonstrationen, dass es auch in Zeiten der Pandemie möglich ist, dringende Forderungen in Präsenz vorzubringen und dadurch auch ein Stück weit gegen das Gefühl der Vereinzelung und Ohnmacht anzutreten.

Der Aspekt der Schließung oder Öffnung der Kitas und Schulen wurde jedoch kontroverser diskutiert. In dieser Diskussion und dem damit verbundenen Themenfeld von #ZeroCovid wurden die Unterschiede der politischen Perspektiven der an dieser Diskussion beteiligten Gruppen ersichtlich. Die Diskussion drehte sich stark um die Frage, ob derzeit die Forderung nach „Schließung der Schulen, bis diese sicher sind“ überhaupt noch aufgeworfen werden sollte. Dies wurde hauptsächlich damit begründet, dass einerseits auch das Wohl der Kinder und Jugendlichen bei den Entscheidungen betrachtet werden soll und andererseits sich die Stimmung innerhalb der Bevölkerung und den Kollegien geändert hätte. Diese würde nun im Vergleich zum Beginn des Jahres mehr in Richtung Öffnungen tendieren. Daran angelehnt wurde auch die Konzeption der #ZeroCovid-Kampagne kritisiert und vor allem von VertreterInnen der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol) abgelehnt. Diese sei derzeit nicht vermittelbar und wäre der Organisation von Widerstand hinderlich.

Die neuesten Fallzahlentwicklungen zeigen jedoch, dass sich diese Aussage nicht als richtig erwiesen hat, führen sie in den letzten Tagen doch zu einem erneuten Anschwellen der Angst innerhalb der Bevölkerung und der Kollegien, dass die Öffnung der Schulen und Kitas ein großes Sicherheits- und Infektionsrisiko darstellt und mit für die Anstiege der Neuinfektionen verantwortlich ist. Eine kämpferische Vernetzung innerhalb der Gewerkschaften sollte sich gerade nicht von kurzzeitigen Stimmungsschwankungen leiten lassen und an die rückschrittlicheren Positionen innerhalb der ArbeiterInnenklasse anpassen. Sie muss eine klare Perspektive und einen klaren Standpunkt beziehen. Es war auch schon zur Zeit der Veranstaltung abzusehen, dass die Fallzahlen wieder steigen werden und die Frage der Schul- und Kitaschließungen erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden wird.

Wirtschaftslockdown als Brücke zum Kindeswohl!

Hier überzeugten vor allem die Argumente innerhalb der Diskussion, die sich entlang der #ZeroCovid-Strategie orientierten. Diese forderten die Schließung nicht systemrelevanter Betriebe, um die Fallzahlen zu drücken. Eine solche Perspektive würde es der Gesellschaft dann auch unter bestimmten Bedingungen erlauben, kontrolliert die Bildungs- und Erziehungseinrichtungen wieder zu öffnen wie auch Raum zu geben, um Jugendlichen und Kindern soziale Kontakte im Privaten zu ermöglichen (z. B. Öffnungen von Jugendzentren etc.). Es sollte doch gerade nicht der Fehler begangen werden anzunehmen, dass das psychosoziale Wohl der Jugendlichen und Kindern alleine von den sozialen Kontakten innerhalb von Schulen und Kitas abhängt. Dieser Logik zu folgen, würde bedeuten, „der Wirtschaft“ in die Hände zu spielen. Eine ihrer wichtigsten Forderungen ist es, die Kinderbetreuung zu gewährleisten, damit die uneingeschränkte Arbeitskraft der Eltern für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftskraft des Landes im internationalen Wettbewerb zur Verfügung steht. Hier ist es jedoch wichtig aufzuzeigen, dass es eine Alternative zum bürgerlich organisierten Lockdown gibt. Einen Lockdown organisiert durch und orientiert an den Interessen der ArbeiterInnenklasse! Als kämpferische GewerkschafterInnen ist es hierbei unsere Pflicht aufzuzeigen, welche Rolle die DGB-Gewerkschaften spielen müssten, und dafür auch innerhalb der Gewerkschaften zu kämpfen, anstatt sich hinter Stimmungsschwankungen zu verstecken oder sich von ihnen desorientieren zu lassen.

Besonders die Phase des zweiten Lockdowns, in welcher es zunächst für die Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes kein Kriterium war, ob die Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiteten oder nicht, zeigte offen, welche Interessen den Beschlüssen der Regierung zugrunde liegen. Durch die Aussetzung der Liste der systemrelevanten Berufe als Voraussetzung für Kinderbetreuung ließ die Regierung den Arbeit„geber“Innen freie Hand im Umgang mit ihren Angestellten. Von Lohnfortzahlungen bei Stundenreduzierung oder zusätzlichen bezahlten Urlaubstagen im Zuge der freiwilligen Kinderbetreuung zuhause war keine Rede, und die Eltern sahen sich gezwungen, ihrer nicht systemrelevanten Tätigkeit weiterhin voll nachzugehen und ihr Kind institutionell betreuen zu lassen. Zusammen genommen bilden die Forderungen nach Schließung der nicht systemrelevanten Betriebe sowie die nach Stundenreduzierung bei voller Lohnfortzahlung bzw. bezahlten Urlaubstagen ein Scharnier, das es einer kämpferischen Basisbewegung ermöglicht, das psychosoziale Wohl der Kinder und Jugendlichen mit den Bedürfnissen der beschäftigten Eltern zu vereinen.

Aktionstag in Berlin

Im Nachklang der Veranstaltung fand am 12.03. in Berlin der schon angesprochene Aktionstag statt, hauptsächlich organisiert durch die Junge GEW Berlin. Dieser stellte Forderungen für mehr Gesundheitsschutz und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe, Sozialarbeit, Schule und Hochschule auf und trug diese in Form einer Kundgebung in die Öffentlichkeit. Mithilfe einer Petition wurden Unterschriften gesammelt und diese der Senatsverwaltung übergeben. Für Personen, denen eine Teilnahme an der Kundgebung nicht möglich war, gab es eine Fotoaktion.

Die Idee des Aktionstages inklusive Präsenzveranstaltung und die Kritik an einer zu passiven Gewerkschaftsführung ging zurück auf die durch Lucie Bevermann vertretene Initiative, die zunächst mit ihrer Idee eines (bundesweiten) Aktionstages Gehör in der jungen GEW Berlin fand. Bürokratische Manöver durch die Gewerkschaftsführung der örtlichen GEW verhinderten die Ausweitung des Aktionstages. Obwohl es für diesen eine knappe Mehrheit im Landesvorstand der GEW Berlin gab, wurde er nur in geringem Maße durch die Hauptamtlichen der GEW Berlin unterstützt und wurden auch nur Mitglieder unter 35 Jahren dafür mobilisiert. Dieses Vorgehen der Gewerkschaftsführung und deren bürokratische Verzögerungstaktiken zeigen einmal mehr die Notwendigkeit einer kämpferischen Basisopposition innerhalb der GEW und der restlichen DGB-Gewerkschaften auf.

Deshalb begrüßen wir, dass sich nun der Beginn einer Vernetzung an GEW-KollegInnen im Bundesgebiet gebildet hat, die die Idee eines bundesweiten Aktionstages verbreitet und dafür innerhalb der GEW und darüber hinaus argumentieren möchte. Wir rufen deshalb alle interessierten KollegInnen in den Bildungseinrichtungen dazu auf, sich dieser GEW-Vernetzung anzuschließen und mit uns in Kontakt zu treten. Umso deutlicher die Stimmung innerhalb der GEW nach einem bundesweiten Aktionstag vernommen wird, umso mehr müssen der Bundesvorstand sowie die jeweiligen Landesvorstände darauf reagieren und unsere Gewerkschaftsstrukturen für das nutzen, für das sie gedacht sind: für die aktive Interessenvertretung der Beschäftigten!

Die Zeit des Bittens hat ein Ende. Lasst uns unsere Organisation dazu nutzen, um unseren richtigen und wichtigen Forderungen Druck auf der Straße zu verleihen! Denn das haben wir alle in über einem Jahr Corona gelernt: Ohne Druck wird die Politik weiterhin den Lockdown im Sinne der Wirtschaft und nicht in unserem organisieren.




Schulen coronafrei, statt für Corona schulfrei!

Richard Vries und Christian Gebhardt, Infomail 1128, 30. November 2020

Im ersten Lockdown noch sehr zurückhaltend agierend, blickt die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) nun ziemlich besorgniserregenden Zahlen und Aussichten entgegen: 3.200 Schulen in der BRD befinden sich Mitte November nicht im Regelbetrieb, 4,2 % der LehrerInnen und 3,4 % der SchülerInnen (26.123) waren derweil hessenweit in Quarantäne.

Die Fallzahlen-Dunkelziffer wiederum ist gerade bei Letzteren besonders hoch, da jüngere Menschen eher asymptomatische oder symptomfreie Krankheitsverläufe aufweisen, wohingegen die Weiterverbreitung entsprechend aktueller Studien zumindest unter den älteren Jahrgängen gleichbleibend hoch liegt.

Mit 52 an Covid-19 Verstorbenen innerhalb von 24 Stunden verbucht sich daneben auch noch Mittwoch, der 25. November 20, als bisheriger Negativrekordtag in Hessen sowie bundesweit, mit erstmals über 400 Verstorbenen.

Trotz alledem werden in jenem November 2020 in Frankfurt/Main und Offenbach (https://www.op-online.de/offenbach/corona-offenbach-hanau-darmstadt-maskenpflicht-main-kinzig-covid-19-hohe-inzidenz-90091554.html), obgleich Inzidenzwerte von weit über 200 bzw. 300 Infizierten pro 100.000 EinwohnerInnen registriert wurden, lediglich die positiv getesteten SchülerInnen in eine Quarantäne geschickt, nicht aber deren Kontaktpersonen. Hier gilt das Motto: Jedes Gesundheitsamt und jedeR SchuleiterIn entscheidet für sich selbst, was „vertretbar“ und vor allem „machbar“ ist, um das höhere Ziel der Weiterführung des Schulbetriebes zu gewährleisten. Da werden dann auch gerne mal Probleme schlicht und ergreifend „wegdefiniert“, wenn nun erst ab einer Inzidenz von 200 pro 100.000 EinwohnerInnen ein Hotspot für Schulen festgelegt ist. Der Sommer wurde vonseiten der Politik, u. a. des Kultusministeriums, verschlafen und die Schulen auf die absehbaren „harten Wintermonate“ nicht vorbereitet.

Warum wird an Schulöffnung festgehalten?

Es würde nur ca. 1 Milliarde Euro kosten, um alle Schulen in ganz Deutschland für diese Jahreszeit mit Luftfilteranlagen auszustatten. Kein Vergleich etwa zu den weiteren still und heimlich bewilligten 3 Milliarden Euro für die Autoindustrie im Monat November – ohne Auflagen oder gar benötigte, detaillierte Antragstellungen, versteht sich. Trotzdem soll dort etlichen Tausend MitarbeiterInnen gekündigt werden, wie das Beispiel bei der Lufthansa eindrucksvoll zeigt. Die Staatshilfen rollen weiterhin fast ungehemmt. Unterdessen gibt es bis dato nicht einmal kostenlose Masken für die Beteiligten an den Schulen.

