Italien: Kein sozialer Frieden mehr!

Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori zum landesweiten Streik der Basisgewerkschaften, Infomail 1234, 20. Oktober 2023

Vorspann: Für den 20. Oktober haben die Basisgewerkschaften S. I. Cobas (Berufsgruppenübergreifende Gewerkschaft des Basiskomitees) zu einem landesweiten Streik gegen die Angriffe der Regierung Meloni und Krieg aufgerufen. Wir veröffentlichen ein Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori (PCL), einer italienischen trotzkistischen Organisation, mit der wir in Diskussion stehen.

Kein sozialer Frieden mehr!

Vereint die Kräfte der Klassengewerkschaft! Für eine anhaltende Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse!

Das neue Stabilitätsgesetz, das Meloni ankündigt, ist ein Betrug an den 18 Millionen Lohnempfänger:innen in unserem Land. Ein ganzes Jahr lang hat Giorgia Meloni eine arbeiter:innenfeindliche Politik betrieben. Dennoch hat sie einen sozialen Frieden genossen, der in Europa seinesgleichen sucht. Die maximale Aushöhlung der italienischen Löhne, die weitere Ausweitung der Arbeitsplatzunsicherheit, die Abschaffung des Bürgergeldes, die kriminelle Liberalisierung der Verträge, die Ablehnung jeder Form von Mindestlohn usw. haben nicht ausgereicht, um eine Massenmobilisierung der Lohnabhängigen wie in Frankreich, Großbritannien oder in Deutschland auszulösen.

Daher ist ein grundlegender Wandel erforderlich. Der heutige Generalstreik ist eine positive Tatsache. Aber es ist allen bewusst, dass er nicht ausreichen kann, um die Regierung zu stoppen. Er wird nur von einem Teil der Klassengewerkschaften unterstützt, und deshalb kann die Beteiligung trotz der Großzügigkeit und Selbstaufopferung seiner Organisator:innen nicht über einen bescheidenen Prozentsatz der Beschäftigten hinausgehen.

Es ist ein qualitativer Sprung erforderlich: ein Kampf für eine allgemeine Plattform, die Millionen von Lohnabhängigen als ihre eigene empfinden können – eine anhaltende Mobilisierung, die auf einen Sieg abzielt.

  • Für eine Lohnerhöhung von mindestens 400 Euro netto für alle Lohnarbeiter:innen

  • Für die Wiedereinführung der gleitenden Lohnskala

  • Für einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde (1.500 Euro pro Monat)

  • Für einen angemessenen Lohn für Arbeitslose von mindestens 1.200 Euro

  • Für die Aufhebung aller Gesetze zur Prekarisierung der Arbeit, die in den letzten zwanzig Jahren von Regierungen aller Couleur verabschiedet wurden

  • Für Arbeiter:innenkontrolle über die Arbeitsbedingungen, angefangen bei der Sicherheit

  • Für eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30/32 Stunden bei gleichem Lohn

  • Für eine außerordentliche Vermögensabgabe von mindestens 10 % auf die reichsten 10 %, um die Investitionen in Gesundheit, Bildung, ökologische Bodensanierung und erneuerbare Energien zu verdoppeln

  • Für die Streichung der Militärausgaben und der öffentlichen Schulden bei den Banken (derzeit 100 Milliarden allein an Zinsen pro Jahr!).

Wir brauchen eine nationale Versammlung von gewählten Delegierten, die eine Plattform für den Wandel definieren und einen ernsthaften Kampfplan beschließen können. Eine radikale Änderung der Kampfformen muss auf den Weg gebracht werden, mit der Besetzung aller entlassenden Unternehmen (wie bei GKN) und ihrer Verstaatlichung ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle. Alle Gewerkschaften der Arbeiter:innenklasse sollten ihre Kräfte in gemeinsamen Aktionen bündeln.

Schließlich können die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Verbrechen, die der Staat Israel gegen das palästinensische Volk und die gemarterte Stadt Gaza begeht, wo zionistische Bomben auf Schulen, humanitäre Organisationen, Journalist:innen und Krankenhäuser abgeworfen werden. Die Regierungen, die die arbeitenden Menschen in Europa ausbeuten und verarmen lassen, sind dieselben, die die israelischen Vergeltungsmaßnahmen unterstützen.

Das Gefühl der Einheit mit den unterdrückten Nationen gehört zur besten Tradition der Arbeiter:innenbewegung, die aufgerufen ist, die italienische Regierung, die sich bedingungslos auf die Seite Israels und seiner mörderischen Truppen stellt, auch aus diesem Grund herauszufordern. Für die revolutionäre Zerstörung des Staates Israel! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina, mit vollem Respekt für die Rechte des jüdischen Volkes, im Rahmen einer sozialistischen Nahost-Föderation.




Frankreich: Peitscht Macron seine Reform durch?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Ohne Rücksicht auf Verluste peitscht Präsident Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre durch – gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, den Widerstand der Lohnabhängigen, der Gewerkschaften und der Jugend.

Seit dem 19. Januar gingen an 12 Aktionstagen Millionen auf die Straße, beteiligten sich an Streiks und legten zeitweilig das Land lahm. Anders als in vielen Klassenkämpfen der letzten Jahre gelang es Regierung und Unternehmen nicht, die Einheit der Gewerkschaften zu spalten. Nicht nur die radikaleren Verbände wie die CGT und SUD, sondern auch die notorisch kompromisslerischen wie die CFDT ließen sich bislang auf keinen Kuhhandel mit Macron ein und blieben beim „Non“ zur Rentenreform.

Dabei konnten und können sie sich auf eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stützen. Rund zwei Drittel lehnen Macrons Politik als Affront ab – und zwar in einem Maße, dass der Präsident und seine Regierung im Parlament keine Mehrheit für die Reform finden konnten.

Klassenkrieg

Doch all das vermochte die Reform nicht zu stoppen. Denn im Gegensatz zu seinen Gegner:innen mangelt es Macron an einem nicht: am Willen, einen zentralen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und alle Unterdrückten im Interesse des französischen Kapitals konsequent durchzuziehen. Dazu ist er auch bereit, die tradierten Spielregeln der Auseinandersetzung zu verlassen und selbst jene der heiligen bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen.

Macron führt einen Klassenkrieg. Er ist nicht nur entschlossen, sich selbst ein politisches Denkmal zu setzen – ganz so wie Margaret Thatcher im Bergarbeiter:innenstreik oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Schließlich verbanden diese Politiker:innen ihren Namen nicht einfach mit historischen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dazu bereit waren, ein höheres Risiko im Klassenkampf einzugehen, eine Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse zu suchen, die ihnen selbst Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die Gegenseite ebenso entschlossen gehandelt hätte. Doch die TUC-Gewerkschaften und Labour weigerten sich, dem Bergarbeiter:innen mit einem Generalstreik zu Hilfe zu kommen. Schröder war nicht nur bereit, den Rückhalt der SPD in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse für Jahrzehnte zu opfern, die DGB-Gewerkschaften bauten ihm letztlich auch die politische Mauer, indem sie die Agenda 2010 allenfalls symbolisch angriffen, ansonsten aber „kritisch“ begleiteten und die Montagsdemos bekämpften.

Macron verhält sich ähnlich. Er nutzt die bestehenden bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung, der Republik, um das Gesamtinteresse des Kapitals in einer Krise durchzusetzen. Dabei bildet die sog. Rentenreform ein Herzstück seines Vorhabens, den französischen Imperialismus auch ökonomisch konkurrenzfähiger zu machen. Und dafür geht er weiter als frühere Regierungen und Präsidenten.

Angriff auf die Demokratie

Nachdem sich abzeichnete, dass er für die Gesetzesvorhaben im Parlament keine Mehrheit finden würde, umging er es einfach, indem er sich auf Artikel 49.3 der Verfassung berief. Dieser erlaubt ihm, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass er sich auf eine Mehrheit unter den Abgeordneten stützt, geschweige denn auf ein Mandat des Volkes.

Bewusst nahm er dafür nicht nur die Diskreditierung seiner eigenen Partei bei Millionen Wähler:innen in Kauf, sondern auch die Ausweitung der Proteste. Er erhöhte den Einsatz im Klassenkampf, indem er die Angriffe auf die Rente mit einem auf die bürgerliche Demokratie und ihre Gepflogenheiten verband.

Am 16. März brachte Macron seine Reform unter Berufung auf Artikel 49.3 durch. Das darauf folgende Misstrauensvotum scheiterte am 20. März äußert knapp. 278 Parlamentarier:innen entzogen der Regierung das Vertrauen. 287 stimmten gegen den Misstrauensantrag. Neben Macrons „Ensemble pour la majorité présidentielle“, die über 245 Sitze verfügt, votierte die Mehrheit der Abgeordneten der konservativen, neoliberal-gaullistischen Les Républicains dabei für den Präsidenten.

Auch die folgende Prüfung durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) passierte das Gesetz. Das neunköpfige Gremium, von dem je drei Vertreter:innen vom Präsidenten, von der Nationalversammlung und vom Senat ernannt werden, gilt als Hüter der Verfassung. Faktisch hütet es aber den französischen Kapitalismus. Es setzt sich aus „respektablen“ Vertreter:innen der herrschenden Klasse zusammen wie den beiden ehemaligen Premierministern Laurent Fabius, einem rechten Sozialisten, und dem Konservativen Alain Juppé.

Wenig überraschend erklärte der Verfassungsrat die Reform für rechtens, monierte aber die Streichung von 6 Punkten – und zwar von solchen, die es zugunsten der Lohnabhängigen abgemildert hatten. Darüber hinaus verwarf er eine von der linkspopulistischen NUPES angestrengte Volksabstimmung.

Das soll nicht verwundern. Es war von Beginn an klar, dass Macron den antidemokratischen Paragraph 49.3 ziehen könnte, die Reformen durch parlamentarische Manöver – z. B. versuchte Obstruktionspolitik von Abgeordneten von La France Insoumise – nicht zu verhindern sein würden.

Seit den ersten Anläufen zur Reform in Jahr 2020 und spätestens Ende 2022 ließ Macron keinen Zweifel daran, dass er sein politisches Schicksal an die Maßnahmen knüpfte, sodass sie nur auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden könnten.

Höhepunkt der Mobilisierung

Die Umgehung des Parlamentes am 16. März läutete aber auch den Höhepunkt der Streiks und Protestwelle ein. Vom 19. Januar bis Mitte März beteiligten sich ein bis eineinhalb Millionen Menschen an den jeweiligen Aktionstagen. Hunderttausende legten zeitweilig die Arbeit nieder.

Mit dem Artikel 49.3 griffen Macron und die Regierung Borne auf die antidemokratischen, bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung zurück und machten damit den Kampf um die Renten auch zu einem um die Demokratie. Dies verbreitete und intensivierte die Auseinandersetzung enorm.

Am 23. März beteiligten sich 3,5 Millionen Menschen an den Demonstrationen im ganzen Land. Auch kleinere und mittelgroße Städte wurden in die Bewegung gezogen. In den Zentren des Landes fluteten Demonstrant:innen geradezu die Straßen. Rund eine Woche lang kam es zu täglichen Auseinandersetzungen vor allem von jugendlichen Demonstrant:innen mit der Polizei.

Zugleich breitete sich auch die Streikwelle aus – bei der Bahn, in Häfen und an Flughäfen, in den Raffinerien und in der Energiewirtschaft, an Schulen und Universitäten oder bei der städtischen Müllabfuhr. Allerdings erfassten die Streiks im wesentlichen nur Sektoren der Avantgarde, der bewussteren und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, nicht jedoch die Masse, vor allem nicht jene der Unorganisierten. Dazu hätte es eines einheitlichen Aufrufs von außen, von den Führungen der Intersyndicale bedurft, der jedoch während der ganzen Zeit ausblieb.

Generalstreik lag in der Luft

Schon im Januar und Februar war die Losung des Generalstreiks unter den Aktivist:innen der Bewegung populär. Nach dem 23. März lag er in der Luft.

