Vom Regen in die Traufe

Proletarische Frauen – vom DDR-Stalinismus
zum BRD-Kapitalismus

Ute Mann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1998)

Die Einbeziehung der Frauen in die
gesellschaftliche Produktion als Garantie für die ökonomische Unabhängigkeit
und politische Selbstständigkeit galt als der wichtigste Schritt auf dem Weg
zur Gleichberechtigung. Frauen waren als Arbeitskräfte eine wichtige Ressource
der Planwirtschaft v. a. nach dem Krieg, als Arbeitskräfte knapp waren und
massenhafte Abwanderungen durch das Verlassen der DDR Richtung Westen die Lage
weiter erschwerten. Bis in die 1960er Jahre waren Frauen beinahe vollständig in
die Arbeitswelt integriert. (1)

Integration der Frauen in den
Produktionsprozess

Das niedrigere Produktivitätsniveau in der
DDR (wie in allen stalinistischen Staaten) machte immer einen hohen Einsatz
menschlicher Arbeitskräfte notwendig. Doch von den Industriegesellschaften der
Nachkriegszeit war die DDR das einzige Land, das kontinuierlich
Bevölkerungsverluste erlitt. Zwischen 1948 und 1989 schrumpfte die Bevölkerung um
2,7 Millionen auf 16,4 Millionen. Frauen waren auf formalrechtlicher und
politischer Ebene gleichgestellt und stellten einen großen Teil der
Arbeitskraft. Das Motiv des DDR-Stalinismus, Erleichterungen für Frauen
einzuführen, war der wirtschaftliche Aufbau, der Aufbau des „Sozialismus“ in
einem halben Land.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat
die KPD zunächst für den Aufbau eines „neuen demokratischen Deutschlands“ auf
kapitalistischer Grundlage ein. Die diesem Ziel entsprechende
Volksfrontkonzeption spiegelte sich auch in der Frauenpolitik wider. Nachdem
bereits 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschand (SMAD) die
eigenständigen ArbeiterInnenkomitees liquidiert und durch Volksfrontorgane
ersetzt hatte, sollten nun auch die nach Kriegsende entstandenen
antifaschistischen Frauenausschüsse in solche umgewandelt werden. Ziel war es,
„Frauen aller Klassen auf breitester Basis“ zu umfassen, um sie für die
Aufbauarbeit für ein „demokratisches Deutschland“ zu gewinnen.

Anfang 1947 gab es in der sowjetischen
Besatzungszone 7.451 Frauenausschüsse, die ca. 250.000 Frauen umfaßten. Um
diese Ausschüsse besser kontrollieren zu können, wurden sie per SMAD-Befehl
aufgelöst und mit den Organisationen des Demokratischen Frauenbunds
Deutschlands (DFD), der am 8. März 1947 gegründet wurde, zusammengeschlossen.
Der DFD gab sich programmatisch überparteilich, war aber dennoch eine
Frontorganisation der SED, die 1946 aus der Fusion von KPD und SPD
hervorgegangen war.

Das DFD-Programm hob hervor, dass „zum ersten
Male die sozialistischen Frauen mit den Frauen aus den bürgerlichen Parteien
und den parteilosen Frauen den Grundstein zu einer einheitlichen demokratischen
Frauenbewegung legten“. Mit dieser programmatischen Erklärung verzichtete der
DFD auf eine konsequente Interessenvertretung der Arbeiterinnen, um die
Klassenzusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien nicht zu gefährden. Ein
Ergebnis dieser Politik war, dass die spezifischen Interessen von
Proletarierinnen – immerhin die Mehrzahl aller Frauen – politisch nicht
artikuliert wurden und viele substantielle Fragen der Stellung der arbeitender
Frauen in Produktion und Gesellschaft weder diskutiert noch gelöst werden
konnten.

Auf dem 2. Parteitag der SED im September
1947 wurde eine Resolution zur Frauenfrage verabschiedet, die zwar einige
Verbesserungen für Frauen enthielt (Öffnung und Zugang zu allen für Frauen
geeigneten Berufen; Ausbau von Einrichtungen, die der Erwerbstätigen die Sorge
um den Haushalt und die Familie erleichtern); wesentliche Voraussetzungen für
die Emanzipation der Frau wurden jedoch nicht geschaffen. Die Zuständigkeit der
Frauen für die Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie wurde gar nicht erst
in Frage gestellt. Die umfassende Einbeziehung der Frauen in den
Produktionsprozess war ebenso wenig das Ziel dieser Resolution wie die
Vergesellschaftung der Hausarbeit als einer Grundvoraussetzung für die
Frauenbefreiung.

Der Arbeitskräftemangel in der
Nachkriegswirtschaft machte es aber notwendig, Frauen in großem Umfang für den
Wiederaufbau und die Produktion heranzuziehen. Per SMAD-Befehl wurde daher das
Prinzip der gleichen Entlohnung eingeführt. Außerdem sollte die
Berufsnomenklatur überarbeitet werden. Beides stieß auf den Widerstand der
männlichen Arbeiterschaft und deren Gewerkschaftsvertretungen. Statt die
proletarischen Frauen zur Durchsetzung ihrer Interessen zu mobilisieren, wurden
auf bürokratischem Wege Frauenkommissionen eingesetzt, welche die Durchführung
der Beschlüsse kontrollieren sollten. Dieses rein administrative Vorgehen der
StalinistInnen war aber kaum dazu geeignet, die historisch überkommene
Benachteiligung der Frau in der Gesellschaft zu überwinden.

Bürokratismus statt Frauenbefreiung

Dazu hätte es einer breiten politischen
Debatte in ArbeiterInnenbewgung und Gesellschaft bedurft, die sich schonungslos
mit gesellschaftlichen Strukturen, Traditionen und Praktiken auseinandersetzt,
die Frauen an einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
hindern. Diese (für Männer und Frauen) schmerzhafte Debatte wurde jedoch auf
unterstem Niveau ausgetragen. Nicht die Frauen selbst artikulierten ihre
Bedürfnisse in organisierter Form, sondern der bürokratische Apparat bestimmte
und legte fest. Wichtige Grundformen von Frauenunterdrückung – die Familie und
die im privaten Rahmen erledigte Hausarbeit – standen nicht zur Disposition. So
wurden auf dem Altar einiger Verbesserungen für Frauen die historischen
Grundvoraussetzungen der Befreiung der Frau geopfert.

Die Schwangerschaftsunterbrechung wurde
aufgrund medizinischer, ethischer und sozialer Indikation wegen der nach
Kriegsende herrschenden materiellen Not und dem enormen Bedarf an weiblichen
Arbeitskräften zunächst erlaubt. Doch schon 1950 wurde das Verbot wieder
eingeführt. Änderungen des Ehegesetzes entfernten v. a. die
nationalsozialistischen Bestimmungen. Dieses Hin und her gerade in der
Abtreibungsfrage verweist sehr deutlich darauf, dass die stalinistische
Frauenpolitik nicht an einer Strategie der Frauenbefreiung, sondern an
konjunkturellen Erfordernissen der Entwicklung und an der Rücksicht auf
bürgerliche Vorstellungen und Traditionen orientiert war.

Das traditionelle dreigliedrige Schulsystem
wurde durch die achtklassige Pflichtschule für alle ersetzt. Bereits im
Frühjahr 1946 wurde in den Ländern der SBZ das „Gesetz zur Demokratisierung der
deutschen Schule“ verabschiedet. 1959 wurde die zehnjährige Allgemeinbildende
Polytechnische Oberschule zur Pflichtschule. Die Erweiterte Oberschule mit den
Klassen 11 und 12 führte zum Abitur. (2)

Tradierte Rollenverteilung

Die Einheitsschule kann man als einen
ersten Schritt begrüßen, um die bildungspolitische Benachteiligung für Frauen
aufzuheben. Auch im Bereich der höheren Bildung (Abitur, Hochschulstudium)
gelang es, die Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Wesentlichen zu
überwinden. Allerdings blieb die Rollenverteilung – Männer eher
technisch/praktisch, Frauen eher „humanistisch“ – weitgehend erhalten. 1948
löste der FDGB die gewerkschaftlichen Frauenkommissionen auf. 1949 beschloss
die SED die Auflösung der Betriebsorganisationen des DFD, deren
Haupttätigkeitsfeld nunmehr der kommunale Bereich sein sollte. Bis Ende der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte der DFD knapp 1,5 Millionen.
Mitglieder. Nur 30 % von ihnen waren jünger als 53 Jahre. Der Verband
richtete in Bezirks- und Kreisstädten insgesamt 210 „Beratungszentren für
Haushalt und Familie“ ein. Seit 1967 unterhielt der DFD Frauenakademien für
politische Schulung sowie für Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik, was die staatstragende Rolle und
Aufrechterhaltung der frauenfeindlichen Ideologie durch den DFD deutlich macht.
Statt Instrument der Überwindung der Benachteiligung der Frau war der DFD
vielmehr ein organisatorischer Rahmen für das „Ausleben“ der traditionellen
Rolle der Frauen.

Die Illusion, ein geeintes, neutrales
Deutschland zu schaffen, wurde durch die unterschiedliche Praxis in den
Besatzungszonen zerstört. Während der Osten den Großteil der Reparationen an
die UdSSR leisten musste, griff im Westen 1948 die Hilfe des Marshallplans.
Frauen stellten die einzige verfügbare Arbeitskraftreserve dar. Daher sollten
ihnen gesetzliche Maßnahmen den Eintritt in das Erwerbsleben erleichtern. Mitte
der 1950er Jahre stagnierte der weibliche Beschäftigungsstand, was zum Ausbau
von Kinderbetreuungseinrichtungen und des Dienstleistungssektors führte.
Wichtige gesetzliche Maßnahmen dieser Zeit waren die verfassungsmäßige
Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter, des Prinzips der
Lohngleichheit und die Aufhebung der Benachteiligung unehelicher Kinder und
deren Eltern. Gleichzeitig jedoch wurden Ehe und Familie weiterhin als
Grundlage des Gemeinschaftslebens angesehen und unter den Schutz des Staates
gestellt.

Die Einbeziehung der Frauen in die
produktive Arbeit stieß jedoch auf den Widerstand der Männer. Viele Betriebe
weigerten sich, Frauen entsprechend ihrer Qualifikation oder überhaupt
einzustellen. Die zunehmende Kritik der Frauen daran zwang die SED, deren
Organisation auf betrieblicher Ebene zu unterstützen, um die Männer, v. a.
die Gewerkschaftfunktionäre, unter Druck zu setzen. 1952 empfahl das Politbüro
der SED, die Wahl von Frauenausschüssen überall dort, wo eine größere Anzahl
Frauen arbeitet, zu unterstützen. Bis Ende 1961 entstanden so ca. 20.000 Frauenausschüsse
mit ca. 140.000 Mitarbeiterinnen, von denen drei Viertel parteilos waren.
Obwohl die Gewerkschaften zur Zusammenarbeit mit den Ausschüssen verpflichtet
waren, kam es dennoch immer wieder zu Konflikten, so dass letztere Mitte der
1960er Jahre von der SED gegen ihren Willen den Betriebsgewerkschaftsleitungen
unterstellt wurden.

Degenerierter ArbeiterInnenstaat

Die Probleme der gleichberechtigten
Integration von Frauen in den Produktionsprozess sind allerdings nicht nur
einer verfehlten Frauenpolitik der SED oder männlichen Ressentiments
geschuldet. Vielmehr drücken sie ein allgemeines Problem aller degenerierten
ArbeiterInnenstaaten aus. Es zeigte sich immer wieder, dass selbst positive
Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Frauen, die es ohne Zweifel gab, im
Widerspruch zu den starren, bürokratischen Verhältnissen der Gesellschaft
insgesamt standen. Solange z. B. die Kindererziehung fast ausschließlich
in der Zuständigkeit der Frauen lag – und dieser Umstand wird ja gerade durch
die Aufrechterhaltung der tradierten Familienstrukturen konserviert –, waren
nach wie vor nahezu ausschließlich Frauen für die Betreuung kranker Kinder zu
Hause zuständig, was zu mehr Ausfällen an Arbeitsstunden führte. Unter diesen
Umständen war es klar, dass BetriebsmanagerInnen lieber Männer als Frauen
beschäftigten. Was dieses und viele andere Beispiele zeigen, ist die
prinzipielle Unmöglichkeit, selbst Teilverbesserungen langfristig
durchzusetzen, wenn die grundlegenden, strategischen Aufgaben nicht gelöst
werden.

Die „Zentralverwaltung sowjetischen Typs“
wurde in mehreren Etappen in der DDR eingeführt. Von 1952 bis 1985 sank der
Anteil des Privateigentums auf 4,6 %. Bis auf 6 % wurde die
Agrarfläche in LPGen eingebracht. Der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl
der Erwerbstätigen (1955 noch 20 %) sank bis 1988 auf 2 %. 1986 gab
es 224 Industriekombinate, in denen die Volkseigenen Betriebe (VEB)
zusammengeschlossen waren. In den Kombinaten wurde auch ein Großteil der
Forschungspolitik, der Freizeit- und Feriengestaltung, der sozialen Sicherheit
u. v. m. bestimmt.

Qualifizierung

Bis Ende der 1950er Jahre war die
Wirtschaft von der starken Abwanderung v. a. qualifizierter Arbeitskräfte
belastet (ca. 3 Millionen flüchteten aus der DDR), die erst durch den Mauerbau
gestoppt wurde. Nun ging es nicht mehr zuerst um die quantitative Einbeziehung
von Frauen in den Produktionsprozess, sondern um den Ausgleich des erhöhten
Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften. Dies führte zur Aufstellung von
Frauenförderungsplänen, zum Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und der
Ausdehnung von Dienstleistungen. Der DFD unterhielt seit 1967 Frauenakademien
für politische Schulung und Veranstaltungen mit kultureller und
hauswirtschaftlicher Thematik. In Bezirks- und Kreisstädten richtete der DFD
210 „Beratungszentren für Haushalt und Familie“ ein. Dennoch wurde der DFD
aufgrund seiner Funktion als Transmissionsriemen der herrschenden Kaste in das
weibliche Proletariat hinein nie zur Organisation, der sich die Frauen zur
Artikulierung ihrer Interessen bedient hätten.

Im Rahmen der Bildungsoffensive wurde von
der Staatsführung eine Reihe von Frauenförderungsmaßnahmen beschlossen wie
Frauensonderstudium oder verstärkte Qualifizierung von Frauen für technische
Berufe. Frauen konnten sich nun für ihre berufliche Aus- und Weiterbildung
freistellen lassen. Das Arbeitskollektiv musste jedoch den Produktionsausfall
ausgleichen. Da auch in der DDR-Ökonomie die Entwicklung des Konsumgütersektors
vernachlässigt wurde, vergrößerten Schlangestehen und der Mangel an effektiven
Haushaltsgeräten die Arbeitslast der Frauen. Auch die Einführung eines
monatlichen Hausarbeitstages, für den berufstätige Frauen von der Arbeit
freigestellt waren, war eine widersprüchliche Maßnahme: einerseits galt die
gesellschaftliche Anerkennung von Hausarbeit als notwendig und wurde in diesem
Fall sogar bezahlt, andererseits wurde diese Tätigkeit wieder traditionell der
Frau zugeordnet, was ihre Rolle als Aschenputtel nurmehr verfestigte und
offiziell sanktionierte.

Hier soll auch auf ein grundsätzliches
Problem der Gleichberechtigung der Frau in der DDR hingewiesen werden: die
Doppelbelastung durch Beruf einerseits und Familie, Haushalt andererseits. Die
Unterentwicklung des Dienstleistungssektors, der mangelhafte Grad der Vergesellschaftung
der Hausarbeit und ein mangelhaftes Angebot an Gütern des täglichen Bedarfs
brachten es mit sich, dass die Bewältigung des Alltagslebens sehr mühsam und
aufwändig war. Dieser Aufwand wurde zum großen Teil von Frauen und nicht von
Männern bewältigt. Die Gleichberechtigung stellte sich so in der Praxis oft
einfach als Doppelbelastung der Frauen dar. Die relativ gute Kinderbetreuung
konnte die Frauen zwar entlasten, jedoch das Problem der Überbelastung
natürlich nicht lösen. Allgemein wurde in den Jahrzehnten des Stalinismus
deutlich, dass eine grundsätzliche Änderung der Stellung der Frau in der
Gesellschaft nicht möglich ist, ohne dass das allgemeine Niveau der
Produktivität hoch ist, dadurch die Arbeitszeit deutlich verkürzt und somit
auch die tradierte Arbeitsteiligkeit (die nicht nur eine zwischen Man und Frau
ist) überwunden werden kann. Wie sollen Frauen am gesellschaftlichen und
politischen Leben aktiv teilhaben, wenn die gesamte Zeit für Arbeit, Einkäufe
etc. benötigt wird?

Reaktionäre Familienpolitik

Neben den Qualifizierungskampagnen traten
verstärkt reaktionäre, familienpolitische Maßnahmen in den Vordergrund,
z. B. wurde aufgrund steigender Scheidungsziffern die Eheauflösung
erschwert. Trotzdem war eine Ehescheidung sowohl juristisch als auch finanziell
im Vergleich zu den Regelungen der BRD einfacher. Ideologisch wurde diese
„Wende“ 1965 mit dem Inkrafttreten des Familiengesetzes, das die Familie als
„kleinste Zelle der sozialistischen Gesellschaft“ definierte, untermauert. Die
Familie war auch im Stalinismus eine Einheit der sozialen Kontrolle und
Disziplin. (3)

Nach dem Mauerbau verzeichnete die DDR
dennoch die niedrigste Geburtenrate der Welt. Auch die familienpolitischen
Maßnahmen konnten nicht zur Konstanz der Bevölkerungzahl beitragen. Im Westen
glichen seit Ende der 1960er Jahre die hohen Geburtenraten der
GastarbeiterInnen die Bevölkerungszahl aus. In der DDR war der Ausländeranteil
mit ca. 1 % sehr gering, außerdem dehnte sich die Familienpolitik (wie
auch die sonstige Rechtssprechung) nicht auf die ausländischen EinwohnerInnen
aus. Vietnamesinnen z. B. wurden bei Eintreten der Schwangerschaft in ihr
Heimatland zurückgeschickt. Trotz der Bildungsoffensive konzentrierten sich die
Hauptbereiche für Frauen im mittleren administrativen Bereich, in
sozialhelferischen Tätigkeiten oder in schwerer, monotoner Fabrikarbeit,
z. B. am Fließband. Gesellschaftlicher Aufstieg hing außerdem ganz
wesentlich von der Loyalität gegenüber der herrschenden Kaste und ihren
Institutionen ab. Die Verbesserung der Karrieremöglichkeiten wirkte sich aber
stärker auf Frauen der Bürokratenschicht aus, während Männer weiterhin das
Management besetzten.

Die von Mädchen und Jungen bevorzugten
Ausbildungsbereiche unterschieden sich in der DDR kaum von denen der Jugendlichen
in der BRD. Hier wie dort, damals wie heute konzentrierte sich die Mehrheit der
Auszubildenden auf wenige Berufe. Trotz aller Betonung der Gleichheit für
ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Intelligenz, trotz aller Behauptungen, die
Chancengleichheit für ArbeiterInnenkinder zu erhöhen und v. a.
ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenkinder studieren lassen zu wollen, war
auch in der DDR die Ausbildungschance von Akademikerkindern höher als von
Kindern mit Eltern, die eine acht- bis zehnjährige Schulzeit absolviert hatten.
Andererseits gab es eine Reihe von Maßnahmen, um der traditionellen
Benachteiligung von Nichtakademikerkindern positiv entgegenzuwirken. So waren
der Anteil und v. a. die realen Chancen für ArbeiterInnenkinder zu
studieren besser als in der BRD.

Die stalinistische Methode zur
Produktionssteigerung war nicht eine Verstärkung der Technologie-Investition,
sondern meist eine rein quantitative Ausdehnung der Produktion. Durch die
bürokratische Unterdrückung und Gängelung des Proletariats wurden nicht nur der
Anreiz sondern auch fast alle strukturellen Möglichkeiten für die Planung und
Verbesserung der Produktion beschnitten. Daher mussten die Anzahl der
Arbeitskräfte erhöht und auch Frauen in Industrie und Landwirtschaft eingesetzt
werden. Gleichzeitig erforderte das aber auch, für eine ausreichende Anzahl von
Arbeitskräften in der Zukunft zu sorgen, was durch die Geburtenförderung
erreicht werden sollte.

Beruf und Familie

Seit Mitte der 1960er Jahre führten
sinkende Geburtenraten und steigende Scheidungsquoten zu einer
frauenpolitischen Kurskorrektur: Frauenpolitik wurde in Familien- und
Mütterpolitik umgewandelt. Die Drei-Kind-Familie wurde propagiert, um die
einfache Reproduktion zu gewährleisten. Das 1950 wieder eingeführte Abtreibungsverbot
hatte die Zahl illegaler Abtreibungen in die Höhe schnellen lassen, was 1972
dazu führte, dass die Schwangerschaftsunterbrechung gesetzlich freigegeben
wurde (4) – übrigens das einzige Gesetz, bei dem die Volkskammer keine
Einstimmigkeit erzielen konnte! Sozialpolitische Maßnahmen wie Ehekredite,
staatliche Geburtenhilfe, Erhöhung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs,
Arbeitszeitverkürzungen für berufstätige Mütter auf 40 Stunden bei vollem
Lohnausgleich und Babyjahr flankierten diesen Wandel.

Solche Maßnahmen trugen zwar begrenzt
fortschrittlichen Charakter, verfestigten aber auf der anderen Seite auch die
Rolle der Frau in der Familie. Männer konnten diese Rechtsansprüche nicht
gleichberechtigt wahrnehmen, was die Zuständigkeit der Frauen für den
familiären Bereich untermauerte und ihre Unterdrückung festigte. Hinsichtlich
der zahlenmäßigen Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit und der damit
verbundenen ökonomischen Unabhängigkeit trug die Frauenpolitik der DDR durchaus
emanzipatorische Züge, die zu einem „Gleichstellungsvorsprung der DDR gegenüber
der BRD“ führte. Ende der 1980er Jahre waren rund 90 % aller Frauen
berufstätig, davon hatten 87 % eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Kinderbetreuungseinrichtungen deckten 95 % des Bedarfs ab. (5) Allerdings
war diese Gleichberechtigung nicht von den Frauen erkämpft. Sie war „für Frauen
gemacht“ und reproduzierte den Traditionalismus im Geschlechterverhältnis.
Frauenarbeit hieß auch quasi „wesenhafte“ Zuständigkeit für Kinder, Familie und
Hausarbeit. Sexismus in der Erziehung und strenge Arbeitsteilung waren die
Norm. Mädchen wurden gedrängt, sozialhelferische und wenig qualifizierte Berufe
zu ergreifen. Nur einigen wenigen Vorzeige-Arbeiterinnen wurden Möglichkeiten
gegeben, in männerdominierte Bereiche vorzudringen.

Polarisierung

Die Familienpolitik begünstigte soziale
Polarisierungen zwischen den Geschlechtern wie gravierende
Einkommensunterschiede, Differenzen hinsichtlich beruflicher
Entwicklungsverläufe wie auch unterschiedliche Zeitressourcen von Männern und
Frauen. Ein Drittel der Frauen war teilzeitbeschäftigt. Die Entlohnung in
typischen Frauenberufen lag im Durchschnitt ein Drittel unter jener der Männer,
was den Vorteil der ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann wieder schmälerte. Die
Trennung vom Mann bedeutete auch im Stalinismus einen Verlust an
Lebensstandard. Auch in der DDR besetzten Frauen die unteren Ränge der
betrieblichen Hierarchie und jene gesellschaftlichen Arbeitsfelder, die neben
einem geringeren Durchschnittseinkommen auch einen niedrigeren Status besaßen,
während Männer weiterhin das politische Leben in Partei, Betrieben und
Gewerkschaften dominierten.

Die Notwendigkeit, Beruf und Mutterschaft
miteinander zu vereinbaren, führte dazu, dass Frauen häufiger als Männer in
Berufe wechselten, die unterhalb ihrer Qualifikation lagen, oder dass sie
Qualifizierungsmöglichkeiten nur beschränkt wahrnehmen konnten und beruflich
nicht so flexibel waren. Auch bildungspolitische Beschränkungen und
betriebliche Rekrutierungsstrategien trugen zur Aufrechterhaltung von
geschlechtsspezifischen Branchenaufteilungen bei. Trotz existierender
Frauenförderungspläne ermöglichten sie den Betrieben, die bürokratische
Entscheidung über die Vergabe von Ausbildungsplätzen, den Anteil weiblicher
Lehrlinge gering zu halten. Nach der familienpolitischen Wende stiegen die
Scheidungsquoten, was nur scheinbar ein Widerspruch ist und eine gewisse
Rebellion der Frauen ausdrückt. Erstens hatte die Frauenpolitik die Frauen
verändert, die Männer aber kaum. Zweitens blieben die Frauen dennoch in
traditionellen Geschlechterstrukturen und Stereotypen gefangen. Steigende
Scheidungsquoten gingen mit hohen Wiederverheiratungsraten einher. (6) Der
Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften betrug dagegen im Osten wie im
Westen ca. 8 %.

80 % der Mitte der 1980er Jahre
befragten Jugendlichen hatten in der Schule die Erfahrung gemacht, dass man
nicht sagen durfte, was man dachte, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Formalismus und Routine bestimmten den Schulalltag. Der „vormundschaftliche“
Staat verlängerte sich auf diese Weise in die Schule hinein und verwies die
SchülerInnen auf die Position der Unmündigen, Abhängigen, Geleiteten. Die
Familie war für viele eine vertraute Alternative, eine Art Gegenstruktur.
Männer waren trotz der Berufstätigkeit der Frau immer noch die Hauptverdiener.
Auch die Arbeitsteilung in der Familie erfolgte nach geschlechtsspezifischem
Muster und prägte die Wertorientierungen Heranwachsender. Bis heute hat die
Familie für die Ostdeutschen einen hohen Stellenwert, dabei haben die
Auffassungen über geschlechtsspezifische Zuständigkeiten überdauert. (7)

Widersprüche

Die Errungenschaften der DDR in Bezug auf
die Gleichberechtigung der Frauen waren vielfältig, unzureichend und
widersprüchlich. Dem hohen Grad der Einbeziehung von Frauen ins Berufsleben
(v. a. auch im Bereich der Industrie im Vergleich zum Westen), ihrer
größeren ökonomischen Unabhängigkeit und damit zusammenhängend ihrem größeren
Sebstbewußtsein standen auf der anderen Seite eine enorme Doppelbelastung im
Alltag und eine nach wie vor überproportional starke Einbindung in Familie und
Haushalt und das Fehlen eigenständiger Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft gegenüber. Die sozialen
Errungenschaften der DDR – die Planung der Wirtschaft, die Abschaffung des
Privateigentums und die weitgehende Überwindung der Klassendifferenzierung –
waren eine Basis, die nicht nur positiv für die Durchsetzung der
Gleichberechtigung der Frau, sondern historisch gesehen sogar eine
unverzichtbare Bedingung für die Erreichung dieses Zieles ist.