Unabhängig davon untermalt die Bundesregierung immer wieder ihre Forderung nach dem Ausbleiben von Schulschließungen wie zum Anfang des Jahres. In Anbetracht der damaligen Erfahrungen hinsichtlich eines bis auf die Spitze getriebenen Auseinanderdriftens der Bildungsschere sowie der sozialen und digitalen Umstände ist das sicherlich auch nachvollziehbar. Wobei unter anderem von Markus Söder (CSU) nebenbei auch völlig offen der tatsächliche Grund für diese konsequente Haltung genannt wird: Die Betreuung der Kinder, damit ihre Eltern trotz der Pandemie weiterhin ihrer Arbeit nachgehen können.

Der Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, betont indes gebetsmühlenartig, dass kein einziges Bundesland die Empfehlungen seiner Bundesoberbehörde für Schulen bisher wirklich umsetze.

Hiernach würde schon bei 35 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen eine erweiterte Maskenpflicht im Unterricht gelten und nicht erst bei „deutlich mehr“ als 50 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen sowie ab der 7. Klasse, wie nun im gemeinsamen Beschlusspapier von Bund und Ländern am Mittwoch, den 25.11.20, verabschiedet. Tiefer greifende, unbestimmte Maßnahmen solle es demzufolge erst ab Inzidenzen von über 200 geben. Nach dem neu veröffentlichten „Corona-Fahrplan“ für Bayern und den dortigen „neuen Hotspots ab 200“ soll an weiterführende Maßnahmen in Schulen sogar erst ab einer Inzidenz von 300 gedacht werden.

Um den vorgeschlagenen Mindestabstand in Schulen aber überhaupt einhalten zu können, müssten, gemäß dem Ratschlag des RKI, allerdings bereits ab 50 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen grundsätzlich eine Aufteilung von Schulklassen oder Wechselunterricht stattfinden. Letzterer ist aufgrund von Platz- und Personalmangel aber meist überhaupt gar nicht umsetzbar oder wird, obwohl mit eigenem und durchdachtem Konzept der jeweiligen Lehrkräfte vor Ort versehen, fortlaufend vom Kultusministerium und nun eben auch nochmal auf Bundesebene untersagt.

Die Rolle der GEW

Die GEW hat sich nach ihrem eher zaghaften Auftreten im ersten Lockdown immer stärker und mit klareren Forderungen hervorgetan. Sie verlangt die Umsetzung der RKI-Vorgabe nach Wechselunterricht, die Entzerrung der Arbeitslasten auf die Lehrkräfte sowie die Notwendigkeit des Ausbaus der Digitalisierung, um überhaupt einen effektiven und alle SchülerInnen erreichenden Wechselunterricht zu ermöglichen.

Aber auch andere Vorschläge der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe wie, die Räumlichkeiten von leeren Jugendherbergen zu nutzen, um dort zusätzlich Unterricht abzuhalten, werden vernachlässigt ebenso wie Unterrichtsstaffelungen oder Hybridunterricht, weil mit einer Welle der Hoffnung durch die zeitnahen Impfstoffankündigungen sowie bundesweit beschlossenen, verfrühten Winterferien ab Samstag, den 19. Dezember, etwaige Fortschritte in anderen Bereichen vereitelt werden.

Zusammenfassend für viele Bundesländer, darunter Hessen und Baden-Württemberg, haben sich keine substantiellen Änderungen kraft der „neuen“ Beschlüsse vom 25. November  ergeben. Außer einigen kosmetischen Beschlüssen (wie das Vorziehen der Weihnachtsferien) gab es keine neuen Vorgaben, die nicht schon in einigen Bundesländern seit Beginn des Schuljahres eingesetzt werden und sich dort als nicht ausreichend erwiesen haben. Das einzig Neue ist, dass an Schulen eine neue Teststrategie des Bundes Abhilfe schaffen soll. Sollte es zu einer positiven Infektion in einer Klasse kommen, sollen nun bundesweit alle MitschülerInnen dieser Gruppe für 5 Tage in Isolation gehen. Erst nach einem negativen Schnelltest soll der Besuch des Präsenzunterrichts wieder aufgenommen werden.

In Hessen wurde vonseiten des dortigen Landesverbandes der GEW die Initiative für eine Petition mit dem Aufruf „Hessen braucht ein Konzept für den Unterricht unter Pandemiebedingungen – und zwar jetzt!“ gestartet. Diese trifft an sich auch durchaus den Kern der Sache, wenn sie feststellt:

„Ausgerechnet im Bereich der Schulen mit 900.000 Schülerinnen, Schülern und Beschäftigten bleibt die Landesregierung untätig. Schwere Versäumnisse der vergangenen Jahre schlagen in dieser Situation zusätzlich zu Buche: Marode Schulgebäude, Fachkräftemangel, unzureichende Digitalausstattung usw. (…) Um flächendeckende Schulschließungen zu verhindern, müssen die Schulen zum Wechselmodell zwischen Präsenzunterricht und Distanzunterricht übergehen. Hierfür haben die Schulen bereits im Frühjahr praktikable Konzepte entwickelt, die weiter ausgebaut werden.“

Um auf eine solche Situation an den Schulen sowie entsprechende Forderungen gezielt aufmerksam zu machen, ist das Mittel der Petition hier zunächst sicherlich angebracht, aber eben auch bei weitem nicht genug. Die GEW sollte sich nicht hinter Petitionen und dem bloßen Propagieren von Forderungen verstecken. Sie sollte dazu übergehen, die Kraft ihrer Mitgliedschaft in die Waagschale zu werfen und physische Aktionen in Form von Kundgebungen, Personalversammlungen und Streiks zu organisieren. Ganz nach dem Motto: „Coronafreie Schulen statt für Corona schulfrei!“

Ansatzpunkte und Vorbilder

Denn Ansatzpunkte für gemeinsame Aktionen mit unseren SchülerInnen gibt es allemal. Ob in Kassel unter dem Motto „Unverantwortlich!“, in Berlin unter dem Slogan: „Schule sicher oder Schule zu!“ oder mit dem geplanten Streik an mehreren Schulen in Frankfurt/Main zeigen die SchülerInnen den LehrerInnen der GEW, welche Aktionsformen derzeit notwendig sind, um Druck aufzubauen. Hier sollte die GEW die Zusammenarbeit suchen und gemeinsame Aktionen mit den SchülerInnen planen.

Als Vorlage dafür dienen können auch Beispiele aus Frankreich. So berichtet die Junge Welt am 6. November: „Blockierte Schuleingänge, streikende Lehrer, Schüler die Flugblätter verteilen und Banner aufhängen. (…) Initiiert hat das ein breites Bündnis von Gewerkschaften, darunter die CGT, Force ouvrière sowie SNES-FSU, die größte Organisation im Erziehungsbereich. Letztere hat zum Streik bis zum 13. November aufgerufen, die CGT sogar bis zum Monatsende.“

Die Forderungen sind währenddessen nahezu deckungsgleich mit denen hierzulande.

Zum nationalen Aktionstag des Gesundheitsstreiks am 10. November beteiligten sich im Nachbarland indes 20 % der Lehrkräfte, im Großraum Paris sogar fast die Hälfte dieser an weiteren Protesten. Grund dafür mag wohl auch sein, dass ein noch breiteres Bündnis aus ganzen 6 Gewerkschaften dazu aufgerufen hatte. Alles übrigens unter Corona-Auflagen.

„Strategiewechsel statt Weiterführung des sozialpartnerschaftlichen Kurses für den ,Standort Deutschland‘!“ fordert zwischenzeitlich die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) in ihrer Abschlusserklärung vom 26.01.20 in Frankfurt/Main. Anders als mit einer solch klaren Richtungsänderung der Gewerkschaftsapparate insgesamt, angestoßen durch eine klassenkämpferische Basis, die nicht selbst die Kosten der Krise zahlen will, wird sich auch und gerade im Bereich von Bildung und Erziehung mittel- und langfristig nichts ändern. Dieser Tatsache muss jetzt die GEW entgegenblicken, um ihren Forderungen wirklich ernst gemeinten Nachhall zu verleihen.

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht sprechen uns ebendeswegen für kämpferische Mobilisierungen zu Aktionen unter Einhaltung der Corona-Auflagen ein, sofern keine ausreichenden Hygienekonzepte an Schulen vorzufinden sind. Kontrollkomitees, zusammengesetzt aus LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern, sollten dann während eines Streiks selbst entscheiden, was passieren muss, damit die Einrichtung schnellstmöglich und coronasicher wieder geöffnet werden kann. Nur so kann schließlich verhindert werden, dass es nicht nur bei gutgemeinten Phrasen bleibt.

Die GEW hat hierfür im Vergleich zum Jahresanfang Schritte in die richtige Richtung gemacht. Zu beobachten wird bleiben, ob sie diese auch zielgerichtet fortführt und ihre Mitgliedschaft zusammen mit SchülerInnen, Eltern und der breiteren ArbeiterInnenbewegung mobilisiert. Um dies zu erreichen, dürfen wir uns zugleich nicht auf die Ankündigungen der GEW-Spitze verlassen. Klassenkämpferische Gewerkschaftsmitglieder müssen sich selbst an der Basis zusammenschließen und gemeinsam mit SchülerInnen und Eltern von unten Druck machen und gemeinsame Aktionen und Streiks einfordern, vorbereiten und organisieren, um sichere Schulen zu erkämpfen.

Schließlich eines führt uns diese Corona-Pandemie nunmehr deutlich vor Augen: Die Auswirkungen der Krise sollen wir bezahlen! Daher muss sich ein Kampf für sichere Schulen auch als Teil einer bundesweiten, ja internationalen Antikrisenbewegung begreifen.




GEW-Bundesjugendkonferenz, Teil 2: Junge Basismitbestimmung digital?

Richard Vries, Infomail 1120, 9. Oktober 2020

Im ersten Teil unseres Berichts von der Bundesjugendkonferenz haben wir uns mit Veranstaltungen zur Digitalisierung und zum Systemwandel beschäftigt. Nun werden wir auf den 2. Teil der Tagung eingehen.

Das dritte Panel am folgenden Sonntag sollte das Thema „Gewerkschaften und politischer Streik – ein No-Go ?!“ behandeln. Der Text im Programmbuch versprach: „Nach einem Input ‚ABC des Streikrechts’ erörtern wir gemeinsam, was die langfristigen Ziele der GEW bzw. der DGB-Gewerkschaften sind und wie die Schritte auf diesem Weg aussehen können“. Die gemeinsame Erörterung entpuppte sich freilich als ausführlicher, männlich dominierter Doppelmonolog.