Mit seinen antidemokratischen Maßnahmen hatte Macron selbst die Auseinandersetzung weiter politisiert, mit der Frage seines Regimes direkt verknüpft. Er stellte die Machtfrage.

Doch die parlamentarische Linke NUPES entpuppte sich als vollkommen unfähig, diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Nachdem das Parlament umgangen war, versuchte sie es beim Verfassungsrat mit der Einleitung eines monatelangen Volksbegehrens, während Millionen nicht nur wütend, sondern auch kampfbereit waren.

So kam die politische Schlüsselrolle der Führung der Gewerkschaften, der Intersyndicale, eines Zusammenschlusses aller größeren Verbände, zu – und hier besonders der linkeren, klassenkämpferischen wie der CGT und der SUD.

Nach zahlreichen Aktionstagen und angesichts des massiven Anwachsens der Aktionen in der Woche um den 23. März war die Stunde der Entscheidung  gekommen. Entweder würde die Bewegung massiv ausgeweitet werden und die Gewerkschaften und die Arbeiter:innenklasse würden ihrerseits die Machtfrage stellen – oder Macron droht, sämtliche weitere Proteste auszusitzen, indem er auf die Ermüdung und finanzielle Ausdünnung von Streikenden setzt und gegen die militanteren Demonstrant:innen mit immer brutaleren Polizeieinsätzen vorgeht. An seiner Entschlossenheit konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln.

Rolle der Apparate

Macron spekulierte außerdem auf die Gewerkschaftsführungen. Ihm war bewusst, dass sie keine politische Generalkonfrontation wollten, sie auf seine Zuspitzung des Kampfes mit keiner eigenen antworten wollten, die die Machtfrage aufwarf. Der Generalstreik lag Ende März in der Luft, aber die Spitzen der Intersyndicale wollten davon nichts wissen – und zwar weil ihnen bewusst war, dass ein Generalstreik gegen die Rente unwillkürlich auch einer zum Sturz von Präsident und Regierung gewesen wäre; weil ihnen bewusst war, dass er die Frage aufgeworfen hätte, wer anstelle von Macron und Borne regieren würde.

Die kompromisslerischen Held:innen vom rechten Flügel der Gewerkschaften wie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, standen im Grunde immer schon für Verhandlungen mit der Regierung bereit, wenn diese denn nur mit dem nötigen „Respekt“ verbunden wären, also in den Tretmühlen der Sozialpartner:innenschaft stattfänden. Doch mit diesen Gepflogenheiten hat Macron gebrochen, weil er den Angriff ohne weitere Zugeständnisse durchziehen will.

Die Spitze der radikaleren Gewerkschaften wie jene der CGT setzen darauf, dass, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre, eine Reihe von massenhaften Streik- und Aktionstagen die Regierung oder das Parlament zum Einlenken zwingen würde. Sie gingen im Grunde davon aus, dass der Kampf eine, für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidende Frage, im Rahmen der Austragungsform gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben würde. Auch wenn sie nicht alles verhindern würden, so hofften sie doch darauf, dass sie auch vorzeigbare Zugeständnisse erreichen könnten. Auch ihnen hat Macron einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Intersyndicale hatte insgesamt keine Antwort auf die Verschärfung des Klassenkampfes durch den Präsidenten. Sie war auf diese Zuspitzung nicht vorbereitet – und sie vermochte es daher auch nicht, ihrerseits Macron mit voller Wucht entgegenzutreten.

Was nötig gewesen wäre

Dazu wäre es nötig gewesen, nach dem antidemokratischen Verfassungscoup offen den Generalstreik auszurufen – einen Generalstreik, der auch im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung unmittelbar einen politischen Charakter gehabt hätte.

Das hätte aber erfordert, dass sich die Spitzen von CGT und anderen Verbänden bewusst ihrer Führungsaufgabe hätten stellen müssen, aufhören hätten müssen, als bloße Gewerkschaften, also ökonomische Interessenvertretungen zu handeln. Sie hätten als politische Führung der Arbeiter:innenklasse fungieren müssen.

Angesichts von 3,5 Millionen Demonstrierenden, Hunderttausenden Streikenden und einer Massenempörung im ganzen Land hätte ein Generalstreik auch die unorganisierten Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Jugend und Rentner:innen erfassen, mit der Bildung von Streik- und Aktionskomitees eine gigantische Bewegung schaffen können. Diese hätte nicht nur die Rentenreform kassieren, sondern auch die Regierung stürzen können und die Machtfrage aufgeworfen – und zwar nicht in einem bloß parlamentarischen Sinne, sondern im Sinne einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks und Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innenklasse stützt. Kurzum, ein solcher Kampf hätte eine revolutionäre Dynamik entwickeln können.

Doch die Gewerkschaftsführungen – rechte wie linke – zogen es vor, der Zuspitzung des Kampfes auszuweichen. Ende März, in den Tagen, ja in der Woche nach der Umgehung des Parlamentes wäre es möglich gewesen, die Bewegung auf eine neue Stufe zu heben, Schichten der Lohnabhängigen, aber auch des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten in den Kampf zu ziehen, die normalerweise nicht unter Führung der Gewerkschaften und der bewussteren Teile der Arbeiter:innenklasse mobilisierbar sind.

Ein solcher Schritte hätte auch sicherstellen können, dass die Bewegung breiter und stärker wird und siegen kann. Sie hätte auch den Rechten um Le Pen, die demagogisch versuchen, von der aktuellen politischen Krise zu profitieren, und in den Umfragen vorne liegen, das Wasser abgraben können.

Doch diese Chance wurde vertan. Am bislang letzten Aktionstag am 13. April beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben rund 1,5 Millionen Menschen. Das stellt natürlich noch immer ein enorm hohes Niveau an Aktivität dar. Aber zugleich ging auch die Streikbewegung massiv zurück. Der Kampf gegen die Rentenreform hat seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten.

Der nächste Aktionstag wird erst am 1. Mai stattfinden – also mehr als zwei Wochen nach dem 13. April. Das wäre der größte Abstand zwischen Aktionstagen seit Beginn der Bewegung. Da der Erste Mai ein traditioneller Kampftag ist, wird die Beteiligung enorm sein – aber zugleich wird es an dem Feiertag kaum Streiks geben.

Die Gewerkschaftsführungen geben sich natürlich kämpferisch, ja geradezu unnachgiebig. Selbst Laurent Berger will von Gesprächen mit einer Regierung, die ihm keinen Respekt zollt, nichts wissen. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet weist Macrons Einladung an die Gewerkschaften zu Gesprächen, bei denen nichts besprochen wird, als lächerlich zurück.

Aber all das darf uns nicht davor die Augen verschließen lassen, dass die Gewerkschaftsführungen über keine effektive Kampfstrategie verfügen, nachdem der institutionelle Weg abgeschlossen und die Rentenreform beschlossen ist.

Angesichts dieser strategischen Krise kommt das linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, bestehend aus Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, aus PS, Grünen und KPF, mit einem neuen Vorschlag um die Ecke. Ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung soll genommen und beim Verfassungsrat eingebracht werden, der über dessen Zulassung Anfang Mai entscheiden würde. Sollte er dies für rechtens erklären, müssten innerhalb von knapp neun Monaten 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden. Das Parlament könnte dann das Vorhaben ein halbes Jahr lang prüfen und würde dann darüber abstimmen – ein Verfahren, das allein angesichts der Stimmenmehrheit, die Macrons Ensemble pour la majorité présidentielle und Les Républicains auf sich vereinen, faktisch zum Scheitern verurteilt ist.

In Wirklichkeit ist das Referendum eine Ablenkung von der Frage, wie der Kampf gegen die Rentenreform und die anderen Angriffe der Regierung noch zum Erfolg geführt werden kann und welche Lehren aus der bisherigen Bewegung zu ziehen sind.

Ganz sicher sind es nicht jene, die Fabien Roussel, der nationale Sekretär der KPF, zieht. So erklärte er: „Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen.“ Das Zitat illustriert, wie tief diese sog. Kommunist:innen gesunken sind, wie wenig ihre ganze Politik über den demokratischen Tellerrand „ihres“ Landes hinauszureichen vermag.

Der aktuelle Niedergang der Bewegung bedeutet nicht, dass der Kampf gegen die Rentenreform schon verloren ist. Wohl aber ändern sich die Bedingungen, unter denen ein neuer Aufschwung, eine neue Situation entstehen kann, wo der Generalstreik wieder auf die Tagesordnung rückt.

Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass die gesamte Politik Macrons vor dem Hintergrund einer anhaltend hohen Inflation und geopolitischen Konfrontation, einer tiefgehenden sozialen, politischen und ökologischen Krise stattfindet. Daher kann seine Rentenreform wie die gesamte Regierungspolitik rasch durch andere Einschnitte der Lebensbedingungen der Massen erschüttert werden. Auch wenn Macron seine Rentenreform durch die Institutionen gebracht hat, so hat er längst nicht den französischen Kapitalismus wieder in fit gemacht. Die Beschädigung der bürgerlichen Demokratie, die Desillusionierung von Millionen und Abermillionen, die er billigend als Preis sozialer Verschlechterungen in Kauf nimmt, könnten sich dann als politischer Bumerang erweisen.

Daher gilt es nicht nur, die Bewegung aufrechtzuerhalten, sondern sie vor allem auf die unvermeidlichen nächsten Konfrontationen vorzubereiten.

Dies bedeutet erstens, klar zu erkenne und auszusprechen, dass weder die parlamentarische Linke noch die Führungen der Gewerkschaften eine politische und strategische Antwort auf die großen Angriffe der Regierung des Kapitals formulieren.

In den Gewerkschaften bedarf es jedoch nicht nur des Kampfes um Basisversammlungen und demokratische Aktionskomitees – es bedarf auch einer organisierten, gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Opposition gegen die Bürokratie.

Doch eine betriebliche und gewerkschaftliche Alternative reicht nicht. Eine klassenkämpferische Opposition muss auch eine enge Verbindung mit den sozialen Bewegungen gegen Krieg, Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung herstellen. Dazu bedarf es einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei, die sich auf ein Aktionsprogramm stützt, das den Kampf gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, auf die Arbeiter:innenklasse mit dem für den Sturz des Kapitalismus verbindet.

Anhang: Warum ist die Rentenfrage so bedeutsam?

Die sog. Rentenreform stellt ein Kernstück der Angriffe des Kapitals nicht erst seit der Präsidentschaft Macrons dar. Schon 1995 versuchte die damalige konservative Regierung Juppé, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen. Doch sie scheiterte am massiven Widerstand der Arbeiter:innenklasse und der Jugend und musste nach wochenlangen Protesten ihre Gesetzesreform zurückziehen.

Seither probierten sich faktisch alle Präsidenten und Regierungen, ob Sozialist:innen oder Konservative, an einer grundlegenden neoliberalen „Reform“ der Arbeitsbeziehungen und/oder der Sozialversicherung, der Sécurité Sociale, zu der neben der Rentenversichung öffentliche Krankenkassen, Unfallversicherung und die Kasse für Familienzulagen gehören.

Die Sécurité Sociale bildet somit ein zentrales Element der Klassenbeziehungen in Frankreich. Über sie wird ein großer Teil des „Soziallohns“ reguliert, also ein zentraler Teil des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse.

Schon am Beginn seiner ersten Amtszeit peitschte Macron im Jahr 2017 eine Änderung des Arbeitsgesetzes, des Code du Travail durch – damals noch gestützt auf eine massive Mehrheit im Parlament und ohne großen Widerstand. Darauf sollte die Rentenreform folgen. Doch die Streiks der Eisenbahner:innen im Jahre 2018 gegen wichtige Schritte zu Privatisierung und Verschlechterungen der Arbeitsbeziehungen, die Bewegung der Gilets Jaunes und schließlich die Pandemie zwangen Macron zur Verschiebung seiner von Beginn an angekündigten Rentenreform.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre enthält dabei zwei Aspekte. Zum einen stellt sie einen grundlegenden Angriff auf errungene Rechte der Arbeiter:innenklasse dar. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit stellt wie alle ähnlich gelagerten Verschlechterungen zugleich auch eine massive Rentenkürzung dar für alle, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Arbeitslosigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter Vollzeit arbeiten können. Darüber hinaus sieht die „Reform“ auch Abschläge für alle vor, die bis 64 nicht genügend volle Erwerbsjahre auf dem Buckel haben.