Doch die Herrschaft der bürokratischen
Kaste der StalinistInnen verhinderte eine wirkliche Emanzipation der Frau
doppelt: zum einen durch eine Frauenpolitik, die die vom Marxismus postulierte
Ziele und Bedingungen ihrer Befreiung ignorierte und sie stattdessen den
bornierten Bedürfnissen der Reproduktion ihres starren Gesellschaftsgefüges
opferte; zum anderen, indem die Bürokratie die Weiterentwicklung der
Gesellschaft Richtung Sozialismus blockierte und das Proletariat als deren
Akteur fesselte. Das Beispiel von 40 Jahren DDR zeigt die historische
Möglichkeit der Frauenbefreiung im Sozialismus wie auch die Unmöglichkeit,
dieses Ziel mit den Mitteln des Stalinismus zu erreichen.

Kapitalistische Restauration

Aufgrund der Wiedervereinigung mit der
imperialistischen BRD hat der Restaurationsprozess im Osten Deutschlands eine
gewisse Sonderstellung in der Restauration Osteuropas.

Trotz fast vollständiger Integration der
Frauen in das Erwerbssystem der DDR war die geschlechtsspezifische Aufteilung
der Erwerbsarbeit kaum in Frage gestellt, in manchen Bereichen eher noch
verschärft worden. Relativ stabil blieben auch die für weibliche Erwerbsarbeit
typischen Merkmale wie niedrigere Bezahlung typischer Frauenberufe; geringere
Aufstiegschancen; schlechtere Bedingungen, höhere Qualifikationen auch
tatsächlich anzuwenden. Für die Frauen der DDR wirkte Westdeutschland attraktiv
durch die vermeintlichen demokratischen und individuellen Freiheiten, durch seinen
Reichtum, das Konsumgüterangebot, die moderne Kleidung und durch gewisse
sexuelle Freiheiten der Frauen des Westens.

Diese Attraktivität ging schnell verloren,
als Marktpreise für Wohnen, Nahrung, Kinderbetreuung usw. bezahlt werden
mussten. Die Einkommen im Osten stagnieren, während für
Sozialversicherungspflichtige die Beitragsbemessungsobergrenzen weiter
angepasst und die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung angehoben
wurden. Für die Frauen Ostdeutschlands, die keine Alternative zum Hausfrauendasein
haben, wurde die Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes zur Kette, die sie an
die Familie schmiedete. Merkmale feminisierter Armut schlagen nun auch voll auf
den Osten Deutschlands durch. Hauptgruppen sind wie im Westen alleinerziehende
Mütter, arbeitslose Frauen und Frauen (Witwen) ohne eigene Versichertenrente.
Dazu kommt, dass bei Frauen aller Altersgruppen Einkommensarmut häufiger
auftritt als bei Männern. Auch schon während der Wende gab es Aktionen von
Frauen für das Weiterbestehen der Kindereinrichtungen und der
fortschrittlicheren Abtreibungsgesetze. Frauen waren auch aktiv im Kampf gegen
den Stalinismus.

Mit wachsendem Selbstbewusstsein der
reaktionären Kräfte ließen die Mobilisierungen der Frauen jedoch nach. Das lag
u. a. auch daran, dass es in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung
in der DDR (SED, FDGB) keine eigenständigen Organisations- und
Artikulationsmöglichkeiten für Frauen gab und in der Wendezeit dieses Problem
kaum gesehen wurde bzw. der Kampf darum durch die Gründung alternativer
Organisationen wie dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) ersetzt wurde.

Mit dem Umschlagen der Revolution in die
Konterrevolution änderten sich auch die Themen und die Organisationen der
Frauen. Obwohl sie in Gestalt des UFV 1989 am „Runden Tisch“ teilnahmen, wurden
im Zuge der Restauration ihre Interessen von allen Parteien übergangen.

Der FDGB, dem vor der Wende fast alle
Werktätigen angehörten, löste sich am 30. September 1990 formal auf, nachdem er
auf seinem letzten Kongreß die Satzung so geändert hatte, dass sich der
Organisationsbereich des DGB nun auch auf die fünf neuen Länder und Ost-Berlin
erstreckte. Es gab nur Einzelübertritte vom FDGB in den DGB, die
Organisationsstrukturen in den neuen Bundesländern wurden faktisch neu aufgebaut.
Die Übernahme von FunktionärInnen des FDGB in den DGB war selten.

Im ersten Jahr der Einigung konnte der DGB
im Osten zunächst einen höheren Organisationsgrad verbuchen als im Westen, aber
bedingt durch Arbeitslosigkeit und die Umstrukturierung der Wirtschaft ging er
wieder zurück. Ende 1992 hatte der DGB 11 Millionen Mitglieder, davon 7,9
Millionen in den alten und 3,1 Millionen in den neuen Bundesländern. Der Anteil
der weiblichen Mitglieder betrug in der Gruppe der ArbeiterInnen 32 %, in
der Gruppe der Angestellten 56,4 % und bei den BeamtInnen 22,3 %.

Gewerkschaften

Zum Absinken des gewerkschaftlichen
Organisationsgrades hat die Politik der Gewerkschaftsführung selbst in einem
nicht unerheblichen Maße beigetragen. Das deutsche Kapital zehrt noch heute,
fast ein Jahrzehnt nach der Wende, von der Bereitwilligkeit der
Gewerkschaftsführung, das Proletariat im Kampf gegen die sozialen Auswirkungen
der Restauration zurückzuhalten und die Spaltung in ost- und westdeutsche
ArbeiterInnenklasse zu zementieren. Noch immer erhalten die ArbeiterInnen im
Osten einen geringeren Lohn als im Westen. Wie wenig die von der
Gewerkschaftsführung für den Osten favorisierten Abwiegelungsmodelle wie
„Beschäftigungsgesellschaften“, ABM u. ä., die v. a. dazu dienten,
den Anschein vorübergehender Strukturanpassungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten,
geeignet sind, einen „gesamtgesellschaftlichen Ausgleich der sozialen Härten“
der Restauration zu erreichen, wird nun, nachdem der kurze Nach-Wende-Boom
vorbei ist und die Krise auf Gesamtdeutschland durchschlägt, immer
offensichtlicher.

Der seit Juni 1990 festzustellende
überproportionale Anteil von Frauen an den Arbeitslosen ist ein klares Indiz
dafür, dass der Umbau des Wirtschaftssystems in der Ex-DDR keineswegs
geschlechtsneutral verläuft. (8) Der im April 1991 erstmalig in den neuen
Ländern durchgeführte Mikrozensus zeigte, dass die Erwerbsquote der Frauen von
ca. 90 % auf 73 % gesunken war. Zwischen 1990 und 1992 wurden 2/3 der
ostdeutschen Industrie zerstört. 1992 waren nur noch 750.000 in Industrie und
Handel vollbeschäftigt. Das entsprach etwa einem Viertel des
Beschäftigungsstandes von 1990. Die landwirtschaftliche Produktion sank bis
Mitte 1992 auf die Hälfte. 1989 hatte die ostdeutsche Wirtschaft 9,6 Mio.
Beschäftigte. 1992 waren 4 Mio. davon arbeitslos, in Kurzarbeit oder (als
PendlerInnen, PensionistInnen, Hausfrauen u. ä.) vom Arbeitsmarkt
verschwunden. (9)

Arbeitslosigkeit

Dabei erwies sich zunächst nicht so sehr
das Entlassungsrisiko als geschlechtsspezifisch. Vielmehr sind die Chancen, ein
neues Beschäftigungsverhältnis einzugehen, für Frauen geringer. 1995 betrug die
„stille Reserve“, die keine Chance zu einem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
hat, 2,3 Millionen. Immer größer werdende Zahlen an Langzeitarbeitslosen und
die sinkende Bezugsdauer von Arbeitslosengeld führen dazu, dass die Zahl jener,
die gleich an die Sozialbehörden verwiesen werden, wächst. So gab es 1995
300.000 Beschäftigte, die auf Sozialhilfe angewiesen und 2,5 Mio. Arbeitslose
(Ostdeutschland), die wegen der niedrigen Lohnersatzleistungen teilweise
zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen waren.

Die strukturellen Veränderungen des
Erwerbssystems sind gekennzeichnet durch einen nachhaltigen Branchenumbau.
Grundtendenz ist dabei die Verminderung des Frauenanteils innerhalb der
verschiedenen Wirtschaftsbereiche. Diese Tendenz setzt sich unabhängig durch,
ob es sich um eine Branche im Aufschwung, eine niedergehende oder stagnierende
handelt, oder ob es sich um eher männer- oder frauentypische Erwerbsfelder
handelt:

– In der DDR frauentypische Branchen werden
zu Mischbranchen (Handel, Banken, Versicherungen u. a. Dienstleistungen).
Unter den Bedingungen eines veränderten Arbeitsmarktes reflektieren Männer
verstärkt auf diese Bereiche. In den privatisierten Ex-Treuhandfirmen des
Dienstleistungsbereiches ist bis 1992 der Frauenanteil von 71 % auf
53 % zurückgegangen. Außerdem stagnieren die primären Dienstleistungen und
die einfachen Bürotätigkeiten, während die qualifizierten sekundären
Dienstleistungsbereiche ausgeweitet werden.

  • Mischbranchen werden zu männerdominierten Branchen (übriges verarbeitendes Gewerbe, Landwirtschaft, Verkehr, Bahn, Post).
  • Traditionell schon zu DDR-Zeiten männertypische Branchen schließen sich weiter gegen Frauenerwerbsarbeit ab (Bergbau, Energiegewinnung, Bauwirtschaft, Metall-/Elektroindustrie). (10)

Geschlechtsspezifisch differenzierte
Entwicklungsverläufe sind auch hinsichtlich der beruflichen Stellung zu
beobachten. Bereits im Frühjahr 1991 waren kaum noch Frauen in
Leitungspositionen beschäftigt. Bei hochqualifizierten Führungs- und
Berufspositionen beträgt der Frauenanteil deutlich unter einem Zehntel. (Nur
bei einigen akademischen Berufen sind die Frauen in der Überzahl: Lehrerinnen
55 %, Schulleitung jedoch nur 20 %, Ärztinnen und Apothekerinnen
46 %). (11) Damit haben sich auch die Einkommensunterschiede zwischen
Frauen und Männern weiter verstärkt. Während 1991 von den männlichen
Erwerbstätigen 7 % ein Nettoeinkommen von mehr als 5.000 Mark monatlich
hatten, waren es bei den Frauen nur 0,8 %.

Frauen sind auch häufiger als Männer von
Kurzarbeit betroffen, da sie häufiger in Kleinbetrieben ohne Zuschusszahlungen
tätig sind und sich auf Verwaltungs- und Dienstleistungsberufe konzentrieren,
die auch in kurzarbeitenden Betrieben von Entlassungen betroffen sind.

Einzelne Berufsgruppen sind
überproportional von Frauen besetzt: Tierpflege, Textilverarbeitung,
Warenkaufleute, Bürofachkräfte, ärztliche Pflege- und Hilfsberufe,
Sozialpflegeberufe, Reinigungsdienste. (12) Weniger als 36 Stunden wöchentlich
arbeiten 3,4 % der Männer und 32,6 % der Frauen. 1991 betrug der
Anteil der Frauen bei den Selbstständigen 25,7 %, bei den mithelfenden
Familienangehörigen 84 %, bei den BeamtInnen 22,3 %, bei den
Angestellten 56,2 % und bei den ArbeiterInnen 29,8 %.

Erwerbsneigung

Die Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen ist
wie die Orientierung auf die prinzipielle Vereinbarkeit von Beruf und Familie
nahezu ungebrochen. Für 1991 seien folgende Vergleichszahlen für erwerbstätige
Frauen mit Kindern genannt: Von 100 Frauen der Altersgruppe der 25–29-Jährigen
arbeiteten in den neuen Bundesländern 81, in den alten Bundesländern 50; von
der Altersgruppe der 30–34-Jährigen arbeiteten in den neuen Bundesländern 84
und in den alten 54. Eine möglichst kontinuierliche Erwerbstätigkeit der Frauen
gehört nicht nur zu den kulturellen Erfahrungen der Frauen, sondern auch der
Männer.

Ostdeutsche Männer halten es zu 93 %
für selbstverständlich, dass ihre Partnerin erwerbstätig ist, wenn keine Kinder
im Haushalt leben (75 % der westdeutschen Männer). Ist ein Kleinkind zu
versorgen, so sind 54 % der ostdeutschen Männer für eine
Teilzeitbeschäftigung der Frau (21 % der westdeutschen Männer). Unter
diesen Bedingungen plädieren 78 % der westdeutschen Männer für einen Ausstieg
aus dem Beruf (ostdeutsche 37 %). (13) Für die Mehrzahl der ostdeutschen
Frauen vollzieht sich der Ausstieg aus der Erwerbsarbeit nicht als
familienbedingte Unterbrechung, sondern als unfreiwilliger Verlust des
Arbeitsplatzes.

Warteschleife

Dementsprechend zeigen sie durchaus
Mobilität und Flexibilität, wenn es darum geht, sich auf neue
Arbeitszusammenhänge einzulassen: Qualifizierung, ABM-Maßnahmen und
Projektbeschäftigung werden als Mittel gesehen, um sich im Erwerbssystem zu
halten. 2 Mio. insgesamt „entlasteten“ 1995 den Arbeitsmarkt durch solche
„arbeitsmarktpolitischen Instrumente“. 500.000 hatte der öffentlich geförderte
„zweite Arbeitsmarkt“ (ABS, ABM, §249 AFG) zur gleichen Zeit aufgesogen. Die
Beschäftigung von Frauen nimmt auch auf dem „dritten Arbeitsmarkt“ zu, der
durch die Legalisierung der Beschäftigung von Arbeitslosen oder
SozialhilfeempfängerInnen außerhalb des Tarifsystems entsteht und ständig
wächst. Gleichzeitig nimmt die „geringfügige Beschäftigung“ (nicht
versicherungspflichtige Teilzeitarbeit unter 20 Stunden) zu. 1995 waren in der
gesamten BRD 2,5 Mio. „geringfügig beschäftigt“.

Im Zuge härter werdender Verteilungskämpfe
werden sich die geschlechtsspezifischen Differenzierungslinien wie die zwischen
den einzelnen Frauengruppen auch entlang solcher Merkmale wie Mutterschaft oder
kinderlos, alleinerziehend oder mit Partner, Kinderanzahl usw. vertiefen. Die
ausschließliche Zuständigkeit für Haushalt und Kinder schränkt die räumliche
und zeitliche Mobilität der Frauen ein. Die weitere Schließung von
Kinderbetreuungseinrichtungen und die Verkürzung der Öffnungszeiten unter dem
Vorwand der „geburtenschwachen Jahrgänge“ führen zu weiterer Benachteiligung
von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Frauen, insbesondere Ostfrauen, zählen
schon heute zu den „Unterversorgungsrisikogruppen“ genauso wie kinderreiche
Haushalte in Ost und West. Das materielle Lebensniveau sinkt eindeutig mit
steigender Kinderzahl. Sinkende Geburtenraten (14) wie rückläufige
Eheschließungs- (15) und Scheidungsquoten (16) zeigen, dass auch im Osten die
Risiken der Individualisierung durch eine veränderte Lebensplanung minimiert
werden sollen. (17) Vor allem Alleinerziehende (18) – überwiegend Frauen; der
Anteil der alleinerziehenden Männer betrug 1991 in Deutschland 14 % – sind
in den neuen Bundesländern von den Umstellungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen.
Gründe dafür sind v. a. der Wegfall des Kinderbetreuungsnetzes, die
zeitlichen und räumlichen Grenzen für Umschulungsmöglichkeiten oder die durch
die Überbelastung bedingte erhebliche Reduktion von sozialen Kontakten.

Nur 3 % der ostdeutschen Frauen können
sich ein Leben als „Hausfrau“ vorstellen. 2/3 der Frauen würde auch arbeiten,
wenn sie das Geld nicht bräuchten. Aber inzwischen sind es fast 46 %, die
eine Unterbrechung der Erwerbsarbeit für die Kinderbetreuung ins Auge fassen
(Dreiphasenmodell). (19) Arbeitslosigkeit und Mangel an bezahlbaren wie an
Kinderbetreuungseinrichtungen überhaupt zwingen die Frauen oft, zu Hause zu
bleiben. Gleichzeitig sind immer mehr Beschäftigte zu schlecht bezahlter Arbeit
gezwungen. (20)

Ungleichheit

Obwohl sich im Westen Deutschlands die
Quoten der Chancengleichheit durch verbesserte höhere Schulbildung bei Jungen
und Mädchen angeglichen haben, wobei die Mädchen in vielen Positionen sogar
eine deutliche Überlegenheit zeigen, so ist die Schlechterstellung von Frauen
in der späteren Arbeits- und Berufswelt eindeutig dokumentierbar.

Entgegen den Behauptungen der durch die
Wende endlich erreichten „Freiheit“ erweist sich die deutsche
Nachwende-Realität als wenig segensreich für Frauen. Unter dem Druck des mit
der Restauration wiedereingeführten Mehrwertgesetzes als Grundprinzip des
Wirtschaftens sind eine ganze Reihe von sozialpolitischen Errungenschaften der
DDR entweder beseitigt, eingeschränkt oder kaum noch erschwinglich geworden.
Weniger oder kaum noch erschwingliche Kinderbetreuung stellt Frauen stärker als
in der DDR vor die Alternative Beruf oder Kinder.

Wachsender Leistungsdruck in den
Arbeitsverhältnissen erschwert eine Berufstätigkeit für Frauen (v. a. mit
Kindern) zusätzlich. Trotz gewisser Verbesserungen und Erleichterungen im
Alltagsleben ist die traditionelle Rolle der Frau innerhalb von Familie und
Haushalt weiter ungebrochen und teilweise sogar verstärkt worden. Dazu trägt
auch das über die Medien massiv verbreitete tradierte Frauenbild bei.

Vor allem aber ist die Stellung der Frauen
innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und im Klassenkampf keine bessere als zu
Zeiten der DDR. Gerade eine solch eigenständige und aktive Beteiligung von
Frauen im Klassenkampf ist aber die entscheidende Bedingung für die Überwindung
der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft. Der DFD
bildete in der Volkskammer eine eigene Fraktion, der zuletzt 35 Frauen
angehörten und deren hauptamtliche Funktionärinnen – überwiegend SED-Mitglieder
– die Aufgabe hatten, die Politik der Partei im DFD durchzusetzen.

Mit dem Entstehen der Oppositionsbewegung
der DDR Ende der siebziger und in den achtziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts entstanden auch reine Frauengruppen um ökologische oder
friedenssichernde Fragen wie z. B. die Initiative „Frauen für den
Frieden“, die sich aus Protest gegen das 1982 verabschiedete neue
Wehrdienstgesetz gegründet hatte, dem zufolge im Verteidigungsfall auch Frauen
eingezogen werden sollten. Diese Frauengruppen, die zusammen etwa 300
Mitglieder zählten, trafen sich unter dem Dach der evangelischen Kirche.

Noch 1948 hatte die SMAD die Gründung der
Evangelischen Kirche Deutschlands in Eisenach als „kirchliche Vorwegnahme der
staatlichen Wiedervereinigung“ begrüßt. Die katholischen Bistümer Fulda,
Osnabrück, Paderborn und Würzburg ragten in das DDR-Territorium, was zusammen
mit der Gründung der EKD und den alle zwei Jahre im Wechsel stattfindenden
Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen eine gesamtdeutsche Klammer
bildete. Obwohl die SED bestrebt war, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen,
und zuletzt der Anteil der Kirchenzugehörigkeit deutlich unter 30 % (in
den Industriezentren unter 10 %) gesunken war, ließ sich die stalinistische
Partei von der „Weltöffentlichkeit“, die sie an das „welthistorische Erbe“
gemahnte, und im Interesse der „friedlichen Koexistenz“ zu einem
kirchenpolitischen Zickzackkurs verleiten.

Die Kirche stellte den DDR-Oppositionellen
die Kommunikationshilfe zur Verfügung, mit der sie Kontakt mit Gleichgesinnten
außerhalb der DDR unterhalten konnten. Die DDR-Oppositionellen, auch die
Frauengruppen, waren stark von westlichen Ideologien wie Pazifismus und
Feminismus beeinflusst und konnten sich nicht aus der Kleinbürgerlichkeit der
Bürgerbewegung lösen. Ihre Forderungen umfassten Quotenregelungen auf allen
Parteiebenen, für alle Funktionen und Mandate, spezielle Frauengremien im
Staatsapparat, in Parteien und Gewerkschaften sowie flexible, familienorientierte
Arbeitszeiten. Diese Forderungen übernahmen während der Wende – mal stärker,
mal weniger betont – alle Parteien, so auch die DDR-CDU, die mit 46 % den
stärksten Frauenanteil hatte.

Am „Runden Tisch“

Unter dem Slogan „Ohne Frauen ist kein
Staat zu machen“ konstituierte sich im Dezember 1989 der UFV als Dachverband
von damals 20 Gruppierungen. Er ging mit der Grünen Partei eine
Listenverbindung für die Volkskammerwahl ein, die er jedoch wieder löste, weil
sich für ihn durch seine Listenplazierung keine Parlamentssitze ergaben. Im
Februar 1990 gehörten dem Verband bereits 34 Frauengruppen an. Sie gaben sich
ein Statut und ein Programm und öffneten sich 1992 auch für westdeutsche
Mitglieder.

Die Tatsache, dass Mitglieder der Berliner
Basisgruppen ohne Wissen der Provinzgruppen Vorsitz und Sprecherfunktion in der
Organisation übernahmen, zeigt, dass sich Strukturen und Befugnisse trotz aller
Betonung der „Basisdemokratie“ ohne wirkliche demokratische Legitimation
durchsetzten. Die Berliner Gruppen entschieden auch über die Teilnahme und
personelle Vertretung am „Runden Tisch“. Der UFV hatte im Kabinett der
klassenkollaborationistischen Modrow-Regierung einen Ministerrang inne. (21)

Der Verband sah sich als eine eigenständige
politische Interessengemeinschaft von Frauen und als Bestandteil der weltweiten
Frauenbewegung, die „für die Abschaffung unterdrückender Herrschafts- und
Denkstrukturen kämpft, die eine gewaltlose, demokratische, ökologisch stabile,
sozial gerechte und multikulturelle Welt schaffen will“. Grundsätzliche Fragen
wurden allerdings schon bald von akuten existentiellen Problemen überlagert.
Die Frauengruppen setzten sich nun vorrangig für den Erhalt des sozialen
Besitzstandes ein.

Soziale Sicherung der individuellen
Existenz und Wohlfahrt, die sich in erster Linie über Erwerbsarbeit herstellt,
wurde in den letzten Jahrzehnten für Frauen immer wichtiger und hat heute schon
fast den traditionellen Ausgleich der Lastenverteilung über die lebenslange
Versorgerehe abgelöst – auch weil die Verlässlichkeit dieses Arrangements
abnimmt.

Für die BRD – wie für andere
imperialistische Länder auch – gab es in den letzten Jahrzehnten einen Rückgang
der Schwerindustrie und der Fabrikarbeit bei einer gleichzeitigen Ausweitung
der Leichtindustrie und des Dienstleistungssektors. (22) Auffällige Merkmale
dieser Entwicklung der Produktionsstruktur sind der Rückgang der Beschäftigten
in Land- und Forstwirtschaft, der Rückgang der Selbstständigen und mithelfenden
Familienangehörigen, der Anstieg der unselbstständig Beschäftigten auf fast
neun Zehntel aller Erwerbstätigen und der enorme Anstieg der Beschäftigten im
Dienstleistungssektor.

Modernisierungstheorie

Dieser Prozess, der dem Anstieg von
Frauenarbeit zugrunde liegt, wird in der feministischen Debatte mit „Modernisierung
der kapitalistischen Gesellschaft“ bezeichnet und jetzt einfach auf die Ex-DDR
übertragen. D. h., der Restaurationsprozess wird mit nachholender
„Modernisierung“ gleichgesetzt, bei dessen Abschluss sich die Lage der Frauen
auf das westliche Niveau eingepegelt haben wird.

Inhalt der „Modernisierungstheorie“ ist,
dass in allen sich industrialisierenden Ländern Urbanisierung,
Alphabetisierung, politische Teilhabe, Differenzierung und Autonomie, soziale
und geographische Mobilität ansteigen und die traditionelle und lokale
Orientierung notwendigerweise einer nationalen und schließlich kosmopolitischen
weichen müsse. Auf die kapitalistische Wiedervereinigung bezogen heißt das: Die
Mehrheit der BürgerInnen der DDR habe das Gesellschaftssystem der BRD mit Konkurrenz,
Marktwirtschaft, Konsum, Mobilitätsmöglichkeit und Wohlfahrtsstaat als eines
ohne Alternative anerkannt. Eindeutige „Modernisierungsrückstände“ habe es bei
der Ausbildung von sozialen Bewegungen und Pluralismus, von Partizipation und
einer Differenzierung der Lebensformen und Lebensstile gegeben und diese würden
jetzt nachgeholt.

Diese auf reinem Empirismus aufgebaute
Theorie lässt die Grundlagen, auf denen ein Gesellschaftssystem aufgebaut ist,
den Boden, auf dem Urbanisierung, Alphabetisierung, Mobilität oder politische
Teilhabe gedeihen und vergehen können, völlig außer Acht. Soziale Bewegungen
und Pluralismus erscheinen so als „Errungenschaften“ der in der
„Modernisierung“ am weitesten fortgeschrittenen Staaten und nicht als Ausdruck
der Widersprüchlichkeiten des jeweiligen Gesellschaftssystems.

So übersieht der Feminismus eine der
bedeutendsten Veränderungen in der Gesellschaft der Ex-DDR – ihre
Differenzierung in Klassen aufgrund der Änderung der Eigentumsverhältnisse.
Auch die Frauen gehören nunmehr unterschiedlichen Klassen an. Ihre
verschiedenen objektiven Interessen sind mit einheitlich
geschlechtsspezifischer Politik nicht mehr vereinbar.

Denunziation

Zwar schlossen sich die FeministInnen nicht
im vollen Ausmaß der bürgerlichen Meinungsmache an, die alle Errungenschaften
der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ex-DDR als „stalinistische
Misswirtschaft“ denunzierte, aber sie erklärten, dass der
„Gleichstellungsvorsprung“ für die Frauen der EX-DDR ihnen geschenkt worden sei
und sie jetzt, wo es die „freigiebige“ Hand der Bürokratie nicht mehr gäbe, um
ihre Rechte genauso kämpfen müssten wie die Frauen im Westen.

Im Westen hatte allerdings der Feminismus
wesentlichen Anteil daran, den Kampf der Frauen von dem des Proletariats zu
trennen und ihn auf diese Weise in die Irre zu führen. Auch in der Frage der
Wiedervereinigung ging der Feminismus von einer für alle Frauen geltenden
Ausgangslage aus. Auf der Ost-West-Frauenkonferenz 1990 hatten die westlichen
FeministInnen nur ihre ewige Litanei über das überall gleiche Patriarchat parat
und enthielten sich jeder geistigen Anstrengung über die Aufgaben, vor denen
sich die Frauen in der Ex-DDR angesichts der bevorstehenden Einengung ihres
Lebens durch die Restauration gestellt sahen.