Die Gewerkschaften hierzulande seien ohne politische Streiks in einer ständigen Verteidigungsposition, betonte der Referent zum Start. Bereits eine einzige rechtswidrige Forderung könne dort den gesamten Streik illegal werden lassen. Selbst die EU prangere dieses deutsche Streikrecht an, das den Gewerkschaften das Streikmonopol überließe und gleichzeitig lediglich Tarifstreiks erlaube. In anderen Teilen der europäischen Union seien politische Streiks entsprechend deutlicher ausgeprägt. Auch die GEW bekenne sich generell zum politischen Streik, weise aber auf die damit verbundene, schwierige Rechtslage in der BRD hin.

Genau an diesem Punkt wäre aus unserer Sicht wieder dringend den Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft zu nennen, angebracht gewesen. Doch dazu kam es erneut nicht mehr. Unser Beitrag konnte wegen technischer Probleme und eines sehr geringen Zeitrahmens für Diskussionen, also für inhaltliche Beiträge, eben nicht nur für Fragen, nicht mehr behandelt werden. Auch, dass für die im Vortrag angesprochene Urabstimmung ganze drei Viertel der Mitglieder den Streik vorab bejahen müssen, bei der anschließenden über das Verhandlungsergebnis aber nur noch ein Viertel der Beteiligten diesen durchzuwinken habe, blieb undiskutiert. Demokratisches Vorgehen sieht anders aus.

Dabei hätte sich die Diskussion um den politischen Streik nicht bloß auf die rechtliche Lage un in Deutschland und der EU beschränken dürfen. Wenn dieser erkämpft werden soll, müssen wir auch auf die politischen Hindernisse eingehen, auf die wir in der ArbeiterInnenbewegung und in den Gewerkschaften selbst stoßen. Festgehalten werden müssen in diesem Zusammenhang zunächst einmal die vorherrschende Politik der Klassenzusammenarbeit und die SozialpartnerInnenschaft, die die Gewerkschaftspolitik und die der meisten Betriebsräte prägen. Sie gefährden darüber hinaus, wie aus den Vorträgen selbst hervorging, auch die Verteidigung des eigenen Streikrechts. Die DGB-Gewerkschaften stellen damit, ob bewusst oder unbewusst, eine soziale Hauptstütze der Großen Koalition dar – und beißen sich somit ins eigene Fleisch. Wie in den Landesregierungen ordnen sich sogar die Mitglieder der Linkspartei in den Gewerkschaften nicht selten den kapitalistischen „Sachzwängen“ unter. Womit dieses System der SozialpartnerInnenschaft angesichts des derzeitigen Großangriffs des Kapitals die ArbeiterInnenklasse an die bestehenden Verhältnisse fesselt und darüber hinaus auch noch nie erlaubt hat, eine wirkliche Wende durchzusetzen.

Denn diese PartnerInnenschaft geht immer wieder damit einher, es dem Kapital zu erlauben, seine Profitinteressen auf Kosten der Konkurrenz, der (prekär) Beschäftigten sowie der Umwelt durchzusetzen. Die politische Zurückhaltung der Gewerkschaften hat ihre Ursache also auch in der direkten Anbindung an das kapitalistische System mitsamt seinen Krisen – und sie setzt sich auch darin fort, dass kein ernsthafter Kampf gegen die zahlreichen Einschränkungen des Streikrechts geführt wird, ja dass die Bürokratie einen solchen selbst überhaupt nicht will. Dabei erfordert die aktuelle Krisenperiode eigentlich eine politische, also nicht bloß eine tariflich-gewerkschaftliche Strategie.

Es wird sich im Gegensatz dazu leider immer noch viel zu oft erhofft, wie etwa am 1. Mai 2020 beim DGB-Livestream, diese kapitalistische Krise durch noch mehr Zusammenarbeit mit dem Kapital, noch mehr PartnerInnenschaft bei der Sicherung der Interessen des deutschen Exports und des Großkapitals insgesamt zu überstehen. Es ist deshalb wirklich kein Wunder, dass immer größere Teile der ArbeiterInnenklasse von diesen Interessenvertretungen entfremdet oder gar nicht organisiert sind und diese wiederum ihre Aussagekräftigkeit verlieren. Stattdessen sollten unabdingbare politische Forderungen, wie sie auch mehrfach von den Vortragenden angesprochen wurden, in den Gewerkschaften immer wieder flächendeckend diskutiert und in die Forderungen bzw. Mobilisierungen mit einbezogen werden – wie heute also etwa die Abschaffung aller Einschränkungen des Streikrechts, insbesondere politischer Streiks, und das Recht auf eine Bildung politischer Fraktionen in den Gewerkschaften und Betrieben.

Kampf gegen Rassismus

Unabdingbare politische Forderung ist dann auch das passende Stichwort für unser viertes und letztes Panel des Sonntagnachmittags. Wieder mal ein Doppelvortrag, diesmal indes über die „Zivile Seenotrettung und politische Perspektiven“ von zwei aktiven Seenothelfenden. Ankündigt wurde dieser mit: „…MISSION LIFELINE e. V. ist ein gemeinnütziger Verein aus Dresden, der Schiffbrüchige im zentralen Mittelmeer rettet. Seit 2016 leisten wir in der anhaltenden humanitären Krise erste Hilfe und konnten mehr als 1.000 Menschen in Seenot retten…“. Nach der Gründung des MISSION LIFELINE e. V., so erfahren wir zu Beginn, wären zunächst ein Jahr Spenden eingesammelt sowie im September 2017 anschließend das erste Schiff gekauft worden. Seither, so die Referentin und der Referent, seien etwa die Einfahrt in Valetta und Sizilien unterbunden und die beteiligten KapitänInnen vor Gericht gestellt worden. Auch schon 12 Tage auf dem Meer habe die Besatzung ausharren müssen, bevor anschließend der sichere Hafen erreicht werden konnte, nur um im Anschluss das Schiff vor Ort beschlagnahmt zu sehen. All das, obwohl die Menschenrechte, unter anderem Art. 1 und 5, weltweit 70 Mio. Menschen auf der Flucht und 20.000 seit 2014 auf dem Weg Verstorbene (jede/r 7.) eine andere Sprache sprechen. Die Vortragenden forderten daher ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettung, ihre europaweite staatliche Unterstützung sowie die Abschaffung von Dublin 3. Mittlerweile würden gleichwohl die Auflagen für die Seenotrettungsinitiativen und ihre Schiffe weiter verschärft.

Wir beteiligten uns daraufhin auch wieder intensiv an der anknüpfenden Diskussionsrunde:

„…Auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos leben bis zu 42.000 AsylbewerberInnen. Dabei ist jedes Camp überfüllt und beherbergt mehr Menschen, als für die es vorhergesehen war. (…) Und das sogar während der Pandemie. Diese Menschen müssen gleichzeitig auch als Sündenbock für den Niedergang der griechischen Wirtschaft herhalten und werden regelmäßig Opfer rechter Gruppen. (…) Die Öffnung aller Grenzen, die Anfechtung von Frontex (…) sowie die Entkriminalisierung der Seenotrettung müssen zu unseren wichtigsten Zielen im Zusammenhang mit der Evakuierung der Flüchtlingslager gehören. (…) Um dann zu verhindern, dass die Geflüchteten etwa hierzulande gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausgespielt werden, geht es weiterhin darum, ein Mindesteinkommen sowie soziale Leistungen wie Alterssicherung für ALLE zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung von Unternehmensgewinnen und großen Vermögen. Um dies zu erreichen, müssen sich antirassistische Bewegungen zusammenschließen mit Gewerkschaften, der Seenotrettung, Geflüchteten und migrantischen Strukturen!“

Leider kam die gesamte Diskussion, wohl auch wegen ihres späten Zeitpunkts innerhalb der GEWolution, nur sehr dürftig in Gang. Gerade weil die Vortragenden vergleichsweise offen antworteten, war das leider sehr, sehr schade.

Marlis Tepe, die Bundesvorsitzende der GEW, fasste in letzter Instanz von ihrem häuslichen Büro aus schließlich zusammen: „Wir werden viel zu kämpfen haben, wenn wir wollen, dass gute Arbeit und gute Bildung unsere Zukunft besser gestalten. (…) Ihr treibt uns voran und motiviert uns, auch über die gewerkschaftlichen Grenzen hinaus!“ Es bleibt fraglich, wie viele GEWolution-Teilnehmende ihr da noch via Facebook und YouTube zugehört hatten.

Grundsätzliche Charakterisierung des Kongresses

Doch auch die allgemeine Beteiligung an den Diskussionen hielt sich insgesamt in Grenzen. Insbesondere bei den offenen Vorträgen fühlte sich der Ablauf dadurch sehr von „oben herab“ bestimmt an. Bei einem dieser, nämlich dem zum besonders brisanten Thema des politischen Streiks, fehlte bekannterweise komplett die Zeit für Diskussionen. Innerhalb der Workshops beschränkte sich der Austausch, zumindest bei unserer Teilnahme, weitestgehend auf Pinnwandeinträge auf dem Padlet und Vorstellungsrunden im Mattermost-Chat, die anschließend ausschließlich vom/von der Vortragenden vorgelesen und monologisiert wurden. Es gab außerdem durchweg kaum Bezug bzw. Kritik an der zu der Zeit in den Bildungseinrichtungen vorzufindenden Corona-Situation sowie an den sich damals schon abzeichnenden unkontrollierten Schul- bzw. Kitaöffnungsprozessen.

Vertiefte politische Diskussionen schienen somit generell, trotz technischer Möglichkeiten, gezielt umgangen zu werden. Eine pro-aktive Moderation sowie klare Vorgaben zur Beteiligung hätten hier viel Abhilfe schaffen können. Es blieb im Großen und Ganzen also, wie eingangs vorausgesehen, bei thematischen Anrissen, die die Grenzen des Systems höchstens ausreizten, anstatt uns bewusst in die Lage zu versetzen, es zu sprengen. Nach diesem Schema wurde letzten Endes auch mit unseren Beiträgen umgegangen, indem bei den anschließenden Entgegnungen die Ernüchterungen mit dem vorhandenen System hervorgehoben wurden, ohne aber den zur Überwindung notwendigen Schritt hinlänglich zu hinterfragen bzw. fortsetzend auszuführen.

Mithilfe der sogenannten Unkonferenz, dem offenen GEWolution-Chat der Veranstaltung, sollte einstweilen zumindest ein Raum für selbstständig bestimmbare Themen und Diskussionen der Teilnehmenden in Form von eigens initiierten Arbeitsgruppen geschaffen werden. Auch Vernetzungsprozesse waren hierbei angedacht. Alle diese Abläufe wurden weiterhin von einem Projektgruppenmitglied begleitet. Als paralleles Angebot zu den doch recht üppigen Panels wucherte diese oft als belebend verstandene Arbeitsform allerdings aus und blieb hinter ihren Möglichkeiten zurück. Es verharrt somit kontinuierlich dabei als eine bezeichnende Strategie des linken Gewerkschaftsapparates, scheinbar Opposition und Basisaktivitäten zuzulassen. Tatsächlich aber werden Gedanken und Vorschläge nicht aus dem engen Korsett eines vereinzelten, kontrollierten Raumes herausgelassen.