Zum anderen stellt sie nicht nur eine wichtige Errungenschaft der Lohnabhängigen dar, sondern spiegelt auch ein Kräfteverhältnis wider, eine klassenpolitische Stellung der Arbeiter:innenklasse. Wird die Rente geschleift, fällt auch diese Stellung, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Frankreich: Schlüsselposition der Gewerkschaften im Kampf gegen Erhöhung des Renteneintrittsalters

Marc Lassalle, Infomail 1216, 9. März 2023

Nach sechs Tagen Streiks und Demonstrationen in Frankreich erreicht die Konfrontation zwischen den Arbeiter:innen und der Regierung in der Frage der „Rentenreform“ einen entscheidenden Moment. Am 7. März beteiligten sich rund 3,5 Millionen Menschen an den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen – ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung. Faktisch findet in vielen wichtigen Sektoren ein mehrtägiger Streik statt.

Den Gewerkschaften ist es seit Beginn des Jahres gelungen, sehr große Demonstrationen zu organisieren, nicht nur in Großstädten, sondern in Städten im ganzen Land, und, was noch bemerkenswerter ist, dies einen ganzen Monat lang mit einer Großdemonstration pro Woche fortzusetzen. Die Ablehnung der so genannten Reform der Regierung ist in der gesamten Bevölkerung und vor allem unter der Arbeiter:innenschaft massiv.

Strategischer Angriff

Die Regierung verteidigt weiterhin ihr Vorhaben, das Rentenalter auf 64 Jahre anzuheben, um jeden Preis. Es handelt sich nicht einfach um eine technische Maßnahme oder eine Episode innerhalb eines Gesamtplans. Für Präsident Macron ist dies die „Reform“ schlechthin. Da er während seiner letzten Amtszeit durch die Pandemie blockiert wurde, besteht er auf dieser Reform als Symbol seiner Präsidentschaft und seines Vermächtnisses. Für ihn müssen die Lohnabhängigen mehr arbeiten, um die Subventionen zu bezahlen, die der Staat den Unternehmer:innen während der Pandemie und danach großzügig gewährt hat (Energiekosten usw.).

Wie der neoliberale Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt, sollten die Bosse diese Reform „mit Begeisterung und Entschlossenheit“ unterstützen. Es geht um 8 bis 9 Milliarden Euro für die Wirtschaft! Je mehr die Minister:innen versuchen, die Reform zu erklären, desto kruder erscheint ihre Realität in den Augen der Lohnabhängigen. Trotz aller Behauptungen der Regierung, die Änderung sei „frauenfreundlich“, hat sich herausgestellt, dass sie vor allem für Frauen nachteilig ist, da sie länger arbeiten müssen. Die Reform wird auch Beschäftigte im unteren Lohnsegment besonders hart treffen, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit vor dem 20. Lebensjahr aufgenommen haben.

Angesichts der Zielsetzung von Macron und der Entschlossenheit der Bosse ist die derzeitige Strategie der Gewerkschaften jedoch völlig unzureichend. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen Konflikten eine Reihe von eintägigen Streiks durchgeführt und das Ergebnis war unweigerlich dasselbe: eine Niederlage. Nach einem anfänglichen Erfolg erschöpft sich Dynamik eintägiger Demonstrationen ab einem gewissen Zeitpunkt. Dann macht sie  Ermüdung und Unzufriedenheit Platz, was wie in einem Teufelskreis wachsende Demoralisierung und Unklarheit der Arbeiter:innen über die weitere Strategie provoziert. Die Zahl der Streikenden schrumpft, bis die Gewerkschaften den Streik einfach beenden oder, wie sie es manchmal ausdrücken, „den Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen“.

Unterschied

Dieses Mal ist die Situation in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind die Zahl der Streikenden und die Stärke der Demonstrationen so hoch wie seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr. Zweitens lehnen alle Gewerkschaften, einschließlich der sehr gemäßigten CFDT, die Reform ab, und es gibt bisher keine Anzeichen für eine Schwächung der „Intersyndicale“ (der Front von acht Gewerkschaften und Verbänden, die gegen die Reform sind). Dies stellt natürlich ein Zeichen für die Entschlossenheit und den Kampfgeist der Arbeiter:innenklasse dar.

Nach einer zweiwöchigen Pause – wegen der Schulferien – erklärten alle Gewerkschaften, dass eine entschlossenere Haltung erforderlich sei. „Die Intersyndicale bekräftigt ihre Entschlossenheit, Frankreich am 7. März lahmzulegen. Der 7. März sollte ein ,toter Tag’ (journée morte) in den Betrieben, Verwaltungen, Diensten, Schulen, Verkehrsmitteln sein … “ (Presseerklärung, 21/02).

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez erklärte: „Wenn die Regierung trotz der Mobilisierungen weiterhin stur bleibt, dann müssen wir mit größeren Aktionen, längeren, härteren, zahlreicheren, massiveren und erneuerbaren Streiks vorankommen“. Dies ist eine raffinierte Art, einen Generalstreik zu beschreiben, ohne ihn zu benennen. Ein erneuerbarer Streik (grève reconductible) ist in der Tat die französische Art, einen unbefristeten Streik einzuleiten. In den Betrieben wird die Kampfmaßnahme dann Tag für Tag von den betrieblichen Generalversammlungen (AGs) beschlossen, und zwar jeden Morgen.

Das hört sich zwar sehr demokratisch an, ist aber dennoch eine ziemlich fragile Kampfmethode, da sie von der kontinuierlichen und starken Beteiligung aller an den Versammlungen abhängt. Jeden Tag könnte der Kampf enden, so dass trotz der großen Opfer der Streikenden die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eher begrenzt sind. Die Regierung weiß, dass sie ein Ende erzwingen kann, indem sie einfach geringfügige Zugeständnisse mit den gemäßigteren Gewerkschaften aushandelt, wodurch die Moral der Streikenden geschwächt und die Einheit des Kampfes gebrochen wird.

Warum vermeidet Philippe Martinez es, einen unbefristeten Generalstreik auch nur zu erwähnen? In der Vergangenheit, vor allem 1968, haben die französischen Arbeiter:innen einen Generalstreik initiiert, und die Situation entglitt dann völlig der Kontrolle der obersten Gewerkschaftsführung. Seitdem zieht sie es vor, jeden Schritt eines Kampfes sorgfältig zu kontrollieren. Wenn man sie unter Druck setzt, würden sie sogar eine Niederlage vorziehen, anstatt sich von der Aktion der Basis ins Abseits stellen zu lassen.

Trotz dieser Feigheit der Gewerkschaftsbürokratie ist der Ausgang des Kampfes noch lange nicht entschieden. Sicher ist, dass der 7. März einen weiteren großer Tag der Streiks und Demonstrationen markierte, an dem rund 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Was kommt dann? Der 8. März war ein weiterer Tag der Demonstration für die Rechte der Frauen. Student:innenorganisationen riefen zu einem weiteren großen Protesttag am 9. März auf. Diese Verkettung von Terminen legt nahe, dass die Arbeiter:innen am 7. März in den Streik treten und dann draußen bleiben sollten! Mehrere wichtige kämpferische Gewerkschaften riefen für den 7. März und die folgenden Tage zu einem täglich zu erneuernden Streik auf. Dazu gehören die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Eisenbahnen, der Erdölraffinerien, der Häfen und Docks sowie die Beschäftigten der Kraftwerke. Die Frage ist: Wird dieser Funke stark genug sein, um einen Generalstreik zu entfachen?

Der Ausgang hängt von vielen Faktoren ab, aber einer der wichtigsten ist das aktive Eingreifen der politischen Parteien der Linken. Von der Front der Linksparteien, NUPES, ist nichts zu erwarten, ebenso wenig wie von ihrer führenden Kraft, der Partei von Jean-Luc Mélenchon, France Insoumise (FI). FI unterstützt formell die Aktionen der Gewerkschaften, konzentriert sich aber in Wirklichkeit auf das Parlament und die nächsten Wahlen. Im Parlament haben sie die Diskussion des Rentenreformgesetzes mit tausenden von Änderungsanträgen in einer ersten Sitzung zwar erfolgreich behindert. Der Entwurf wurde nun an den Senat weitergeleitet, wo die Rechten die Mehrheit haben, und wird wieder ins Parlament zurückkehren.

Die Taktik der Obstruktion reicht jedoch bei weitem nicht aus, um den Prozess zu stoppen. Die Regierung könnte versuchen, die Rechtskonservativen – Les Républicains – davon zu überzeugen, das Gesetz zu unterstützen, oder es einfach mit einer antidemokratischen Maßnahme zu verabschieden, die von der bonapartistischen Verfassung der 5. Republik ermöglicht wird. Zu Beginn des Streits versuchte die FI sogar, unabhängig von den Gewerkschaften eine Demonstration zu organisieren, was jedoch ein großer Flop war. Das soll nicht heißen, dass die Aktivist:innen von NUPES und FI nicht an den Demonstrationen und dem Kampf teilnehmen werden. Die meisten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert und ein fester Bestandteil der Mobilisierung. Aber auf politischer Ebene agieren alle diese Kräfte, FI, die Kommunistische Partei (PCF), die Sozialistische Partei (PS) und die Grünen ausschließlich auf parlamentarischer Ebene und überlassen die Durchführung von Streiks den Gewerkschaften.

Die radikale Linke

Alle Kräfte der radikalen Linken leiten den nächsten Schritt für den Kampf ein, aber sie sind sowohl gespalten als auch verwirrt.

Die Nouveau Parti Anticapitalistei (NPA = Neue Antikapitalistische Partei) ist durch die Abspaltung ihrer alten Führung geschwächt, die die Hälfte der Mitglieder mitgenommen hat. Dies führt zu der grotesken Situation, dass es zwei NPAs von ähnlicher Größe gibt, die auf den Demonstrationen präsent sind, Veranstaltungen organisieren und den gleichen Namen und das gleiche Logo verwenden. Die NPA-Plattform B (PFB), obgleich die Minderheit am letzten Kongress, hat die Kontrolle über den Apparat, die Presse, die Website, die Hauptamtlichen usw. behalten. Sie ist sichtbarer, da ihre Anführer:innen die Sprecher und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot und Philippe Poutou waren. Das Timing könnte jedoch nicht unglücklicher sein. Nachdem die NPA-PFB die Weltlage in den dunkelsten Farben analysiert hat (die Arbeiter:innenklasse in der Defensive, der Aufstieg der extremen Rechten usw.), betont sie die Notwendigkeit der Einheit:

„Die NPA schlägt vor, eine politische Alternative zu Macron aufzubauen, die aus der Mobilisierung hervorgeht, mit all jenen, die der prokapitalistischen Politik ein Ende setzen wollen, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.“

Dies mag zwar radikal klingen, aber ähnliche Aussagen waren in den 1970er Jahren bei der PCF und sogar bei der PS durchaus üblich. Sie schlägt in vagen Worten eine breite linke Regierung vor, mit NUPES, und sogar ein Minimum-Maximum-Programm. Zuerst setzen wir der prokapitalistischen Politik der Regerierung ein Ende, und dazu verbünden wir uns mit Reformist:innen, dann gehen wir zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung über. In gewissem Sinne ist dies ein erster Schritt zur Lösung der Zweideutigkeit, auf der die NPA gegründet wurde, allerdings zugunsten einer reformistischen Politik heute und des Sozialismus in ferner Zukunft. Es ist klar, dass die NPA-PFB einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen wird, dass sie sich in eine reformistische Partei auflöst oder einfach irrelevant wird.

Die andere NPA, die NPA-Plattform C (PFC), ist nach wie vor ein heterogener Block, der sich aus zwei Tendenzen der vor der Spaltung bestehenden Partei zusammensetzt, nämlich L’Étincelle (Funke) und Anticapitalisme et Révolution, die nun versuchen, eine einheitliche Partei zu organisieren. Sie sind politisch sehr aktiv unter den Jugendlichen und an den Arbeitsplätzen. Sie verteidigen zu Recht die Perspektive eines Generalstreiks.