So ignorierte der Feminismus die
grundlegende Aufgabe für das deutsche Proletariat, die Restauration auf dem
Gebiet der ehemaligen DDR zu verhindern und die politische Revolution zu einer
sozialen im Westen auszuweiten. Für ihn gab es die Frage der Errichtung einer
Klassengesellschaft nicht. Die Aufgabe sollte vielmehr heißen, positive
Errungenschaften der Frauen im Osten auch auf den Westen zu übertragen.

Feministische Ingnoranz

Zu den positiven Errungenschaften zählte
für die FeministInnen an vorderster Stelle die Fristenregelung für den
Schwangerschaftsabbruch, aber schon nicht mehr unbedingt der Bestand an
betrieblichen Kinderbetreuungseinrichtungen. So kam von den FeministInnen
bezeichnenderweise keinerlei Unterstützung für den zehnwöchigen Kitastreik im
Frühjahr 1990 im Westen Berlins. Andererseits ist es dem Feminismus strukturell
auch schwer möglich, selbst effektive Kampfschritte zu setzen, da der
Feminismus sich ja eben gerade als „unabhängig“ von der ArbeiterInnenbewegung
sieht und aus diesem Grunde auch nichts dazu unternimmt, in den
ArbeiterInnenorganisationen selbst dafür zu kämpfen, „Frauenthemen“ zu einem
integralen Bestandteil der Politik dieser Organisationen zu machen.
Unterstützung kam vor allem aus dem Ostteil der Stadt, wo es gleichzeitig
Aktionen von Frauen gegen die Schließung von betriebseigenen
Kinderbetreuungseinrichtungen gab.

Der Feminismus besteht auf der unabhängigen
Organisierung von Frauen, um die Gleichheit mit den Männern in der Gesellschaft
durchzusetzen. Er sieht den Kampf der Frauen als abgetrennt und unabhängig vom
Klassenkampf, statt sich dafür einzusetzen, dass der Kampf gegen
Frauenunterdrückung ein Teil des Kampfes der gesamten ArbeiterInnenklasse wird.
Mit dem Argument, dass die Interessen der Frauen sich nicht nur von den Männern
unterschieden, sondern ihnen sogar entgegengesetzt seien, lehnt er eine
gemeinsame Organisierung mit den Männern ab und plädiert für den
Zusammenschluss der Frauen aller Klassen. Diese Position schwächt die
ArbeiterInnenbewegung.

Radikale FeministInnen geißeln die
Unfähigkeit der bürokratischen Gesellschaften und meinen, das Leid der Frauen
dort habe gezeigt, dass der Sozialismus keine Garantie für die Frauenbefreiung
sei. Tatsächlich war die Vergesellschaftung der Hausarbeit in der DDR völlig
ungenügend (wie übrigens, wenn auch in anderer Weise auch im Kapitalismus), die
Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt war groß. Viele Errungenschaften waren
auf einem so schlechten Niveau, so dass kurz nach der Wende viele Frauen froh
waren, zu Hause bleiben zu können, um sich um die Familie zu kümmern. Solange
sie in der schlecht organisierten, häufig monotonen und mühseligen
Betriebsarbeit steckten, schien ihnen das attraktiv. Der radikale Feminismus
übersieht aber, dass diese Gesellschaften nie sozialistisch waren, sondern eine
Bürokratie die der ArbeiterInnenklasse zustehende Macht an sich gerissen hatte.
Der „demokratische“ Kapitalismus wurde von der Opposition (auch von den
Frauengruppen), von westlichen Medien und PolitikerInnen und sogar von den
StalinistInnen selbst als Ausweg aus der Krise der Planung gepriesen.
Inzwischen haben auch die Frauen in der Ex-DDR gemerkt, dass ihnen der
Kapitalismus keine Perspektive bietet.

Der „sozialistische Feminismus“, wenngleich
weniger separatistisch, teilt dennoch die Idee, dass die Strukturen der
Frauenunterdrückung getrennt von anderen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnissen existieren. Diese Idee des eigenständigen
Patriarchats lässt ihn ebenfalls zu der Aussage kommen, dass Frauen sich
„autonom“ organisieren sollten.

Kleinbürgerlich

Die „sozialistischen Feministinnen“
betreiben in Wirklichkeit eine Politik, die den Interessen kleinbürgerlicher
Frauen entgegenkommt (z. B. deren Aufstieg in Führungspositionen). Dabei
bedienen sie sich durchaus systemkonformer Methoden, die sie sonst als typisch
für das patriarchalische Machtgefüge anprangern, wie z. B. im Fall der
gestürzten hessischen Umweltministerin Margarethe Nimsch, die es als ihre
feministische Pflicht ansah, eine Parteifreundin zu begünstigen, oder der
Hamburger Sozialsenatorin, die familienorientiert genug war, einer Institution,
der ihr Mann als Geschäftsführer diente, einen satten Auftrag zuzuschanzen.

Sozialistische FeministInnen stehen häufig
im Dienst der reformistischen Parteien, die zwar verbal für die Emanzipation
eintreten, konkret jedoch häufig Sozialabbau vorantreiben, der zu Lasten der
Frauen geht (z. B. Privatisierung von Betrieben, öffentlichem Dienst und
Sozialfürsorge).

Den „sozialistischen Feminismus“
interessieren die Sorgen und Probleme der Mehrheit der proletarischen Frauen in
Wirklichkeit nicht. Die Begeisterung über den virtuellen Feminismus von
Gleichstellungsbeauftragten, Frauenministerien und Quotenregelungen verleugnet
die Realität, die für die Mehrheit der Frauen, trotz größerer Einbeziehung in
Produktion und gesellschaftliche Funktionen weiterhin in Unterdrückung,
Schlechterstellung, Abhängigkeit vom Mann und Zuständigkeit für die Familie
besteht.

Die Frauenarbeitsgemeinschaft LISA der PDS
fasst „Analyse“ und „Programm“ in zwei Sätze: „Frauen dürfen nicht länger zur
Anpassung an männliche Wert- und Lebensvorstellungen gezwungen sein.
Frauendiskriminierung zu beseitigen, setzt nicht nur rechtliche Gleichstellung
voraus, sondern erfordert Umdenken in allen Lebensbereichen.“ (23)

Das erklärte Ziel der PDS heißt
„demokratischer Sozialismus“ und soll aus Marktwirtschaft mit parlamentarischer
Demokratie und ganz viel sozialer Gerechtigkeit bestehen. Da passt es schlecht,
dass es eben die Marktwirtschaft, das kapitalistische System ist, das aus der Frauenunterdrückung
genügend Vorteile zieht, um sie ständig weiter zu reproduzieren. Nicht der
Kapitalismus, sondern angeblich männliche Wert- und Lebensvorstellungen zwingen
Frauen, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, zwingen sie, zu gebären, zwingen sie
in ungeschützte und Teilzeitarbeitsverhältnisse usw. Warum sollten Männer dann
umdenken und warum hat die PDS – deren Frauenanteil unter dem der Männer liegt
– die von LISA aufgestellten, durchaus begrüßenswerten Forderungen wie
ersatzlose Streichung des §218 StGB oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit
überhaupt übernommen?

Reformismus

Vom Stalinismus, der die
ArbeiterInnenklasse im Namen einer „friedlichen Koexistenz mit dem
Kapitalismus“ niederhielt, ist die PDS zu einem sozialdemokratischen
Reformismus konvertiert, der keine Klassen mehr kennt, sondern nur noch
individuelle „Wert- und Lebensvorstellungen“, die je nach Interpretationsbedarf
in von den gesellschaftlichen Verhältnissen abgekoppelte Gegensätze gestellt
werden: „konservativ und reformerisch“, „rechts und links“, „männlich und
weiblich“.

Natürlich ziehen auch die Männer der
ArbeiterInnenklasse handfeste Vorteile aus der Frauenunterdrückung: Sie
erhalten im allgemeinen bessere Löhne und haben meist bessere
Arbeitsbedingungen als die Frauen. Zusätzlicher Nutzen erwächst ihnen daraus,
dass die Frauen den Großteil der Hausarbeit oft zusätzlich zur Lohnarbeit
machen. Die Familienstruktur verfestigt diese Situation, die sexistische
Ideologie der männlichen Dominanz in ihr bringt die Männer dazu, ein Verhalten
anzunehmen, das die Frauen direkt unterdrückt.

Aber die Vorteile, die Männer der
ArbeiterInnenklasse aus der Frauenunterdrückung ziehen, sind in historischem
Ausmaß so gering, dass die Nachteile, die sich aus der Frauenunterdrückung
ergeben, unvergleichlich schwerer wiegen. Flexibilisierte Arbeitszeiten,
schlechtere Arbeitsbedingungen und geringere Löhne der Frauen üben auf jene der
Männer einen ständigen Druck aus. Im Verbund mit der sexistischen Ideologie
wird eine Spaltung innerhalb der Klasse aufrechterhalten, die ihre kollektive
Kraft schwächt. Das Proletariat insgesamt hat ein historisches Interesse am
Sturz des Kapitalismus, um der Frauenunterdrückung die gesellschaftliche
Grundlage zu entziehen. Die Männer der ArbeiterInnenklasse sind daher die strategischen
Verbündeten der Frauen im Kampf gegen das kapitalistische System.

Verschleierung

Diese Tatsache zu verschleiern, sind alle
feministischen Richtungen, erst recht der bürgerliche Feminismus in Gestalt des
Deutschen Frauenrates, bemüht. Der Deutsche Frauenrat (DF) ging 1969 aus dem
„Informationsdienst für Frauenfragen“ hervor, in dem sich 1951 nach dem Zweiten
Weltkrieg neu oder wieder gebildete Frauenverbände zusammengeschlossen hatten.
Er versteht sich in der Traditionslinie des Bundes Deutscher Frauenvereine und
„will Veränderungen ausschließlich auf den üblichen Wegen des herrschenden
Gesellschaftssystems erreichen“. Dazu muß sich der DF als „überparteiliche und
-konfessionelle Dachorganisation“ „am Konsens seiner Mitglieder orientieren“.

Die Vielfalt der Mitglieder spiegelt sich
im Vorstand, in dem die Bundesfrauenvertretung des Deutschen BeamtInnenbundes,
der Deutsche ÄrztInnenbund, der Deutsche JuristInnenbund, die Evangelische
Frauenarbeit, der Katholische Deutsche Frauenbund, der Deutsche Sportbund, der
JournalistInnenbund, der Deutsche Landfrauenverband und – der DGB vertreten
sind. Die Monatszeitschrift des DF „Informationen für die Frau“ wird vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert. In allen
16 Bundesländern gibt es Landesfrauenräte, die eng mit dem Deutschen Frauenrat
zusammenarbeiten.

Dass die Existenz dieser Organisation kaum
bekannt ist, obwohl sie nach eigenen Aussagen elf Millionen Frauen
einschließlich Mehrfachmitgliedschaften vertritt, zeigt, wie wenig die Belange
der proletarischen Frauen und damit die tatsächlichen Probleme, vor denen der
Kampf für die Frauenemanzipation gestellt ist, in diesem Gremium zum Zuge
kommen. Zur Erinnerung an die Gründung des BDF vor 100 Jahren organisierte der
Deutsche Frauenrat am 5. März 1994 eine Kundgebung in Bonn gegen die
„fortwährende Benachteiligung der weiblichen Bevölkerung“. Nur drei Tage
später, am Internationalen Frauentag des gleichen Jahres, hatte der DF zur
Benachteiligung von Frauen nicht mehr viel zu sagen.

Diese Organisation existiert trotz aller
gleichstellungspolitischen Phrasen nur, um die Interessen und den Kampf der
Frauen der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Systems unterzuordnen. Die
Organisationen der proletarischen Frauen haben darin nichts verloren.

Endnoten

(1) „Beteiligung am Erwerbsleben“, Quelle:
Statistisches Bundesamt.

(2) Mit einer Abiturientenquote von
13 % lag die DDR deutlich unter jener der BRD mit ca. 35 % pro
Altersjahrgang.

(3) Lesart nach „Kleines politisches
Wörterbuch“: „…In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich die
Familie auf der Grundlage des gleichen sozialen Verhältnisses ihrer Mitglieder
zum sozialistischen Eigentum und der vollen Gleichberechtigung von Mann und
Frau immer mehr zu einer stabilen Lebensgemeinschaft, in der die Fähigkeiten
und Eigenschaften Unterstützung finden, die das Verhalten der Menschen als
sozialistische Persönlichkeit bestimmen. Insbesondere für die Charakterbildung
der Kinder, ihre Erziehung zu gesunden, lebensfrohen, allseitig gebildeten
Menschen und bewussten StaatsbürgerInnen haben harmonische Familienbeziehungen
eine große Bedeutung. Weil die Stabilität der Familie außerordentlich wichtig
für die Weiterentwicklung der ganzen Gesellschaft ist, garantiert die
Verfassung der DDR u. a. jedem/r BürgerIn das Recht auf Achtung, Schutz
und Förderung seiner/ihrer Ehe und Familie…“

(4) In der BRD wurde 1974 der
Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert.

(5) Quelle: „Initial 4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(6) In den alten Bundesländern waren von
den 23,4 Millionen Haushalten 1991 9,4 Millionen, d. h. ca. 40 %
Familienhaushalte, davon 51 % Familienhaushalte mit einem Kind und
37,8 % mit zwei Kindern. In den neuen Ländern und Ost-Berlin sind die
Zahlen ganz ähnlich: 50,9 % Familienhaushalte mit einem Kind, 40,8 %
mit zwei Kindern.

(7) Quelle: „Initial4“: Artikel
„Deutschlands Frauen nach der Wende“ von Hildegard Maria Nickel.

(8) „Erwerbstätige nach
Wirtschaftsbereichen in Deutschland, April 1991“, in: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“, S.185.

(9) 1,2 Millionen waren als arbeitslos
registriert. Der größere Teil war in „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“
untergebracht bzw. verschwand durch Kurzarbeit, Frühpensionierung u. ä.
aus der Statistik.

(10) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(11) „Frauenanteile in Spitzenpositionen
verschiedener Institutionen, aus Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S. 247.

(12) „Typische“ Frauenberufe sind v. a.
HauswirtschaftsgehilfInnen und -verwalterInnen (97,1 %),
SprechstundenhelferInnen (99,6 %), KindergärtnerInnen und -pflegerInnen
(98,6 %), Krankenschwestern und -pfleger (83,6 %) und VerkäuferInnen
(80,2 %) – alle Zahlen 1984 für die alten Bundesländer. (Quelle: Bernd
Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(13) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(14) Gegenüber 1990 gab es 1991 einen
Geburtenrückgang um 39,6 %. Dieses drastische Geburtentief verringerte
sich 1992 nochmals um 18,1 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“).

(15) Der Rückgang der Eheschließungen
gegenüber 1990 betrug 1991 50,4 % und sank 1992 gegenüber 1991 auf
4,5 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(16) Der Rückgang der Ehescheidungen betrug
von 1990 auf 1991 72 %. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel
in Deutschland“).

(17) Tabelle „Ehescheidungen in der BRD/DDR
bzw. alten und neuen Bundesländern“, in: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher
Wandel in Deutschland“, S. 127.

(18) 1991 betrug der Prozentanteil
nichtehelicher Geburten in Deutschland 15 % mit einem sehr hohen Anteil von
40 % in den neuen Bundesländern. (Quelle: Bernd Schäfer:
„Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland“).

(19) Quelle: „Initial 4“: Artikel von
Hildegard Maria Nickel: „Deutschlands Frauen nach der Wende“.

(20) Wenn man als Schwellenwert für Armut
zugrunde legt, dass weniger als 50 % des durchschnittlichen
Haushaltsnettoeinkommens verfügbar sind, so mussten 1992 6,5 % aller
westdeutschen Haushalte und 12,7 % aller ostdeutschen Haushalte als arm
bezeichnet werden. (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“).

(21) Der einzige größere Erfolg des UFV
war, maßgeblich daran mitgewirkt zu haben, dass für eine Übergangszeit auf dem
Gebiet der Ex-DDR die im Vergleich zum Westen fortschrittlichere
Fristenregelung zum Schwangerschaftsabbruch weiterbestand. Dies spiegelt sich
bis 1992 auch in den Zahlen wider: In den alten Ländern wurden 75.000
Schwangerschaften legal abgebrochen, davon fast 90 % aus „schwerer
Notlage“, in den neuen Ländern (mit etwa einem Viertel der Bevölkerung) wurden
44.000 Schwangerschaften abgebrochen.

(22) „Anteile der Produktionssektoren an
der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1950 in %“ und Tabelle
„Beiträge der Wirtschaftsbereiche zum Bruttoinlandsprodukt im früheren
Bundesgebiet in %“ (Quelle: Bernd Schäfer: „Gesellschaftlicher Wandel in
Deutschland“, S.183 f.). – In der DDR betrug 1990 der Anteil des primären
Sektors 8,2 %, des sekundären 44,8 % und des tertiären 47 %,
wobei die völlig andere Struktur des tertiären Sektors zu berücksichtigen ist.
Der Dienstleistungssektor war vernachlässigt, da er als nicht-produktiv galt
und dementsprechend in der Bilanzierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
nicht auftauchte.

(23) „Feminismus und PDS“, Internetseite
der Frauenarbeitsgemeinschaft LISA in der PDS.




Debatte: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Rex Rotmann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2009)

Obwohl 1989 untergegangen, ist die DDR
immer noch lebendig. In schöner Regelmäßigkeit, oft aus Anlass von Jahrestagen
oder wenn es darum geht, die PDS bzw. DIE LINKE zu attackieren, ist sie
Gegenstand von Skandalen oder mehr oder weniger seriösen Diskussionen. Meist
ist es das Thema „Stasi“, welches wie ein Damoklesschwert über jeder
Darstellung der DDR oder der Beschäftigung mit bestimmten Aspekten dieses
Staates schwebt. Bisweilen ist die Beschäftigung mit dem Erbe der DDR auch
seriöser, z. B. wenn es um das Bildungs- oder das Gesundheitswesen des
ersten deutschen ArbeiterInnenstaates geht, an denen man dann manchmal positive
Seiten entdeckt. Mitunter geht es einfach nur um Ostalgie.

In jüngster Zeit war das Jubiläum von 60
Jahren (west-)deutschem Grundgesetz einigen Leuten wieder einmal Anlass, eine
grundsätzliche „Charakterisierung“ der DDR vorzunehmen. Das Jubiläum des
Mauerfalls vor 20 Jahren sowie die aktuelle Krise, welche Probleme wie die
Verstaatlichung aufwarf oder ganz und gar den Kapitalismus in Frage stellte,
rückten die DDR erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Dass über die Demokratie-Frage erneut oder
immer noch so heftig diskutiert wird (oder zumindest die bürgerlichen Medien
darüber berichten), hat nicht etwa neue Erkenntnisse zur Ursache, sondern den
einfachen Umstand, dass die Demokratie der heutigen Bundesrepublik ins Gerede
gekommen ist. Die Wahlbeteiligung sinkt, die „Volks“parteien schwächeln, viele
demokratische Grundrechte wurden und werden unterhöhlt: das Asylrecht, das
Streikrecht, der Datenschutz usw. usf. Gründe genug also für die ApologetInnen
der bürgerlichen Demokratie, eifrig einen monströsen „Unrechtsstaat DDR“ zu
konstruieren, damit vor dessen finsterem Hintergrund die Bundesrepublik, deren
demokratischer Lack immer mehr abblättert, umso heller leuchtet.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die DDR
ein „Unrechtsstaat“ war. Dabei geht es natürlich nicht etwa darum zu betonen,
dass es in der DDR an wichtigen demokratischen Rechten (z. B.
Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit, Streikrecht usw. ) mangelte. Das
ist allgemein bekannt und wird höchstens noch von den allerdümmsten
StalinistInnen bestritten.

Es geht in der Debatte vielmehr darum zu
zeigen, dass die DDR im Vergleich zur BRD grundsätzlich undemokratischer war.
Die Frage der Demokratie, des „Rechtsstaats“ wird dabei zur zentralen, ja in
gewisssem Sinn zur einzigen Frage, um die es bei der Einschätzung der DDR geht.
Allein schon daran wird die idealistische Methode der Betrachtung deutlich.
Nicht etwa die Frage nach den materiellen, ökonomischen Verhältnissen, auf
denen sich rechtliche, politische u. a. Systeme gründen, ist von
Interesse, sondern die „Demokratie an sich“. Dass jedes Recht wie auch jede
Politik letztlich den (ökonomischen) Interessen einer Klasse dient, bleibt
dabei ausgespart. Doch immerhin setzt z. B. das Eigentumsrecht auch ein
handfestes Eigentum voraus, ohne das ein Gesetz einfach nur eine Fata Morgana
wäre.

Diese „Aussparung“ hat freilich Gründe. Einmal
lenkt man von der wesentlichen Frage des Eigentums an Produktionsmitteln ab,
zum anderen stellt man so die „Demokratie“ auch gleich als Wert an sich, als
Struktur dar, die sich scheinbar nur aus abstrakten Ideen ableiten würde. Doch
schon Marx postulierte, dass das Recht nie höher stehen könne, als die
materielle Basis, auf dem es sich erhebt.

Demokratie konkret

Ein Beispiel. Dass es in der DDR nur wenige
hundert RechtsanwältInnen gab, wird von einigen KommentatorInnen so
interpretiert, dass ein wichtiges Rechtsinstrument fast ganz fehlte.
Tatsächlich gibt es auch in Ostdeutschland inzwischen tausende, ja vielleicht
zehntausende RechtsanwältInnen. Doch ob es deren in der DDR nun zu wenige gab
oder nicht – die entscheidende Frage ist eine ganz andere: Warum musste es so
wenige geben? Die Antwort darauf ist relativ leicht, wenn man bedenkt, dass es
wesentliche Dinge, die eine/n Anwalt/Anwältin erfordern, nicht gab: erstens
konkurrierende PrivateigentümerInnen, die miteinander um ihr Eigentum oder
deren Verwertung streiten; zweitens einen Markt, der nach Verwertungskriterien
funktioniert. So waren Grund und Boden Volkseigentum oder – soweit privat –gab
es klare Regelungen, so dass niemand wie im Kapitalismus als MaklerIn mit
Immobilien Profit machen konnte. Dieses Fehlen so wesentlicher Merkmale des
Kapitalismus ist – ganz nebenbei – auch ein klares Indiz dafür, dass die DDR
kein Staatskapitalismus war.

Nach der „Wende“ konnten die
DDR-BürgerInnen mit der Wiedereinführung des Kapitalismus ganz hautnah erleben,
wie diese auch mit einer alles und alle erfassenden „Verrechtlichung“
einherging; jede Sache war plötzlich hoch kompliziert. So, wie die Konkurrenz,
wie „die Wirtschaft“, sich anarchisch hinter dem Rücken der AkteurInnen
durchsetzt, genauso spreizt sich die Demokratie vor unseren Augen.

Der „Rechtsstaat“ Bundesrepublik zeichnet
sich u. a. dadurch aus, dass er ein riesiges Gestrüpp von Regelungen,
Gesetzen, Institutionen kennt, um das Phänomen der Arbeitslosigkeit zu regeln
(Hartz IV-EmpfängerInnen würden eher sagen: um Arbeitslose zu schikanieren).
Soviel Juristerei gab es in der DDR dazu nicht. Da gab es tatsächlich einen
echten Mangel – an Lohnarbeitslosigkeit.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch
darauf hingewiesen, dass die Juristerei komplett unproduktive Arbeit darstellt.
Eine Gesellschaft, die sich davon eine Menge sparen kann – nicht, weil sie sie
willkürlich abschafft, sondern weil diese nicht mehr nötig ist –, ist dann
insofern eine produktivere. Dass die DDR in einigen Bereichen dazu fähig war,
zeigt, dass sie tatsächlich – trotz all ihrer riesigen stalinistischen
Verkümmerungen, ihrer bürokratischen Wucherungen und ihrer nationalbornierten
Kleinbürgerlichkeit – im Ansatz auch eine Gesellschaft des Übergangs zu einer
neuen Ordnung verkörperte. Diese Dimension des „Nicht mehr Brauchens“ steckt
schon in Marx´ Postulat, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein wird.

Welche Demokratie?

Ein Zweck der Unrechtsstaats-Debatte ist
(ob gewollt oder ungewollt) eine doppelte Verschleierung. Zum einen wird der
wahre Charakter der Demokratie im Westen vertuscht. Sie erscheint nicht als ein
spezifisches Instrument der Herrschaft der Bourgeoisie (neben anderen,
z. B. der Militärdiktatur oder des Faschismus), um deren Herrschaft zu
verhüllen. Auch die formelle Form dieser Demokratie wird nicht betrachtet,
geschweige denn kritisiert. So sind Gewählte weder jederzeit kontrollierbar
noch abwählbar. Das Gros des Staatsapparates ist nicht wählbar (Armee, Polizei,
BeamtInnen, RichterInnen usw.). Entscheidende Fragen der Gesellschaft wie die
Wirtschaft, das Privateigentum usw. stehen überhaupt nicht zur Wahl.

Doch auch die Demokratie der DDR wird
verschleiert, nämlich insofern, als sie als typisch für den
Sozialismus/Kommunismus dargestellt und deren Geschichte, die eben auch und vor
allem eine Geschichte der Verhinderung, ja Zerstörung alternativer Formen von
Demokratie durch den Stalinismus war, ausgeblendet wird.

Im Grunde hat schon Walter Ulbricht die
Demokratie gut beschrieben, als er einmal sagte: „Wir müssen alles in der Hand
haben und es trotzdem demokratisch aussehen lassen.“ Ulbricht meinte damit die
DDR, aber es würde auch auf die BRD perfekt passen. Wenn man die DDR-Demokratie
auf eine kurze Formel bringen wollte, könnte man sagen, dass sie zwei Seiten hatte.
Eine war die fast lückenlose Machtmaschine aus Stasi, Polizei, Bürokratie und
Partei. Trotzki bemerkte einmal durchaus zutreffend, dass der stalinistische
Staat in seiner Form (nicht in seiner Funktion!) dem faschistischen sehr
ähnlich ist. Die andere Seite bestand aus dem Torso einer bürgerlichen
Demokratie mit Parteien, Wahlen usw. Es ist bezeichnend, dass der Stalinismus
fast jede Form von direkter Massendemokratie, von Räten, Fabrikkomitees usw.
verbot oder zerschlug, jedoch keinen Aufwand scheute, seine aberwitzige
Karikatur von bürgerlicher Demokratie aufzupolieren.