Zusammenfassend gab es über das gesamte Wochenende verteilt insofern zwar viel Abwechslung, wogegen diese aber zu Lasten der Diskussions- bzw. vor allem der lösungs- und umsetzungsorientierten Vertiefung verlief. Sicherlich hing das auch ein wenig mit der digitalen Form des Komplexes zusammen, die von allen Beteiligten sowie unter Berücksichtigung ihrer heimischen Lokalitäten große individuelle Initiative erforderte, womit man gerade an diesen sonnigen Feiertagen nicht durchweg rechnen konnte. Aber gerade das offenbart doch auch nochmals die exemplarische Bedeutung permanenter, zwischenmenschlicher linker Organisation und Lehre.

Absichten und Perspektiven

Zur konkreten Umsetzung und Verknüpfung der hier thematisierten Inhalte der GEW-Jugendkonferenz braucht es zum Abschluss ergo eben doch mehr als nur die große Gewerkschaft als Sammlungspunkt, Infrastruktur und Gegenstimme ihrer (jungen) Basis. Von letzterer haben wir derweil einige Impressionen bezüglich ihrer Debatten sammeln können. Unser Ziel war es dabei, speziell ihre klassenkämpferischen Entwicklungsfähigkeiten mit einzubeziehen.

Da Gewerkschaften und im Besonderen ihre Jugendverbände als Sammelstellen des Widerstands gegen die strukturellen Gewaltakte des Kapitals dienen können, sofern sie nicht einfach beim schnöden Geplänkel mit dem Status quo verharren, sondern benutzt werden, um sich geschlossen aus diesem als ArbeiterInnenklasse zu erheben und damit endgültig das ausbeuterische, kapitalistische Lohnsystem hinter sich zu lassen, sind sie und ihre Initiativen auf eben diesen Aspekt hin genauestens zu beleuchten.

Soziale und politische Regungen müssen innerhalb des Gewerkschaftskontextes dementsprechend nicht nur vermehrt Beachtung finden, sondern mittel – und langfristig unbedingt auch zu einem wissentlichen Aufbau dieser Institution als agierender Knotenpunkt zur Befreiung der ArbeiterInnenklasse verwendet werden.

Gerade deswegen wäre es bei der GEWolution 2020 nur hilfreich (gewesen), die betriebenen Diskussionen auch wahrhaftig gesamtgewerkschaftlich zu behandeln. Wie dementsprechende, praktische Kampagnen auszusehen hätten, müsste gleichsam ebenso auf die Agenda wie von der gewerkschaftlichen Basis demokratisch erarbeitete Umsetzungspläne, deren Einlösung letztlich die FunktionärInnen zu gewährleisten hätten. Aktuell würden sich hiernach die ausstehende TVöD-Tarifrunde, deren Verknüpfung mit den Tarifkämpfen des TV-N sowie Fridays For Future und eine gemeinsame, bundesweite Antikrisenbewegung anbieten. Die passenden Fragen dazu hätten zudem die danach sein können, wer die Krise eigentlich zahlt, wieso das überhaupt so ist und was wir schließlich dagegen tun könnten und sollten. Doch statt Aktionspläne für die gegenseitige Praxis zu erörtern, verblieb diese Online-Veranstaltung bei der basisdemokratischen Mitbestimmungsvorgaukelei, wie auch sonst so oft, ohne Konkretes an die Spitze weiterzugeben oder gar von ihr einzufordern.

Eine gezielte Konfrontation sowie schließlich die notwendige Neuausrichtung der Gewerkschaft erfordert indes zwingend das Ende der von den Spitzen und ihrer Bürokratie in die Basis getragene und mit dem Kapital praktizierte SozialpartnerInnenschaft. Hierfür bedarf es wiederum einer Radikalisierung der Kräfte am Sockel der Gewerkschaft, also der ArbeiterInnenbewegung. Ohne externe Einflussnahme einer zusätzlich hinzuzufügenden Option der Organisation wird sich diesbezüglich aber sehr schnell Frustration und Stagnation bei den Gewerkschaftsmitgliedern sowie den ebenfalls dort zu verortenden RevolutionärInnen einstellen. Deshalb ist die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und die Beteiligung an ihr zur Schaffung einer klassenkämpferischen Basisopposition als Gegnerin des schwerfälligen Apparats auch so alternativlos. Andererseits werden miteinander zu kombinierende und zu organisierende politische Erfordernisse und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse sowie politische Massenstreiks weiterhin im Verborgenen ausharren müssen. Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht planen dementsprechend unser Engagement in GEW und VKG fortlaufend zu intensivieren und untereinander fester zu verknoten.




„Wir sind keine Versuchskaninchen!“ – GEW-Kundgebung gegen unkontrollierte Schulöffnung in Hessen

Richard Vries, Infomail 1107, 18. Juni 2020

Ein abrupter Kurswechsel von oben, ein bei dessen Vermittlung auf sich allein gestelltes Personal und dazu noch ein völlig undurchsichtiger Planungsprozess, der komplett ohne jegliche Einbindung der Betroffenen auskommen will: GewerkschafterInnen, viele Eltern und die SchülerInnen selbst wurden am 10. Juni 20 durch eine widersprüchliche Ankündigung des hessischen Kultusministers Lorz zur weiteren Öffnung der Grundschulen in Hessen vollends verunsichert.

Erst seit dem 2. Juni sind die 1. – 3. Jahrgänge überhaupt wieder in kleineren, aufgeteilten Gruppen in ihre Klassen zurückgekehrt. Da sollte die Abstandsregel, lange oberste Prämisse des Schulalltags, beständig umgesetzt werden. Mit dem Schreiben vom 10. Juni soll sich das ändern. Das Abstandsgebot, so der Hessische Kultusminister, wäre laut neuen Erkenntnissen unnötig, da „die derzeit gültigen Abstandsregelungen im Schulbetrieb für das Infektionsgeschehen keine entscheidende Rolle spielen“ würden und daher „weitere Schulöffnungsschritte unter Wahrung der Hygienevorschriften hin zu einem weitgehenden Normalbetrieb vorgenommen werden können“. Ab 20. Juni, also für die letzten zwei Wochen des Schuljahres, soll wieder „normaler“ Unterricht mit vollen Klassen und ohne Abstandsgebot durchgezogen werden.

Damit werden nicht nur die LehrerInnen, die bislang darauf drängten, lächerlich gemacht – vor allem wird ohne Not ein größeres Infektionsrisiko für SchülerInnen, Eltern und Lehrkräfte 2 Wochen vor den Ferien billigend in Kauf genommen, obwohl diese Zeit sicherlich keine entscheidenden Auswirkungen für den Lernerfolg haben wird.

Eine gleichzeitig in der jeweiligen Schule zu beantragende Möglichkeit der Aussetzung der Präsenzunterrichtspflicht für SchülerInnen soll dabei vor allem die Gemüter der weiterhin vorsichtigeren und verunsicherten Eltern zähmen. Doch letztlich werden nur wieder einmal jene bereits erregten Gemüter der LehrerInnen durch diese völlig unverantwortliche Dienstanweisung der Obrigkeit bis aufs Äußerste strapaziert.

Kundgebungen der GEW

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Südhessen befürwortet deshalb die Kundgebung der Fachgruppe Grundschule von Offenbacher GEW-Kreisverbänden unter dem Motto: „Keine unkontrollierten Öffnungen der Grundschulen! Wir stehen als Versuchskaninchen nicht zur Verfügung!“

Dutzende Basismitglieder aus Grundschulen sowie weitere, sich solidarisch zeigende Mitglieder aus Kindertagesstätten und weiterführenden Schulen versammelten sich hierzu zusammen mit einigen betroffenen Eltern und Kindern vor dem Rathaus in Offenbach am 17. Juni.

Auch wir von der Gruppe ArbeiterInnenmacht schließen uns den Argumenten gegen eine widersprüchliche, fahrlässige und letztlich unkontrollierte Öffnung der Grundschulen in Hessen an.

Aktive KollegInnen in den Gewerkschaften und an den Schulen müssen sich nun zwingend ihrer desolaten Lage bewusst werden und selbstbewusst für eine Fortsetzung und Anpassung der Hygienemaßnahmen vor Ort und darüber hinaus plädieren – und zwar unter Kontrolle von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern. Auch den noch jungen SchülerInnen muss diese komplett gegensätzliche Situation erst einmal verdeutlicht und zusammen mit ihnen vor allem ein sinnvoller Weg durch diese Bedingungen gefunden werden. So können auch sie in die konkrete Ausarbeitung und Umsetzung vernünftig geplanter Maßnahmen einbezogen werden. Nicht zuletzt sollte aber unbedingt die strukturelle Problematik der fehlenden Einbindung der Beteiligten in alle bisherigen Prozesse hervorgehoben werden.

An den Schulen müssen die Lehrkräfte eigene Kontrollkomitees bilden. ExpertInnen, die selbst in der Institution zugegen sind und das Vertreten der Betroffenen genießen, sollen die LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen und ihre VertreterInnen beraten, so dass diese ihre eigenen Bedingungen bestimmen. Dafür müssen wir miteinander kämpfen!




Stress an der Schule – ohne Prüfungen geht es nicht?

Lukas Resch, Neue Internationale 247, Juni 2020

Im Einklang mit den allgemeinen Lockerungen werden seit Anfang Mai schrittweise die Schulen wieder geöffnet. Den Anfang machten dabei die Jahrgangsstufen 9, 10 und 12 bzw. 13, die Abschlussklassen also. Gab es am Anfang noch lauten Protest, wie zum Beispiel durch einen Schulstreik in NRW, werden die Gegenstimmen seit Beginn der Prüfungen kaum noch gehört und die nahenden Sommerferien geben Anlass, weitere Einwände für unnötig zu erklären, da nur noch ein bis zwei Monate Unterricht stattfinden.

Da sich aber die aktuelle Gesundheitsgefahr durch das Corona-Virus auf absehbare Zeit nicht lösen wird, lohnt sich ein Blick auf die Hintergründe und die Hürden die SchülerInnen aktuell und auch in Zukunft überwinden müssen. Schon vor der Pandemie sorgten die maroden Zustände an Schulen für Schlagzeilen, doch was früher „einfach nur“ eklig oder schlecht für die Unterrichtsqualität war, wird heute zu Gefahr für Leib und Leben.

Mängel treten deutlich zutage

Grund dafür sind die nach wie vor mangelnden Investitionen in den öffentlichen Bildungssektor, deren Auswirkungen jetzt noch krasser zutage treten. Da oft Klassen auf verschiedene Räume aufgeteilt wurden und viele LehrerInnen, um ein gesundheitliches Risiko zu vermeiden, nicht persönlich unterrichten können, hat sich der Betreuungsschlüssel seit der Wiedereröffnung sprunghaft verschlechtert. Faktisch bedeutet das oft auch, dass SchülerInnen nur an wenigen Tagen und für wenige Stunden zur Schule gehen, ein „normaler“ Unterricht nicht stattfindet.