„Ja, wir müssen einen Generalstreik anstreben, um die Dinge wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ohne Arbeiter:innen wird nichts produziert. Wenn wir streiken, wird nichts produziert und Profite und Dividenden sind dann Makulatur.“

Tatsächlich stehen ihre Aktivist:innen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Streikenden unter dem Motto „den Streik unter die Kontrolle der Streikenden stellen“ zu entwickeln. Oder, wie es Gael Quirante, Vorsitzender von A&R, auf ihrer nationalen Kundgebung im Februar ausdrückte: „Auch wenn der Beginn eines Generalstreiks nicht so einfach ist, wie auf einen Knopf zu drücken, müssen wir diesen Knopf auf jede Weise suchen, mit Generalversammlungen, mit Koordinierungen usw.“

Was jedoch in der Politik der NPA-PFC völlig fehlt, ist der Gedanke, dass alle Streikenden maximalen Druck auf die Gewerkschaften, also auch ihrer Führungen, ausüben sollten, um den Generalstreik auszurufen und diesen aktiv in den Betrieben, in allen lokalen, regionalen und anderen Strukturen der Gewerkschaften vorzubereiten und dafür offen und ausdrücklich zu werben. Eine der Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Mobilisierungen ist in der Tat die geringe Beteiligung an den Betriebsversammlungen, trotz der zahlreichen Demonstrationen. Und ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass die Masse der Arbeiter:innen trotz aller früheren Niederlagen der landesweiten Führung der Gewerkschaften vertraut. Dies gilt umso mehr, als die meisten der mobilisierten Arbeiter:innen nicht zur Avantgarde gehören: Viele von ihnen streiken und demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das wird sich nicht von selbst ändern. Es bedarf der Initiative – der Führung – durch politisch bewusste und erfahrene Aktivist:innen.

Die Aufforderung an die Gewerkschaftsführungen, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, könnte dabei sehr wirksam sein. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses, den „Druckknopf“ für den Generalstreik zu finden. Selbst in der gemäßigteren Gewerkschaft CFDT ist die derzeitige Position ihrer Spitze darauf zurückzuführen, dass auf ihrer letzten Generalkonferenz eine Mehrheit für die Ablehnung von Macrons Reform gestimmt hat. In den meisten Gewerkschaften sind die lokalen und mittleren Führungsebenen, die unter direktem Druck von unten stehen, tatsächlich von der Notwendigkeit radikalerer Aktionen überzeugt. Während Revolutionär:innen also versuchen müssen, Organe der Selbstorganisation zu schaffen, müssen sie gleichzeitig einen ernsthaften, entschlossenen Kampf Innerhalb der Gewerkschaften führen. Leider würde die NPA-PFC dies als Ketzerei ablehnen. Für sie, wie auch für Lutte Ouvrière und sogar Révolution Permanente (RP; Fracción Trotskista, FT), sollte die Einheitsfront im Grunde nur auf der Ebene der Basis und nicht auf der der Forderungen an die nationale Führung geführt werden. Damit geben sie und die ihnen folgenden Arbeiter:innen eine entscheidende Waffe gegen den Reformismus aus der Hand.

Diese Linie unterscheidet sich wenig von Lutte Ouvrière. Sie schreibt:

„Einige Gewerkschaften rufen zu einem erneuten Streik ab dem 7. März auf. In der Tat müssen wir uns in diese Richtung bewegen. Aber was die Regierung und die Bosse wirklich erschrecken könnte, wäre, dass die Streiks von unten beschlossen werden, dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten und dass sie über die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Grenzen hinausgehen.

Generalversammlungen mit einer großen Anzahl von Arbeiter:innen müssen über die Weiterführung der Bewegung und der Streiks diskutieren. Sie müssen über alles diskutieren, natürlich über die Forderungen, aber auch über die Art und Weise, wie die Bewegung geführt werden soll.

Sich überall zu treffen, um über die Mittel zur Weiterführung und Ausbreitung der Bewegung zu diskutieren, das ist der Weg, um in der Arbeiter:innenklasse eine Kraft zu erneuern, die unbesiegbar werden kann.“ (LO, 15.2.2023)

Das Überstimmung ist keine Überraschung, denn L’Étincelle, die größte Gruppierung der NPA-PFC, ist eine Fraktion, die aus LO ausgeschlossen wurde, und innerhalb der NPA wurde die gleiche Linie fortgesetzt, mit wenig oder gar keiner politischen Ausarbeitung darüber, was bei LO falsch gelaufen ist.

Die RP bewegt sich auf ähnlichem Kurs: „Angesichts des Zögerns der Intersyndicale gilt es, keine Minute zu verlieren. Die Möglichkeit eines wiederholten Streiks hängt in hohem Maße von den Bemühungen der Streikenden ab. Die Organisation der Basis in jedem Betrieb, der gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, muss sich im Dienste dieser Perspektive entwickeln.“ (RP, 22. Februar)

Auch wenn wir zustimmen, dass Initiativen von unten, die spontane Militanz der Arbeiter:Innen an der Basis von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch von größter Wichtigkeit zu betonen, dass die Befreiung der Gewerkschaften von der reformistischen Bürokratie erfordert, auf dem Höhepunkt des Kampfes den Widerspruch zwischen Basis und Führung aktiv voranzutreiben. Die Losung eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks (anstatt dies einfach der Basis zu überlassen) würde dazu beitragen, die Arbeiter:innen bei jedem Ausverkauf durch ihre Führung von diesen zu brechen und so die Grundlage für demokratische Massengewerkschaften zu legen, die in den Betrieben verwurzelt sind. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Massen sich auf die Bürokrat:innen als die Führung des Kampfes beziehen. Sie nur zu denunzieren oder, schlimmer noch, sie zu ignorieren, wird nicht reichen, um diese Situation zu ändern. Um diese Führung zu ersetzen, müssen wir Forderungen an die Gewerkschaftsführer:innen mit der Selbstorganisation des Streiks, Generalversammlungen, die Streikkomitees wählen, usw. und Koordinierungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiter:Innen kombinieren.

Offener Ausgang

Trotz dieser Schwäche der radikalen Linken ist der Ausgang des aktuellen Kampfes keineswegs von vornherein entschieden. Die Breite und die Stärke der Massenbasis ergeben sich aus dem Bewusstsein, dass es um viel mehr geht als um Renten. Alle haben die Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten auf harte Art und Weise zu spüren bekommen. Die Jugend, sowohl in den weiterführenden Schulen als auch an der Universität, schließt sich der Bewegung gegen Macron und seine Politik an. Viele haben erkannt, dass vom Kapitalismus, seiner Wirtschaft, seinen Kriegen und seiner Zerstörung des Planeten nichts Positives für sie zu erwarten ist. All diese Kräfte können sich vereinen, um die Regierung zu besiegen, wie sie es 2006 getan haben.

Die Breite der mobilisierten Kräfte erfordert eine Ausweitung des Streiks. Der Weg zum Generalstreik erfordert ein Hinausgehen der Forderungen nach einem Stopp der aktuellen Reform. Forderungen nach Lohnerhöhungen, nach massiven Mitteln für die öffentlichen Dienste (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten), nach offenen Grenzen, nach Steuern für die Reichen und auf Profite sollten von den Streikenden offen diskutiert werden und Teil eines Aktionsprogramms für Arbeiter:innen, einschließlich der stark ausgebeuteten Migrant:innen und der Jugend werden.

Doch trotz des historischen Niveaus der Kampfbereitschaft kann ein strategischer Sieg nur durch ein klares Bewusstsein für das Ziel des Kampfes gesichert werden. Zu diesem Zweck muss sich die großartig kämpferische Arbeiter:innenklasse in Frankreich mit einer revolutionären Partei und einem politischen Programm wappnen.




Streiks in Britannien: Wie können wir gewinnen?

Workers Power Britannien, Infomail 1213, 7. Februar 2023

Die derzeitige Streikwelle ist der größte und am weitesten verbreitete Widerstand gegen das Kapital seit den 1980er Jahren, mit bis zu 3 Millionen Streiktagen zwischen Juni 2022 und Anfang dieses Monats.

Die Bahn, die Post, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Hochschulen und der öffentliche Dienst haben Streiks durchgeführt oder angekündigt. Lokale Streiks, wie bei Abellio-Bussen in London, haben zu dem allgemeinen Gefühl beigetragen, dass sich eine Klasse wehrt.

Die Feuerwehrleute haben gerade ihre Urabstimmung mit 88 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 73 % gewonnen und werden sich sicherlich dem Kampf anschließen, ebenso wie die Ärzt:innen in der Ausbildung, die derzeit ihre Stimme abgeben. Der gemeinsame Streik vom 1. Februar, der von jungen Lehrer:innen vor Ort angeführt wurde, war die erste koordinierte Aktion mit einer halben Million Streikenden und die größte Arbeitsniederlegung seit 12 Jahren.

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir verlieren, wenn die Gewerkschaftsführer:innen sich mit der Art von Vereinbarung zufrieden geben, die angeboten wird, nämlich 4,5 % in diesem Jahr und 4,5 % für 2023-24, wie sie beim Schienenverkehr angepriesen wird, dann würde die Arbeiter:innenklasse eine große Niederlage erleiden, einen Rückgang des Realeinkommens um 12-15 %. Vor diesem Hintergrund wäre es schwer vorstellbar, dass die Gewerkschaften mobilisieren, um das neue Antistreikgesetz zu verhindern.

Wenn wir andererseits inflationsgleiche Lohnerhöhungen oder mehr durchsetzen, dann stellt sich die Frage, ob wir diese Errungenschaften dauerhaft machen können.

Das macht die aktuelle Situation zu einem potenziellen Wendepunkt für den Klassenkampf in Großbritannien. Und nicht nur hier, denn Arbeiter:innen in ganz Europa und Nordamerika beobachten Großbritannien als Land, in dem die weltweite Offensive der Bosse gebrochen werden könnte.

Streikwelle

Die vorherrschende Gewerkschaftsstrategie besteht in ein- oder zweitägigen Streiks, die manchmal kurz hintereinander stattfinden, gefolgt von langen Perioden, in denen geheime Verhandlungen geführt werden.

Das funktioniert nicht. Das einzige, was hilft, ist die Entschlossenheit, auf der vollen Forderung zu bestehen und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen – und das muss von den Gewerkschaftsführungen eingefordert werden, auch von den Linken wie Mick Lynch (RMT, Schienen-, Wasser- Straßentransport) und Pat Cullen (RCN, Pflegepersonal). Wenn isolierte, nicht eskalierende Warnstreiks Erfolg versprächen, hätten sie das schon längst getan.

Die Gefahr besteht darin, dass die Belegschaft durch die Strategie „Wir machen das so lange, wie es nötig ist“ schneller zermürbt wird als die Regierung oder die „Arbeitgeber:innen“ des privaten Sektors. Es droht dann, eine „Wir nehmen alles an, was uns angeboten wird“- Haltung stärker wird oder die Zahl der Nichtstreikenden wächst.

Jetzt gibt es jedoch immer noch eine starke Begeisterung für die Streiks, sowohl unter der Basis als auch in den Unterstützungsgruppen, die in etwa der Hälfte der Londoner Stadtbezirke und über „Enough is Enough“ („Genug ist Genug“) im Süden Manchesters entstanden sind.

Auf nationaler Ebene sind „Enough is Enough“ und People’s Assembly (Volksversammlung) gescheitert, weil die Gewerkschaftsbürokrat:innen (oder ihre politischen Wasser:innen im Falle der People’s Assembly) die Entwicklung eines Klassenkampfes im realen und nicht nur rhetorischen Sinne des Wortes fürchten. Sie wollen die Hände frei haben, um sich bei der ersten Gelegenheit zu einigen. Eine breite, organisierte Militanz in der Arbeiter:innenbewegung könnte sie nämlich zwingen, weiter zu kämpfen und weiterzugehen, als sie wollen.