ArbeiterInnendemokratie

Doch auch auf dem Boden der ehemaligen DDR
gab es Ansätze einer anderen Demokratie. Als nach 1945 die Nazis geflohen oder
verhaftet waren, nahmen die ArbeiterInnen es selbst in die Hand, die Betriebe
wieder aufzubauen und in Gang zu setzen. Das war ArbeiterInnenselbstverwaltung.
Doch es fehlte eine politische Führung, die diese Ansätze zu einem System von
geplanter Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle hätte weiterentwickeln können
oder wollen. So war es der sowjetischen Militäradministration (SMAD) möglich,
die Betriebe der realen Verfügungsgewalt der ArbeiterInnen wieder zu entwinden,
indem sie sie zu sowjetischem Eigentum erklärte, womit diese dann der Moskauer
Bürokratie unterstanden. Das war der erste, besondere Schritt Richtung
bürokratische Planwirtschaft, bei der die ArbeiterInnenklasse viel zu arbeiten,
aber wenig zu sagen hatte.

Auch wenn die KommentatorInnen alljährlich
des ArbeiterInnenaufstands in der DDR im Juni 1953 gedenken, wird fein
säuberlich ausgespart, dass es damals eben nicht nur um bürgerliche
„Demokratie“ ging, sondern viele Losungen und Forderungen dezidiert die direkte
Machtausübung der ArbeiterInnenklasse forderten und diese sich nicht nur auf
die politische Ebene bezogen wie die bürgerliche Demokratie, sondern auch und
gerade soziale Fragen und die Wirtschaft selbst betrafen.

Wenn die Urteile der Bürgerlichen über die
DDR meist nur fade sind, so erweist sich die Verteidigung der DDR durch viele
Linke – und nicht nur StalinistInnen! – nur als peinlich. Diese Linken glauben
ernsthaft, sie täten etwas Gutes, wenn sie zu beweisen suchen, dass die DDR
kein „Unrechtsstaat“, sondern durchaus demokratisch – und zwar im Sinne von
bürgerlich-demokratisch war.

Peinlich ist an diesen Verteidigungsreden
dabei weniger, dass es natürlich auch in der DDR in vielen Bereichen nicht ganz
so wenig Rechtsstaat gab, wie es in den Medien oft hingestellt wird. Peinlich
ist vielmehr, dass diesen Linken offenbar gar nicht in den Sinn kommt, dass zu
einer nichtkapitalistischen Gesellschaft ein bürgerlicher Überbau nicht
besonders gut passt.

Nein, diese Liberos/Liberas des Stalinismus
verteidigen die DDR, weil sie keine Vorstellung davon haben, welche
Staatsstruktur, welche Art von Demokratie der ArbeiterInnenstaat zu seinem
Gedeihen braucht. Sie glauben offenbar tatsächlich, dass solche bizarren
demokratischen Staffagen wie die Volkskammer, die Wahlen, die Nationale Front,
die vom Schnürboden des demokratischen Theaters DDR heruntergelassen worden
waren, verteidigenswert seien.

Diese linken „RechtsstaatlerInnen“ sind es
aber auch, die dann in Diskussionen, in Bündnissen und in realen Konflikten im
Klassenkampf jede Forderung nach ArbeiterInnenkontrolle, nach direkter Wähl-
und Abwählbarkeit von Streikkomitees usw. ablehnen. Dort, wo
ArbeiterInnendemokratie anfängt, hört bei diesen Leuten das Denken auf.

Wenn es einen zentralen Widerspruch in der
DDR gab, dann jenen, dass die bürgerliche Form des Staatsapparates völlig
unvereinbar war mit den Entwicklungsbedürfnissen einer nichtkapitalistischen
Gesellschaft. Die Bourgeoisie in der DDR war enteignet, doch an deren Stelle
als bestimmendes Subjekt der Gesellschaft trat nicht die ArbeiterInnenklasse,
sondern eine bürokratische Kaste. Sie musste durch eine politische Revolution
der ArbeiterInnenklasse gestürzt werden. Das gelang – trotz mehrerer Versuche
in den Ostblockstaaten – leider nicht.

Wenn MarxistInnen die DDR verteidigen, dann
verteidigen sie deren soziale Errungenschaften – nicht die stalinistische
Bürokratie, die das Land geknebelt, die den Weg der internationalen Revolution
verlassen und die Straße zum Kommunismus blockiert hat. Die Bürokratie und ihre
beschränkten reaktionären Ideen sind historisch gescheitert – verschwunden sind
sie noch nicht. Sie fristen in der DKP oder der MLPD weiter ein kümmerliches
Dasein; jene, die einst die zweite und dritte Reihe der SED-Bürokratie
stellten, dominieren heute die Linkspartei. Sie haben sich etabliert, eine neue
Welt etablieren sie nicht mehr.

Systemalternative

Die Weltwirtschaftskrise hat viele Menschen
dazu animiert, den Kapitalismus als alternativlose Normalität in Frage zu
stellen. Die zaghaften Erwägungen der Regierung, marode Betriebe eventuell zu
verstaatlichen, haben andererseits aber auch Konservative dazu gebracht, Zeter
und Mordio ob dieser drohenden „Einführung des Sozialismus“ zu schreien.

Die schweren Turbulenzen der
Weltwirtschaft, ja die Gefahr des Zusammenbruchs des ganzen Ladens haben die
Frage nach einer Systemalternative erneut angefacht. Insofern soll die
„Unrechtsstaatsdebatte“ auch in dieser Hinsicht eine klare Botschaft
vermitteln: Staatseigentum und Planwirtschaft haben schon einmal nicht
funktioniert, sind also Teufelswerk.

Natürlich: Unterm Strich hat die Wirtschaft
der DDR und der anderen stalinistischen Länder nicht gut genug funktioniert, um
die Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend zu befriedigen. Und sie war schon
gar nicht dem Westen – genauer: den führenden imperialistischen Ländern – überlegen.
Doch daraus den Schluss zu ziehen, dass Staatseigentum und Planung per se nicht
funktionieren würden, ist falsch.

Falsch ist an der Kritik zunächst einmal,
dass nicht hinterfragt wird, wie das Staatseigentum konkret aussah und wie die
Planung funktionierte.

Gemäß Marx und allen anderen großen
MarxistInnen sind es im ArbeiterInnenstaat bzw. im Sozialismus die
ProduzentInnen und KonsumentInnen, also das Proletariat, das die Produktion
kontrolliert, organisiert und plant. Dazu braucht es Strukturen wie Räte,
Betriebskomitees, Gewerkschaften, Kontrollorgane usw.

In den stalinistischen Ländern gab es
solche Organe nie oder sie wurden bewusst zerstört oder ihres sozialen Inhalts
beraubt. Die Steuerung der Wirtschaft oblag einer bürokratischen Schicht, deren
Entscheidungen nicht transparent, diskutierbar oder gar änderbar waren. Auf der
Ebene der Verteilung von Ressourcen funktionierte diese Planung aber durchaus
nicht so schlecht; doch sie erwies sich als zunehmend hilflos, als es darum
ging, technische Innovationen zu fördern und in die Produktion zu überführen.
Das Wissen, die Erfahrungen der ArbeiterInnen, also der am engsten mit der
materiellen Produktion verbundenen Klasse, konnten so nicht zur Wirkung kommen.
Die permanente Gängelung und Bevormundung durch die Bürokratie, das Fehlen
offenen gesellschaftlichen Meinungsstreits führten zudem zu einer immer größer
werdenden Entfremdung der Klasse von dem Eigentum, das ihnen angeblich gehörte.

In der DDR wurde die Bourgeoisie entmachtet
–durchaus entgegen der ursprünglichen strategischen Zielsetzung Stalins, in
Mittel- und Osteuropa eine „neutrale“ Pufferzone zum Westen zu etablieren. Der
Stachel des Profitmachens war als zentraler Motor des Wirtschaftens eliminiert,
die Bourgeoisie als herrschende Klasse gestürzt worden. Doch der eigentliche
Antrieb, die eigentliche Quelle des Wirtschaftens, ja überhaupt allen
gesellschaftlichen Handelns im ArbeiterInnenstaat – die Bedürfnisse der
ArbeiterInnenklasse bzw. der Massen – wurden nicht zum Stachel der neuen Gesellschaft.
Diese Rolle des „Motors“ der Entwicklung übernahm die Bürokratie – ohne ihr
gerecht werden zu können.

Die Entmachtung, die Fesselung der
ArbeiterInnenklasse als sozialer Kraft bedeutete, dass die DDR immer mehr
verkrustete, erlahmte und schließlich – implodierte, letztlich weil das
revolutionäre Subjekt der Veränderung und des Übergangs zum Sozialismus
systematisch an der Bildung revolutionären Klassenbewusstseins gehindert wurde
– und, solange die Bürokratie herrschte – daran gehindert werden musste.

Nicht „das Staatseigentum“, nicht „die
Planung“, sondern deren stalinistische, bürokratische Formen und Methoden haben
nicht funktioniert. Dazu kam u. a. , dass die internationale Kooperation
und  Arbeitsteilung im Ostblock
aufgrund der Eigeninteressen der nationalen Bürokratien und der
Vormachtstellung Moskaus ein niedrigeres Niveau hatten als der kapitalistische
Weltmarkt.

Perspektive

Trotzki, die Linksopposition und später die
IV. Internationale hatten schon seit den 1920er Jahren die Fehlentwicklungen
des aufsteigenden Stalinismus kritisiert und für eine revolutionäre und
arbeiterInnendemokratische Alternative gekämpft. Gestützt auf diese Tradition
und bereichert durch die Erfahrungen unter dem Stalinismus haben wir heute ein
deutlich klareres Bild davon, welche Gefahren der Entwicklung eines
ArbeiterInnenstaates drohen, aber auch, welche großartigen Möglichkeiten eine
demokratische Planwirtschaft der Welt zu bieten hat. Angesichts der Krise und
der durch den Kapitalismus immer größer werdenden globalen Probleme der
Menschheit verbietet es sich fast, von einer Möglichkeit zu reden – die
Planwirtschaft ist eine existenzielle Notwendigkeit für die Menschheit.

Gerade die Tatsache, dass die DDR kein
kapitalistischer Staat mehr war, sondern eine Übergangsgesellschaft, deren
Fortschreiten zum Sozialismus jedoch durch die Herrschaft einer bürokratischen
Kaste strukturell blockiert war, verweist darauf, dass die Begriffe
„Rechtsstaat“ oder „Unrechtsstaat“ höchst untauglich sind, die Verhältnisse des
Landes zu erfassen.

Natürlich war die DDR, wie jeder Staat,
einer, der unterdrückt. Aber er – war 
und daran muss eine marxistische Kritik der DDR ansetzen – ein Staat der
Unterdrückung nicht nur jeder Opposition, sondern der ArbeiterInnenklasse.

Ist die BRD deshalb ein Rechtsstaat? Aber
ja. Doch was bedeutet das schon?

Der Begriff des „Rechtsstaats“ wurde im
Kampf gegen die feudale Aristokratie entwickelt und fand Eingang in die
Verfassungen der bürgerlichen Staaten, insbesondere in die US-Verfassung. Die
Staatsgewalt sollte als „Herrschaft des Gesetzes“ verstanden werden, nicht als
die eines/r MonarchIn oder DespotIn. Das Gesetz habe „über allem zu stehen“.

Natürlich war das immer eine Ideologie,
welche die realen Verhältnisse verschleiert und auf den Kopf stellt. Bequem
konnten die „Rechtsstaaten“ so auch mit der Sklaverei leben. Vor allem aber
blendet die Vorstellung vom Rechtsstaat die ökonomischen Grundlagen der
Gesellschaft aus.

Die bundesdeutsche Demokratie ist hohl und
heuchlerisch. In Wahrheit ist die Macht des Kapitals brutaler, größer und
folgenreicher als die aller Stasi-Generäle zusammen. Das ist die Realität des
heutigen „Rechtsstaats“. Einen Grund, ihn zu glorifizieren, ihm etwa
„sozialistisch“ nachzueifern, gibt es nicht. Im Kapitalismus in der Krise, in einer
Gesellschaft des Niedergangs werden auch die „demokratischen“ Rechtsformen
nicht mehr zur humanitären Blüte gelangen.

Trotzdem, oder gerade deshalb müssen auch
RevolutionärInnen, ja alle aufrechten DemokratInnen und klassenbewussten
ArbeiterInnen jede demokratische Errungenschaft gegen die Angriffe von Schäuble
und Co. verteidigen. Aber nicht, weil wir einer Fiktion huldigen und
irgendwelchen „Idealen“ des Rechtsstaats nachfeiern, sondern weil wir unsere
Kampfbedingungen verteidigen müssen.

Wenn derzeit wieder über die „Wende“ in der
DDR von 1989/90 geredet wird, dann wissen wir: der Kapitalismus hat seine Wende
noch vor sich. Dann wird es nicht um einen halben Sozialismus in einem halben
Deutschland gehen, sondern um die internationale sozialistische Revolution.
Wenn es stimmt, dass jede Generation ihre revolutionäre Möglichkeit bekommt,
dann ist die Zeit 20 Jahre nach der „Wende“ reif …




Bolschewismus und Stalinismus

Leo Trotzki (1937), Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Reaktionäre Epochen wie die
unsere zersetzen und schwächen nicht nur die Arbeiterklasse und isolieren ihre
Avantgarde, sondern drücken auch das allgemeine ideologische Niveau der
Bewegung herab und werfen das politische Denken auf bereits längst durchlaufene
Etappen zurück.

Die Aufgabe der Avantgarde
besteht unter diesen Umständen vor allem darin, sich nicht von dem allgemeinen,
rückwärts flutenden Strom davontragen zu lassen – es heißt gegen den Strom
schwimmen. Wenn ein ungünstiges Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die früher
eroberten politischen Positionen zu wahren, gilt es, sich wenigstens auf den
ideologischen Positionen zu halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer
bezahlten vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine solche Politik als
„Sektierertum“. In Wirklichkeit bereitet sie nur einen gigantischen neuen
Sprung vorwärts vor, zusammen mit der Welle des kommenden historischen
Aufschwungs.

Die Reaktion gegen den Marxismus und gegen den Bolschewismus

Große historische Niederlagen
rufen unvermeidlich eine Umwertung hervor, die sich im Allgemeinen in zwei
Richtungen vollzieht. Auf der einen Seite trachtet das Denken der wahren
Avantgarde, bereichert um die Erfahrung der Niederlagen und mit Zähnen und
Klauen das Erbe des revolutionären Gedankens verteidigend, auf seiner Grundlage
neue Kader für die künftigen Massenkämpfe heranzuziehen.

Auf der anderen trachtet das
über die Niederlage erschrockene Denken der Routiniers, Zentristen und
Dilettanten, die Autorität der revolutionären Tradition zu zerstören, und kehrt
unter dem Schein der Suche nach „Neuem“ weit zurück.

Man könnte eine Fülle von
Beispielen ideologischer Reaktion anführen, die übrigens zumeist die Form der
Prostration (Selbsterniedrigung) annimmt. Die gesamte Literatur der II. und
III. Internationale wie ihrer zentristischen Satelliten vom Londoner Büro
besteht im Grunde aus derartigen Beispielen. Nicht die Spur einer marxistischen
Analyse. Nicht ein ernster Versuch, die Ursache einer Niederlage zu erhellen.

Nicht ein neues, eigenes Wort
über die Zukunft. Nichts als Schablone, Routine, Trug und vor allem Sorge um
die eigene bürokratische Selbsterhaltung. Ein Dutzend Zeilen eines beliebigen
Hilferding oder Otto Bauer genügen einem, um Verwesungsgeruch zu spüren.

Von den Theoretikern der
Komintern ganz zu schweigen. Der verherrlichte Dimitroff ist unwissend und
banal wie ein Krämer in der Kneipe. Das Denken dieser Leute ist zu faul, um dem
Marxismus zu entsagen: sie prostituieren ihn. Nicht sie interessieren uns
jetzt. Kehren wir zu den „Neuerern“ zurück.

Der ehemalige österreichische
Kommunist Willy Schlamm widmete den Moskauer Prozessen eine Broschüre mit dem
sprechenden Titel „Diktatur der Lüge“. Schlamm ist ein begabter Journalist,
dessen Interessen hauptsächlich auf Tagesfragen gerichtet sind. Die Kritik der
Moskauer Schwindelprozesse sowie die Aufdeckung der psychologischen Mechanik
der „freiwilligen Geständnisse“ gelingen Schlamm vortrefflich. Doch nicht
zufrieden damit, will er eine neue Theorie des Sozialismus aufstellen, die uns
in Zukunft vor Niederlagen und Schwindel behüten soll.

Da aber Schlamm durchaus kein
Theoretiker und sogar sichtlich mit der Entwicklungsgeschichte des Sozialismus
wenig bekannt ist, so kehrt er unter dem Anschein einer neuen Offenbarung ganz
zum vormarxistischen Sozialismus zurück, dazu in dessen deutscher, d. h.
rückständigster, süßlichster und widerlichster Art.

Schlamm verzichtet auf die
Dialektik, auf den Klassenkampf, von der Diktatur des Proletariats gar nicht zu
reden. Die Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft läuft für ihn auf die
Verwirklichung einiger „weniger“ Moralweisheiten hinaus, mit denen er die
Menschen bereits unter der kapitalistischen Ordnung zu füttern sich anschickt.

In Kerenskis Zeitung „Neues
Russland“ (ein altes Provinzblatt, herausgegeben in Paris) wird
Willy Schlamms Versuch, den Sozialismus mit einer Spritze sittlicher Lymphe zu
fetten, nicht nur mit Freude, sondern auch mit Stolz aufgenommen: Dem ganz
richtigen Kommentar der Redaktion zufolge kommt Schlamm zu den Prinzipien des
echt-russischen Sozialismus, der schon längst dem trockenen und engherzigen
Klassenkampf die heiligen Grundsätze des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe
entgegenstellte.

Zwar stellte die Originaldoktrin
der russischen „Sozialrevolutionäre“ in ihren Prämissen nur eine Rückkehr zum
Sozialismus des vormärzlichen Deutschlands dar. Es wäre jedoch allzu ungerecht,
von Kerenski eine nähere Bekanntschaft mit der Ideengeschichte zu fordern als
von Schlamm. Viel wichtiger ist der Umstand, dass der mit Schlamm sich
solidarisierende Kerenski als Regierungsoberhaupt der Urheber der Verfolgungen
gegen die Bolschewiki als Agenten des deutschen Generalstabs war, d. h.
den gleichen Schwindel organisierte, gegen den Schlamm heute mottenzerfressene
metaphysische Absolute mobilisiert.

Der psychologische Mechanismus
der gedanklichen Reaktion Schlamms und seinesgleichen ist sehr einfach. Eine
gewisse Zeitlang nahmen diese Leute an einer politischen Bewegung teil, die auf
den Klassenkampf schwor und in Worten an die materialistische Dialektik
appellierte. In Österreich wie in Deutschland endete die Sache mit einer
Katastrophe.

Schlamm zieht eine summarische
Schlussfolgerung: Dahin haben uns Klassenkampf und Dialektik gebracht! Und da
die Auswahl der Offenbarungen durch die geschichtlichen Erfahrungen und … die
persönlichen Kenntnisse beschränkt ist, stößt unser Reformator auf der Suche
nach Neuem auf bereits längst beiseite geworfenen Trödelkram, den er tapfer
nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus entgegenstellt.

Auf den ersten Blick erscheint
die von Schlamm vertretene Abart der ideologischen Reaktion allzu primitiv (von
Marx … zu Kerenski), als dass es sich lohnte, dabei zu verweilen. Allein,
tatsächlich ist sie ungemein lehrreich: Gerade dank ihrer Primitivität bildet
sie ein allgemeines Kennzeichen aller anderen Reaktionsformen, vor allem derjenigen, die
sich in dem summarischen Verzicht auf den Bolschewismus äußert.

Zurück zum Marxismus?

Im Bolschewismus fand der
Marxismus seinen grandiosesten geschichtlichen Ausdruck. Unter dem Banner des
Bolschewismus wurde der erste Sieg des Proletariats errungen und der erste
Arbeiterstaat errichtet. Diese Tatsachen wird keine Kraft der Welt mehr aus der
Geschichte streichen. Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium
zum Triumph der Bürokratie geführt hat, mit ihrem System der Unterdrückung,
Raubherrschaft und Fälschung – zur „Diktatur der Lüge“, wie Schlamm treffend
sagte – so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der summarischen
Schlussfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus bekämpfen, ohne auf
den Bolschewismus zu verzichten.

Schlamm geht, wie wir bereits
sagten, noch weiter: Der zum Stalinismus entartete Bolschewismus ist selbst aus
dem Marxismus entstanden – man kann folglich nicht den Stalinismus bekämpfen
und dabei auf den Grundlagen des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten,
aber Zahlreicheren sagen hingegen: „Man muss vom Bolschewismus zum Marxismus
zurückkehren.“ Auf welchem Wege? Zu welchem Marxismus?

Bevor der Marxismus in der Form
des Bolschewismus „Bankrott“ gemacht hat, erlitt er in der Form der
Sozialdemokratie Schiffbruch. Die Losung „Zurück zum Marxismus“ bedeutet somit
einen Sprung über die Epoche der II. und III. Internationale … zur I.
Internationale? Aber auch diese erlitt seinerzeit Schiffbruch. Es heißt also
letzten Endes zurückkehren … zu den gesammelten Schriften Marx’ und Engels’
… Diesen heroischen Sprung kann man machen, ohne sein Arbeitszimmer zu
verlassen oder auch nur die Pantoffeln auszuziehen.

Wie aber dann von unseren
Klassikern (Marx starb 1883, Engels 1895) zu den Aufgaben der neuen Epoche
gelangen und dabei einige Jahrzehnte theoretischen und politischen Kampfes
umgehen, darunter den Bolschewismus und die Oktoberrevolution? Niemand von
denen, die Verzicht auf den Bolschewismus als eine historisch „bankrotte“
Strömung vorschlagen, hat neue Wege gewiesen.

Die Sache läuft somit auf einen
einfachen Ratschlag hinaus, das „Kapital“ zu
studieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber das „Kapital“ haben
auch die Bolschewiki studiert und dabei gar nicht schlecht. Das hat jedoch die
Entartung des Sowjetstaates und die Inszenierung der Moskauer Prozesse nicht
verhindert.

Ist der Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich?

Ist es jedoch wahr, dass der
Stalinismus ein gesetzmäßiges Produkt des Bolschewismus ist, wie es die gesamte
Reaktion annimmt, wie es Stalin selbst behauptet und wie es die Menschewiki,
Anarchisten und gewisse linke Doktrinäre, die sich für Marxisten halten,
meinen?

„Wir haben ja immer gesagt“,
sprechen sie, „seit dem Verbot der anderen sozialistischen Parteien, der
Unterdrückung der Anarchisten, seit der Aufrichtung der Bolschewikidiktatur in
den Sowjets konnte die Oktoberrevolution zu nichts anderem als zur Diktatur der
Bürokratie führen. Der Stalinismus ist die Fortsetzung und zugleich der
Bankrott des Leninismus.“

Der Fehler dieser Argumentation
beginnt bei der stillschweigenden Gleichsetzung von Bolschewismus,
Oktoberrevolution und Sowjetunion. Der historische Prozess, der im Kampf
feindlicher Kräfte besteht, wird hier durch eine Entwicklung des Bolschewismus
im luftleeren Raum ersetzt.

Indes ist der Bolschewismus nur
eine politische Strömung, die zwar eng mit der Arbeiterklasse verknüpft, aber nicht
mit ihr identisch ist. Aber außer der Arbeiterklasse existieren in der UdSSR
über hundert Millionen Bauern, verschiedenartigste Völkerschaften, ein Erbe von
Unterdrückung, Armut und Unbildung.

Der von den Bolschewiki
errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und Wollen der Bolschewiki
wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes, die soziale Zusammensetzung
der Bevölkerung, den Druck der barbarischen Vergangenheit und des nicht weniger
barbarischen Weltimperialismus.

Den Entartungsprozess des Sowjetstaats
als eine Evolution des reinen Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale
Wirklichkeit ignorieren namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr
abgesonderten Elementes.

Es genügt eigentlich, diesen
elementaren Fehler beim Namen zu nennen, damit von ihm keine Spur mehr
übrigbleibt. Der Bolschewismus selbst jedenfalls identifizierte sich nie mit
der Oktoberrevolution noch mit dem aus ihr hervorgegangenen Sowjetstaat.

Der Bolschewismus betrachtet
sich als einen Faktor der Geschichte, ihren „bewussten“ Faktor – einen sehr
bedeutenden, aber nicht entscheidenden – „historischen Subjektivismus“ haben
wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden Faktor auf dem gegebenen
Fundament der Produktivkräfte sahen wir im Klassenkampf, dabei nicht bloß im
nationalen, sondern im internationalen Maßstab.

Als die Bolschewiki an die
Besitzertendenzen der Bauern Zugeständnisse machten, strenge Regeln für die
Aufnahme in die Partei aufstellten, diese Partei von fremden Elementen
säuberten, andere Parteien verboten, die NEP (Neue Ökonomische Politik)
einführten, zu Übergabe von Betrieben in Konzessionen Zuflucht nahmen oder
diplomatische Abkommen mit imperialistischen Regierungen trafen, zogen sie –
die Bolschewiki – Teilschlüsse aus der Grundtatsache, die ihnen von Anfang an
klar war, nämlich dass die Machteroberung, so wichtig sie an sich auch ist, die
Partei durchaus nicht zum allmächtigen Herrn des historischen Prozesses machte.

Mit der Herrschaft über den
Staat besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin
nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft einzuwirken,
dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten Einwirkung von
Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft.

Durch die direkten Schläge der feindlichen
Kräfte kann sie von der Macht hinweggefegt werden. Bei langwierigen
Entwicklungstempi kann sie, sich an der Macht haltend, innerlich entarten.
Gerade diese Dialektik des historischen Prozesses verstehen die sektiererischen
Räsoneure nicht, die in der Fäulnis der Stalinbürokratie ein vernichtendes
Argument gegen den Bolschewismus finden wollen.

Im Grunde sagen diese Herren:
Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie gegen
ihre eigene Entartung enthält. Angesichts eines derartigen Kriteriums ist der
Bolschewismus natürlich gerichtet: Einen Talisman hat er nicht. Doch dieses
Kriterium ist eben falsch.

Das wissenschaftliche Denken
verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum zersetzte sich die Partei?
Niemand außer den Bolschewiki selbst hat bisher eine solche Analyse gegeben.
Diese aber brauchten deswegen nicht mit dem Bolschewismus zu brechen.

Im Gegenteil, in ihrem Arsenal
fanden sie alles Notwendige, um sein Schicksal zu erklären. Die Schlussfolgerung,
zu der sie gelangten, lautete: Natürlich ist der Stalinismus aus dem
Bolschewismus „erwachsen“, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch:
nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung. Das
ist durchaus nicht ein und dasselbe.

Die Grundprognose des Bolschewismus

Allein, die Bolschewiki mussten
nicht erst die Moskauer Prozesse abwarten, um nachträglich die Ursachen für die
Zersetzung der herrschenden Partei der UdSSR zu erklären. Sie sahen lange
vorher die theoretische Möglichkeit einer solchen Entwicklungsvariante und
sprachen beizeiten davon.