Dieses ist nicht nur schlecht für die Qualität des Unterrichts, sondern auch für die Gesundheit aller Beteiligten. Dass dabei nicht den ganzen Tag Mundschutz getragen wird, ist zwar irgendwo nachvollziehbar, macht das Ganze aber nicht besser.

Ein weiterer dauerhafter Mangel im Zustand der Schulen sind die Instandhaltung und die Beschäftigung von Personal außerhalb des Lehrkörpers. Tagelang leere Seifen- und Papierspender, dreckige oder kaputte Toiletten, sind schon seit Jahren fester Bestandteil der meisten Schulen. Die Idee, dass nun aus dem Stegreif die zusätzlichen Ansprüche, die ein Schulbetrieb während einer Pandemie bedeutet, erfüllt werden können, scheint nicht nur unwahrscheinlich, sondern erweist sich seit Anfang Mai als durchgehend falsch.

Soziale Selektion

Doch nicht nur in der Schule mangelt es an finanziellen Mitteln. Schon immer haben die sozialen und finanziellen Unterschiede, also letztlich die Klassenherkunft, bestimmenden Einfluss auf die Chancen und Leistungen der SchülerInnen ausgeübt. Durch das E-Learning schlagen diese aber noch stärker zu Buche. Gerade in finanziell schwächeren Familien fehlt oft ein eigenes Gerät für SchülerInnen oder ein Internetanschluss, weil z. B. die Eltern den notwendigen Netzbetrieb über das Handy tätigen. Auch einen eigenen Raum zum Lernen hat nicht jedes Kind zur Verfügung, schon gar nicht wenn die Eltern, wegen Home-Office, Kurzarbeit oder Jobverlust vermehrt oder ganz daheim sind. Gerade die letzten beiden Punkte üben zusätzlichen Druck auf die Jugendlichen aus. Wer kann sich schon auf Algebra oder die Abschlussarbeit in Geschichte konzentrieren, wenn gleichzeitig die Existenzgrundlage der Eltern verschwindet.

Gerade die soziale Ungleichheit wurde vehement als Argument für die Wiedereröffnung der Schulen angeführt, vor allem von Seiten, die bisher blind für diese Thematik schienen. Auch wenn es für einige einen Teil dieses Problems zu lösen scheint, bleiben die bisher bestehenden Probleme unangetastet, unausgesprochen und das eben auch nur für die Abschlussklassen.

Statt für dieses Schuljahr allen SchülerInnen einen Abschluss anzuerkennen, den Numerus Clausus und andere Zugangshürden unbürokratisch abzuschaffen, wird auf einen vorgeblich „echten“ Abschluss und „Leistungsgerechtigkeit“ gepocht.

Erstens haben alle jene SchülerInnen, die es bis kurz vor den Abschluss geschafft haben, in Wirklichkeit längst die notwendigen Leistungen über Jahre erbracht. Zweitens erhöht sich der Druck auf die SchülerInnen angesichts von Pandemie und Wirtschaftskrise ohnedies dramatisch. Das Insistieren auf einen „echten“ Abschluss entpuppt sich als zusätzlich Schikane.

Düstere Aussichten

Hinzu kommt außerdem, dass Jugendliche mit Abschluss  in der Tasche keinesfalls eine rosige Zukunft erwartet. Die Aussichten sind vielmehr sehr düster. Zwar gibt es seit 2019 mehr Ausbildungsplätze als BewerberInnen. Diese konzentrieren sich jedoch sehr ungleich, im Wunschberuf kommt auch 2019 nur ein Teil der 525.100 Azubis unter. Dass in bestimmten Branchen (Gastronomie, Reinigung, Baugewerbe) Lehrstellen unbesetzt blieben, hat offenkundig mit geringeren Ausbildungsvergütungen, beschissenen Arbeitszeiten und extrem harten Arbeitsbedingungen zu tun.

Für 2020 ist aber in allen Branchen mit einer massiven Verschlechterung der Lage zu rechnen. Der wirtschaftliche Einbruch wird in allen Bereichen, insbesondere auch bei mittleren und kleinen Betrieben einen Rückgang der Ausbildungsplätze mit sich bringen. Aktuell werden um 8 % weniger erwartet, das dürfte aber eine sehr optimistische Schätzung sein. Hinzu kommt, dass drohende Schließungen und Insolvenzen auch die Ausbildungsplätze und jede Chance auf Übernahme in Frage stellen.

SchülerInnen, die eine Hochschulreife abschließen oder Azubis mit Abitur, die nicht übernommen werden, werden außerdem an die Unis drängen, was die Konkurrenz um die Studienplätze erhöhen wird. Dass sich an ein Studium oft die Frage eines Umzugs knüpft, stellt erneut vor allem finanziell schwächere Familien vor ein Problem, denn die Mietpreise haben sich in den letzten Jahren gerade in den Universitätsstädten erhört.

Andererseits sind durch Corona viele typische StudentInnenjobs verloren gegangen, was angehende und bereits Studierende gleichermaßen in Schwierigkeiten bringt und schlussendlich auch wieder Rückwirkungen auf den Ausbildungsmarkt haben wird. Auch wer ein abgeschlossenes Studium oder eine Ausbildung in der Tasche hat, wird es in der kommenden Zeit schwer haben. Mit der Wirtschaftskrise wird sich auch die Lage am Arbeitsmarkt verschlechtern.

Was tun?

Dieser Trend wird sich weiter verstärken und so werden auch die Chance auf Übernahme und Neueinstellung insgesamt sinken. Der DGB wirbt bereits um eine staatliche Prämie für die Übernahme von Auszubildenden, um von der Insolvenz bedrohte Betriebe zu retten und gleichzeitig einen Crash am Ausbildungsmarkt zu verhindern.

Das wird aber eher nur einen Plazebo-Effekt haben. Die Lage am Ausbildungs- und Bildungssektor insgesamt wird sich nicht durch staatliche Subventionen für krisengeschüttete Unternehmen und die Übernahme von Ausbildungskosten lösen lassen. Außerdem ist auch nicht einzusehen, warum die Masse der steuerzahlenden Lohnabhängigen die Ausbildungskosten für die Betriebe übernehmen soll.

Früher galt in der DGB-Jugend noch der Slogan „Wer nicht ausbildet, muss zahlen“, also Kosten für die Ausbildung in anderen Betrieben übernehmen – heute verschwindet im Zeichen der sozialpartnerschaftlichen Politik der Gewerkschaften selbst diese Reformforderung im Hintergrund. Im Angesicht der Krise braucht es an all diesen Punkten mehr denn je einen Bruch mit der aktuellen Politik. Wir fordern daher:

  • Nein zur überhasteten Schulwiedereröffnung. Die Gewerkschaft GEW, VertreterInnen der LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern – nicht Schulbehörden, Staat oder sog. „ExpertInnen“ müssen darüber entscheiden, wann die Schule eröffnet wird oder nicht.
  • Dies bedeutet auch die Erarbeitung eines Umbauplans der Schulen, um sie für eine „andere Schule“ in Zeiten von Corona fit zu machen: Ausbau von Klassenzimmern, um kleinere Klassengruppen zu ermöglichen, Einrichtung von Teststationen, um die SchülerInnen und LehrerInnen und Verwaltungsangestellte in den Schulen regelmäßig testen zu können. Ein solcher Umbauplan und Restrukturierungsmaßnahmen machen es notwendig, über eine längere Schulschließung nachzudenken.
  • Für die Ausstattung aller SchülerInnen mit kostenlosen digitalen Endgeräten um die individuelle Teilnahme an den E-Learning-Angeboten zu gewährleisten.
  • Die Versetzung aller SchülerInnen in die nächsthöhere Klassenstufe.
  • Absage aller Abschlussprüfungen an allen Schultypen und Anerkennung des Abschusses für alle SchulabgängerInnen (Abitur, andere Abschlussprüfungen). Abschaffung des Numerus Clausus (NC) an den Universitäten und freier Zugang zur Uni für alle AbgängerInnen.
  • Sicherung der Ausbildung für alle SchulabgängerInnen. Sollten die Unternehmen Azubis nicht einstellen, müssen sie für deren Ausbildung zahlen (Umlage) und soll sie durch den Staat bei voller Vergütung gesichert werden.
  • Übernahme aller Azubis in ihren Lehrbetrieb. Sollte die Übernahme aufgrund von Schließungen nicht möglich sein, sollen diese Betriebe entschädigungslos enteignet, die Azubis bei vollen Tariflöhnen übernommen werden. Sie sollen für gesellschaftlich nützliche Arbeit (z. B. im Gesundheitswesen, für die Wiedereröffnung der Schulen im Herbst, für ökologische Erneuerung) etc. beschäftigt werden.
  • Für die Neueinstellung zusätzlicher Lehrkräfte, die Verringerung der Klassenteiler und der Deputatsstunden. Die Schulen werden sich im kommenden Schuljahr mit einer inhomogeneren SchülerInnenschaft auseinandersetzen müssen. Hierfür müssen Bedingungen geschaffen werden, um es den Schulen zu ermöglichen, mit dieser umzugehen.
  • Für eine massive Ausweitung der Bildungsbudgets, Ausbau von Schulen und Kitas. Schluss mit der Privatisierung der Schulen, Privatschulen in öffentliche Hand. Für eine gemeinsame Schule aller unter Kontrolle von LehrerInnen, SchülerInnen und VertreterInnen der Lohnabhängigen.

Wir werden diese Forderungen aber nicht geschenkt bekommen. Die DGB-Gewerkschaften müssen mit ihrer Burgfriedenspolitik brechen. Die GEW muss nicht nur kritisieren, sondern vor allem mobilisieren. Anstatt Politik zusammen mit den Unternehmen zu gestalten, sollte sie eher eine Bewegung für die Durchsetzung ihrer Forderungen aufbauen.




Wer von der Bildungsschere spricht, darf vom Klassenkampf nicht schweigen!

Richard Vries, Teil 2, Infomail 1101, 25. April 2020

Im ersten Teil des Artikels hatten wir die Ursachen des immer weiteren Auseinanderklaffes der Bildungsschere und ihre Auswirkungen auf die betroffenen Menschen dargestellt. Im zweiten Teil wollen wir uns damit beschäftigen, wie wir dieser Misere entgegentreten können.

Schulöffnung?

Die überhastete, unvorbereitete und je nach Bundesland unterschiedliche Öffnung der Schulen läuft nun bundesweit an. Von einer Sicherung elementarer hygienischer Voraussetzungen kann wohl ebenso wenig ausgegangen werden wie von einem „normalen“ Schulbetrieb. Zudem sitzt wohl den meisten SchülerInnen der Notenknüppel fest im Nacken, denn der Schwerpunkt der kommenden 2–3 Monate bis zu den Sommerferien wird wohl darauf liegen, irgendwie Noten für die Abschlusszeugnisse, die restlichen Teile des Abiturs usw. hinzuzaubern – und zwar unter verschärftem Stress.