Die Basis

Der Schlüssel zur aktuellen Streikwelle liegt in der Organisierung der Basis, und zwar sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch – was ebenso wichtig ist – gewerkschaftsübergreifend. Mit „Basis“ meinen wir die Aktivist:innen am Arbeitsplatz, die sich an den Streiks und Urabstimmungen beteiligt oder sie unterstützt haben. Die war deutlich sichtbar bei den Schulkontingenten der NEU (Nationale Gewerkschaft Bildungswesen) am 1. Februar. Andere Gewerkschaften sollten es ihnen gleichtun und in den Betrieben den alten Slogan „Educate, Agitate, Organise (Aufklären, Agitieren, Organisieren)“ befolgen.

Die Aktivist:innen müssen auf lokaler Ebene über bestehende Solidaritätsnetze oder durch den Aufbau eines solchen Netzes sowie auf nationaler Ebene miteinander in Kontakt gebracht werden, damit sie ihre Führung kontrollieren und zur Rechenschaft ziehen können.

Es geht aber nicht nur darum, Erfahrungen auszutauschen, moralische und sogar finanzielle Unterstützung zu gewähren und Streikposten nicht zu übertreten, sondern auch Aktionen zu organisieren. Es gibt z. B. hunderte Vorfälle, von Maßregelungen örtlicher Militanter. Wir brauchen sofortige Streiks, wilde oder inoffizielle, wenn es sein muss, um zu verhindern, dass die Bosse führende Aktivist:innen herausgreifen und unter Druck setzen.

Es sollte nicht unterschätzt werden, wie die Streikwelle – bei der Stimmabgabe, der Organisation von Streikposten und Demos, beim Streik und bei der Teilnahme an Streikposten – beiträgt, neue Gewerkschaftsaktivist:innen zu gewinnen und bestehende zu verändern und politisch weiterzuentwickeln. Das Bewusstsein der Gewerkschaften ist jetzt auf einem Höhepunkt, und das muss zu dauerhaften Ergebnissen führen. Generalsekretär Kevin Courtney berichtet, dass die Bildungsgewerkschaft NEU (National Education Union) in den zwei Wochen seit Ankündigung der Streiks 40.000 neue Mitglieder rekrutiert hat.

Generalstreik

Die NEU hat für den 15. März zum nächsten landesweiten Streik aufgerufen. Mark Serwotka (Vorsitzender der PCS; Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Handel) hat den Aufruf unterstützt und andere Gewerkschaften dazu aufgerufen, sich anzuschließen. Um den Schwung zu steigern, muss der Streik größer geraten als am 1. Februar, eine Million oder mehr.

Die Basis der Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen und Sozialist:innen müssen sich auf dieses Datum vorbereiten, indem sie von ihrer Führung verlangen, dem Aufruf Folge zu leisten, und indem sie inoffizielle Aktionen organisieren, falls sie dies nicht tun. Das bedeutet die Bildung von Aktionsräten mit Delegierten aus lokalen Betrieben, Gewerkschaftszweigen und anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse, um für den Tag zu mobilisieren und zu planen.

Die objektive Situation, einschließlich, aber nicht ausschließlich, des neuen Antistreikgesetzes, wirft sicherlich die Frage nach einem Generalstreik auf. Einige Linke haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen, und insofern dies den Willen zur Einheit widerspiegelt, ist dies verständlich. In der Tat sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den 15. März zu einem solchen zu machen. Dann käme es darauf an, was am Tag danach passiert. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Kundgebungen einen Aufruf zu unbefristeten Massenstreiks beinhalten, so dass die Gewerkschaftsführer:innen ihn nicht ignorieren können.

Es ist klar, dass der Sieg über die Bosse und ihre Regierung nicht durch einen eintägigen Proteststreik errungen werden kann, egal wie groß er auch ausfallen mag.  Was wir mehr als alles andere brauchen, ist, die Gewerkschaften dazu zu zwingen, zu stark eskalierenden Maßnahmen bis hin zu einem Generalstreik aufzurufen.




Iran: Das Regime droht, die Revolution im Blut zu ertränken

Martin Suchanek, Neue Internationale 271, Februar 2023

Seit Monaten versucht das islamistische Regime, die Massenproteste und -erhebungen, die nach dem Mord an Jina Mahsa Amini das Land erschüttern, im Blut zu ertränken.

Im September 2022 erfasste die Bewegung das gesamte Land und nahm vorrevolutionäre Dimensionen mit Hunderttausenden auf den Straßen, regionalen befristeten Generalstreiks an. Die Frauen aus der Arbeiter:innenklasse standen an der Spitze der Bewegung. Die Universitäten bildeten ebenso Zentren des Widerstandes wie die unterdrückten Nationalitäten, deren Regionen zeitweilig durch lokale Massenstreiks vollständig paralysiert wurden. Immer wieder traten auch wichtige Sektoren der Arbeiter:innenklasse durch Arbeitsniederlegungen und Streikaufrufe massiv in Erscheinung.

Die Losung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) war von Beginn weit mehr als die Forderung nach vollen demokratischen und sozialen Rechten für Frauen und andere Unterdrückte, sondern untrennbar mit dem Ziel verbunden, das Mullah-Regime zu stürzen.

Der Ausbruch der Revolution war selbst Resultat der brutalen Repression durch die theokratische Diktatur, ihren Staatsapparat und ihre Scherg;innen. Die reaktionären Bekleidungsvorschriften bildeten so einen Fokus, eine Zusammenfassung eines unterdrückerischen patriarchalen Systems, das zwar weit ältere Wurzeln als die Mullah-Herrschaft aufweist, in denen sich jedoch der Charakter letzterer öffentlich, ideologisch, repressiv, ja mörderisch zusammenfasst.

Zugleich erzeugte die tiefe ökonomische Krise den sozialen Hintergrund der Bewegung. Der islamistische Kapitalismus verwehrt seinen Untertan:innen, allen voran den Frauen und unterdrückten Nationalitäten, nicht nur jede Form der Gleichheit. Er ist immer weniger in der Lage, das Überleben, die Reproduktion der Ausgebeuteten auch nur als Ausgebeutete zu sichern. Seit 2018/19 betrug die Inflationsrate pro Jahr zwischen 30 und 40 %. 2023 soll sie über 40 % betragen. Die Preissteigerungen für Lebensmittel spiegelt das jedoch keineswegs wider. Diese lagen 2022 selbst nach offiziellen staatlichen Angaben bei ca. 100 %.

Repression

Es ist daher kein Wunder, dass das Regime über wenig Spielraum zu Befriedung der Proteste verfügt. Und die wirtschaftlichen Probleme werden auch 2023 nicht geringer werden.

Daher setzt das Regime vor allem auf Repression und ideologische Mobilmachung, verbunden mit kleineren Zugeständnissen. So wurde die besonders verhasste Sittenpolizei, die auch Jina Mahsa Amini umbrachte, als Resultat der Proteste von den Straßen zurückgezogen. Teile des Regimes kündigten sogar die Auflösung der Einheiten an. Ob diese wirklich erfolgt, bleibt jedoch ungewiss.

In jedem Fall ging das Regime, gestützt auf die Polizei, die ultrareaktionären Repressionswächter, Geheimdienste und den Überwachungsapparat mit extremer Brutalität vor.

Seit September 2022 wurden mindestens 520 Demonstrant:innen getötet und mehr als 19.000 festgenommen. Seit Wochen werden Oppositionellen öffentlich Prozesse gemacht und diese medienwirksam zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch wenn einzelne Proteste Verschiebungen von Exekutionen erreichen konnten, so lässt sich seit Wochen eine Stärkung des Regimes beobachten. Öffentliche Prozesse und Hinrichtungen wegen Blasphemie in Kombination mit „Vaterlandsverrat“ erfüllen dabei zwei Funktionen: Einerseits sollen sie die Stärke und Einheit des Regimes, seines Staats- und Repressionsapparates zur Schau stellen und so auch dem reaktionären Anhang, über den die islamistische Diktatur durchaus auch verfügt, Zuversicht und Stärke vermitteln. Zweifelnden und schwankenden Elemente in der Elite oder ihren angelagerten Schichten soll vermittelt werden, dass es sich nicht lohnt, „abtrünnig“ zu werden.

Andererseits soll sowohl der Bewegung als auch ihren Aktivist:innen vermittelt werden, dass sie trotz Massenunterstützung gegen das Regime nicht ankommen und vor die Alternative Tod oder Kapitulation gestellt werden. Symbolträchtige Hinrichtungen wie jene des ehemaligen Vizeverteidigungsministers und britischen Staatsbürgers Akbari sollen deutlich machen, dass wirklich niemand geschont wird. Zudem soll dieser Fall auch suggerieren, dass die Opposition eigentlich von westlichen Geheimdiensten gekauft und kontrolliert werde.

Zweifellos gibt es solche Oppositionspolitiker:innen, zweifellos versuchen proimperialistische, bürgerliche oder auch monarchistische Kräfte, in der Bewegung Fuß zu fassen. Doch insgesamt handelt es sich um eine monströse, reaktionäre Lüge, eine Verleumdung der Millionen Frauen, Arbeiter:innen, Student:innen und der unterdrückten Nationalitäten in Kurdistan oder Belutschistan, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren.

Tausende Inhaftierte und hunderte Ermordete sind heroische Kämpfer:innen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzustehen. Bei den inszenierten Prozessen und Hinrichtungen sollen nicht nur einzelne Personen, nur deren Mut und Entschlossenheit ausgelöscht, sondern auch die revolutionären Möglichkeiten und Hoffnungen, die in der Bewegung sichtbar wurden und die Massen erfassten, im Blut ertränkt werden. Die Ordnung, die die Mullahs wieder festigen wollen, ist auf Leichen gebaut.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Das Schlimmste an der Repression, an den barbarischen Hinrichtungen ist jedoch, dass sie eine wirkliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Regimes ausdrücken. Ein Sieg der Konterrevolution – und mag er auch nur zeitweilig sein – droht, sollte sich die Lage nicht grundlegend verändern.

Angesichts dieser Situation stellen sich zwei, miteinander verbundene Fragen: 1. Warum kam es zu dieser Verschiebung des Kräfteverhältnisses, obwohl Millionen das Regime stürzen wollten? 2. Welche Lehren sind daraus zu ziehen, um bei einem neuen Ansturm besser vorbereitet und erfolgreich zu sein?

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und der Bildung von Soldatenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder muss sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrüclung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nicht-monarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Stoppt den Putsch im Sudan!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1168, 26. Oktober 2021

Am Morgen des 25. Oktober kam es in Khartum zu einem Staatsstreich. General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan, Vorsitzender des Souveränen Rates, der die Macht zwischen Militär und ZivilistInnen teilt, kündigte die Verhaftung von Premierminister Abdalla Hamdok und seines Kabinetts an. Hamdok, ein Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger hoher UN-Beamter, der 2019 zum technokratischen Premierminister ernannt wurde, befindet sich derzeit an einem unbekannten Ort, nachdem er sich geweigert hatte, den Putschversuch zu unterstützen.

Widerstand

Tausende von DemonstrantInnen gingen sofort auf die Straße, wie bei der Revolution 2019. Sie marschierten, um das Hauptquartier des Militärs in der Hauptstadt zu belagern, wurden aber von den SoldatInnen unter Beschuss genommen. Zur Speerspitze der Konterrevolution gehören die Truppen der Rapid Support Forces (Schnelle Unterstützungskräfte; RSF), einer Einheit, die aus den Milizen hervorgegangen ist, die während des Krieges in Darfur und später während der Revolution 2019 mörderische Verbrechen verübt haben.