Erinnern wir uns an die
Prognose, die die Bolschewiki nicht nur am Vorabend der Oktoberrevolution,
sondern schon einige Jahre vorher aufstellten. Die besondere Kräftegruppierung
im nationalen und internationalen Maßstab führt dazu, dass das Proletariat in
einem so rückständigen Land wie Russland zuerst an die Macht gelangen kann.

Doch eben diese
Kräftegruppierung lässt auch im Voraus erkennen, dass ohne einen mehr oder
weniger baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern ein
Arbeiterstaat in Russland nicht standhalten wird. Das auf sich angewiesene
Sowjetregime wird zerfallen oder entarten, genauer: zuerst entarten, und dann
zerfallen.

Ich persönlich habe mehr als
einmal darüber geschrieben, bereits seit 1905. In meiner Geschichte der russischen Revolution (siehe
den Anhang zum zweiten Band: „Sozialismus in einem Lande?“) sind diesbezügliche
Aussagen der Führer des Bolschewismus von 1917 bis 1923 gesammelt.

Alle laufen auf eines hinaus:
Ohne Revolution im Westen wird der Bolschewismus liquidiert werden, entweder
von der inneren Konterrevolution oder durch Intervention von außen, oder durch
beides zusammen.

Lenin insbesondere hat oft
darauf hingewiesen, dass die Bürokratisierung des Sowjetregimes keine
technische oder organisatorische Frage ist, sondern der mögliche Beginn einer
sozialen Entartung des Arbeiterstaates.

Auf dem XI. Parteikongress vom
März 1922 sprach Lenin über die „Unterstützung“, welche gewisse bürgerliche
Politiker im besonderen der liberale Professor Ustraljew, seit der Zeit der NEP
Sowjetrussland angedeihen zu lassen beschlossen. „Ich bin für die Unterstützung
der Sowjetmacht in Russland“, sagt Ustraljew, „weil sie den Weg betreten hat,
der sie zu einer gewöhnlichen bürgerlichen Macht hinführen wird.“

Die zynische Stimme des Feindes
zieht Lenin dem „süßlichen kommunistischen Geschwätz“ vor. Mit strenger
Nüchternheit warnt er die Partei vor der Gefahr: Alle Dinge, von denen Ustraljew
spricht, sind möglich. Das muss man klar sagen. Die Geschichte kennt Wendungen
aller Arten: Sich auf Überzeugung, Ergebenheit und andere vorzügliche
Seeleneigenschaften zu verlassen, ist in der Politik durchaus keine ernste
Sache.

Die vorzüglichen Eigenschaften
haben eine kleine Anzahl von Leuten, aber das historische Endergebnis bestimmen
die gigantischen Massen, die, wenn die geringe Anzahl Leute ihnen nicht
entgegenkommt, zuweilen mit dieser geringen Anzahl Leute nicht allzu höflich
verfahren. Mit einem Wort: Die Partei ist nicht der einzige Entwicklungsfaktor
und, in großen geschichtlichen Maßstäben, nicht der entscheidende.

„Es kommt vor, dass ein Volk ein
anderes Volk besiegt“, fuhr Lenin auf demselben Kongress fort – dem letzten,
der mit seiner Teilnahme stattfand –, „…das ist sehr einfach und allen
verständlich. Aber was geschieht mit der Kultur der Völker? Das ist nicht so
einfach. Ist das Siegervolk dem besiegten Volk kulturell überlegen, so zwingt
es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, so pflegt der Besiegte dem
Sieger seine Kultur aufzuzwingen.

Ist nicht etwas Ähnliches in der
Hauptstadt der RSFSR geschehen! Und ergab es sich nicht dort, dass 4.700
Kommunisten (fast eine ganze Division, und die allerbesten von allen) der
fremden Kultur unterlagen?“

Das wurde Anfang 1922 gesagt,
und zwar nicht zum ersten Mal. Die Geschichte wird nicht von wenigen, wenn auch
„allerbesten“ Menschen gemacht; noch weniger: diese „besten“ können im Geiste
der „fremden“, d. h. der bürgerlichen Kultur entarten. Nicht nur kann der
Sowjetstaat vom sozialistischen Wege abgehen, sondern auch die bolschewistische
Partei unter ungünstigen historischen Bedingungen ihren Bolschewismus einbüßen.

Aus dem deutlichen Verständnis
dieser Gefahr entstand die Linke Opposition, die sich endgültig im Jahre 1923
bildete. Tagaus, tagein die Entartungssymptome registrierend, trachtete sie,
dem heranrückenden Thermidor den bewussten Willen der proletarischen Avantgarde
gegenüberzustellen. Allein, dieser subjektive Faktor erwies sich als
unzureichend.

Die „gigantischen Massen“, die
nach Lenin den Ausgang des Kampfes entscheiden, wurden der inneren Entbehrungen
und des zu langen Wartens auf die Weltrevolution müde. Die Massen verloren den
Mut. Die Bürokratie bekam die Oberhand. Sie schüchterte die proletarische
Avantgarde ein, trat den Marxismus mit Füßen, prostituierte die
bolschewistische Partei. Der Stalinismus siegte. In Gestalt der Linken
Opposition brach der Bolschewismus mit der Sowjetbürokratie und ihrer
Komintern. Das ist der wirkliche Gang der Entwicklung.

Freilich, im formellen Sinne ist
der Stalinismus aus dem Bolschewismus hervorgegangen. Die Moskauer Bürokratie
fährt auch heute noch fort, sich Bolschewistische Partei zu nennen. Sie benutzt
einfach die alte Banderole, um besser die Massen zu betrügen. Um so kläglicher
sind die Theoretiker, die die Schale für den Kern und den Schein für das Wesen
nehmen. Indem sie Stalinismus und Bolschewismus gleichsetzen, leisten sie den
Thermidorianern den besten Dienst und spielen somit eine klare reaktionäre
Rolle.

Bei der Entfernung aller anderen
Parteien vom politischen Schauplatz müssen die entgegengesetzten Interessen und
Tendenzen der verschiedenen Bevölkerungsschichten in dem einen oder anderen
Grade in der herrschenden Partei zum Ausdruck kommen. In dem Maße, wie der politische
Schwerpunkt sich von der proletarischen Avantgarde zur Bürokratie verschob,
wandelte sich die Partei sowohl der sozialen Zusammensetzung wie auch der
Ideologie nach.

Infolge des ungestümen Verlaufs
der Entwicklung erlitt sie in den letzten fünfzehn Jahren eine sehr viel
radikalere Entartung als die Sozialdemokratie während eines halben
Jahrhunderts. Die heutige „Säuberung“ zieht zwischen Bolschewismus und
Stalinismus nicht nur einen blutigen Strich, sondern einen ganzen Strom von
Blut.

Die Ausrottung der gesamten
alten Generation der Bolschewiki, eines erheblichen Teils der mittleren
Generation, die am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und jenes Teils der Jugend,
der die bolschewistischen Traditionen am ernstesten aufnahm, beweist nicht nur
die politische, sondern durch und durch physische Unvereinbarkeit des
Stalinismus und des Bolschewismus. Wie kann man das nicht sehen?

Stalinismus oder „Staatssozialismus“?

Die Anarchisten ihrerseits
wollen im Stalinismus ein organisches Produkt nicht nur des Bolschewismus und
des Marxismus, sondern des „Staatssozialismus“ überhaupt sehen. Sie sind
einverstanden, die patriarchalische, bakuninsche „Föderation der freien
Gemeinden“ durch eine zeitgemäßere „Föderation der freien Räte“ zu ersetzen.
Aber sie sind nach wie vor gegen den zentralisierten Staat.

In der Tat: der eine Zweig des
„staatlichen“ Marxismus, die Sozialdemokratie, wurde, als sie an die Macht kam,
eine offene Agentur des Kapitals. Der andere erzeugte eine neue privilegierte
Kaste. Es ist klar: Die Quelle des Übels liegt im Staate.

Unter einem breiten historischen
Gesichtswinkel kann man in dieser Überlegung ein Korn Wahrheit finden. Der
Staat als Zwangsapparat ist zweifellos eine Quelle politischer und moralischer
Verseuchung. Das gilt, wie die Erfahrung zeigt, auch für den Arbeiterstaat.

Man kann folglich sagen, der
Stalinismus ist das Produkt eines Zustandes der Gesellschaft, wo diese es noch
nicht vermochte, die Zwangsjacke des Staates abzustreifen. Doch diese These,
die zur Beurteilung des Bolschewismus oder des Marxismus nichts liefert,
kennzeichnet nur den allgemeinen Kulturstand der Menschheit und vor allem das
Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie.

Nachdem wir uns mit den
Anarchisten darüber geeinigt haben, dass der Staat, sogar der Arbeiterstaat,
ein Erzeugnis der Klassenbarbarei ist, und dass die wahre menschliche
Geschichte mit der Abschaffung des Staates beginnen wird, erhebt sich vor uns
in all ihrer Macht die Frage: Welche Wege und Methoden sind imstande, letzten
Endes zur Abschaffung .des Staates zu führen? Die jüngste Erfahrung bezeugt, dass
es jedenfalls nicht die Methoden des Anarchismus sind.

Die Führer des spanischen
Arbeiterbundes (CNT), der einzigen bedeutenden anarchistischen Organisation auf
der Erde, wurden in der kritischen Stunde bürgerliche Minister. Ihren offenen
Verrat an der Theorie des Anarchismus erklärten sie mit dem Druck
„außerordentlicher Umstände“.

Aber hatten nicht seinerzeit die
Führer der deutschen Sozialdemokratie dasselbe Argument angeführt? Natürlich,
der Bürgerkrieg ist kein friedlicher, kein gewöhnlicher, sondern ein
„außerordentlicher Umstand“. Doch gerade auf diese „außerordentlichen Umstände“
bereitet sich jede ernsthafte revolutionäre Organisation vor.

Die Erfahrung Spaniens bewies
nochmals, dass man in unter „normalen Umständen“ herausgegebenen Büchern den
Staat „verneinen“ kann, dass aber die Bedingungen der Revolution keinen Raum
für die „Verneinung“ des Staates lassen, sondern im Gegenteil die Eroberung des
Staates verlangen.

Wir gedenken den spanischen
Anarchisten durchaus nicht vorzuwerfen, nicht mit einem Federstrich den Staat
liquidiert zu haben. Die revolutionäre Partei ist, selbst wenn sie die Macht
erobert hat (wozu die spanischen Anarchistenführer trotz des Heldentums der
anarchistischen Arbeiter nicht imstande waren) durchaus noch nicht der
allmächtige Herr der Gesellschaft.

Doch umso unerbittlicher klagen
wir die anarchistische Theorie an, die für friedliche Zeiten ganz tauglich
schien, aber auf die man verzichten muss, sobald die „außerordentlichen
Umstände“ … der Revolution eintreten. In der alten Zeit begegnete man
Generälen – wahrscheinlich begegnet man ihnen heute auch noch – die meinten, am
schädlichsten für die Armee sei der Krieg. Kaum besser sind die
„Revolutionäre“, die da klagen, die Revolution zerstöre ihre Doktrin.

Die Marxisten sind sich mit den
Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen
einig. Der Marxismus bleibt „staatlich“ nur, soweit die Liquidierung des
Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden
kann.

Die Erfahrung des Stalinismus
widerlegt nicht die Lehre des Marxismus, sondern bestätigt sie auf umgekehrte
Weise. Die revolutionäre Doktrin, die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage
richtig zu orientieren und sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich
keine automatische Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser
Doktrin möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt
vorstellen.

Es gilt, die Frage in der
Perspektive einer großen Epoche zu fassen. Der erste Arbeiterstaat auf
niedriger wirtschaftlicher Grundlage und vom Imperialismus umzingelt –
verwandelt sich in die Gendarmerie des Stalinismus. Doch der wirkliche
Bolschewismus erklärte dieser Gendarmerie den Kampf auf Leben und Tod.

Um sich zu halten, ist der
Stalinismus gezwungen, heute geradezu einen Bürgerkrieg gegen den Bolschewismus
unter dem Namen des „Trotzkismus“ zu führen, nicht nur in der UdSSR, sondern
auch in Spanien. Die alte Bolschewistische Partei ist tot, aber der
Bolschewismus erhebt überall seinen Kopf.

Den Stalinismus aus dem
Bolschewismus oder aus dem Marxismus abzuleiten, ist ganz dasselbe, wie, im
breiteren Sinne, die Konterrevolution aus der Revolution abzuleiten. Nach
dieser Schablone bewegte sich stets das liberalkonservative und später das
reformistische Denken. Die Revolution hat, kraft der Klassenstruktur der
Gesellschaft, stets die Konterrevolution erzeugt.

Beweist das nicht, fragt der
Pharisäer, dass die revolutionäre Methode irgendeinen inneren Fehler hat? Weder
die Liberalen noch die Reformisten haben jedoch bisher „ökonomischere“ Methoden
zu entdecken verstanden.

Aber wenn es auch nicht leicht
ist, die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so ist
es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch zu deuten,
logisch den Stalinismus aus dem „Staatssozialismus“, den Faschismus aus dem
Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem Wort, die Antithese aus
der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, ist das
anarchistische Denken der Gefangene des liberalen Rationalismus. Das echte
revolutionäre Denken ist unmöglich ohne Dialektik.

Die politischen „Sünden“ des Bolschewismus als Quelle des Stalinismus

Die Argumentation der
Rationalisten nimmt zuweilen, wenigstens äußerlich, konkreteren Charakter an.
Den Stalinismus leiten sie nicht aus dem Bolschewismus in seiner Gesamtheit,
sondern aus seinen politischen Sünden ab. (Einer der deutlichsten Vertreter
dieses Typus des Denkens ist der französische Autor eines Buches über Stalin,
B. Souvarine.) Von den Tatsachen und Dokumenten her stellen Souvarines Arbeiten
eine lange, gewissenhafte Forschung dar.

Jedoch die Geschichtsphilosophie
des Verfassers überrascht durch ihre Vulgarität. Zwecks Erläuterung allen
folgenden historischen Unheils sucht er nach dem Bolschewismus innewohnenden
Fehlern. Der Einfluss der realen Bedingungen des geschichtlichen Prozesses auf
den Bolschewismus existiert für ihn nicht. (Selbst H. Taine mit seiner Theorie
des „Milieus“ stand Marx näher als Souvarine.) Die Bolschewiki – sagen uns
Gorter, Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“ usw. – vertauschen die
Diktatur des Proletariats gegen die Diktatur der Partei, Stalin vertauschte die
Diktatur der Partei gegen die Diktatur der Bürokratie. Die Bolschewiki
vernichteten alle Parteien außer ihrer eigenen, Stalin erstickte die
bolschewistische Partei im Interesse der bonapartistischen Clique.

Die Bolschewiki anerkannten die
Notwendigkeit, an den alten Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament
teilzunehmen. Stalin befreundete sich mit der Gewerkschaftsbürokratie und mit
der bürgerlichen Demokratie. Derlei Gegenüberstellungen kann man nun anführen,
so viel man will. Trotz ihrer äußerlichen Schlagkraft sind sie vollkommen leer.

Das Proletariat kann nicht
anders an die Macht gelangen als in der Person seiner Avantgarde. Schon die
Notwendigkeit einer Staatsmacht entspringt dem ungenügenden Kulturniveau der
Massen und ihrer Verschiedenartigkeit. In der zur Partei organisierten
revolutionären Avantgarde kristallisiert sich das Freiheitsstreben der Massen.
Ohne Vertrauen der Klasse zur Avantgarde, ohne Unterstützung der Avantgarde
durch die Klasse kann von Machteroberung keine Rede sein. In diesem Sinne sind
die proletarische Revolution und die Diktatur Sache der gesamten Klasse, aber
nicht anders als unter der Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die
organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form
einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei. Das ist durch die
positive Erfahrung der Oktoberrevolution und durch die negative Erfahrung
anderer Länder (Deutschland, Österreich, schließlich Spanien) bewiesen.

Niemand hat praktisch gezeigt
oder auch nur versucht, auf dem Papier zu erklären, wie das Proletariat ohne
politische Führung durch die Partei, die weiß, was sie will, die Macht erobern
könne. Wenn diese Partei die Sowjets politisch ihrer Führung unterwirft, so
ändert diese Tatsache an sich ebenso wenig am Sowjetsystem wie die Herrschaft
der konservativen Mehrheit am System des britischen Parlamentarismus.

Was das Verbot der anderen
Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht der Theorie des
Bolschewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutz der Diktatur in einem
rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von Feinden umgebenen Land. Den
Bolschewiki war von Anfang an klar, dass diese Maßnahme, die später durch das
Verbot von Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei selbst ergänzt wurde,
eine gewaltige Gefahr ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der
Doktrin oder Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in der
Schwierigkeit der inneren und der Weltlage. Hätte die Revolution auch nur in
Deutschland gesiegt, das Erfordernis, die anderen Sowjetparteien zu verbieten,
wäre sofort hinfällig geworden. Dass die Herrschaft einer einzigen Partei
juristisch zum Ausgangspunkt für das stalinistische totalitäre System diente,
ist ganz unbestreitbar. Aber die Ursache dieser Entwicklung liegt nicht im
Verbot der anderen Parteien als einer zeitweiligen Kriegsmaßnahme, sondern in
der Niederlagenreihe des Proletariats in Europa und Asien.

Dasselbe gilt für den Kampf
gegen den Anarchismus. In der heroischen Epoche der Revolution marschierten die
Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm. Der
Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht
möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im
Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatslosigkeit die
Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkriegs, der Blockade
und des Hungers ließen keinen Raum für derartige Pläne.

Der Kronstädter Aufstand? Aber
die revolutionäre Regierung konnte selbstverständlich nicht den aufständischen
Matrosen eine die Hauptstadt beschirmende Festung „schenken“, nur weil der
reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei sich einige fragwürdige Anarchisten
angeschlossen hatten. Die konkrete historische Analyse der Ereignisse lässt
keinen heilen Fleck an den Legenden, die Unwissenheit und Sentimentalität um
Kronstadt, Machno und andere Episoden der Revolution geflochten haben.

Es bleibt nur die Tatsache, dass
die Bolschewiki von Anfang an nicht nur Überzeugung, sondern auch Zwang
anwandten, häufig von der schärfsten Art. Unbestreitbar ist auch, dass die aus
der Revolution erwachsene Bürokratie darin ein Zwangssystem in ihren Händen
monopolisierte. Jede Entwicklungsetappe, selbst wenn es sich um so
katastrophenartige Etappen handelte wie Revolution und Konterrevolution, ergibt
sich aus der vorhergehenden Etappe, wurzelt in ihr und trägt davon gewisse
Züge.

Die Liberalen, einschließlich
des Paares Webb, behaupten stets, die bolschewistische Diktatur stelle nur eine
Neuausgabe des Zarismus dar. Sie verschlossen dabei die Augen vor solchen
Kleinigkeiten wie der Abschaffung der Monarchie und der Stände, der Übergabe
des Bodens an die Bauern, der Enteignung des Kapitals, der Einführung der
Planwirtschaft, der atheistischen Erziehung usw.

Ganz ebenso verschließt das
liberal-anarchistische Denken die Augen davor, dass die bolschewistische
Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnamen eine Umwälzung der sozialen
Verhältnisse im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins
thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer
privilegierten Minderheit geschieht. Es ist klar, dass in den Gleichsetzungen
des Stalinismus mit dem Bolschewismus nicht die Spur eines sozialistischen
Kriteriums enthalten ist.

Fragen der Theorie

Einer der wichtigsten Züge des
Bolschewismus ist sein strenges und anspruchsvolles, ja kämpferisches Verhalten
zu Fragen der Doktrin. Lenins 26 Bände werden auf immerdar ein Muster höchster
theoretischer Gewissenhaftigkeit bleiben. Ohne diese seine Grundeigenschaft
würde der Bolschewismus nie seine historische Rolle erfüllt haben.

Das direkte Gegenteil davon ist
auch in dieser Beziehung der grobe und ungebildete, durch und durch empirische
Stalinismus. Bereits vor mehr als zehn Jahren erklärte die Opposition in ihrer
Plattform: „Seit Lenins Tod wurde eine ganze Reihe neuer Theorien geschaffen,
deren einziger Sinn ist, theoretisch das Abgleiten der Stalingruppe vom Wege
der internationalen proletarischen Revolution zu rechtfertigen.“

Vor einigen Tagen erst schrieb
der amerikanische Sozialist Liston M. Oak, der an der spanischen Revolution
teilgenommen hat: „In Wirklichkeit sind die Stalinisten jetzt die äußersten
Revisionisten Marx und Lenins – Bernstein hat auch nicht halb so weit zu gehen
gewagt wie Stalin in der Revision von Marx.“

Das ist ganz richtig. Man muss
nur hinzufügen, dass Bernstein wirklich theoretische Bedürfnisse hatte: Er
versuchte redlich, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit ihrem
Programm in Einklang zu bringen. Die Stalinbürokratie aber hat nicht nur nichts
mit dem Marxismus gemein, sondern ihr ist überhaupt jegliche Doktrin oder
jegliches System fremd.

Ihre „Ideologie“ ist ganz und
gar von einem Polizeisubjektivismus durchdrungen, ihre Praxis vom Empirismus
der nackten Gewalt. Dem eigentlichen Wesen ihrer Interessen gemäß ist die
Usurpatorenkaste ein Feind der Theorie. Sie kann weder vor sich noch anderen
ihre soziale Rolle verantworten. Stalin revidiert Marx und Lenin nicht mit der
Feder der Theoretiker, sondern mit den Stiefeln der GPU.

Fragen der Moral

Über die „Amoral“ des
Bolschewismus beschweren sich gewöhnlich besonders die hochnäsigen Nullitäten,
denen der Bolschewismus die billigen Masken abgerissen hat. Kleinbürger,
Intellektuelle, demokratische, „sozialistische“, literarische, parlamentarische
und andere Kreise haben ihre konventionelle Werte oder ihre konventionelle
Sprache zwecks Verbergung des Fehlens jeglicher Werte.

Diese breite und buntscheckige Gesellschaft
für gegenseitiges In-Schutz-Nehmen – „leben und leben lassen!“ – verträgt ganz
und gar nicht die Berührung der marxistischen Lanzette auf ihrer empfindlichen
Haut. Die zwischen den verschiedenen Lagern hin- und herpendelnden Theoretiker,
Schriftsteller und Moralisten waren und sind der Meinung, dass die Bolschewiki
absichtlich die Meinungsverschiedenheiten übertreiben, zu loyaler
Zusammenarbeit außerstande sind und durch ihre Intrigen die Einheit der
Arbeiterbewegung stören.

Dem empfindlichen und
übelnehmenden Zentristen schien es vor allem immer, dass die Bolschewiki ihn
„verleumden“ – nur weil sie seine eigenen halben Gedanken bis zu Ende führten:
Er selbst ist dazu ganz unfähig. Indessen ist nur diese kostbare Eigenschaft,
nämlich Unduldsamkeit gegen jede Halbheit und jedes Ausweichen imstande, die
revolutionäre Partei zu erziehen, die sich von keinen „außerordentlichen“
Umständen überrumpeln lässt.

Die Moral einer jeden Partei
entspringt letzten Endes aus den historischen Interessen, die sie vertritt. Die
Moral des Bolschewismus, die Selbstverleugnung, Uneigennutz, Mut, Verachtung
für allen Flitter und Trug – die besten Eigenschaften der menschlichen Natur! –
enthält, entspringt aus der revolutionären Unversöhnlichkeit im Dienste der
Unterdrückten. Die Stalinbürokratie imitiert auch auf diesem Gebiet die Worte
und Gesten des Bolschewismus.

Wo aber „Unversöhnlichkeit“ und
„Unbeugsamkeit“ mit dem Polizeiapparat verwirklicht werden, der im Dienste
einer privilegierten Minderheit steht, dort werden sie zu einer Quelle der
Demoralisierung und des Gangstertums. Nicht anders als mit Verachtung kann man
die Herren behandeln, die den revolutionären Heroismus der Bolschewiki mit dem
bürokratischen Zynismus der Thermidorianer gleichsetzen.

Und auch heute noch zieht es,
trotz der dramatischen Tatsachen der letzten Periode, der Durchschnittsspießer
vor zu meinen, im Kampfe zwischen dem Bolschewismus („Trotzkismus“) und dem
Stalinismus handle es sich um Zusammenstöße persönlicher Ambitionen oder
bestenfalls um den Kampf zweier „Schattierungen“ des Bolschewismus.

Den gröbsten Ausdruck verlieh
dieser Ansicht Norman Thomas, der Führer der amerikanischen Sozialistischen
Partei. „Es gibt wenig Grund, zu glauben“, schreibt er („Socialist
Review“, Sept. 1937, S. 6), „dass wenn Trotzki statt Stalin
gewonnen (!) hätte, es mit den Intrigen, Verschwörungen und dem
Schreckensregime in Russland zu Ende wäre.“ Und dieser Mensch hält sich für
einen Marxisten.

Mit demselben Recht könnte man
sagen: „Es gibt wenig Grund, zu glauben, dass, wenn statt Pius, der XI., Norman,
der I., auf den römischen Stuhl erhoben worden wäre, die katholische Kirche
sich in ein Bollwerk des Sozialismus verwandelt haben würde.“ Thomas begreift
nicht, dass es sich nicht um ein Match zwischen Stalin und Trotzki, sondern um
den Antagonismus zwischen Bürokratie und Proletariat handelt.

Allerdings ist in der UdSSR die
herrschende Schicht auch heute noch gezwungen, sich dem nicht vollkommen
liquidierten Erbe der Revolution anzupassen, dabei gleichzeitig durch direkten
Bürgerkrieg (blutige Säuberungen, Massenausrottungen der Unzufriedenen) einen
Wechsel des sozialen Regimes vorbereitend. Aber in Spanien tritt die
Stalinclique bereits heute offen als Schutzwehr der bürgerlichen Ordnung gegen
den Sozialismus auf. Der Kampf gegen die bonapartistische Bürokratie verwandelt
sich vor unseren Augen in Klassenkampf: zwei Welten, zwei Programme, zweierlei
Moral.

Wenn Thomas glaubt, der Sieg des
sozialistischen Proletariats über die niederträchtige Vergewaltigerkaste werde
das Sowjetregime nicht politisch und moralisch regenerieren, so zeigt er damit
nur, dass er trotz all seinen Vorbehalten, Schweifwedeleien und frommen
Seufzern der Stalinbürokratie viel näher steht als den Arbeitern. Wie alle
anderen, die den Bolschewismus der „Amoral“ zeihen, hat sich Thomas einfach nicht
bis zur revolutionären Moral erhoben.

Die Tradition des Bolschewismus und die Vierte Internationale

Für die „Linken“, die den
Versuch machten, zum Marxismus unter Umgehung des Bolschewismus
„zurückzukehren“, lief die Sache gewöhnlich auf einzelne Allheilmittel hinaus:
Boykott der alten Gewerkschaften, Boykott des Parlaments, Schaffung „echter“
Sowjets. All das konnte im Fieber der ersten Tage nach dem Krieg
außerordentlich tief erscheinen. Aber heute, im Lichte der gemachten Erfahrung,
haben diese Kinderkrankheiten sogar als Kuriosa ihr Interesse verloren.