So übereilt die Öffnung ist, so sehr verdeutlichen die verschiedenen, eigentlich gegensätzlichen „Konzepte“ unterschiedlicher bürgerlicher Institutionen, dass es ein schlüssiges, durchdachtes Konzept, das die Interessen von SchülerInnen, Lehrenden und Eltern angemessen berücksichtigen würde, nicht gibt – und gefragt wurde diese natürlich auch nicht. Sie dürfen, geht es nach den Regierungen in Bund und Land, allenfalls auch ihre Meinung äußern. Den Ton geben andere an, bei den Entscheidungen spielen die Gewerkschaften, SchülerInnen- und Elternvertretungen allenfalls eine Nebenrolle.

Trotzdem lohnt ein Blick in die gegensätzlichen Vorschläge.

Am Ostermontag, den 13. April, legten die Leopoldina-ForscherInnen ihr Konzept vor. Welche Ausrichtung diese grundsätzlich vertreten, zeigen ihre Vorschläge für den Gesundheitsbereich, die sie schon vor der Corona-Krise vertraten: die Bettenzahlen in den Krankenhäusern sollten, ihren damaligen „Erkenntnissen“ zufolge, drastisch reduziert werden. Für die Schulen schlugen sie eine möglichst rasche Öffnung vor. Beginnen sollte sie mit den Grundschulen, zuerst mit den oberen Klassen, da diese für den zukünftigen Wechsel zu weiterführenden Schulen zentral sind. Dann sollten weitere Kinder und Jugendliche einbezogen werden. Prüfungen und Klausuren sollten auf jeden Fall stattfinden.

Der Betrieb wurde jedoch gemäß der vom Robert-Koch-Institut empfohlenen, diesmal endlich etwas „vorsichtigeren“ Version wieder aufgenommen, d. h. der Unterricht soll altersabsteigend wieder anrollen. Für ihren gewagten Vorschlag wurden die Leopoldina-ForscherInnen hingegen übrigens unter anderem auch vom Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (DIE LINKE) kritisiert, der hierdurch vor allem Komplikationen mit der Personal- und Hygieneausstattung kommen sieht.

Doch auch im beschlossenen Modell muss unmittelbar noch jeweils vor Ort eine mittelfristige, praktische Umsetzung geklärt werden – und zwar in Hinsicht darauf, wie größere Infektionsketten durch stets ausreichend vorhandene hygienische Vorkehrungen (Warmwasser, Mundschutz) sowie Separierungen (auch in den Pausen und im öffentlichen Nahverkehr) übergreifend vermieden werden können. Dafür spricht sich „im Prinzip“ sogar die SPD aus. Inwieweit bei alledem kleinere Gruppenaufteilungen verschiedener Jahrgangsstufen (auch auf verschiedene Tageszeiten oder Wochentage) sinnvoll oder aufgrund der aufgezeigten Umstände überhaupt möglich sein werden, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Da praktisch keine zusätzlichen Ressourcen, keine veränderte Infrastruktur, ja überhaupt keine geplante Vorsorge betrieben wird, läuft all das letztlich auf ein gesundheitspolitisches Abenteuer hinaus, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt kritisiert und politisch bekämpft werden muss. Eine mögliche zweite Welle der Ausbreitung der Pandemie wird offenbar bewusst in Kauf genommen.

Die überhastete Schulöffnung wird im Grunde mit zwei Argumenten begründet. Erstens sollen noch Abschlüsse her, damit SchülerInnen versetzt werden, Abschlussnoten für Uni oder Ausbildung erhalten. Dabei könnte auf diese ohne weiteres verzichtet werden, indem allen der Aufstieg in die nächste Klassenstufe gewährt wird, indem alle als bestanden gewertet werden und z. B. der Numerus Clausus an den Unis abgeschafft wird, so dass alle AbgängerInnen studieren können, sofern sie es wollen. Für alle, die eine Lehre aufnehmen wollen, müssen vor allem ausreichend Ausbildungsplätze geschaffen werden – das ist viel dringender als noch ein paar Monate mehr Prüfungsstress und Notenterror!

Zweitens sollen die Betriebe und Unternehmen wieder hochgefahren werden. Das versteht das bürgerliche System als „Normalisierung“: Profitmacherei muss wieder möglich sein, ansonsten werden die Kosten zu hoch. Daher beginnt die „Normalisierung“ auch dort, wo es eigentlich viel gefährlicher ist als z. B. in Parks oder gar bei vergleichsweise ungefährlichen Demonstrationen und Kundgebungen – nämlich in der Arbeitswelt oder an Schulen,frei nach dem Motto: Wenn die Kinder und Jugendlichen wieder zur Schule können, können die Eltern wieder schaffen. Ganz in diesem Sinn sind die eigentlich wahnsinnigen Vorschläge nach Kürzung von Schulferien und nach Streichung von Urlaub durchaus erst zu nehmen.

Haltung der GEW

In den letzten Wochen und Monaten muss an alle Bildungs- und Erziehungseinrichtungen und deren Beteiligte die Frage nach dem konkreten Aussehen einer Wiederaufnahme eines Arbeitsbetriebes gestellt werden.

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hessen spricht z. B. in ihren Argumentationen verschiedenste Gruppen an: Das Kultusministerium beispielsweise solle eine derzeit noch sehr ausbaufähige Absprache mit den Personalräten und Gewerkschaften verbessern sowie mittel- und langfristige Strategien entwerfen (Schreiben des GEW-Bezirksvorsitzes an alle Mitglieder vom 07.04.20). Dieser folgt auch die Bundesorganisation, die Mitgestaltung bei der Umsetzung der Schulöffnung „einfordert“, statt diese insgesamt frontal zu bekämpfen.

Darüber hinaus rechnet die Gewerkschaft vor: Für die Schulen und deren Digitalisierung erfordert es demzufolge allein innerhalb der nächsten 5 Jahre 21 Milliarden Euro. Der Digitalpakt mit dem Bund stellt hierfür aber lediglich die bekannten 5 Milliarden Euro zur Verfügung. Aufgrund von Investitionsstaus seien davon allerdings bisher auch nur, wie oben bereits erwähnt, 96 Millionen Euro ausgezahlt worden. Ausreichende (digitale) Ausstattungen und Unterstützungen für Lehrkräfte müssten laut GEW hingegen aber gewährleistet sein.

Mittel- und langfristige Strategien zur Sicherung von Gesundheit und Interessen der Lehrenden wie der SchülerInnen sehen allerdings anders aus. Auch bei anderen, kurzfristigen Fragen bleibt die Gewerkschaft hinter dem Notwendigen zurück. So soll das Personal jedenfalls ein sogenanntes „Krisenkurzarbeitergeld“ oder Soforthilfen für die Soloselbstständigen zur Verfügung gestellt bekommen. Empfohlen wird darüber hinaus der Überstundenabbau, die Beobachtung der Entwicklung der Arbeitszeitregelungen sowie eine Stundenerfassung im Home-Office und in der Notbetreuung. Sowohl für Risikogruppen als auch für Eltern solle bei den Notdiensten zudem eine explizite Rücksichtnahme gelten. Nach der Krise wird von der GEW außerdem unbedingt die zusätzliche Unterstützung für Schulen in benachteiligten Stadtteilen gefordert.

Sozialarbeit für kriselnde Familien müsste dementsprechend zwingend angeboten werden können. Die Träger der Jugendhilfe sollen laut der Gewerkschaft hierfür weiterhin mehr als die geplanten 75 % an Zuschüssen erhalten, nämlich so viel, dass das Personal auch vollständige Fortzahlungen seines Entgelts erhalten könne. Unverzüglich müssten zudem Kindergärten im Notdienst für eine ausreichende Hygieneausstattung ins staatliche Versorgungsnetz aufgenommen werden. Denn körperliche Nähe ist und bleibt bei dieser Arbeit unbestritten unausweichlich.

Langfristig gesehen geht die GEW Sachsen-Anhalt bereits vor der Corona-Krise noch einen Schritt weiter: Sie will schon im Januar diesen Jahres mit einem Bürgerbegehren, in Hinblick auf einen Volksentscheid, einen Personalschlüssel für Lehreinrichtungen im Schulgesetz verankern sowie gleichzeitig die Anzahl von Sonder- und Sozialpädagoginnen sowie von SchulsozialarbeiterInnen erhöhen lassen.

Kurz- und mittelfristig wird von der GEW insgesamt darum gebeten, die Aufgaben für die SchülerInnen möglichst gering zu halten und Notendruck zu vermeiden. Gegenwärtige Überforderungen seien sowieso schon groß genug. Die digitale Spaltung würde weiterhin vertieft. Der Erfolg in der Bildung hänge unbedingt auch mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht zusammen. Junge Geflüchtete und MigrantInnen würden derzeit insbesondere beim Spracherwerb deutlich weiter abgehängt.

Noch weit hinter der GEW bleibt der konservative „Verband Bildung und Erziehung“, kurz VBE, zurück. Er sorgt sich zwar um die nun entstehende Mehrbelastung für die Lehrkräfte und verbal auch um leistungsschwächere Kinder in der momentanen digitalen Lernumgebung. Der nun laufende Schulbeginn wird das Problem der Diskriminierung freilich nicht überwinden, es wird allenfalls in einer anderen Form auftreten.

Natürlich empfiehlt sich in jedem Fall, zuerst in den „aufgeklärteren“ Abschlussklassen mit genügend gestelltem Mundschutz und ausreichendem Abstand von 1,5 m zu arbeiten. Die GEW fordert außerdem für alle Einrichtungen und deren Personal, die Versorgung und Aufrechterhaltung mit einem flächendeckenden Hygieneangebot zu gewährleisten. Doch was passiert an Schulen, wo dies nicht möglich ist. Folgen wir den Beschlüssen der Bundes- und Landesregierung, wird dort weiter unterrichtet, solange „nichts passiert“, also solange keine nachweisbaren Infektionen auftreten.

Statt ausreichend Schutz zu organisieren, schlagen PolitikerInnen und „Expertinnen“ zahlreiche Methoden zur Datenerfassung vor, die Persönlichkeitsrechte weiter aushebeln sollen. Bei alledem warnt die GEW vor einseitigem Denken. Großkonzerne seien endlich mal richtig zu besteuern, anstatt dass sie ihre Mietzahlungen aussetzen, während nicht einmal Mieterlasse für „NormalbürgerInnen“ vorgesehen seien.

Das hört sich wie so manches von der GEW und ihrer Führung zwar gut an – es greift jedoch in mehrfacher Hinsicht entschieden zu kurz.