Unterdessen rief die Sudanese Professionals Association (Sudanesische Vereinigung der professionellen Berufe; SPA), eine der HauptorganisatorInnen der Revolution 2019, zum Widerstand auf:

„Wir rufen die Massen auf, auf die Straße zu gehen und sie zu besetzen, alle Straßen mit Barrikaden zu sperren, einen allgemeinen Arbeitsstreik durchzuführen und nicht mit den Putschisten zu kooperieren und ihnen mit zivilem Ungehorsam entgegenzutreten.“

Auch die Sudanesische Kommunistische Partei rief die ArbeiterInnen zum Streik und zum massenhaften zivilen Ungehorsam gegen den Putsch auf. Die KP hatte seit einem gescheiterten Putsch am 21. September vor der drohenden Gefahr gewarnt, als sie erklärte: „Wir brauchen ernsthaftere Maßnahmen, um die Säulen des früheren Regimes zu beseitigen, insbesondere in den Streitkräften, dem Sicherheitsdienst und der Polizei.“

Bei dieser Gelegenheit eilten Hemeti (Mohammed Hamdan Dagalo; Vizechef des Militärrates und Oberbefehlshaber der RSF) und Abdel Fattah Burhan in die Kasernen, die damit beschäftigt waren, den Putsch zu unterdrücken, und letzterer beruhigte die Soldaten: „Die Streitkräfte führen den Wandel an und bringen ihn dorthin, wo sie wollen“. Jetzt wissen wir genau, wohin sie wollen.

Die Machtübernahme durch das Militär erfolgte nach einem Putschversuch im September und einer Blockade der Häfen des Landes am Roten Meer, die von Kräften geschürt wurde, die der ehemaligen Diktatur von Umar al-Baschir treu ergeben sind.

Darüber hinaus hatten in den letzten Wochen knüppelschwingende Banden von AnhängerInnen des früheren Regimes mobilisiert und LoyalistInnen unter dem Schutz des Militärs zu einem Sitzstreik aufgerufen, bei dem sie offen einen Staatsstreich forderten. Diese wurden von Zehntausenden von DemonstrantInnen beantwortet, die das Primat ziviler Herrschaft verteidigen wollen, was von der Polizei mit Gewalt beantwortet wurde.

Es ist wahrscheinlich, dass die ominösen Ereignisse der letzten Wochen eine Vorbereitung der Generäle und konterrevolutionären Rebellen auf einen Staatsstreich darstellten. Gleichzeitig geriet die amtierende Regierung unter zunehmenden Druck der Bevölkerung, Schritte in Richtung einer stärkeren zivilen Kontrolle zu unternehmen, verbunden mit Frustrationen über die wirtschaftliche und soziale Leistung des Regimes.

In den Städten kam es zu einer zunehmenden Lebensmittelknappheit, die durch die Zustimmung der Hamdok-Regierung zu Preiserhöhungen bei Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern, die der IWF als Bedingung für einen Schuldenerlass für den Sudan gestellt hatte, noch verstärkt wurde und zu einer galoppierenden Inflation führte. Aus Angst vor einer fortschrittlichen Lösung der gegenwärtigen Krise durch eine Welle sozialer Mobilisierungen haben sich die Militärs offenbar zum Handeln entschlossen.

Inzwischen haben die EU und die USA den Putsch verurteilt und sich für die Demokratie ausgesprochen. Aber es waren Institutionen unter ihrer Kontrolle, die zu dieser Situation beigetragen haben, sei es durch die Finanzierung der schnellen Eingreiftruppen im Rahmen des Khartum-Prozesses der EU, der darauf abzielt, Flüchtlinge zu stoppen, oder durch die Wirtschaftspolitik des IWF.

Dies zeigt die Gefahr der imperialistischen Mächte als Verbündete im Streben nach Demokratie. Ihre Demokratie fordert immer einen hohen Preis von den ArbeiterInnen und Armen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet bereits unter schwerer Nahrungsmittelknappheit. Da die Regierung in ihrem Sinne gehandelt hat, haben die USA und die EU den Staatsstreich in diesem Fall scharf verurteilt. Ein US-Gesandter hatte Hamdok sogar gerade besucht.

Revolutionäre Aufgaben

Die Zukunft der 2019 errungenen begrenzten Demokratie hängt nun von der Macht der ArbeiterInnenklasse und der Jugend ab, um das Land zum Stillstand zu bringen, die einfachen SoldatInnen für sich zu gewinnen und die Revolution, die durch die Vereinbarung mit dem Militär über ein gemeinsames Regime bis zu den Wahlen im Jahr 2023 gestoppt wurde, fortzuführen. Die 2019 gebildeten Widerstandskomitees bestehen weiter und müssen zu Räten gestärkt werden, die alle ArbeiterInnen, Frauen, StudentInnen und SoldatInnen vertreten, die auf die Seite der Massen übergehen. Der Putsch beweist, dass die Teilung der Macht mit den Generälen des alten Regimes eine gefährliche Illusion war und bestätigt den Ausspruch des französischen revolutionären Jakobiners Saint Just: „Wer die Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“.

Wir haben immer argumentiert, dass jedes stehende Heer – solange es unter dem Kommando der Generäle und des Offizierskorps steht – eine tödliche Waffe gegen das Volk bildet. Eine wesentliche frühe Aufgabe jeder echten Volksrevolution ist es, ihnen die Herrschaft über den Repressionsapparat zu entreißen, die einfachen SoldatInnen vom Kommando der Offiziere zu brechen und sie auf die Seite der Massen, insbesondere der ArbeiterInnen, zu bringen und ein revolutionäre Selbstverteidigungskräfte unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen- und Volksräte zu bilden.

Entscheidend ist, dass der Generalstreik und der Massenwiderstand auf der Straße wirksam sind und die einfachen SoldatInnen sowie die UnteroffizierInnen und niederen Offiziersränge dazu bringen, zum Volk überzulaufen. Die aktuelle Widerstandsbewegung muss sich insbesondere auf die Stärke der revolutionären Frauen und Jugendlichen stützen, die bei der Revolution 2019 eine führende Rolle gespielt haben. Und wenn dies geschieht, darf die Revolution dieses Mal nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sie darf sich auch nicht mit einer Regierung aus zivilen TechnokratInnen zufrieden geben, die Hand in Hand mit dem IWF, den USA, der EU und den anderen imperialistischen Mächten arbeiten.

Was die gegenwärtige Krise auf soziale, demokratische und nachhaltige Weise lösen kann, ist eine Regierung, die sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine Regierung, die sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte stützt und in der Lage ist, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen, um die dringenden Bedürfnisse der Land- und Stadtbevölkerung zu erfüllen.

In anderen Ländern müssen sich SozialistInnen und GewerkschafterInnen mit den Exil-SudanesInnen zusammentun, um gegen den Putsch zu demonstrieren und Nahrungsmittel- und medizinische Hilfe zur Bekämpfung von COVID und der Wirtschaftskrise sowie ein Ende des Diktats des IWF zu fordern.




Kolumbien: Solidarität mit dem Massenaufstand!

Tom Burns, Workers Power USA und Carlos Magrini, Liga Socialista Brasilien, Infomail 1150, 17. Mai 2021

Kolumbiens rechtsextremer Präsident Iván Duque zündete die Lunte für einen Aufstand der kolumbianischen ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten mit einer vorgeschlagenen Steuererhöhung, die angeblich 8 Milliarden US-Dollar einbringen soll. Damit sollen die Schulden des Landes getilgt werdeb, die vom IWF mit 43 (netto) bis 49 (brutto) Prozent des BIP des Landes berechnet wurden. Der Gesetzentwurf zur Steuerreform, der am 15. April an den Kongress geschickt wurde, beinhaltete eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent auf grundlegende Dienstleistungen wie Strom, Gas, Internet, Wasser und Abwasserentsorgung, aber auch – bizarrer Weise – auf Bestattungsdienste.

Außerdem wurde eine Erhöhung des Benzinpreises angekündigt. Alle Beschäftigten, die mehr als das Doppelte des Mindestlohns verdienen, würden außerdem zur Zahlung von Einkommensteuer herangezogen. Auch die Mittelschicht wäre mit Steuererhöhungen von 300 bis 500 Prozent hart getroffen, was viele kleine Unternehmen vor den Ruin stellen würde.

Korruption, Ungleichheit, Armut, brutale staatliche Repression: alle vier bildeten die Katalysatoren hinter der Explosion einer Massenbewegung. Alle vier wurden durch die CoVid-19-Pandemie verstärkt und verschlimmert. Deren Ausbruch und der darauffolgende landesweite Lockdown entschärften den Generalstreik 2019 gegen Duques vorherige Steuer„reformen“. So erwies sich Duques zweiter Raubzug auf die hoffnungslos niedrigen Einkommen der Menschen als letzter Strohhalm. Die Arbeitslosigkeit lag bereits bei 19 Prozent; vier Millionen in einer Nation von 50 Millionen.

Reaktion der Massen

Die Reaktion der Massen erfolgte unmittelbar. Die Gewerkschaftsverbände Zentrale ArbeiterInnengewerkschaft (CUT), Konföderation der Kolumbianischen ArbeiterInnen (CTC) und Allgemeine Arbeitsföderation (CGT) riefen für Mittwoch, den 28. April, zu einem Generalstreik auf, trotz eines Gerichtsurteils, das Demonstrationen an diesem Tag und am 1. Mai verbot. Obwohl die Gewerkschaften selbst nur 4 Prozent der Lohnabhängigen vertreten, nämlich 850.000 Mitglieder, fiel die Reaktion der Bevölkerung auf den Aufruf massiv aus.

Doch Duque ließ sich nicht beirren und ging gewaltsam gegen die DemonstrantInnen vor, vor allem mit der berüchtigten mobilen Schwadron zur Bekämpfung von Unruhen, der ESMAD. Diese wurde 1999 unter Präsident Andrés Pastrana während des Krieges mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, FARC, und der Nationalen Befreiungsarmee, ELN, gegründet. Seit ihrer Gründung verging kein Jahr, in dem die ESMAD nicht in Gewalt gegen Organisationen der Massen verwickelt war. 2013 spießten ihre AgentInnen einen Bauern während eines Streiks von BäuerInnen auf. Aber dieses Mal hat die Repression nicht funktioniert.

Die Gewerkschaften beschlossen, die Proteste im ganzen Land aufrechtzuerhalten, und am 1. Mai gingen ArbeiterInnen, StudentInnen, Indigene, prekär Beschäftigte und Arbeitslose erneut in den wichtigsten Städten des Landes auf die Straße. Und wieder ging die Polizei mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen auf sie los, mit dem Ergebnis, dass während der gesamten fünf Tage der Konfrontation nach Angaben des Verteidigungsministeriums selbst 19 Menschen getötet, 846 verletzt und 431 Personen von der Polizei festgenommen wurden. Duque setzte auch Panzer auf den Straßen ein und verwendete sogar Black-Hawk-Hubschrauber (Sikorsky UH-60).

Zuckerbrot und Peitsche

Dann, am 2. Mai, zog Duque, unfähig, den Aufstand zu unterdrücken, das Steuerreformgesetz zurück und Alberto Carrasquilla, der Finanzminister, trat zurück. Trotzdem gingen die Proteste weiter, der nächste Höhepunkt war der 5. Mai. DemonstrantInnen füllten die Straßen von Bogotá und LKW-FahrerInnen blockierten die Hauptverkehrsstraßen zwischen den großen Städten. Bewaffnete Gruppen der extremen Rechten griffen indigene DemonstrantInnen in (Santiago de) Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, an und versuchten, die Blockaden zu durchbrechen. Am 7. Mai waren 26 Protestierende tot und 90 Menschen „verschwunden“.

Die Antwort der Regierung auf die DemonstrantIonen war sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche, ein kleines Zuckerbrot und eine große Peitsche. Einerseits rief Duque zu einem nationalen Dialog auf, während er gleichzeitig die DemonstrantInnen als TerroristInnen bezeichnete und damit drohte, den Zustand ziviler Unruhen, eine Form des Kriegsrechts, auszurufen. Sandra Borda, eine Kolumnistin der kolumbianischen Zeitung El Tiempo, brachte es in einem Interview mit der New York Times auf den Punkt: „Die Menschen können sich nicht zu einem Dialog mit einer Regierung zusammensetzen, die in der Nacht Menschen tötet, die protestieren, und am Tag die Hand zum Gespräch ausstreckt.“

Uribe, früherer Präsident und Gottvater der Rechten, der die Steuererhöhungen kritisiert hatte, twitterte Aufrufe zu einer umfassenden militärischen Intervention, d. h. zu einem Staatsstreich. Aber niemand hat vergessen, dass es Uribe war, der zwei Amtszeiten als Präsident diente und das Oberhaupt einer korrupten, mafiösen politischen Clique ist, die massive Misshandlungen und Tötungen zu verantworten hatte, die von der ESMAD und dem Militär begangen wurden. Der jahrzehntelange Krieg mit FARC und ELN endete vor fünf Jahren, als Uribe endlich ein Waffenstillstandsabkommen aushandelte. Tatsächlich hat der Krieg der Regierungstruppen und der rechten Todesschwadronen gegen die Organisationen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und der indigenen Gemeinden nie wirklich geendet. Über tausend ihrer AnführerInnen wurden seit dem Friedensabkommen ermordet.