Die Holländer Gorter und
Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“, die italienischen Bordigisten
erklärten sich unabhängig vom Bolschewismus nur, weil sie einen seiner Züge
künstlich übertrieben seinen anderen Zügen gegenüberstellten. Von diesen
„linken“ Tendenzen blieb nichts übrig, weder praktisch noch theoretisch: ein
indirekter, aber wichtiger Beweis dafür, dass der Bolschewismus für unsere
Epoche die einzige Form des Marxismus ist.

Die bolschewistische Partei
bewies in der Tat eine Paarung höchster revolutionärer Kühnheit mit politischem
Realismus. Sie stellte zum ersten Mal das Verhältnis zwischen Avantgarde und
Klasse her, das allein den Sieg zu sichern vermag. Sie zeigte in der Erfahrung,
dass das Bündnis des Proletariats mit den unterdrückten Massen des ländlichen
und städtischen Kleinbürgertums nur möglich ist durch den politischen Sturz der
traditionellen Parteien des Kleinbürgertums. Die bolschewistische Partei zeigte
der gesamten Welt, wie man einen bewaffneten Aufstand durchführt und die Macht
ergreift.

Die da der Parteidiktatur eine
Abstraktion von Sowjets gegenüberstellen, sollten begreifen, dass die Sowjets
nur dank der Führung der Bolschewiki sich aus dem reformistischen Sumpf auf das
Niveau einer Staatsform des Proletariats erhoben. Die bolschewistische Partei
verwirklichte eine richtige Paarung der Kriegskunst mit marxistischer Politik
im Bürgerkrieg.

Selbst wenn es der
Stalinbürokratie gelänge, die wirtschaftlichen Grundlagen der neuen
Gesellschaft zu zerstören, die unter Führung der bolschewistischen Partei
gemachte Planwirtschaftserfahrung wird für immer in die Geschichte eingehen als
eine der größten Schulen für die gesamte Menschheit. All das können nur
Sektierer nicht sehen, die, gekränkt über die erhaltenen blauen Flecke, dem
historischen Prozess den Rücken kehren.

Doch das ist nicht alles. Die
bolschewistische Partei konnte ein so grandioses „praktisches“ Werk nur deshalb
leisten, weil sie jeden ihrer Schritte mit der Theorie beleuchtete. Der
Bolschewismus hat diese nicht geschaffen. Der Marxismus gab sie. Aber der
Marxismus ist eine Theorie der Bewegung, nicht des Stillstands. Nur Aktionen
grandiosen geschichtlichen Ausmaßes konnten die Theorie selbst bereichern.

Der Bolschewismus lieferte einen
wertvollen Beitrag zum Marxismus durch seine Analyse der imperialistischen
Epoche als einer Epoche von Kriegen und Revolutionen; der bürgerlichen
Demokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus; des Verhältnisses zwischen
Generalstreik und Aufstand; der Rolle der Partei, der Sowjets und der
Gewerkschaften in der Epoche der proletarischen Revolution; durch seine Theorie
des Sowjetstaates, der Übergangswirtschaft, des Faschismus und Bonapartismus in
der Epoche des kapitalistischen Verfalls; schließlich durch die Analyse der
Bedingungen für die Entartung der bolschewistischen Partei und des
Sowjetstaates selber.

Möge man eine andere Stimme
nennen, die den Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen des Bolschewismus
etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte. Vandervelde, de Brouckère, Hilferding,
Otto Bauer, Leon Blum, Zyromski, von Major Attlee und Norman Thomas gar nicht
zu reden, leben theoretisch von den abgestandenen Resten der Vergangenheit. Die
Entartung der Komintern kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass sie
theoretisch auf das Niveau der II. Internationale herabgerutscht ist. Alle Arten
von Zwischengruppen (die Unabhängige Arbeiterpartei Großbritanniens, die POUM
und dergleichen) passen jede Woche neue zufällige Auszüge von Marx und Lenin
ihren jeweiligen Bedürfnissen an. Von diesen Leuten können die Arbeiter nichts
lernen.

Ernstes Verhalten zur Theorie,
zusammen mit der gesamten Tradition Marx’ und Lenins, haben sich nur die
Erbauer der Vierten Internationale zu eigen gemacht. Mögen die Spießer darüber
lächeln, dass zwei Jahrzehnte nach dem Oktobersieg die Revolutionäre wieder auf
die Position bescheidener propagandistischer Vorbereitung zurückgeworfen sind.

Das Großkapital ist in dieser
Frage wie in anderen viel scharfsichtiger als die kleinbürgerlichen Spießer,
die sich für Sozialisten oder Kommunisten ausgeben: Nicht von ungefähr
verschwindet das Thema der Vierten Internationale nicht aus den Spalten der
Weltpresse. Das brennende historische Bedürfnis nach einer revolutionären Führung
verspricht der IV. Internationale ein außergewöhnlich schnelles Wachstumstempo.
Die wichtigste Garantie ihrer künftigen Erfolge ist der Umstand, dass sie nicht
abseits vom großen historischen Weg entstand, sondern organisch aus dem
Bolschewismus erwuchs.




Revolution und Konterrevolution in der DDR, Teil 2: Vom Herbst 89 zur Wiedervereinigung

Bruno Tesch, Neue Internationale 242, November 2019

Im ersten Teil haben wir uns mit Entstehung und Niedergang der DDR beschäftigt. Im zweiten Teil widmen wir uns der Entwicklung bis zur Restauration des Kapitalismus.

Vom Sommer 1989 bis zur Wiedervereinigung
erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die schließlich in
einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer hatte eine nicht mehr zu
bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam es dann zu
Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der repressiven
Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum November
1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und die
Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran zeigte
sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnten selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der Zusammenbruch eines Teils der
Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der DDR
konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Grundfragen

Gerade wenn wir die zentralen Aufgaben der
politischen Revolution in der DDR – die Eroberung der Staatsmacht und
Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar deutlich, dass
diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und sozialen
Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Daher war die Losung einer Vereinigten
Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale Frage vom Beginn
der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret übersetzt werden in
Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen zwischen den
Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in ein
Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem und
politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären
ArbeiterInnenregierung verbunden werden musste. Unsere Vorläuferorganisation,
die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, hat von Beginn an
die Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen.

Die Frage der Wiedervereinigung war von Beginn
an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen der Mobilisierung gegen die
Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing damit zusammen, dass gerade in
den Stellungnahmen des Großteils der kleinbürgerlichen „BürgerInnenbewegung“
die Forderungen im Wesentlichen auf demokratische Reformlosungen beschränkt
waren. Aber diese Ziele mussten auch von RevolutionärInnen in dieser Phase
aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Zugleich zeigte sich von Beginn an auch die
politische Schwäche der BürgerInnenbewegung darin, dass ihr größter Teil die
Krise in der DDR im Wesentlichen als „Demokratiefrage“ betrachtete und
weitgehend blind war gegenüber der Notwendigkeit, gerade auch eine Antwort auf
die tiefer liegende Krise der bürokratischen Planung zu geben.

Gründe für konterrevolutionären Umschwung

Wo die BürgerInnenbewegung und besonders ihr linker
Flügel ökonomische Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft jedoch entweder nur eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“
zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“
entgegen. Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie Vereinigte Linke zu,
die in der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die BürgerInnenbewegung
insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates vertrat. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die der perspektivlosen und konfusen Opposition ein Forum boten, vor
allem aber der noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen um die Tische versammelten
Kräften, die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“ Gremien zu
vertrösten. Die zunehmende Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen
zur Volkskammer trug ebenfalls dazu bei, die politische Energie von der Straße
an die Wahlurnen zu verlagern.

Die BürgerInnenbewegung übergab die Initiative
an die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der
Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  • Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  • Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  • weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats

Dennoch entstanden in der Frühphase der Bewegung
Strömungen wie die Vereinigte Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit
und einen Anhang unter der Intelligenz und Teilen der bewussten
ArbeiterInnenschaft berufen konnte und einige hundert AktivistInnen und
zehntausende AnhängerInnen umfasste. Außerdem kam es zu politischer
Oppositionsbildung in den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige
Gewerkschaften – und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in
der SED.

In diesen politischen Bewegungen nach links hätten
RevolutionärInnen eingreifen müssen und AnhängerInnen für die Bildung einer
wirklich revolutionären Partei finden können. Die Entwicklung wurde noch
dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht nur nicht als bewusstes
politisches Subjekt auftauchte, sondern auch betriebliche und kommunale Formen
proletarischer Selbstorganisation sehr rar blieben.

Revolutionäre Aufgaben 1989

Revolutionäre Agitation und Propaganda musste
sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von räteähnlichen Strukturen
und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen konzentrieren und diese mit der
Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbinden.
Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen ohne den revolutionären Sturz der
SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die Forderung nach Abzug der
sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei, Armee, Betriebskampfgruppen
und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler Punkt war der Kampf gegen
demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des fehlenden
Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik des
Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems mit
Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche Herangehensweise war um so
dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess November/Dezember 1989 seinen
Schwung verloren hatte, die spontane Massenmobilisierung mehr und mehr unter
die Fuchtel offen restaurationistischer Führungen geriet und auch SED, SED-PDS
(später die PDS) unter Krenz, Modrow und Gysi auf den Kurs der kapitalistischen
Wiedervereinigung umschwenkten. Sie willigten ein, im März 1990 bürgerliche
Parlamentswahlen abzuhalten.

Demobilisierung und  Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren in dieser Hinsicht für
alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen Kräfte ein Mittel, sich
dem Druck der ArbeiterInnen zu entziehen. In dieser Phase wurde von der
westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die Frage der kapitalistischen
Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Durch die allgemeine Orientierung auf
Parlamentswahlen war die Massenbewegung damit von der Straße weg vor die
Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es noch die SPD, die nun die
Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten in der DDR auf sich
zog. Aber sie vertrat einen Wiedervereinigungsplan, der weder die
historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung der SPD hatte nichts mit
anti-imperialistischen Überlegungen zu tun, sondern spiegelte ihre soziale
Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie wider, die borniert, aber
nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die Expansion des deutschen
Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den Klassenbrüdern und
-schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterkInnenlasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend. Die SPD
redete einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen ArbeiterInnen hätten begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu Recht von der SPD im
Stich gelassen. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung light nicht
aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch der/die unpolitischste
DDR-ArbeiterIn.

Eine einigermaßen große kämpfende
Propagandagruppe revolutionärer KommunistInnen hätte in dieser Phase zumindest
der Avantgarde eine politische Orientierung geben können. Es existierte aber
kein solcher Kern.

Die Haltung der westdeutschen
ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die Position eines
Teils der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in der
DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten nicht
nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sondern sicherten dem Imperialismus
auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die BRD-Regierung unter Kohl
als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale der Situation nicht nur
begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse der langfristigen
Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative ergriffen. Der „ideelle
Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze Sektoren des deutschen
Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite geschoben und Kurs auf eine
rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen. Wenige Wochen vor der
letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche Imperialismus in die Offensive.
Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner Regierung, gewann die Wahl. Der
eigentliche Sieger hieß Kohl.

Keine einzige größere Partei, die zur Wahl stand
(auch nicht die SED-PDS), hegte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon unter
der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die endgültige
Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der Wirtschafts- und
Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß der staatliche
Nachvollzug dieser Regelung.

Besonders skandalös war das Verhalten des DGB:
Im Herbst 1989 verhielt er sich passiv, stumm und gleichgültig gegenüber den
Klassengeschwistern in der DDR. Kaum aber war die Vereinigung unter
bürgerlich-kapitalistischen Vorzeichen ausgehandelt, vollzog er als Erstes den
‚Vereinigungsprozess‘ durch Übernahme des FDGB (Gewerkschaftsverband der DDR).
Der DGB liquidierte dabei kurzerhand alle bestehenden verbrieften
Errungenschaften der DDR-ArbeiterInnenklasse und kassierte außerdem
klammheimlich gleich noch den letzten Beschluss des FDGB, der ein Vetorecht der
Gewerkschaften gegen arbeiterInnenfeindliche Gesetze forderte. Die
DGB-BürokratInnen betätigten sich also als willfährige Speerspitze des
bundesdeutschen Imperialismus.

Nein zur kapitalistischen Vereinigung!

Zu den letzten Volkskammerwahlen konnten
RevolutionärInnen keine der antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in
einer ganz entscheidenden Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über
die Existenz der Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite
der Barrikaden. Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den
meisten osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte das Schwergewicht der
Intervention revolutionärer KommunistInnen auf folgende Punkte konzentriert
werden müssen: die Verteidigung der existierenden Errungenschaften, den Kampf
gegen den beginnenden Ausverkauf der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares
Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung
enger Verbindung zu den ArbeiterInnen im Westen (besonders in jenen Konzernen
und Banken, die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und
Zuspitzung der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu
OrganisatorInnen von Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und
sowjetische Truppen ausgebaut werden mussten.

Solche Organe hätten gleichzeitig die Grundlage
für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung bilden können, für die
Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die Errichtung einer
proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche Entwicklung hätte die
revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft progressiver Dynamik auf die
Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der Zusammenbruch der alten
Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der Revolution nach Ost- und
Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen ist, lag zweifellos an
ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen Zeitspanne, die für
die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für eine grundlegende
Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt werden hätte
müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine historische Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass seit den frühen 1990er
Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die Errungenschaften im Westen durch
„Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet worden sind. Die
Deindustrialisierung und  der
Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und -bereitschaft des Proletariats
in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen BRD
geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus gestärkt  Die
ArbeiterInnenbewegung in Deutschland steht seit 30 Jahren einem Klassengegner
gegenüber, der sich viel besser aufgestellt hat, als es die Betrachtung der
rein territorialen Ausdehnung wiedergibt.




Revolution und Konterrevolution in der DDR – Teil 1: Entstehung und Niedergang

Bruno Tesch, Neue Internationale 141, Oktober 2019

2019/2020 jährt
sich die Todeskrise der DDR, die schließlich in der Restauration des
Kapitalismus, Wiedervereinigung und Stärkung des deutschen Imperialismus mündete.
In dieser Ausgabe der Neuen Internationale skizzieren wir Entstehung und
Niedergang der DDR, also die Ursachen, die 1989/90 zu Revolution und
Konterrevolution führten.

Nachkriegsordnung

Bereits vor der
Niederwerfung des deutschen Faschismus wurden Pläne zur territorialen
Neuordnung in Mitteleuropa entworfen. Nach dem Sieg der Alliierten traten jedoch
die grundlegenden Gegensätze zwischen den Systemen, der nunmehr von den USA als
zentraler imperialistischen Macht geführten „freien“ Welt einerseits und dem
degenerierten ArbeiterInnenstaat Sowjetunion andererseits, hervor.

Die Absichten
von Teilen der US-Bourgeoisie zur Zerstückelung und der Morgenthau-Plan von
1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden daher recht rasch zugunsten
einer modifizierten imperialistischen Strategie fallengelassen: dem Marshallplan
(European Recovery Program). Danach sollten die von der Roten Armee besetzten
Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der Kreml-Bürokratie
entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So wurden die geopolitisch und
ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands mittels Marshallplan zum
Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus ausgebaut.

Die
stalinistischen Pläne waren von Sicherheitsdenken geleitet: Deutschland sollte
als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich geführtes und
ungeteiltes Land als Pufferstaat gegen den imperialistischen Westen dienen. Dieser
Plan Moskaus wurde aber durch den Aufbau eines westdeutschen Separatstaates
durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine Wahl mehr, die Kreml-Bürokratie
musste nachziehen und auf ihrem Besatzungsgebiet einen ArbeiterInnenstaat als
Schutzzone etablieren.

Somit geriet Deutschland
zum zentralen Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte die Teilung des
Landes auch zu einer Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung unter die Apparate
von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – ein
politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten. Zweifellos hatten
beide ein beachtliches Eigeninteresse daran und an der Säuberung der Bewegung
von allen widerspenstigen Elementen. Zugleich waren sie aber auch verlängerte
Arme der führenden politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle
der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Degenerierter
ArbeiterInnenstaat

Die
stalinistische Sowjetbürokratie ging in der späteren DDR nicht wie teilweise in
Osteuropa über den Umweg der anfänglichen Mitbeteiligung bürgerlicher Parteien
vor. Die Militäradministration der Roten Armee bestimmte direkt die Politik. Sie
schob jeglicher freier Entfaltung der ArbeiterInnenbewegung im Osten einen
Riegel vor. Die eigenständigen Volkskomitees wurden aufgelöst, das Streikrecht
abgeschafft. Als verlängerter Arm dieser Politik diente die bürokratisch
kontrollierte Vereinigung der beiden großen ArbeiterInnenparteien SPD und KPD
zur SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Erst nach dieser
politischen Entmündigung der ArbeiterInnenbewegung war die Bahn frei für die
Gründung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR).

Zwar bestanden deren
ökonomische Grundlagen in der Unterordnung der Binnenwirkungen des
kapitalistischen Wertgesetzes durch die Nichtverfügbarkeit eines freien Arbeitsmarktes,
die Enteignung des kapitalistischen Privatbesitzes an den Produktionsmitteln
und die Vorgabe eines Wirtschaftsplans und eines staatlichen
Außenhandelsmonopols. Doch die DDR-Staatsmaschinerie war und blieb vom Typus
her bürgerlich, ein abgehobener allmächtiger Apparat. In ihm bildete sich eine
wuchernde Schicht heraus, die sich als unterdrückende Kaste über die
ArbeiterInnenklasse erhob. Dieses Gebilde war unreformierbar und stellte, auch
wenn es der Wirkung des Wertgesetzes Grenzen setzte, letztlich ein Hindernis
beim Aufbau zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Es ist kein Wunder, dass
es später keinerlei Widerstand gegen die Restauration des Kapitalismus leistete
– vor allem aber entfremdete es die Lohnabhängigen über Jahrzehnte von „ihrem“
Staat und der Planwirtschaft und verhinderte die Entwicklung aller Ansätze
proletarischer Selbstorganisation und damit auch die Entfaltung des
Klassenbewusstseins.

ArbeiterInnenaufstand
und Mauerbau

Trotz dieser
Einschnürung der Eigenständigkeit der ArbeiterInnenklasse flammte noch einmal
ein Funke auf. Er entzündete sich an der Einführung des Neuen Kurses durch die
DDR-Parteiführung 1953. Dieser brachte den nichtproletarischen Schichten
Erleichterungen und Vorteile, der ArbeiterInnenklasse hingegen eine Erhöhung
der Arbeitsnormen. Dies führte zu einem spontanen Aufstand, der in Berlin
ausbrach und sich auf das Gebiet der gesamten DDR ausbreitete. Neben
Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhungen wurden auch politische,
darunter nach Wiedervereinigung erhoben. Von Teilen der Klasse, z. B. den
StahlarbeiterInnen in Hennigsdorf und Velten, wurden auch Losungen wie jene
nach einer „MetallarbeiterInnenregierung“ erhoben, die das Streben nach
revolutionärem Sturz des Stalinismus zum Ausdruck brachten.

Der Aufstand
konnte mit Hilfe der stationierten Sowjetarmee niedergeschlagen werden. Die Westalliierten
und deutschen Westparteien hatten das Geschehen eher passiv aus der Entfernung
beobachtet oder blockiert, weil sie genau wie die stalinistische Bürokratie
nichts mehr fürchteten als eine unkontrollierte Störung des Status quo und die
Eigentätigkeit der ArbeiterInnenklasse.

Die Normenerhöhung
wurde zwar zurückgenommen, erkauft aber mit einer politischen Friedhofsruhe und
Festigung der Macht der SED-Bürokratie.

Nicht zufällig
fiel gerade das folgende sinnbildhafteste Ereignis der deutschen Teilung, der
Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als die internationalen Beziehungen auf
dem Gefrierpunkt angelangt waren und der Kalte Krieg in einen heißen atomaren (Kubakrise)
umzuschlagen drohte.

1961 markierte
einen Wendepunkt in den innerdeutschen Verhältnissen. Ende der 1950er Jahre
wurde das Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West immer
spürbarer und die DDR drohte an qualifizierten industriellen Arbeitskräften,
die in die BRD abwanderten, auszubluten. Dagegen unternahm die Parteiführung in
bürokratischer Manier eine Grenzschließung des letzten Nadelöhrs, das durch die
Viermächtevereinbarung in Berlin bestand.

Auch ein revolutionärer
ArbeiterInnenstaat hätte die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse
schützen müssen, aber niemals um den Preis, die Bevölkerung in einer
geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung nur in die „sozialistischen
Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die deutsche Spaltung auf Dauer
buchstäblich betoniert zu sein.

Zwar erholte
sich die DDR bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer extensiven
Ausdehnung der Planwirtschaft wie einer noch günstigen Weltkonjunktur, doch in
den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte sich das
stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und besonders in der
BRD dem Antikommunismus auch unter den Lohnabhängigen immens Vorschub
geleistet.

„Normalisierung“
der innerdeutschen Beziehungen

Zugleich wurde
im Westen der Antikommunismus praktisch zur Staatsdoktrin. Nach der Niederlage
der ArbeiterInnenbewegung im Kampf um die Sozialisierung der
Grundstoffindustrien und der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde
auch die KPD im Westen politisch an den Rand gedrängt und schließlich verboten.
Unter der sozialliberalen Regierung vollzog der deutsche Imperialismus jedoch
eine Veränderung seiner Ost-Strategie. Die DDR sollte nicht mehr einfach
dämonisiert, sondern der westliche Einfluss durch Verträge und Handel ausgebaut
werden.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, größeren ökonomischen Bewegungsspielraum in der
DDR.

Die scheinbare
politische Anerkennung war allerdings bald begleitet von einer neuen imperialistischen
Offensivstrategie der „Totrüstung“ der ArbeiterInnenstaaten, die zusätzlich die
Wirtschaft der DDR neben den abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in
Mitleidenschaft zog. So ließ sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als
einvernehmliche Hilfe anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit von
der BRD, da die RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)-Zusammenarbeit des
Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz am Bein wurde.

Aus der
Schuldenfalle und der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung
von Devisen auf Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die
DDR schließlich mit herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus
eigener Kraft befreien, so dass der BRD-Imperialismus die restaurative
Wiedervereinigung über diesen Umweg objektiv vorbereiten half.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen

Die Existenz der
DDR stand und fiel in Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens mit der
Stabilität der Nachkriegsordnung. Zweitens damit, den ArbeiterInnen in der DDR
eine wirtschaftliche und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können.
Die stalinistische Herrschaft konnte sich nicht nur auf Repression stützen,
sondern enthielt ein Element des Kompromisses besonders mit den oberen
Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung.

Die DDR fiel
jedoch trotz Honeckers Wende 1971 zur Konsumgüterproduktion ökonomisch immer
mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse spürte diese
Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der Produktionsmittel, immer
stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den Export bei
gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der Lebensbedingungen,
immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem Westen.

In einem
internen Bilanzpapier des Politbüros der SED hieß es: „Die Zinszahlungen … betragen
1989 voraussichtlich 5 Milliarden Mark. Das ist mehr als der gesamte
Jahreszuwachs des Warenfonds im Jahre 1989. Das hängt mit nicht realisierbaren
Kaufwünschen, besonders nach langlebigen und hochwertigen Konsumgütern zusammen
(Pkw, HiFi-Anlage  u. ä.).“

Daraus ergibt
sich, dass die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System
der bürokratischen Planung schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990
geschichtlich zur Disposition stand. Selbst die Bürokratie hatte die Hoffnung
verloren, dass dieses System durch eine reformierte Variante der SED-Herrschaft
wieder in Schwung zu bringen sei.

1989

Vom Sommer 1989
bis zur Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre
Krise, die schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer
hatte eine nicht mehr zu bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam
es dann zu Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der
repressiven Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum
November 1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und
die Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran
zeigte sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnte selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der
Zusammenbruch eines Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine
politisch-revolutionäre Krise in der DDR konnte nur zu drei Resultaten führen:
bürokratische Konterrevolution, politische Revolution oder soziale
Konterrevolution.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns mit der Entstehung der Bewegung, ihrer ersten, aufsteigenden Phase wie auch ihren inneren Widersprüchen und Schwächen beschäftigen, die es ermöglichten, dass eine halbe politische Revolution in eine ganze Konterrevolution umschlug.




Lesben- und Schwulenbefreiung – 50 Jahre Stonewall- Rebellion

Dave Stockton, Neue Internationale 239, Juli/August 2019

Um 1:30 Uhr am Morgen des 28. Juni 1969 stürmten Polizeikräfte der NYPD
unter der Leitung des Vizeinspektors Seymour Pine das Stonewall Inn in der
Christopher Street in Manhattans Greenwich Village. „Wir übernehmen den Platz!“
Die PolizistInnen befahlen den KundInnen, sich in Reihen aufzustellen und ihre
Personalausweise parat zu halten. Viele wurden verbal misshandelt, einige grob
behandelt und verhaftet. Andere wurden aus der Bar geschleppt und die Bullen
begannen, sie in Autos zu verfrachten.

Die Bar war ein beliebter Treffpunkt für das gesamte Spektrum der
Homosexuellenszene, darunter Männer, Lesben, Trans-Personen und solche, die
sich heute als queer oder nicht-binär identifizieren. Stonewall war ein Ort, an
dem die Menschen tanzen, sich nach Belieben kleiden und küssen konnten, ohne
verspottet, belästigt oder hinausgeschmissen zu werden, wie es in „Hetero“-Bars
der Fall war. Wie andere schwule Treffpunkte wurde sie jedoch wegen dieser
damals rechtswidrigen Aktivitäten unter der Kontrolle der Mafia geführt, deren
Mitglieder sowohl die Kundschaft ausnutzten wie auch beschützten. Dies und die
Tatsache, dass SexarbeiterInnen dorthin „drängten“, lieferten der Polizei
mehrere Vorwände, regelmäßig Razzien durchzuführen, aber auch Bestechungsgeld
einzustreichen.

Doch am 28. Juni ändert sich die Situation. Als Gäste von der Polizei
angegriffen und beleidigt wurden, begannen sie sich zu wehren – zum Erstaunen
der PolizistInnen. Die Menge, die sich in der Christopher Street versammelt
hatte, begann laut zu protestieren, zu spotten und dann die Polizei zu
behindern. Der Auslöser war nach den meisten Berichten der heftige Widerstand
einer Lesbe dagegen, in ein Polizeifahrzeug geschoben zu werden.

Bald flogen Gegenstände und „New Yorks Feinste“ – die Polizei – fand sich
auf einmal zurückgedrängt und im Stonewall Inn belagert durch eine
Menschenmenge, die zu Hunderten ihren Frust entlud. Die Auseinandersetzungen
dauerten drei Nächte lang an, einige sagen, länger.

Nicht nur schwule Männer, sondern auch Lesben, Trans-Frauen und
TransvestitInnen sowie obdachlose junge Menschen, die im Christopher Park
lebten, traten bei den Unruhen an die Spitze. Zwei beteiligte
Trans-Aktivistinnen, die Latina Sylvia Rivera und die schwarze Marsha P.
Johnson, gründeten 1970 eine Organisation namens STAR, die Street Transvestite
Action Revolutionaries (der Begriff „Transgender“ war damals nicht üblich).