Erstens hilft es nichts, sich nur dafür zu beklagen, dass die Maßnahmen der Regierungen „unausgewogen“ oder „einseitig“ wären. Das sind sie natürlich – doch was erwartet eine Gewerkschaft eigentlich von einer Regierung, die wie jede bürgerliche natürlich zuerst dem Interesse des Kapitals verantwortlich ist. Maßnahmen im Interesse der Beschäftigten im Bildungsbereich, der SchülerInnen gerade aus den „unteren“ Gesellschaftsschichten, also aus der ArbeiterInnenklasse und deren Eltern werden nie kampflos, ohne Druck und Mobilisierung, zugestanden.

Zweitens sollte die GEW wie alle DGB-Gewerkschaften daraus den Schluss ziehen, dass es darauf ankommt, gegen die Politik der Regierungen und des Kapitals gemeinsam mit den SchülerInnen, mit Bewegungen wie Fridays for Future oder deren VertreterInnen zu mobilisieren. Wenn die KapitalistInnen und die Regierungen ohne Rücksicht auf unsere Verluste Betriebe und Schulen wieder eröffnen, so müssen wir uns auch unserer Kampfmittel besinnen – also der gewerkschaftlichen Aktion bis hin zum Streik.

Wofür müssen also klassenkämpferische GewerkschafterInnen eintreten?

Anders als der GEW-Führung geht es uns darum, jede sozialpartnerschaftliche Mitverwaltung der Krise abzulehnen. Anders als die Gewerkschaftsführungen lehnen wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) und die Vereinigung Klassenkämpferischer Gewerkschaften (VKG) jede „Solidarität“ mit „unschuldig“ in Not geratenen Unternehmen kategorisch ab. Wir wollen stattdessen unbedingt Großunternehmen, Banken und Finanzinstitutionen entschädigungslos enteignen und unter ArbeiterInnenkontrolle stellen. Sie lediglich zu selbstverständlichen Steuerzahlungen zu bringen, reicht da mittel- und langfristig nicht aus.

Wahre Solidarität stattdessen für die Berliner SchülerInnenproteste gegen die Abhaltung ihrer Abschlussprüfungen vor Ort – und als Schlussfolgerung daraus: bundesweit einheitliche Regelungen zur Wiedereinführung des Unterrichts an den Schulen, kontrolliert von Gewerkschaften, Beschäftigten und Eltern! Nur wenn sie die Voraussetzungen für ausreichend gegeben halten, sollten die Schulen wieder öffnen.

In den nächsten Wochen, Monaten, Jahren geht es um den Aufbau einer gemeinsamen antikapitalistischen und internationalen Antikrisenbewegung gegen die Auswirkungen der Corona-Pandemie und speziell eines sich über den gesamten Globus hinweg vertiefenden Protektionismus. Dafür braucht es wiederum eine internationalistische, kritische und klassenorientierte Verständigung, um gemeinsame Forderungen tiefgreifender zu diskutieren. Denn wir sind eben alle nicht gleichsam betroffen von dieser gigantischen Krise, welche, wie sich gerade jetzt zeigt, einer neoliberalen Vermarktung möglichst aller Lebensbereiche zu Grunde liegt – und damit folglich überall am heftigsten die ArbeiterInnenklasse trifft.

Im Gleichschritt mit ihr wird nun umso mehr vom „mächtigen Staat“ allen gleichermaßen große Eigenverantwortung (bitte nicht zu verwechseln mit wirklicher Solidarität) abverlangt.

Die gegenseitige Hilfe unter den Menschen könnte grundsätzlich viel Zuversicht schaffen. Aber wenn sie nur als Reparaturbetrieb für Versäumnisse, als Begleitmusik zur nächsten Runde privatwirtschaftlicher Ausbeutung herhalten soll, verkommt sie zur Farce.

Wir als klassenkämpferische GewerkschafterInnen fordern also in jedem Fall langfristig realistische, antikapitalistische Pläne und Bedingungen für eine kostenlose und wirkliche Ganztagsbetreuung. So können nicht nur die Kinder und Jugendlichen besser betreut werden. Zugleich kann die Mehrbelastung für die ArbeiterInnenklasse, vorwiegend für die Frauen und gerade auch für Alleinerziehende, nur so wirklich reduziert werden.

Eine akute und durchaus entlastende Erweiterung von Notbetreuungsplätzen, speziell für diese Familiengruppen, muss gleichzeitig aber auch mit ernsthaft anerkennenden Umsetzungen von Forderungen der mehrfach belasteten Belegschaften in den Einrichtungen einhergehen: Schluss also direkt mit befristeten Verträgen und mit Familien nicht zu vereinbarenden Arbeitszeiten und Einkünften. So etwas wird niemals benötigtes, echtes Vertrauen mittels ruhestiftender Entlastungen auf diversen Ebenen aufbauen können. Drohenden weiteren Flexibilisierungen des Arbeitsmarkts, der Abschaffung demokratischer Rechte, den jüngst beschlossene Notverordnungen zum Arbeitszeitgesetz müssen wir entschlossen entgegentreten.

Gleichzeitig dürfen finanzielle Verluste nicht auf die ArbeiterInnen abgewälzt werden, während Gewinne ganz dreist den ProfiteurInnen der kapitalistischen Marktkräfte zufallen. Eine Verstaatlichung von Privatschulen statt ihrer unverhältnismäßigen Subventionierung trotz gleichzeitig fehlendenden Geldes und Personals an unbestritten „brennenderen“ öffentlichen Schulen muss demgegenüber unbedingt in Angriff genommen werden. Massive Investitionen in die öffentliche Bildung sowie erhöhte Personalschlüsselverankerungen im Schulgesetz sind gleichzeitig die nun wirklich Sicherheit stiftenden Investitionen in eine beruhigendere Zukunft – ganz anders als die über 50.000.000.000 Euro, die 2019 in die Aufrüstung und Militarisierung der BRD geflossen sind. Gerade zu solcherlei Angstmechanismen auslösenden „Normalzuständen“ des (deutschen) Imperialismus und der globalen, neoliberalen „Kaputtsparerei“ des Sozialen und der Gesundheit wollen wir nicht zurückkehren!

Genau diese tatsächlichen Auslöser einer derzeitigen Krise müssen viel mehr ins Visier genommen werden. Die imperialistischen USA sind dafür, neben den extrem düsteren Aussichten für unsere allgemeine Datensicherheit (bedenke detailreiche, permanent zuordenbare Datenansammlungen durch Smartphone-Apps à la Südkorea), aktuell wohl noch das traurigste Paradebeispiel. Die ArbeiterInnen des globalen Südens, also allem voran in den Halbkolonien wie Brasilien, Indien und Pakistan, sind es hingegen, die das Ganze schließlich nur noch weiter zurückwerfen wird als nicht zuletzt schon die imperialistische Ausbeutung sowie deren ausgelöste Rückwirkungen durch Klimazerstörung vor Ort.

Vor allem jene Lohnabhängigen sind unterdessen aber überrumpelt, die in diesen Gebieten fortschreitend arbeitslos werden, verelenden und verhungern – ohne überhaupt jemals in eine Corona-Sterbestatistik aufgenommen zu werden, einen angemessenen Abschied zu erleben oder eine gebührende Grabstätte zu erhalten. Und auch hierzulande leben Menschen am Rande ihrer Existenz, hungern und sind somit obendrein auf antikapitalistische Solidarität angewiesen.

Sofort stehen wir demzufolge ein für systematische, internationale MillionärInnen- und MilliardärInnenabgaben sowie für klare Anhebungen der Kapitalsteuern zur Finanzierung eines Krisen-Notprogramms mit hundertprozentigen Lohnfortzahlungen und wirklich menschenwürdigen Mindestsicherungsleistungen. Nicht die ArbeiterInnen sollen, wie unter anderem hierzulande, die Kosten für das sowieso schon viel zu knappe KurzarbeiterInnengeld aus der Arbeitslosenversicherung letzten Endes selbst zahlen, sondern die Unternehmen, welche sich ihrerseits gerade sogar noch ihren Sozialabgabenanteil zu 100 % erstatten lassen, womit letztlich wiederum nur die Beiträge für die ArbeiterInnen steigen oder die eh schon zu schmalen, erhaltenen Gelder gekürzt werden.

Und nicht nur der kraft der ArbeiterInnen geschaffene Mehrwert, wie Marx schon einst sagte, wird hieraus nochmals von den sog. Arbeit„geber“Innen einkassiert. Nein, dieses Establishment verweigert auch, wie wir es mit diesem Artikel abermals aufzeigen konnten, schon seit Jahrzehnten und beständig zu dessen eigenen Gunsten einer Gesellschaft inhärente Fortschritte – im Bildungssektor, im Gesundheitswesen sowie auch noch weit darüber hinaus.

Zwingend ist damit abschließend, zur vereinten Rettung von so vielen Menschenleben wie überhaupt möglich, die finanzielle und logistische Gewährleistung ausreichender, hygienischer Ausstattung für das Personal in all den Einrichtungen des öffentlichen Lebens erforderlich. Dreisten Geschäften mit hygienischer Ausrüstung unterschiedlichster Art zur zwingend notwendigen Versorgung der gesamten Bevölkerung, die sich überhaupt erst durch frühere Fehlplanungen einer internationalen neoliberalen Politik entwickeln konnten, müssen wir kollektiv entgegentreten.

Jegliche Forderungen gelten somit ausnahmslos und ebenso selbstverständlich für den internationalen Boden, denn die kapitalistische, globale Konkurrenz wird in der Zukunft nicht einfach so verschwinden, außer wir vereinigen uns zielgerichtet dazu. Es bedarf demnach schlussendlich dringend einer übergreifenden, internationalen Aktion der Gewerkschaften – auch mithilfe der Anwendung von Streikaktionen – letztlich für Milliardeninvestitionen in die Bildungs- und Gesundheitssysteme!




Tarifergebnis des öffentlichen Dienstes der Länder

Helga Müller, Infomail 1045, 7. März 2019

Wie fast schon vorauszusehen war, endete auch diesmal die
Tarifrunde der Länder nach einer mehrtägigen Marathonsitzung bei der letzten –
bereits im Vorfeld vereinbarten – Verhandlung am 2. März mit einem Ergebnis.
„Fast“, weil in dieser Tarifrunde die Blockadehaltung der öffentlichen
Arbeit„geber“Innen doch sehr klar war. Selbst nach der zweiten
Verhandlungsrunde waren sie nicht bereit, auch nur ein kleines Entgeltangebot
zu machen.