Uribes Unzufriedenheit mit Duque besteht darin, dass seine Sparpolitik und Repression es immer sicherer machen, dass der Kandidat des rechten Flügels die Wahlen im nächsten Jahr gegen den ehemaligen M-19-Guerillero der 1980er Jahre, Gustavo Petro, verlieren wird, der jetzt Senator und Vorsitzender von Colombia Humana ist, einer linken sozialdemokratischen Partei. Seine Unterstützung ist laut Meinungsumfragen von 25,9 Prozent im August letzten auf 38,3 Prozent im April dieses Jahres angestiegen.

Die spontane Massenbewegung auf den Straßen bezieht die Basis der Gewerkschaften, junge ArbeiterInnen in prekären Arbeitsverhältnissen, StudentInnen, Arbeitslose, indigene Volkskollektive, Bauern, Bäuerinnen und fortschrittliche Teile der Mittelschichten ein. Aber die Bewegung steht vor einer Führungskrise. Die FührerInnen der CUT und CGT im Nationalen Streikkomitee haben versucht, die Aktionen der ArbeiterInnen auf eintägige Arbeitsniederlegungen zu beschränken, in der Hoffnung, dadurch ein akzeptables Zugeständnis der Regierung zu erzwingen. Sie hoffen, dass Petro die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gewinnt, anstatt zu riskieren, einen unbefristeten Generalstreik auszurufen, um die Regierung zu stürzen.

Es ist klar, dass Verhandlungen, die die Mafia von Duque und Uribe und die Generäle an der Macht lassen, nichts bringen werden. Die Regierung Duque steht am Rande des Zusammenbruchs, und Kolumbien befindet sich ganz klar in einer revolutionären Situation, die die Alternative stellt: Revolution oder Konterrevolution. Aber keine Bewegung kann auf unbestimmte Zeit verlängert werden und die Erschöpfung der Massen könnte einsetzen und den Weg für einen Militärputsch öffnen. Deshalb muss die Bewegung das Ziel annehmen, Duque und die gesamte herrschende Klasse zu stürzen, die die einfachen KolumbianerInnen so lange beraubt hat.

Dies würde die Bildung von Delegiertenräten aus allen ArbeiterInnen- und Massenorganisationen an der Basis erfordern. Sie müssten zu ihrer eigenen Sicherheit bewaffnet werden. Gleichzeitig bedeutet es die Schaffung einer Partei, die den Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung führen kann. In dieser Revolution muss der brutale Repressionsapparat zerbrochen werden, indem man die einfachen SoldatInnen für die Seite des Volkes gewinnt. Kurz gesagt, die ArbeiterInnen, BäuerInnen und die Jugend müssen die Kontrolle über das Land übernehmen.

Die Rolle des US-Imperialismus

Die Vereinigten Staaten sind langfristig mitverantwortlich für die wiederholten Wirtschaftskrisen und Kriege in Kolumbien. Der Plan Colombia, der 1999 von Präsident Andrés Pastrana mit US-Präsident Bill Clinton vereinbart wurde, sollte angeblich den Drogenhandel stoppen, in Wirklichkeit aber der Regierung helfen, den langen Konflikt mit der FARC zu gewinnen. Im Mittelpunkt stand daher die Stärkung des kolumbianischen Militärs. Black-Hawk-Hubschrauber und andere militärische Ausrüstung wurden an die kolumbianischen Sicherheitskräfte übergeben. Im Zuge der Drogenbekämpfungsprogramme kam es zu mörderischen Angriffen auf Bauern und Bäuerinnen und ganze Dörfer. Das Militär und die mit ihm verbundenen Todesschwadronen nutzten die US-Großzügigkeit, um im Namen der völlig korrupten Elite des Landes einen schmutzigen Krieg gegen bäuerliche Organisationen und Gewerkschaften zu führen. Der Effekt war, dass sich Ungleichheit und Armut, die im Land bereits grassierten, noch weiter verschlimmerten.

Das kolumbianische Militär ist seit langem ein Werkzeug des US-Imperialismus, der die Region beherrscht, und seine politische Elite ist ihren Herren im Norden stark verpflichtet. Dies war unter den US-Präsidenten der Demokratischen und Republikanischen Partei gleichermaßen der Fall: Clinton, Bush, Obama und Trump, die alle den Vorwand des „Krieges gegen die Drogen“ ausnutzten. Im Rahmen des „Plan Colombia“ haben amerikanische SoldatInnen zwischen 2000 und 2014 militärische Ausbildung, nachrichtendienstliche Unterstützung und taktische Hilfe bei Operationen gegen FARC und ELN geleistet. US-Spezialeinheiten nutzen kolumbianische Militärbasen, um Destabilisierungsmaßnahmen, wie in Venezuela, oder regelrechte Putsche, wie in Bolivien, durchzuführen.

Wird sich das unter dem neuen US-Präsidenten ändern? Nicht, wenn man es ihm und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite des Landes überlässt, so viel ist sicher. Joe Biden war eine Schlüsselfigur bei der Durchsetzung des „Plan Colombia“ im US-Senat und später, als Obamas Vizepräsident, ein entschiedener Befürworter der Militarisierung der kolumbianischen Polizei. Es gibt auch wichtige US-Investitionen in der Region, in der sich Ölpipelines im Besitz von US-Unternehmen befinden.

Das Weiße Haus und der Kongress waren sich durchaus bewusst, dass die kolumbianische Regierung diese Ausrüstung benutzte, um Tausende von ZivilistInnen zu massakrieren und indigene Gemeinden ins Visier zu nehmen. Kürzlich wurde enthüllt, dass ein US-Militärbeamter beim Massaker von El Mozote in El Salvador anwesend war. Obamas Putsch in Honduras hatte auch den Tod von indigenen Mayas durch die Hände der von den USA ausgebildeten und beratenen honduranischen Polizei und SoldatInnen zur Folge. Wie immer haben die USA versucht, die Profite ihrer Banken und Konzerne in ganz Lateinamerika zu steigern, durch verstärkte Privatisierung und Präsenz von US-Unternehmen in der Region, die gegen chinesische und EU-RivalInnen kämpfen.

Die Repression während der aktuellen Protestwelle wurde von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International verurteilt. Auch im Kongress haben inzwischen einige demokratische SenatorInnen die Polizeirepression in Kolumbien kritisiert. Es scheint, dass Duque und seine KumpanInnen in Panik sind, weil sie befürchten, nicht die gewohnte rückhaltlose Unterstützung zu erhalten, die sie aus Washington erwarten. Sicherlich sollten wir uns nicht darauf verlassen, aber es zeigt, dass, wenn wir in den USA eine starke Kampagne führen, dies der Bewegung im Lande helfen wird.

Solidarität

Die Repression ist eine mit vielen Parallelen innerhalb der Vereinigten Staaten. Wir haben die Tötungen durch die Polizei aus erster Hand miterlebt, als wir für George Floyd und Breonna Taylor marschierten und für Andrew Brown, Daunte Wright und Adam Toledo auf die Straße gingen. Wir haben auch die brutale Politik der Drogenvollzugsbehörden im eigenen Land erlebt. Tausende von Farbigen bevölkern die Gefängnisse der Nation aufgrund des „Kriegs gegen Drogen“. Wir haben auch eine zunehmende Militarisierung unserer eigenen Polizeikräfte gesehen, da schwere gepanzerte Fahrzeuge und Waffen aus Afghanistan zurückgebracht und an die Polizei gegeben werden.

Die DemonstrantInnen in Kolumbien brauchen die Unterstützung ihrer Klassenbrüder und -schwestern im „Bauch der Bestie“, dem US-Imperialismus. Deshalb müssen wir vor den kolumbianischen Konsulaten und Botschaften demonstrieren, genauso wie wir gegen unsere eigene Polizeibrutalität marschieren und damit zeigen, dass unser gemeinsamer Feind der US-Imperialismus ist. Die Gewerkschaften und die Demokratischen Sozialisten Amerikas sollten für einen sofortigen Stopp aller finanziellen und logistischen Hilfen der USA an das kolumbianische Militär kämpfen. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, um dies durch ArbeiterInnensanktionen durchzusetzen, wo immer dies möglich ist.

Eine ähnliche Solidaritätsbekundung ist aus Ländern in ganz Süd- und Mittelamerika notwendig. Alle Länder hier haben einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ihrer Volkswirtschaften um mindestens sieben Prozent erlebt und die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt. In Brasilien haben wir unter der autoritären Herrschaft von Jair Bolsonaro gelitten, dessen kriminelle Politik, wie die Blockade ernsthafter Maßnahmen gegen CoVid durch die Regierungen einzelner Bundesstaaten, zu einer enormen Zahl von Toten geführt hat. Die Situation hat sich im Jahr 2021 durch die Ausbreitung von P.1, der brasilianischen Variante, verschlimmert, die sich durch die Bevölkerung zieht und zu den täglich steigenden Todesraten beiträgt.

Bolsonaro hat das Militär offen ermutigt, einen Putsch zu unternehmen, um eine Niederlage bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu vermeiden. Das zeigt nicht nur, wie sehr wir internationale Klassensolidarität brauchen, sondern auch, wie schnell sich in jedem Land unserer Region revolutionäre Situationen entwickeln können, die die gleichen Fragen aufwerfen, einschließlich einer gemeinsamen Strategie für die Macht der ArbeiterInnenklasse und einer internationalen revolutionären Partei, die dafür kämpft.




Myanmar: Generalstreik und Riesendemonstrationen erschüttern die Militärherrschaft

Dave Stockton, Infomail 1140, 25. Februar 2021

Riesige Menschenmengen füllten am 22. Februar die Straßen der Städte Myanmars (Burma). Diese Tag war jener der bisher größten Proteste gegen die Machtübernahme am 1. Februar durch die korrupten und brutalen Tatmadaw, die Streitkräfte des Landes, unter der Führung von General und Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing. Die schiere Größe der Demonstrationen spiegelt die Tatsache wider, dass die ArbeiterInnen bei den Eisenbahnen, in Geschäften und Fabriken, Büros und Schulen das Land in einem massiven Generalstreik lahmgelegt hatten.

Obwohl die Polizei in der offiziellen Hauptstadt Naypyidaw Menschenmengen mit Wasserwerfern angriff, gab es bisher keine massive Welle der Repression wie 1988. Dies zeigt sowohl die Vorsicht der Generäle als auch ihre Einsicht, dass im Gegensatz zum großen Massaker von 1988 die ganze Welt zusieht.

Massenbewegung

Wie schon Tag für Tag seit Beginn des Monats, bildeten sich die größten Menschenmengen in Yangon (Rangun) und Mandalay, den beiden größten Städten des Landes. In Yangon trugen sie ein breites Transparent mit der Aufschrift „Power to the People“ (Macht dem Volk) in englischer Sprache, was eindeutig eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft bildet. Demonstrationen fanden auch in Myitkyina statt, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Kachin, deren ethnische Minderheit eine lange Geschichte des Kampfes gegen aufeinanderfolgende Zentralregierungen aufweist.