Die Auswirkungen von Stonewall

Auch 50 Jahre später steht Stonewall für all jene, die gegen Unterdrückung
aufgrund ihrer Sexualität und Geschlechtsidentität kämpfen, die nicht den
patriarchalen heterosexuellen Normen entsprechen. Wie der Internationale
Frauentag (8. März) und die noch älteren ArbeiterInnenfeiern am 1. Mai ist der
28. Juni in vielen Ländern und zu vielen Zeiten zu einem Tag des Kampfes
geworden trotz der Versuche, ihn durch Staat und sogar Polizei zu integrieren.

In vielen Städten der Welt wie in Istanbul werden Menschen, die versuchen,
Pride Events zu organisieren, bis heute, mit brutaler, manchmal mörderischer
Unterdrückung konfrontiert. Das ist ein guter Grund dafür, dass der Christopher
Street Day in Ländern, die heute demokratische Rechte für LGBTIA-Menschen
zumindest formal garantieren, nicht an die Unternehmen oder die Liberalen,
geschweige denn an die Polizei ausgeliefert werden sollte, nur um zu zeigen,
„wie weit wir gekommen sind“. Das sind wir allein schon jenen schuldig, denen
nach wie vor extreme Repression, Schläge und Mord, Illegalität, Gefängnis oder
gar die Todesstrafe drohen, nur weil sie schwul, lesbisch oder trans sind.

Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, wie die von der
Stonewall-Rebellion inspirierte „Homosexuellenbewegung“ weit über die
respektable Lobbyarbeit und die „Homosexuellengesetzesreformkampagnen“ der
vorhergehenden Jahrzehnte hinausging.

Die 1950er Jahre waren eine besonders schwere Zeit für alle
LGBTIA-Menschen. Der Angriff auf Linke durch den McCarthyismus beinhaltete auch
eine Hexenjagd, die als Lavendelschreck bekannt war. Guy George Gabrielson, der
Vorsitzende des republikanischen Nationalkomitees, behauptete beispielsweise,
dass „sexuell Perverse, die in den letzten Jahren unsere Regierung infiltriert
haben, vielleicht so gefährlich wie die tatsächlichen KommunistInnen“ seien.

„Die Unzucht” in den USA

Menschen konnten entlassen werden, wenn ihre Sexualität oder
Geschlechtsidentität von ihren „ArbeitgeberInnen“ entdeckt wurden. In den
Schulen, in der Armee, in den Kirchen, im öffentlichen und politischen Leben,
ganz zu schweigen von der Familie, war die Enthüllung meist verheerend. Und
jene, die „enttarnt“ wurden, wurden oft misshandelt, auf die „Toilette“
gezwungen, von Angst und psychischer Bedrängnis heimgesucht.

Verschiedene Bundesstaatengesetze verbaten das öffentliche Tanzen mit
gleichgeschlechtlichen PartnerInnen und erzwangen das Tragen von mindestens
drei Teilen „geschlechtsadäquater“ Kleidung. Die Polizei nutzte diese Gesetze,
um diejenigen zu belästigen und einzuschüchtern, die sie überschritten, und
überfiel regelmäßig Clubs, die von Schwulen, Lesben, Transgendern oder
-vestitInnen besucht wurden.

Homosexualität wurde noch bis 1973 von der American Psychiatric Association
als psychische Störung definiert. PsychiaterInnen sahen ihre Aufgabe darin,
Schwule oft mit der schrecklichen Aversionstherapie zu „heilen“. Die Kirchen –
und die USA waren und bleiben ein Land, in dem die Kirchen trotz der
verfassungsmäßigen Trennung vom Staat enormen Einfluss ausüben – , wiesen
ebenfalls die „Unzucht“ als eine der abscheulichsten Sünden zurück.

So dachten viele LGBTIA-Menschen, dass, wie sie sich selbst fühlten, eine
schändliche Perversion und/oder eine Todsünde sei. Viele junge Menschen wurden
von ihren Familien verstoßen oder verließen ihr Zuhause für ein Leben auf der
Straße. Viele begingen Selbstmord. Brutale Prügel („queer bashing“) und Morde
waren nicht nur häufig, sondern wurden auch gerade von der Polizei nicht ernst
genommen (ähnlich wie häusliche Gewalt).

Coming Out

Stonewall inspirierte eine Reihe von öffentlichen Aktionen in den USA und
darüber hinaus. Es fiel auf fruchtbaren Boden wegen der massiven Antikriegs-,
der Black-Power- und Antirassismusbewegung und der Sit-ins und Teach-ins, die
in den Jahren zuvor an Hochschulen abgehalten wurden. Die sexuelle Befreiung
wurde zu einem großen, öffentlichen Thema. Obwohl vieles davon, wie
FeministInnen betonten, auch sexistisch war, öffnete es den Weg für die
Wiedergeburt der radikaleren Ideen der 1970er Jahre. In den USA führte
Stonewall zur Gründung der Gay Liberation Front (GLF) und zum Erscheinen der
Zeitung „Come Out“.

Die GLF nahm rasch radikale Positionen ein, die ihre Solidarität mit der
Black Panther Party und Kämpfen gegen den Vietnamkrieg zum Ausdruck brachten.
Und die „Panthers“, die damals mit mörderischer Unterdrückung durch den
US-Bundesstaat konfrontiert waren, antworteten positiv.

Schwulenbefreiung bedeutete notwendigerweise Befreiung von
Selbstunterdrückung, vom Leben auf Klosetts. Die von der GLF vorgeschlagenen
Mittel waren, dass immer mehr Schwule ihr „Coming out“ (Selbsterklärung)
vollziehen sollten, damit Homophobie herausgefordert und überwunden wird. Diese
Strategie beruhte auf dem Mut des Einzelnen – natürlich unterstützt von lokalen
Gruppen.

Carl Wittmans „Ein schwules Manifest“, das kurz vor Stonewall geschrieben,
aber erst im Januar 1970 veröffentlicht wurde, verurteilte den männlichen
Chauvinismus und die Familie als Unterdrückung sowohl für Frauen wie für
schwule Männer. Das Manifest erklärte, dass Frauen, die für ihre Befreiung
kämpfen, „unsere engsten Verbündeten sind“ und schlug die Notwendigkeit eines
lesbischen Caucus (Recht auf gesonderte Treffen nur für Lesben) vor. In Bezug
auf das Verhältnis der Bewegung zur ArbeiterInnenklasse war es vorsichtiger,
aber nicht feindselig.

Tatsächlich war Wittman ein Linker, aber seine Vorsicht muss im Kontext
einer Zeit betrachtet werden, in der ArbeiterInnenparteien reaktionäre
Positionen zu Homosexualität und nicht-konformen Geschlechteridentitäten
eingenommen hatten – und zwar nicht nur die sozialdemokratischen Parteien,
sondern vor allem auch die stalinistischen Staaten, die Homosexualität unter
Strafe stellten und als „westliche Perversion“ betrachteten.

Veränderung

Die neuen militanten Bewegungen dehnten sich auf viele Länder aus und
halfen, die Aufhebung einer Reihe von brutal repressiven und diskriminierenden
Gesetzen zu erzwingen.

Sie waren radikal, verbanden die Kritik an der bürgerlichen Familie mit der
an reaktionären Geschlechternormen und Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
Sie versuchten bewusst, sich mit der zweiten Welle des Feminismus, der
antirassistischen Bewegung zur Befreiung der Schwarzen und der
antiimperialistischen Opposition gegen imperialistische Kriege zu vereinen oder
in sie zu integrieren.

In vielen Ländern konnten wichtige Verbesserungen und wenigstes rechtliche
Gleichstellung durchgesetzt werden. Aber einige VeteranInnen der Bewegung haben
die Gelegenheit des 50. Jahrestages genutzt, um die Aufmerksamkeit auf einige
der Schattenseiten zu lenken.

Der langjährige Aktivist und Historiker Martin Duberman (Autor von
„Stonewall“, Penguin Books, 1. Auflage, 1993) veröffentlichte 2018 das Buch:
„Has the Gay Movement Failed?“.

Er kritisiert „die jüngste assimilatorische Agenda der Bewegung – Eherecht
und Erlaubnis, offen in der Armee zu dienen…“ und stellt sie in Gegensatz zur
„…- weitaus umfassenderen Agenda, die die Front der Homosexuellenbefreiung zu
ihrer Gründerzeit unmittelbar nach den Stonewall-Aufständen nach diesen Unruhen
charakterisiert hatte. GLF hatte zu einem harten, umfassenden Angriff auf
sexuelle und geschlechtsspezifische Normen, auf imperialistische Kriege und
kapitalistische Gier und auf die schändliche Misshandlung von rassischen und
ethnischen Minderheiten aufgerufen.“

Und es hat dazu geführt, dass die großen – ja utopischen – Perspektiven der
GLF von 1970-1973 für reformistische und liberale Ziele aufgegeben wurden, die
sich auf die Forderung nach Integration in die Gesellschaft und ihre
Institutionen konzentrieren, die einst angeprangert wurden.

Dasselbe gilt natürlich für viele der radikalen Bewegungen der 1960er und
1970er Jahre. Eine erste revolutionäre und utopische Phase wich schließlich
einem Prozess der Zersplitterung und Fragmentierung, der zu sehr
reformistischen und bürgerlichen Zielen führt.

Wie der Feminismus der zweiten Welle konzentrierte sich die Befreiung der
Homosexuellen stark auf die Bekämpfung der Auswirkungen der Unterdrückung für
die Einzelnen. „Bewusstseinsbildung“, „Outen“, „Schaffen von Subkulturen“,
„gemeinsame Lebensweisen“ usw. – obwohl notwendig und gerechtfertigt – wurden
den sozialen und Klassenkämpfen dieser Zeit entgegengesetzt. In Großbritannien
wurde dies vorübergehend und inspirierend durch die Unterstützung des
Bergarbeiterstreiks durch Lesben und Schwule überwunden. Damit wurde ein echter
Durchbruch für die britischen Gewerkschaften und ihre Mitglieder sowie für die
Labour Party erzielt.

Fazit

MarxistInnen sollten sich positiv und kritisch auf diese frühe Periode der
Schwulen- und Frauenbefreiungsbewegung Anfang der 1970er Jahre beziehen.
Tatsächlich half diese Bewegung den MarxistInnen, den umfassenden radikalen
Implus eines Marxismus wieder zu entdecken, der von Sozialdemokratie und
Stalinismus bürokratisch erstickt und mit einer im Kern kleinbürgerlichen
Zukunftsvision mit „proletarischer“, heteronormativer Familie verkommen war.

Sie hätte jedoch auch an der Erkenntnis des Marxismus anknüpfen müssen,
dass reaktionäre Geschlechterrollen sexuelle Unterdrückung auf einer
patriarchalischen Familie beruhten, die Frauen stark auf Kindererziehung und
Hausarbeit beschränkt. Es ist die Verteidigung dieser Arbeitsteilung, die auch
für frühere Formen der Klassengesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist, im
Kapitalismus, die ideologische Kontrolle und im buchstäblichen Sinn Überwachung
der binären Geschlechterrollen und die Verfolgung derjenigen, die sie
überschreiten, erfordert.

Aber um dieses System auszumerzen, bedarf es der radikalen Beseitigung
kapitalistischer Ausbeutung und dann der Aufhebung der privaten Familieneinheit
und ihres Haushalts. Die grundlegende Akteurin, die für eine solche
Transformation notwendig ist, ist die ArbeiterInnenklasse – männliche und
weibliche – Schwule und Hetero- sowie Menschen aller Geschlechtsidentitäten.

Natürlich spielen diejenigen, die die Last der Unterdrückung tragen, eine
zentrale Rolle bei ihrer Bekämpfung. Aber sie können dies nicht allein oder
isoliert tun. Sie brauchen die soziale Kraft der ArbeiterInnenklasse, der
Mehrheit. Aber diese wiederum kann sich nur dann für diese Aufgabe wappnen,
wenn sie sich als Verfechterin aller Menschen erweist, die unter diesen
Unterdrückungen leiden.




Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen
Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die
Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja
sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen
Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der
SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die
FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die
neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen
Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem,
was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die
EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen.
Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das
wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren
Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit
markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch
eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen
Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und
sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne
Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die
Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf
viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische
Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale
Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf
massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen
und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung
abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch
wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch
deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter
diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die
herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische,
geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind
bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche
Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen
haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren
oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten
intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie
konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische
Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und
Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen
Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist,
deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA
und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die
insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik
die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt.
Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere
Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften
abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der
Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten
eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren
Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue
globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen
hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU
ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als
ebenbürtig  gegenüber den USA,
China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies
zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen
untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine
Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie
nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen
konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu
Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige
EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem
ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive
„America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen
zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und
internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der
herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem
potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten
gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen
Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen
und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road)
geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die
Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind
zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten
kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse
zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des
Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des
KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren
Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch
eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von
EU-feindlichen, rechtspopulistischen und 
rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die
versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald
kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise
irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das
ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die
Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.




100 Jahre Münchner Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 236, April 2019

Am 7. November 1918 wurde der König
davongejagt. Spontan entstand ein ArbeiterInnen-, Soldaten- und
Bauern-/Bäuerinnenrat. Bayern wurde zum „Volksstaat“ erklärt. Die provisorische
Regierung bestand aus 3 unabhängig-, 4 mehrheits-sozialdemokratischen und einem
parteilosen Minister. Ministerpräsident war Kurt Eisner (USPD). Sie stützte
sich auf einen provisorischen Nationalrat, in dem die Räte neben den alten
Landtagsfraktionen und diversen Berufsorganisationen vertreten waren.

Die USPD verfolgte auch in München ihre
bekannte Linie, die Räte in die zukünftige Verfassung zu inkorporieren. Die
Anordnung „Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte“ vom 17.12.1918 gestand
den Räten ausdrücklich keine Vollzugs- oder Kontrollgewalt zu. Im Gegenteil,
sie verfügte noch die Trennung der ArbeiterInnen- von den Soldatenräten,
unterstellte die Bauern-/Bäuerinnenräte dem Innenministerium und wies den
ArbeiterInnenräten untergeordnete Amtspflichten als Hilfsorgane der Bürokratie
zu. Justiz, Polizei und Beamtenapparat blieben intakt.

Die MehrheitssozialdemokratInnen hatten mit
Unterstützung aller GegenrevolutionärInnen die Landtagswahlen am 12. Januar
1919 durchgesetzt und die zentristische Verzögerungstaktik Eisners durchkreuzt.
Die USPD verlor dabei enorm. Die MSPD wurde zweitstärkste Partei. Die KPD
beteiligte sich nicht.

Der Zusammentritt des Landtags verzögerte
sich angesichts der ungeklärten Lage, solange die Machtfrage noch nicht
entschieden war. In Bayern war die nicht demobilisierte Reichswehr immer noch
die bewaffnete Macht. Versuche der Bildung von Bürgerwehren hatten die
A&S-Räte verhindert. Nur die Republikanische Soldatenwehr in München unter
Aschenbrenner hatte sich für die Zwecke der alten Ordnungsparteien als
zuverlässig genug erwiesen.

Die Ermordung Eisners

Der populärste Mann Bayerns wurde am
21.2.1919 erschossen, als der Landtag zusammentreten sollte. Der Attentäter
Graf Arco-Valley war Reaktionär und mit Innenminister Erhard Auer (MSPD)
befreundet. Der Zorn der Massen schlug die Abgeordneten in die Flucht. In
mehreren Städten traten die ArbeiterInnen in den Generalstreik. Der durch
VertreterInnen der SPD und Gewerkschaften neu konstituierte Zentralrat übernahm
die Regierungsgeschäfte. Levien (KPD) u. a. schieden daraufhin aus ihm aus. Der
ZR kam zu einer „Grundlage der Einigung“: die Räte sollten verfassungsmäßig
verankert werden, ein sozialistisches Ministerium entstehen, das bis zur neuen
Verfassung gemeinsam mit einem/r vom Bauern-/Bäuerinnenbund zu stellenden
LandwirtschaftsministerIn regieren sollte. Je 1 Mitglied der 3 Rätesparten
sollte beratendes Stimmrecht im Ministerrat genießen, das stehende Heer durch
eine republikanische Schutzwehr ersetzt werden. Die „Verfassungsmäßigkeit der
Räte“ – abhängig von der Zustimmung durch die große Mehrheit der
GegenrevolutionärInnen im Landtag – war der Köder für die Massen.

Der Rätekongress

Er tagte vom 25.2. bis zum 8.3.1919. Neben
endlosen Debatten versuchten sich SPD und USPD auf einen Weg aus dem Schwebezustand
heraus zu einigen, in dem der Rumpf der alten Regierung neben dem ZR regierte
(Nürnberger Kompromiss). Der Landtag wählte am 17. März eine neue Regierung
unter Hoffmann (MSPD). Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und
Rückendeckung durch die ZR-Mehrheit hing sie weiter in der Luft. Die
bürgerlichen Parteien duldeten sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus.

Die SPD wollte zunächst eine offene
Koalition mit den Bürgerlichen vermeiden, um die Massen nicht an Unabhängige
und KommunistInnen zu verlieren. Außer Versprechen über „Vorbereitungen zur
Sozialisierung“ hatte Hoffmanns Ministerium aber nichts anzubieten.

Die Riesenstreiks im Ruhrgebiet, in
Mannheim, Stuttgart, die drohenden Ausstände in anderen Gebieten, die Ausrufung
der ungarischen Räterepublik, militärische Erfolge der sowjetischen Roten Armee
wirkten sich auch in Bayern aus. Die Sympathie mit den KommunistInnen, an deren
Spitze der Anfang März nach München entsandte Leviné stand, nahm zu, wenn auch
die Partei nicht in gleichem Tempo ausgebaut werden konnte.

Die Scheinräterepublik

Am 3.4. forderte eine Versammlung der MSPD
(!) in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik. Der „linke“ Sozialdemokrat und
ZR-Vorsitzende Niekisch fuhr mit dieser Forderung ins Münchner
Kriegsministerium. Einige Minister waren sich bereits mit den Führungen der
MSPD, USPD und den AnarchistInnen einig. SPD, USPD und KPD sollten paritätisch
die MinisterInnen stellen, die Regierung Hoffmann werde sich damit abfinden.
Die KommunistInnen schlossen prinzipiell die Zusammenarbeit mit der MSPD in
einer Regierung aus, aber auch eine am grünen Tisch künstlich geschaffene
Räterepublik ohne Massenaktion. Die Verhältnisse in Deutschland und
insbesondere Bayern seien dafür nicht reif. Sie wurden als VerräterInnen am
Proletariat denunziert. Um vorher noch Nordbayern zu gewinnen, sollte die
Proklamation der Räteherrschaft auf den 7.4. verschoben werden. Die Regierung
Hoffmann verzog sich nach Bamberg, nahm ihr wichtigstes Instrument – die
Notenpresse – mit. Ihr Kriegsminister Schneppenhorst, der in Nordbayern für die
Räterepublik trommeln wollte, fuhr nach Nürnberg und kam später mit den
Nosketruppen zurück.

Der Erklärung der KPD lag folgende
Einschätzung zugrunde: für AnarchistInnen, Unabhängige und
MehrheitssozialistInnen verkörperte die Räterepublik nicht etwas grundsätzlich
Neues, eine Revolution der Gesellschaft, sondern einen rein formellen
Regierungswechsel. Die Ministerriege würde in einer bürgerlichen Republik, die
mit etwas „Räteöl“ in Form der „Mitbestimmung“ durch einzelne RäteministerInnen
gesalbt war, weiter wie bisher verfahren können.

AnarchistInnen und USPD hofften auf ein
„sozialistisches Ministerium“, das unabhängig vom Landtag würde arbeiten
können. Schneppenhorsts Verhalten bewies, dass es sich für ihn bei der Unterstützung
für die Proklamation der Räterepublik um einen Trick handelte, eine
Provokation, um alle konterrevolutionären Kräfte aufzurütteln, weiße Garden zu
bilden.

Die „Münchner Rote Fahne“ nannte die
Scheinrepublik ein „Werk abhängiger und unabhängiger Kompromissler und
phantastischer Anarchisten“. Der alte Beamten-, Polizei- und Justizapparat
blieb unbehelligt, „sozialisiert“ wurden Universität und Presse (!), letztere
aber nicht mal zensiert. Die Bankkonten der Reichen wurden erst gesperrt, als
die Frage der Lohnauszahlung drängte. Auch bei der Bewaffnung der
Arbeiterschaft wurde gestümpert; 600 Gewehre waren die ganze „bewaffnete
Staatsmacht“. Das Bürgertum wurde nicht entmachtet. Die Räteregierung wurde nur
in Oberbayern anerkannt. Die KPD erklärte trotzdem ihren festen Willen, selbst
die Scheinräterepublik gegen die Reaktion zu verteidigen.

 Die 2. Räterepublik – eine echte ArbeiterInnenregierung

Am Sonntag, dem 13. April, verhaftete die
Republikanische Schutzwehr einige Minister, besetzte öffentliche Gebäude und
überfiel eine Sektionsversammlung der KPD. Diese rief zu den Waffen. Am Abend
war der gegenrevolutionäre Putschversuch gescheitert. Betriebs- und
Kasernenräte tagten. Ein 15-köpfiger Aktionsausschuss aus SozialdemokratInnen,
Unabhängigen und KommunistInnen löste den ZR der Scheinräteregierung ab.

Die KommunistInnen beherrschten den
Ausschuss allerdings durch ihre revolutionäre Erfahrung, ihr klares Programm
für die Machtübernahme. Nicht dass sie die Aussichten für die
Überlebensfähigkeit der Rätemacht jetzt günstiger einschätzten, entschied ihren
Eintritt in die 2. Räteregierung. Die revolutionären ArbeiterInnen – gerade
erst siegreich – würden aber gegen den anmarschierenden Feind so oder so
kämpfen müssen. Wenn die KPD sich an ihre Spitze stellte, dann minimierte das
die demoralisierenden Auswirkungen einer Niederlage.

Die bewaffnete Macht ging von der regulären
auf die Rote Armee unter Kommando des Matrosen Rudolf Eglhofer über. Die
Ordnungsgewalt übten Rote Garden aus, nachdem die bürgerliche Polizei
entwaffnet wurde. Die Stadtverwaltung wurde den Betriebsräten übertragen, die
Räteregierung durch Neuwahlen der A&S-Räte bestätigt. Die bürgerliche
Justiz wurde durch ein Revolutionstribunal ersetzt. Zur Sicherung der Ernährung
wurden Beschlagnahmeaktionen durchgeführt, jede Kontenabhebung wurde
kontrolliert. Während des Generalstreiks erschienen nur die „Mitteilungen des
Vollzugsrats“, nachher die Organe der ArbeiterInnenpresse. Die bürgerliche
Presse blieb verboten. Telefon und Telegraph wurden ständig überwacht. Die
Betriebe begannen mit der Sozialisierung von unten. Auch militärisch gab es
Erfolge zu verzeichnen.

Doch die inneren Streitigkeiten mit der
USPD wuchsen. Toller, Klingelhöfer und Maenner sprachen sich vor den
Betriebsräten am 26. April gegen die KommunistInnen und für eine Kapitulation
vor der Hoffmann-Regierung aus. KPD und Rote Armee trotzten der Absetzung der
KommunistInnen durch die eingeschüchterten Räte und kämpften bis zum 3. Mai.
Dann hatten die KonterrevolutionärInnen endgültig München erobert.

KPD-Politik

Wesentliche Elemente des Bolschewismus
schlugen sich in der Politik der jungen Organisation im Unterschied z. B. zur
wesentlich stärker verankerten Bremer KPD nieder. Kritik an reformistischen,
anarchistischen, populistischen und zentristischen Konzeptionen und deren
führenden VerfechterInnen paarte sich mit flexibler Einheitsfronttaktik
(Verteidigung der 1. „Räterepublik“). Es wurde betont, dass sich die KPD nur an
einer echten ArbeiterInnenregierung beteiligen würde wie an der der 2.
Räterepublik vom 14.-27. April 2019.

Ihr gelang lediglich unter dem Druck der
Ereignisse und der Zeit nicht mehr der entscheidende nächste Schritt zu ihrem
Ziel: Etablierung einer Münchner Kommune – die Auflösung der Reste der
Reichswehr im Stadtgebiet. Sie widersetzte sich auch ihrer Abwahl durch die
Räte am 27. April und stellte die Führung der militärischen Operationen gegen
die Weißen. Die bayrische KPD hat damit mehr Weitblick und Mut, mehr
Verantwortungsbewusstsein vor der Revolution bewiesen als die ZweiflerInnen an
der Richtigkeit des Eintritts in die 2. Räteregierung in der KPD-Zentrale.

Eugen Leviné stellte nach seiner Ankunft in
München deren Politik zunächst sicher, damit die örtliche KPD keine
Abenteuerpolitik wie beim sog. Spartakusaufstand oder der Ausrufung der Bremer
Räterepublik betrieb. Andererseits schloss die lokale Organisation ebenso
richtig die Beteiligung an einer unechten, bürgerlichen ArbeiterInnenregierung
aus, wie sie die Bremer Räterepublik verkörperte.

Schwächen

Ihre Schwächen blieben wie im übrigen
Reich: unklare bzw. unzureichende Wahlberechtigungskriterien für die Räte
(Benachteiligung von Frauen, keine Beschränkung des Wahlrecht in den
Soldatenräten auf die proletarischen Mannschaftsdienstgrade), Unverständnis von
revolutionärem Parlamentarismus (Ausnutzen der Parlamentstribüne, keine
Forderung nach einer Konstituante). In der verfassunggebenden Versammlung hätte
die KPD ein Programm für die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates
einbringen und an einen der wenigen positiven Beschlüsse des 1.
Reichsrätekongresses anknüpfen müssen, die sog. Hamburger Punkte
(disziplinarische und Kommandogewalt in der Armee bei den Räten, Wahl der
Kommandeure etc.).

Diese Schritte zur Abschaffung des
stehenden Heeres, zu einer echten Volksbewaffnung hätten nur unter einem
Räteregime, nach Aufbau und Sieg roter Arbeiterinnenmilizen eingeleitet werden
können. Die Verknüpfung der Demokratiefrage mit den Hamburger Punkten hätte ein
einigendes Band zwischen AnhängerInnen einer Rätediktatur und SPD- wie
USPD-Mitgliedern, aber auch weitverbreitetem kleinbürgerlichen Antimilitarismus
schmieden und damit den möglichen Wendepunkt in Richtung Revolution in
Permanenz in ganz Deutschland darstellen können.




100 Jahre Bremer Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 235, Februar 2019

Jede Revolution
kennt Situationen des Voranstürmens der kämpferischsten Elemente, der
Avantgarde der ArbeiterInnenklasse. Die revolutionäre Ungeduld bildet eine
Triebkraft dieser Entwicklungen, eine andere das Kalkül der Konterrevolution,
diese Schichten in einen vorschnellen „Entscheidungskampf“ zu drängen, um sie
isoliert leichter schlagen zu können. Der sog. Spartakusaufstand und die
Münchner Räterepublik sind wohl die bekanntesten Phänomene dieser Art in der
deutschen Revolution. Ihren Niederlagen folgten blutige Repression, Tod und
Mord und die Konsolidierung der Konterrevolution.