Auf der anderen Seite haben sich noch nie zuvor soviel
Beschäftigte der Länder – vor allem in den Sozial- und Lehrbereichen –
mobilisiert. Es schien zunächst, dass die öffentlichen Arbeit„geber“Innen zu
einer härteren Gangart bereit waren. Tatsächlich gab es am Schluss der
Tarifverhandlungen zwischen dem SPD-Verhandlungsführer Matthias Kollatz und vor
allem seinen CDU-LänderkollegInnnen wohl noch ein zähes Ringen, das verhandelte
Ergebnis zwischen der TdL (Tarifgemeinschaft der Länder) und den Gewerkschaften
doch noch anzunehmen. Er erhielt zwar 60 Prozent für seinen Kompromiss auf der
TdL-Mitgliederversammlung, aber einige waren eben auch nicht dafür.
Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU) hätte sich „insgesamt
einen weniger haushaltsbelastenden Abschluss gewünscht.“ (zit. nach
sueddeutsche.de vom 3. März 2019). In Dresden ließ Finanzminister Matthias Haß
(CDU) verlautbaren, dass der Abschluss zu geringeren Ausgaben in anderen
Bereichen führen könnte: „Wir haben Vorsorge getroffen, aber das Geld fehlt
dann an anderer Stelle, zum Beispiel für Investitionen.“ (zit. nach
sueddeutsche de. vom 3. März 2019)

Doch die Realität sieht so aus, dass beide Tarifparteien –
ganz in der Tradition der Sozialpartnerschaft, in der sich vor allem ver.di und
die Vertreter der Länderregierungen seit Jahrzehnten üben – mit dem erzielten
Ergebnis ganz zufrieden sind. Mathias Kollatz sprach
von einem „fairen Tarifabschluss“ (sueddeutsche.de vom 2. März 2019) und Frank
Bsirkse, der Verhandlungsführer auf Gewerkschaftsseite, zeigte sich höchst
zufrieden und sprach von dem besten „Ergebnis im Länderbereich für einen
Lohnabschluss seit Jahren“. Er redete sogar von „spektakuläre(n)
Attraktivitätsverbesserungen für einzelne Berufsgruppen.“ (zit. nach: suedeutsche.de
vom 3. März 2019).

Wichtigste Ergebnisse

Wie immer bei Tarifergebnissen, die im öffentlichen Dienst
erzielt werden, ist dieses nicht leicht zu bewerten, da ja das Tarifwerk selbst
sehr komplex ist und diesmal auch die Forderungen sich bekannterweise nicht nur
auf reine Entgeltforderungen beschränkten, sondern auch auf eine Überprüfung
der Entgeltordnung und Besserstellung von einzelnen Berufsgruppen.

Zu den wichtigsten Ergebnissen:

  • Im Gesamtvolumen wird es eine Erhöhung um
    8 % (inkl. Zinseszins) in drei Stufen bei einer sehr langen Laufzeit von
    33 Monaten (bis Ende September 2021) geben, immerhin ohne Nullmonate.
  • Die Entgelte werden in 3 Stufen angehoben: ab 1.
    Januar 2019 um 3,2 %  im
    Gesamtvolumen(!), mindestens aber 100 Euro, ab 1. Januar 2020 wiederum um
    3,2 %, aber mindestens 90 Euro, und die letzte Erhöhung ab 1. Januar 2021
    beträgt 1,4 %, mindestens aber 50 Euro für 9 Monate bis Ende September
    2021.
  • BerufseinsteigerInnen bekommen in zwei Schritten
    rund 11 Prozent mehr Gehalt.
  • Die Ausbildungsvergütung für Azubis wird ab 1.
    Jan. 2019 und 1. Januar 2020 um je 50 Euro erhöht. Sie erhalten außerdem noch
    einen Urlaubstag. Damit erhöht sich ihr Urlaub auf 30 Tage wie bei allen
    anderen Beschäftigten.
  • Pflegekräfte erhalten 120 Euro im Monat mehr und
    auf diesen erhöhten Grundbetrag kommt dann die allgemeine Lohnerhöhung drauf
    und ab 1. Januar 2019 wird die kommunale Entgelttabelle für die Pflegekräfte
    übernommen.
  • Bei LehrerInnen wird die Angleichungszulage (an
    die Besoldung der verbeamteten LehrerInnen) um 75 Euro auf 105 Euro erhöht.
  • Die Bezahlung der ErzieherInnen und
    SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen wird auf
    das Niveau des kommunalen Sozial- und Erziehungsdienstes (TVöD VKA) angehoben.
  • Die Verbesserung der Gehälter für die
    ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, Pflegekräfte und weitere wird teilweise
    kompensiert durch das Einfrieren der Jahressonderzahlung auf 4 Jahre (2019 bis
    2022) und zwar auf das Niveau von 2018.

Die Große Tarifkommission hatte
gleich nach dem Aushandeln des Ergebnisses diesem Kompromiss mit Applaus
zugestimmt. Es sollen nun zwar die Mitglieder dazu befragt werden, das dient
aber nur dazu, dem Ergebnis eine zusätzliche demokratische Legitimation zu
verleihen.

Zunächst sieht das Ergebnis auf
den ersten Blick sehr positiv aus im Vergleich zu den übrigen Abschlüssen im
Jahr 2018.

Was aber daran als Erstes
auffällt, ist die sehr lange Laufzeit von 33 Monaten – im öffentlichen Dienst
nicht wirklich ungewöhnlich, auch die Laufzeit des TVöD VKA beträgt 30 Monate
-, was eine Synchronisierung der Laufzeiten der Tarifverträge im öffentlichen
Dienst aber immer schwieriger macht. So sind Bund und Kommunen nächstes Jahr
mit ihrer Tarifrunde dran. Bekanntermaßen verfügt ver.di gerade im kommunalen
Bereich noch über sehr gut organisierte Kampftruppen wie z. B. bei der
Stadtreinigung. Eine Vereinigung der Tarifkämpfe und damit der Belegschaften im
öffentlichen Dienst – wie es zu Zeiten des BAT
(Bundesangestellten-Tarifvertrag, der für alle Beschäftigten im öffentlichen
Dienst galt) üblich war – würde natürlich die Kampfkraft und die
Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den öffentlichen Arbeit„geber“Innen deutlich
erhöhen und gäbe auch die Chance, die Bezahlung der Länderbeschäftigten
schneller an das Niveau der KollegInnen in Bund und Kommunen anzugleichen.

Vor allem gibt der Abschluss den
Ländern für fast drei Jahre (genauer gesagt für 2 Jahre + 9 Monate)
„Planungssicherheit“ und die Gewissheit, dass es zu keinen weiteren Streiks in
Kitas, Schulen oder Krankenhäusern kommt. Dies bildete auch ein gewichtiges
Argument im ersten Kommentar des TdL–Verhandlungsführer Matthias Kollatz (SPD),
der auf dem Kompromiss bestand, auch wenn sich die Kosten für die Länder nach
seinen Angaben auf mehr als sieben Milliarden Euro belaufen werden.

Zum anderen ist die dritte und
letzte allgemeine Erhöhung ab 1. Januar 2021 um 1,4 % für 9 Monate sehr
gering. Eine eher klägliche Erhöhung, zumal keiner voraussagen kann wie sich
die Inflationsrate entwickeln wird. Bei näherer Betrachtung sieht das eher nach
einem Reallohnverlust für 2021 aus und damit nach einem weiteren Abhängen der
Länderbeschäftigten von den anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes.

Zum Dritten – auch wenn die
Durchsetzung einer sog. sozialen Komponente, die die unteren und mittleren
Einkommen etwas stärker anhebt, und die Angleichung der ErzieherInnen und
SozialarbeiterInnen an den TVöD VKA zu begrüßen sind – muss man festhalten,
dass damit sicher die Auseinanderentwicklung der Gehälter im öffentlichen
Dienst – zwischen Ländern auf der einen und Bund/Kommunen auf der anderen Seite
– nicht aufgehalten werden konnte. Dazu trägt, wie oben bereits erwähnt, auch
die lange Laufzeit bei und erschwert die ganze Sache noch dazu.

Last but not least fordern ver.di und die GEW zwar die zeitnahe Übernahme des Tarifabschlusses auf die ca. 2,3 % BeamtInnen und VersorgungsempfängerInnen. Da dies aber alleinige Ländersache ist und von den Beschlüssen der Landtage abhängt, kann dies in unterschiedlichen Ländern auch eine unterschiedliche Besoldung bedeuten. Heute schon verdienen BeamtInnen in Bayern mehr als im Rest der Republik. Ein weiterer Wehrmutstropfen besteht darin, dass für das Land Hessen, das seit 2004 nicht mehr der TdL angehört, die Tarifrunde noch aussteht. Aber zumindest steht im hessischen Koalitionsvertrag, dass eine Rückkehr in die TdL geprüft werden soll. Es liegt an ver.di und den verhandelnden Gewerkschaften, dies auch in der Tarifrunde einzufordern und zu erzwingen!

Sozialpartnerschaft

Natürlich geht niemand davon aus,
dass in einer Tarifrunde dieses Auseinanderdriften, das seit 2007 – parallel
zum Beginn der getrennten Verhandlungen von Ländern und Bund/Kommunen –
begonnen hat, wettgemacht werden kann, aber die Frage darf gestellt werden:

Hätten die streikenden
KollegInnen in den Dienststellen, in den Behörden, in ihren Einrichtungen die
Möglichkeit gehabt, vor Annahme des Kompromisses in aller Ausführlichkeit
dieses Ergebnis zu diskutieren und darüber zu entscheiden, hätten sie es dann
auch angenommen oder hätten sie dafür gestimmt, in die Urabstimmung über einen
Durchsetzungsstreik zu gehen?

Nur so wäre es möglich gewesen, substantielle Verbesserungen und einen realen Schritt zur bundesweiten Angleichung der Gehälter durchzusetzen. Diese Chance wurde von den Führungen von ver.di und GEW verspielt. Die Tarifkommissionen schufen mit ihrer Zustimmung gleich „Fakten“. Die noch ausstehende Befragung der Mitglieder verkommt zur Pseudo-Demokratie, die die Entscheidung bloß absegnen soll.

Somit reiht sich dieser Abschluss
in die Linie von ver.di im öffentlichen Dienst, aber auch der GEW, ein: ein
bisschen was für die Mitglieder und Beschäftigten rauszuholen, um nicht zu
schlecht dazustehen, aber den Länderregierungen auch nicht zu sehr weh zu tun
und ihnen auch eine längere Planungssicherheit zu geben. Auch in dieser
Tarifrunde ließ ver.di vermissen, den Konflikt zwischen den Interessen der
Beschäftigten nach mehr Geld und denen der Länder, lieber mehr einzusparen,
politisch zuzuspitzen, indem sie zumindest die Forderung nach einer höheren
Besteuerung der UnternehmerInnen und Vermögenden und Stopp aller weiteren Privatisierungen
aufgestellt hätte. Damit einhergehend wurde auf die Zuspitzung der Tarifrunde
für die eigenen Forderungen verzichtet. Statt für diese konsequent mit einem
bundesweiten Streik zu kämpfen, begnügte sich die Bürokratie damit, den
„Sozialpartner“ durch von oben kontrollierte Mobilisierung zur Rückkehr zur
„Partnerschaft“ zu drängen. Diese wurde zweifellos gestärkt – und damit die
Chance für eine echte Trendumkehr im Öffentlichen Dienst wieder einmal vertan.