Während
„Spartakusaufstand“ und Münchner Räterepublik, die Ermordung von KommunistInnen
wie Luxemburg, Liebknecht, Leviné weithin bekannt sind, fristet die Bremer
Räterepublik eher ein Schattendasein.

Sonderentwicklung

Es macht daher
Sinn, sich vorweg die Sonderentwicklung der Bremer ArbeiterInnenbewegung vor
Augen zu halten, die schon während des Krieges einen vergleichsweise starken
und bewussten revolutionären Flügel in Form der „Bremer Linksradikalen“
hervorbrachte.

Während des
Krieges entwickelte sich das Kräfteverhältnis zwischen den Flügeln im
Sozialdemokratischen Verein Bremen (SPD) anders als im übrigen Deutschland.
Bereits im Januar 1915 wurde ein Diskussionskreis vornehmlich oppositioneller
FunktionärInnen gegründet – der „Indianerclub“. Schon 1916 wurden etliche
Parteirechte aus ihren Ämtern abgewählt. Sie schufen daraufhin die Zeitung
„Bremer Correspondenz“ (Januar-Dezember 1916), während die Linksradikalen ihre
Wochenschrift „Arbeiterpolitik“ auflegten (24.6.1916-Frühjahr 1919). Am
1.12.1916 beschloss die linke Mehrheit eine Beitragssperre gegenüber dem
Reichsparteivorstand. Dieser schloss daraufhin die Bremer Organisation aus. Die
lokale Parteirechte gründete im Dezember 1916 eine Sonderorganisation,
Vorläuferin der späteren MSPD, der (Reichs-)Mehrheitssozialdemokratie. Der
Reichsparteivorstand übergab ihr das lokale Parteiorgan „Bremer Bürgerzeitung“
(BBZ).

Im Mai gründete
Alfred Henke die Bremer Organisation der Unabhängigen (USPD), die damit aus der
mit den Linken gemeinsamen Partei ausscherten. Diese gründeten sich am
23.11.1918 als „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD) neu, gaben ab
27.11.1918 die Tageszeitung „Der Kommunist“ heraus und schlossen sich der KPD
an.

In Zimmerwald
und Kienthal standen die Bremer Linksradikalen aufseiten der Bolschewiki.
Vergleichbar den Revolutionären Obleuten im Reich und im Unterschied zum
Spartakusbund verfügten sie durch ein gut ausgebautes Vertrauensleutesystem
über entscheidenden Einfluss auf die 10.000 ArbeiterInnen der Weserwerft, dem
bedeutendsten Industriebetrieb der Stadt.

Der Kampf um
Bremen: Räte
konstituieren sich

Nach
Massenversammlungen am 4. und 5. 11. brach am 6.11. der revolutionäre Sturm
los. Der am Morgen gewählte ArbeiterInnenrat (AR) der Weserwerft befreite
Militärgefangene aus dem Gefängnis in Oslebshausen, Matrosenmeuterer
entwaffneten auf dem Bahnhof die Begleitmannschaft. Am Abend kündigte der USDP-Linke
Frasunkiewicz die Bildung eines ArbeiterInnen- und Soldatenrats (AuSR) an. Am
9.11. mussten die Offiziere auf Druck der WerftarbeiterInnen den Soldatenrat
(SR) räumen. Der Senat (die bürgerliche Stadtregierung) bewilligte gleiches
Wahlrecht zum Parlament, gegen das er noch am 6.11. sein Veto eingelegt hatte.
Dieses verspätete Zugeständnis rettete ihn aber nicht, er wurde am 14.11.
abgesetzt.

Am 24.11.
stimmte der AuSR zwar gegen die proletarische Diktatur, aber für die Bewaffnung
der IndustriearbeiterInnenschaft und die Verwandlung der BBZ in sein eigenes
Presseorgan. Doch der letzte Beschluss wurde nicht umgesetzt, da die MSPD mit
Auszug drohte. Mit Unterstützung durch den Soldatenrat übernahm schließlich am
21.12. die USPD die BBZ und bootete so auch die KPD aus.

Die Banken
bereiteten dem Rat Kreditschwierigkeiten. Am 9.12. lehnte er zwar einen Antrag
auf volle Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft (Stadtparlament) ab, eine
Antwort auf die Erpressung durch die Banken hatte er aber nicht.

Das am 11.12.
eingezogene Reserve-Infanterie-Regiment 213 versuchte der offen
konterrevolutionäre Bürgerausschuss auf seine Seite zu ziehen. Doch dem SR
gelang dessen Demobilisierung. Am 30.12. gelangte das 75. Infanterie-Regiment
(ca. 600 Mann) vor der Stadt an und erhob konterrevolutionäre Forderungen,
konnte jedoch von aufständischen ArbeiterInnen und Matrosen entwaffnet werden.

Am 6.1.1919
fanden die AR-Wahlen statt, die die MSPD mit 113 Mandaten gewinnen konnte
(USPD: 64, KPD: 62). Die Beschränkung des Wahlrechts auf die in den 3 Parteien
organisierten Mitglieder, statt es auf alle proletarischen Schichten und ihre
wahlmündigen Angehörigen zu erweitern, war ein rechter USPD-Einfall und ein
schwerer Fehler, den auch die KPD mitzuverantworten hatte. Ursprünglich
gedacht, um Manipulationen der passiven Schichten der Lohnabhängigen durch die
Sozialdemokratie zu verhindern, vermochte die MSPD das Wahlverfahren für sich
zu nutzen, indem es die Partei für alle und jeden öffnete.

Das
Rätewahlrecht führte nicht nur zum massenhaften Zustrom in die Parteien,
darunter auch unzuverlässiger Elemente in die KPD. Vor allem schloss es
andererseits die unorganisierte Masse der ProletarierInnen von revolutionären
Entscheidungen aus, statt sie aktiv einzubeziehen. Der bestmöglichen
Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins unter breitesten Schichten wurde
somit ein Bärendienst erwiesen!

Die Räterepublik

Am 10.1. endete
eine riesige, teils bewaffnete, von der KPD organisierte Demonstration vor dem
Rathaus. Ihre Forderungen lauteten: „Nieder mit Ebert-Scheidemann und hinaus
mit ihren Wortführern aus dem Arbeiter- und Soldatenrat in Bremen! Restlose
Abdankung des Senats! Einsetzung von Volkskommissariaten! Ausscheiden aller
bürgerlichen und rechtssozialistischen Elemente aus dem Soldatenrat!“
(Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Frankfurt/Main 1970, Verlag
Neue Kritik, S. 339) Der AuSR stimmte ohne die ausscheidenden MSPDlerInnen den
Forderungen zu und wählte einen „Rat der Volkskommissare“ aus je 3 Vertretern von
KPD und USPD. Zur Ergänzung der Räteexekutive wurde ein Vollzugsrat aus 9 USPD-
und 6 KPD-Mitgliedern eingesetzt. Bremen wurde zur selbstständigen
sozialistischen Republik ausgerufen, die Entwaffnung aller bürgerlichen
Elemente binnen 24 Stunden angeordnet, die bürgerliche Presse unter Vorzensur
gestellt, das Standrecht verhängt. Der auf dem Sterbelager liegende führende
Kopf der Bremer KPD, Johann Knief, trat gegen eine Überschätzung der Berliner
Ereignisse auf und warnte vor einer lokalen, verfrühten Machtergreifung! Zu
Recht, wie sich zeigen sollte.

Die
Gegenrevolution

Kreditsperre mit
der Forderung nach Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft, Demonstrationen
gegen die Aufhebung des Religionsunterrichts und andere Schulreformen, Drohung
mit Streik durch ÄrztInnen und BeamtInnen bewiesen: die gegenrevolutionären
Bestrebungen im Bürgertum bekamen Oberwasser. Das Volkskommissariat wich
zurück. Es hob die Vorzensur und den Belagerungszustand auf. Die Wahlen zur
Nationalversammlung gingen am 19.1. unbehelligt über die Bühne. Am 21.1.
beschloss der AuSR, Wahlen für eine bremische, bürgerlich-parlamentarische
Volksvertretung am 9.3. auszuschreiben. Die KommunistInnen gaben die Abstimmung
angesichts der Unstimmigkeiten in ihrer Fraktion frei. Am 21.1. hatte die
Partei zum lokalen Generalstreik gegen die Finanzmanöver aufgerufen, der jedoch
ins Leere gehen musste, nachdem der Rat die Staatsmacht für sich reklamierte,
der Generalstreik also keinen gegenrevolutionären Adressaten mehr hatte.

All das sind nur
Beispiele dafür, dass die lokal isolierte Republik praktisch vom ersten Tag an
in die Defensive geriet. Recht bald suchte sie nach einer Verhandlungslösung
zum Rückzug – doch die Konterrevolution wollte keinen Kompromiss, sondern ein
Exempel statuieren.

Noske wollte den
besonders für die Wasserkante gefährlichen Brandherd Bremen löschen. Hier war
schließlich die Bewaffnung der Arbeiterinnen trotz der bereits erfolgten
Zugeständnisse an die bürgerliche Demokratie aufrechterhalten worden! Am 30.1.
ordnete er den Truppenvormarsch auf Bremen an. Der Große AR in Hamburg und der
SR des 9. Armeekorps drohten zwar mit Maßnahmen zur Unterstützung Bremens. Aber
mittlerweile hatte man sich auf die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse
geeinigt. Das 9. Armeekorps sollte dafür sorgen, dass die abgelieferten Gewehre
„treuhänderisch“ verwaltet werden.

Am 2.2.
erklärten sich die Bremer Volksbeauftragten mit der Unterschrift Ertingers
(KPD) zum Rücktritt und zur Übergabe der Waffen an eine gemäß der
Stimmenverhältnisse zu den Nationalratswahlen neugebildete Regierung bereit.
Dies akzeptierte die Reichsregierung jedoch nicht.

Die Armee war
den 500 Leuten, die als ernsthafte VerteidigerInnen Bremens zu werten waren,
haushoch überlegen. Militärisch kapitulierte der Rat am 4. Februar. Rückzugsgefechte
bis Bremerhaven und Cuxhaven zogen sich in den nächsten Tag hinein. Die
Niederlage war jedoch besiegelt. Anders als die Münchner Räterepublik endete
sie noch relativ unblutig, ohne Massenerschießungen. War der Bremer
Räterepublik die „Macht“ recht leicht zugefallen, so verdeutlichen Verlauf und
Ende, dass sie verfrüht kam, sie zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, die
Revolution auch zu verteidigen und weiterzutreiben. Die Reaktion war durch die
Deklaration eines Rates längst nicht besiegt, die Sozialdemokratie verfügte
noch immer über einen beachtlichen Einfluss in der ArbeiterInnenklasse. Die
USPD erwies sich als jene Partei, deren Halbheiten sich in den Maßnahmen der
Räterepublik am deutlichsten ausdrückten.

Lehren aus der
Politik der Bremer
IKD/KPD

Dabei hatte die
Bremer Linke durchaus Stärken einzubringen. Sie trennte sich eher von den
ReformistInnen und ZentristInnen als die Spartakusgruppe. Doch mangelte es ihr
an taktischer Flexibilität, Disziplin, aber auch an Prinzipienfestigkeit und Klarheit.

Am
weitsichtigsten agierte sicherlich Johann Knief. Er verstand die Gefahr lokaler
Aufstandsversuche, die in der Situation nach dem fehlgeschlagenen
„Spartakusaufstand“ ihr revolutionäres Feuer nicht einfach aufs ganze Reich
ausbreiten konnten.

Die Münchner KPD
unter Eugen Leviné war jedoch konsequenter, was die Weigerung der Teilnahme an
der 1. Räterepublik betraf. In Bremen beteiligte sich die KPD hingegen an einer
Koalition mit der USPD, die eben nicht wie eine echte ArbeiterInnenregierung die
Zerschlagung des bürgerlichen Staats anstrebte, sondern bestenfalls die
Doppelherrschaft in der Armee verteidigte und Polizei, BeamtInnenschaft und
Justiz gänzlich intakt ließ. Es handelte sich um eine äußerst linke Variante
einer bürgerlichen ArbeiterInnenregierung: KPD/USPD statt MSPD/ USPD im Reich.

Die örtliche KPD
rührte nicht an der Doppelkonstruktion von AuSR. Die proletarischen
Mannschaftsdienstgrade der Armee hätten sich an den Wahlen zu einheitlichen
ArbeiterInnenräten beteiligen müssen. Die deutschen Soldaten waren keine Bauern
in Uniform wie in Russland. Sie setzte nicht an gemeinsamen Forderungen mit
mehrheitssozialdemokratischen ArbeiterInnen an, die in der Aufforderung an die
SPD zum Bruch mit der Bourgeoisie und „Alle Macht den Räten!“ führten. Ihr
Ausschluss aus dem AuSR war ein schwerer Fehler.

Auch die
ökonomische (Banken) und betriebliche Ebene blieb unterbelichtet, v. a. fehlte
das Element ArbeiterInnenkontrolle als entscheidendes Bindeglied zwischen
zahlreichen Teilforderungen und dem Kampf für ArbeiterInnenmacht.

Schließlich
lehnte sie zwar abstrakt die Wahlen zur Nationalversammlung ab und stellte
ihnen die Räte entgegen, aber sie war taktisch unfähig und unwillig, die Wahlen
und die verfassunggebende Versammlung für den Kampf um die Rätemacht und die
Diktatur des Proletariats auszunutzen. Somit kam es auch zur Paradoxie, dass
die gegen die Nationalversammlung gerichtete Räterepublik die Wahlen zu
ebendieser auch in Bremen ruhig abhalten ließ.

All das spiegelt
wider, dass die Räterepublik selbst auf ihrem Höhepunkt nie wirklich die
Doppelmacht in der Stadt lösen konnte. Das war sicherlich nicht einfach ein
„Fehler“ der KPD, sondern erwuchs aus den objektiven Schwierigkeiten und auch
Grenzen einer „lokalen“ Rätemacht. Anders als der Münchner jedoch mangelte es
der Bremer KPD an Bewusstheit dieses Verhältnisses – sie war somit selbst eher
getriebene als treibende Kraft.




100 Jahre KPD-Gründung: Schwere Geburt

Bruno Tesch, Neue Internationale 234, Dezember 2018/Januar 2019

Im November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus. Nicht nur das morsche monarchistische System hatte sich überlebt. Der Kapitalismus selbst stand zur Disposition.

Die traditionelle ArbeiterInnenführung, die SPD, hatte 1914 Klassenverrat
begangen und den imperialistischen Krieg unterstützt. Im Verlauf des Krieges
spaltete sie sich in Mehrheitspartei und Unabhängige SozialistInnen (USPD).

Revolutionäre Krise

Die ArbeiterInnenmassen waren ausgehungert und aufrührerisch. Die
politischen und gesellschaftlichen Strukturen befanden sich in Auflösung. Am
Ende des Ersten Weltkrieges steckte Deutschland in einer revolutionären Krise.

Spontan bildeten sich in vielen Orten Räte aus ArbeiterInnen und
heimkehrenden Frontsoldaten, die den Machtfreiraum – die Bourgeoisie war wie
gelähmt – zunächst ausfüllten. RevolutionärInnen waren in ihnen jedoch klar in
der Minderheit.

Anders als die Bolschewiki, die in Russland vor der Revolution 1917 schon
einen jahrzehntelangen unerbittlichen Fraktionskampf gegen den reformistischen
Menschewismus geführt hatten, setzte sich die deutsche revolutionäre Linke aus
einer Vielzahl von Strömungen und Gruppen zusammen, deren kleinster gemeinsamer
Nenner in der Absetzung von der Sozialdemokratie bestand. Einige von ihnen wie
z. B. der Lichtstrahlen-Kreis aus Berlin entstand außerhalb der
Sozialdemokratie, während die bedeutendste Formation, der Spartakusbund um
Luxemburg und Liebknecht, sich erst 1918 von der zentristischen USPD abgespalten
hatte.

Diese Gruppen standen in mehr oder minder engem Zusammenhang und stimmten auf dem Rätekongress Mitte Dezember 1918, der über das weitere Schicksal der Räteorgane und der politischen Zukunft des Landes befinden sollte, oft gemeinsam ab, vor allem in der Frage der Macht im künftigen Staatswesen. Sie traten für eine Räterepublik ein. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Mehrheit der Delegierten dafür zu gewinnen. Hier setzte sich klar die Linie des Gewerkschaftsbundes ADGB durch, der die Macht dem Regierungsprovisorium unter Ebert (SPD) übertragen wollte.

Ebert war der letzte Trumpf, den die Bourgeoisie ausspielen konnte, um ihre
Herrschaft abzusichern, denn sie selbst war damals nicht in der Lage, die
Revolution zu bremsen. Ebert hatte einen klaren Fahrplan für die demokratische
Konterrevolution im Visier. Er orientierte auf die Durchsetzung demokratischer
Rechte, parlamentarische Wahlen und eine neue bürgerlich-demokratische
verfassunggebende Versammlung. Dies vertrug sich natürlich nicht mit der Aufrechterhaltung
der Doppelmachtsituation zwischen Regierung und Räten.

Obleute

Ein entscheidender Faktor für die weitere Weichenstellung waren die
revolutionären Obleute, die während des Krieges FührerInnen von Massenstreiks
waren und eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Räte spielten. Sie waren
größtenteils in der USPD organisiert und hatten in wichtigen Fragen mit der
alten SPD-Politik gebrochen. Doch in der entscheidenden Frage der Errichtung
einer Räterepublik, d. h. der Übernahme der ganzen Staatsmacht und der
Zerschlagung des bürgerlichen Staates, nahmen sie eine zögerliche Haltung ein.

Statt den provisorischen Rat der Volksbeauftragten unter Ebert zu
kontrollieren und ihm klare Weisungen zu erteilen, ließen sich die Angeordneten
der Räte oft vor vollendete Tatsachen stellen. Ebert und seine
HelfershelferInnen nutzten derweil ihre alten Verbindungen mit dem
Herrschaftsapparat in Verwaltung und Militär aus, bauten die angeschlagene alte
Machtmaschinerie wieder auf und ermöglichten und ermunterten schließlich die
Offensive der Konterrevolution und den Terror der reaktionären Freikorps, dem
bald auch Luxemburg und Liebknecht zum Opfer fallen sollten.

Der Rätekongress entmachtete sich durch sein mehrheitliches Votum für den
Kurs auf eine Nationalversammlung praktisch selbst. Damit war die einmalige
Chance vertan, die ArbeiterInnenrevolution in Deutschland in einem Zug zum Sieg
zu führen.

Kinderkrankheiten

Erst nach diesem herben Rückschlag für die Revolution, dem Scheitern der
Rätebewegung, erfolgte zur Jahreswende 1918/1919 die Gründung einer Partei, die
sich die sozialistische Revolution auf die Fahnen geschrieben hatte: der KPD.
Der Schärfe des Klassenkampfes entsprach die, mit der die unterschiedlichen
Strömungen, die an der Parteigründung beteiligt waren, aufeinanderprallten und
an der die junge Partei fast schon gescheitert wäre, noch ehe sie gegründet
war.

Die KPD kam mit einigen Geburtsfehlern zur Welt. Die Notwendigkeit der
Revolution zwang die RevolutionärInnen zum Hissen einer revolutionären Parteifahne,
aber diese war ein Flickenteppich. Der Diskussions- und Klärungsprozess vor der
Parteigründung war oft unzureichend. Vor allem gelang es nicht, die
revolutionären Obleute dabei einzubeziehen und für die KPD zu gewinnen.

Das Parteiprogramm, vor allem aber die politische Praxis ließen
Einheitlichkeit und klare Linie vermissen. Selbst der Spartakusbund war
keineswegs homogen. Dies schlug sich in Form der Parteistrukturen nieder. Die
KPD blieb zunächst eher föderalistisch organisiert, wirklichen demokratischen
Zentralismus gab es nicht.

Die widerstrebenden Interessen brachten es mit sich, dass sich in der
Organisation eher Strömungen durchsetzten, die eine antibolschewistische
Ausrichtung verfolgten und einen nationalen Sonderweg bevorzugten. Auch in der
Frage, ob in den Gewerkschaften oder nur bei den revolutionäre Obleuten
interveniert werden sollte, wurde keine Einigkeit erzielt. Das taktische
Eingehen auf eine Nationalversammlung, wie Rosa Luxemburg es vertrat, lehnte
die Mehrheit ab. Stattdessen ließ sie sich unter Führung von Liebknecht im
Januar 1919 in ein militärisches Abenteuer ziehen, den sog. Spartakus-Aufstand
in Berlin.

Die Konterrevolution ermordete noch vor den Wahlen zudem mit Luxemburg und
Liebknecht sowie im März mit Jogiches die wichtigsten FührerInnen der jungen
KPD. Von diesem Schlag erholte sich die Partei erst allmählich.

Trotz aller Unreife war ihre Gründung ein historisch notwendiger und
bedeutender Schritt, um eine eigenständige politische Entwicklung und
Organisierung von revolutionären MarxistInnen zu ermöglichen. Nur eine solche
eigenständige Partei konnte überhaupt einen politischen und organisatorischen
Attraktionspol für die ArbeiterInnenklasse verkörpern. Trotz vieler Fehler und
Schwankungen der KPD in den Jahren bis 1933 erwies sich, dass sie für die
Vorhut der Klasse, für die kämpferischsten Teile durchaus eine Alternative zu
Reformismus und Zentrismus darstellte.

Möglichkeiten

Nach 1918 gab es mehrere revolutionäre Situationen, zunächst der
Kapp-Putsch 1920, der darauf folgende Generalstreik und die Kämpfe der Roten
Ruhrarmee. Auch der von der jungen Sowjetunion gewonnene Bürgerkrieg und die
Festigung der Sowjetmacht hatten international große Anziehungskraft auf die
ArbeiterInnenmassen. In vielen Ländern entstanden danach revolutionäre
Parteien.

Der Durchbruch der KPD zur ArbeiterInnenmassenpartei erfolgte aber erst,
als die zentristische USPD zerfiel und sich Ende 1920 immerhin 300.000
USPDlerInnen mit der KPD vereinigten (VKPD). Die KPD verfügte bis dahin
höchstens über ein Fünftel dieser Mitgliedschaft – auch als Folge zahlreicher
innerparteilicher Konflikte, Ausschlüsse und Austritte.

Der politische, aber auch zahlenmäßige Niedergang begann nach den
politischen Fehlern von 1923, als die KPD (und die Komintern) die tiefe
revolutionäre Krise im Sommer viel zu spät erkannt hatten und dann einen
inkonsequenten Kurs auf den Aufstand verfolgten.

Die blutige Festigung der bürgerlichen Herrschaft nach 1923 in Deutschland
– Sturz der „ArbeiterInnenregierungen“ in Sachsen und Thüringen durch die
Armee, Niederschlagung des Hamburger Aufstandes – sowie der Aufstieg Stalins,
die Machtübernahme durch die Bürokratie und die Beseitigung der
innerparteilichen ArbeiterInnendemokratie in der Sowjetunion waren dabei
weitere wesentliche Faktoren. Selbst 1932 zählte die KPD immer noch nicht mehr
als 320.000 Mitglieder!

Doch noch viel stärker wirkte sich aus, dass sie unter Thälmann endgültig
eine stalinistische Organisation geworden war: zunächst zentristisch, ab 1935 –
mit der Annahme der Volksfrontstrategie – sogar reformistisch.

Sie war aufgrund ihrer von Moskau aufgezwungenen Doktrin außerstande, eine
ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus zu schaffen und unterlag ihm
schließlich – kampflos. Bei aller Kritik dürfen wir allerdings nicht den
revolutionären Opfermut, den Willen und die Tatkraft der KPD-GenossInnen
vergessen – aus ihren, oft bitteren, Erfahrungen müssen wir lernen!

Lehren

Momentan gibt es in Deutschland keine revolutionäre Situation. Aber der
Kapitalismus ist weltweit in einer tiefen strukturellen Krise. Deshalb werden
die Klassenkämpfe zunehmen.

Die Geschichte zeigt, dass sich gerade in zugespitzten Situationen die
Sozialdemokratie als völlig unbrauchbar erwiesen hat – nicht nur für die
Überwindung des Kapitalismus, sondern auch bei der Verteidigung grundlegender
Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Doch auch der linke Reformismus oder
der Zentrismus stellten keine Alternative zur SPD dar, wie das Schicksal der
USPD und gegenwärtig die Linkspartei zeigen.

Die KPD war insofern ein notwendiges, ein logisches Resultat des Versagens
von SPD und USPD. Doch zugleich zeigte sich, dass die KPD im Unterschied zu den
Bolschewiki in Russland angesichts großer historischer Chancen und deutlich
besserer objektiver Bedingungen zum Aufbau des Sozialismus nicht in der Lage
war, die Führung der Klasse im Kampf zu erringen und den Kapitalismus zu
stürzen.

Was waren die entscheidenden Unterschiede zwischen der Entstehung der KPD
und jener der Bolschewiki?

Die MarxistInnen um Lenin führten schon frühzeitig einen kompromisslosen
politischen Kampf innerhalb der russischen Sozialdemokratie um Fragen der
Perspektive der Revolution und des Parteiaufbaus. Was damals viele, darunter
auch Trotzki, als überspitzte, sektiererische Manöver ansahen, erwies sich 1917
als entscheidend. Lenins bolschewistische Partei erwarb in diesen fraktionellen
Kämpfen gerade jene Eigenschaften, die den Bolschewiki in der Revolution den
Erfolg brachten: eine Beharrlichkeit in programmatischen Grundfragen, die
zugleich mit der Flexibilität verbunden war, die eigene Politik an der Praxis
zu messen und, wenn nötig, zu verändern, und einen geschulten, gestählten
Kaderkern, der im Feuer der Revolution standhielt.

Anders als Lenin versäumte es Rosa Luxemburg aber viel zu lange, ihren
politischen Kampf gegen den aufkommenden Reformismus in der SPD – den sie viel
eher und klarer sah als Lenin – mit entsprechenden organisatorischen Schritten
zu verbinden. Indem sie einen Fraktionskampf ablehnte, erschwerte sie nicht nur
die politische und organisatorische Polarisierung in der SPD, sie verzögerte
damit auch entscheidend die politisch-programmatische Klärung innerhalb der
revolutionären Kräfte. Als die Revolution dann auf der Tagesordnung stand, gab
es keine dieser Aufgabe gewachsene kommunistische Partei.

Luxemburgs Fehler und Schwächen – so tragisch sie vielfach waren – tun dem
revolutionären Charakter ihrer Politik aber keinen Abbruch. Sie gehört ganz
ohne Zweifel zu den wichtigsten kommunistischen TheorikerInnen und
PolitikerInnen.

Die Geburtsschwächen der KPD müssen uns jedoch heute eine politische Lehre
sein. Der Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und die Entwicklung
einer kommunistischen Programmatik dürfen nicht leichtfertig auf die Zukunft
verschoben werden. Er muss hier und jetzt geführt werden.