Die Bewegung für zivilen Ungehorsam (CDM), eine lose Koordinationsgruppe des Widerstands, rief die Menschen auf, sich am Montag für eine „Fünf-Zweier-Revolution“ oder eine „Frühlingsrevolution“ zu vereinen. Diese Anspielung auf das Datum 22.2.2021 erinnert an die riesige Anti-Diktatur-Mobilisierung vom 8. August 1988, bekannt als die „Vier 8er“, die vom Militär beschossen wurde. Dieses Mal haben sich die Tatmadaw, zumindest bisher, mehr zurückgehalten.

Es gab jedoch eine drohende Stellungnahme des Militärs, die vom staatlichen Sender MRTV übertragen wurde und die friedlichen DemonstrantInnen des „Aufruhrs und der Anarchie“ beschuldigte. In ihr wurde behauptet, dass die OrganisatorInnen „jetzt die Menschen, besonders die emotionalen Teenager und Jugendlichen, zu einem Konfrontationskurs aufstacheln, bei dem sie den Verlust ihres Lebens erleiden werden“.

In der Tat haben bereits drei Menschen ihr Leben verloren, zwei davon am Sonntag in Mandalay. In der Zwischenzeit hat das Militär im Schutze der Dunkelheit Menschen zusammengetrieben, die sie verdächtigen, die OrganisatorInnen zu sein. Nach Angaben der unabhängigen Hilfsvereinigung für politische Gefangene (AAPP) sind es bisher 640.

Am 19. Februar fand eine riesige Begräbnisfeier für Mya Thwate Thwate Khaing statt, eine 20-jährige Supermarktangestellte, die in den Kopf geschossen wurde, als die Polizei das Feuer eröffnete, um DemonstrantInnen zu zerstreuen. Sie konnte 10 Tage lang noch mit lebenserhaltenden Maßnahmen gerettet werden, bevor sie kurz nach ihrem Geburtstag starb. Zwei weitere DemonstrantInnen, ein Teenager und ein Mann Anfang zwanzig, wurden in Mandalay getötet, als Truppen und Polizei mit scharfer Munition versuchten, die Menschenmenge zu zerstreuen.

Internationale Reaktionen

Der Sonderberichterstatter der UNO für Menschenrechte in Myanmar, Tom Andrews, erklärte: „Mit Wasserwerfern über Gummigeschosse bis hin zu Tränengas  feuern nun verstärkte Truppen aus nächster Nähe auf friedliche DemonstrantInnen. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben, jetzt.“

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Präsident Joe Biden und der US-Außenminister, Anthony Blinken, sowie führende Politiker der EU und Großbritanniens haben alle den Putsch verurteilt und Sanktionen gegen seine AnführerInnen angedroht. China hat jedoch geschwiegen, und der Grund dafür ist nicht schwer zu erkennen: der China-Myanmar-Wirtschaftskorridor, eine Reihe von Infrastrukturprojekten, die als Teil von Pekings „One Belt, One Road“ im Bau sind. Dieser wird China mit dem myanmarischen Hafen von Kyaukpyu am Indischen Ozean verbinden und es dem Handel ermöglichen, die Straße von Malakka zu umgehen, eine der verkehrsreichsten Schifffahrtsrouten der Welt und ein möglicher Punkt zur Abriegelung für die US-Marine in jedem internationalen Konflikt.

Die Beziehungen des Militärs zu China sind jedoch alles andere als gut, da die chinesische Regierung seit langem Waffen an die Kachin-RebellInnen geliefert und gute Beziehungen zu Aung San Suu Kyi gepflegt hat. Während China es gegen UN-Resolutionen schützen wird, wird der Putsch es sicherlich international isolieren zu einer Zeit, in der Myanmars Wirtschaft schwächelt.

Perspektive

Obwohl die tapfere Jugend und die ArbeiterInnen auf den Straßen der burmesischen Städte zweifellos auf die „westlichen Demokratien“ blicken, um ihnen zu Hilfe zu kommen, wird sich dies mehr auf wortreiche Verurteilungen als auf eine sinnvolle Aktion beschränken. Die Protestierenden werden auf ihre eigene Kraft setzen müssen, besonders auf den Generalstreik, um dem Militär zu zeigen, dass das Land stillstehen wird, bis es in seine Kasernen zurückkehrt.

Sollten die Generäle nachgeben, was ungeheuer demütigend wäre, zeigt die bisherige Bilanz, der legalen Regierungschefin Suu Kyi, dass sie immer noch ihre letzte Hoffnung sein könnte, um einen völligen Zusammenbruch des Regimes zu verhindern. Dies zeigt ihr Verhalten während der fünf Jahre, in denen ihre Nationale Liga für Demokratie (NLD) an der Regierung war. Besonders ihre Haltung zur ethnischen Säuberung der Rohingyas zeigt, dass sie bestenfalls eine sehr konservative Figur ist, deren Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie mit der Tatsache verbunden und ihr untergeordnet ist, dass sie mehrheitlich eine Bamar-Chauvinistin (Bamar: größte Ethnie Myanmars) ist. Sie hegt eindeutig nicht den Wunsch, die von ihrem Vater gegründete militärische Institution zu zerstören.

Trotzdem hat sie damit gedroht, ihre große parlamentarische Mehrheit zu nutzen, um Verfassungsänderungen vorzulegen, die den Anteil des Militärs an den Parlamentssitzen schrittweise von 25 Prozent, wie es die Verfassung von 2008 vorschreibt, auf nur fünf Prozent schrumpfen lassen. Dies hat sicherlich der dominierenden konservativen Fraktion der Tatmadaw den Wind aus den Segeln genommen, aber sollte der Coup ins Wanken geraten und nachgeben, wird zweifellos ein angeblich liberaler Flügel bereit sein, einen Deal mit Aung San Suu Kyi abzuschließen, und sie mit ihm.

Es ist daher dringend notwendig, dass im Zuge der Massenbewegung und der Generalstreiks alternative Machtorgane, Räte und Verteidigungsmilizen, aufgebaut werden und Kontakte in den Kasernen unter den einfache SoldatInnen ohne Befehlsgewalt hergestellt werden. Die gegenwärtige Bewegung muss von ihren begrenzten Forderungen, die NLD-Regierung wiederherzustellen und Suu Kyi aus dem Arrest zu befreien, zu revolutionären Zielen wie einer souveränen verfassunggebenden Versammlung übergehen, deren Delegierte gewählt werden und unter der Kontrolle der Massen stehen, ein Gremium, das alle Institutionen des burmesischen Staates und der Wirtschaft auf den Prüfstand stellen kann. Nur so kann eine konservative Restauration von Suu Kyi und der Erhalt der realen Macht der Generäle verhindert werden. Das Schicksal des Arabischen Frühlings 2011 in Ägypten sollte eine eindringliche Warnung sein.

Im Prozess der Kampagne für eine verfassunggebende Versammlung können SozialistInnen dafür kämpfen, eine demokratische in eine soziale Revolution zu verwandeln und eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenrätedemokratie aufzubauen. Nur dann wird das Gespenst künftiger Militärputsche für immer gebannt sein.




Indien: Einheit von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen kann Modis neoliberalen Anschlag aufhalten

Bernie McAdam, Infomail 1137, 3. Februar 2021

Indische Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen führen einen massiven Kampf zur Aufhebung von drei Agrargesetzen, die im September vom Parlament verabschiedet wurden und die ländliche Wirtschaft deregulieren und weiter privatisieren. In diesem Kampf haben sie die Unterstützung der indischen ArbeiterInnenklasse, die im November erneut ihren eigenen geschichtlichen Rekord für den größten eintägigen Generalstreik brach.

Über 300.000 Bauern und Bäuerinnen und ihre UnterstützerInnen campierten an den Grenzen von Neu-Delhi. Sie leisten Widerstand gegen die bauern-/bäuerinnenfeindlichen Gesetze von Premierminister Narendra Modi. Am 26. Januar stieß ein Marsch mit Tausenden von Traktoren an der Spitze in Delhi mit der Polizei zusammen, als die DemonstrantInnen die Absperrungen um das historische Rote Fort (Festungs- und Palastanlage aus der Epoche des Mogulreiches, erbaut 1639–1648; d. Red.) durchbrachen. Modi hat versucht, die „Gewalt“ zu skandalisieren, um die enorme öffentliche Unterstützung zu schwächen, die die Protestbewegung insbesondere seitens der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse genießt.

Zur Zeit der Grünen Revolution in den 1950er und 1960eår Jahren führte die Regierung der Kongresspartei einen garantierten „Mindeststützungspreis“ oder MSP ein, vor allem für Reis und Weizen, die über von den Bundesstaaten betriebene Agrarmärkte, sogenannte Mandis, verkauft wurden. Modi sieht in diesem System ein Hindernis für die vollständige Kapitalisierung der Landwirtschaft und die Vertreibung der „überschüssigen“ Bevölkerung vom Lande. Es wurden bereits Sonderwirtschaftszonen geschaffen, indem der Staat Land für die industrielle Entwicklung an sich gerissen hat. Aber sie beinhalten auch Luxuswohnungen für die wachsende Mittelschicht des Landes mit Golfplätzen und Privatgärten, wo einst Dörfer standen.

Modis Regime und die Hindutva-Ideologie

Dieser jüngste Kampf gegen Modis hindu-chauvinistische Regierung findet vor dem Hintergrund einer zerstörten Wirtschaft und einer brutalen und schlecht geführten Reaktion auf die Pandemie statt. Während der anfänglichen Abriegelung im März 2020 waren Zehntausende von WanderarbeiterInnen gezwungen, Hunderte von Kilometern zu ihren Heimatdörfern zu laufen, da jeglicher Transport gestoppt wurde. Die Arbeitslosigkeit schoss auf 24 % empor! Die Zahl der Covid-Infektions- und der Todesfälle ist in die Höhe geschnellt, obwohl viele ungezählt bleiben, da mehrere indische Bundesstaaten entgegen dem Rat der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Verdachtsfälle nicht in die endgültige Zählung einbeziehen.

Als Modis Regime 2014 gewählt wurde, wurde sein Sieg mit nur 30 % der Stimmen, aber einem Erdrutschsieg an Sitzen dank des undemokratischen Mehrheitswahlrechts gesichert. Das Großkapital gab Modi seinen Segen, weil es glaubte, dass er eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt anführen könnte, um mit den Leistungen Chinas zu konkurrieren und zum zweiten wirtschaftlichen Kraftzentrum Asiens zu werden.

Modis Hintergrund ist die Rashtriya Swayamsevak Sangh, (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS), eine paramilitärische rechtsgerichtete hindu-nationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager hat. Sie entstand in den 1920er Jahren als eine antibritische, aber streng hinduistische und anti-muslimische Gruppe. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute eine Mitgliederzahl von 5 bis 6 Millionen haben. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hindu-Organisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP ihre politische Vertreterin ist.

Die RSS basiert auf einer Ideologie der religiösen Vorherrschaft, Hindutva, die das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde mit einer Bevölkerung von 1,36 Mrd. Menschen in einen verheerenden kommunalistischen Konflikt zu stürzen droht. Sie kämpft für einen Hindu Rashtra (Hindu-Staatswesen) in einem Land mit 200 Mio. MuslimInnen und 30 Mio. Christen und verurteilt diese zu einem Status zweiter Klasse, ebenso wie sie für eine verstärkte Unterdrückung von Dalits, der indigenen Bevölkerung des Subkontinents, von Frauen und sexuellen Minderheiten eintritt. Als Modi Ministerpräsident von Gujarat war, wurde er weithin beschuldigt, die antimuslimischen Unruhen von 2002 geschürt zu haben, bei denen über 1.000 MuslimInnen ermordet wurden. Selbst US-Präsident Bush (jun.) verweigerte ihm daraufhin die Einreise in die Vereinigten Staaten. Doch Obama machte dies bald wieder rückgängig, nachdem Modi 2014 Premierminister wurde.

Hindutva verkörpert das geänderte BürgerInnenschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA), das 2019 verabschiedet wurde. Dieses erlaubt es MigrantInnen jeder anderen Religion als dem Islam, indische StaatsbürgerInnen zu werden. In Kombination mit dem Nationalen BürgerInnenregister könnte es die gesamte Grundlage der indischen StaatsbürgerInnenschaft verändern und möglicherweise Millionen von MuslimInnen entrechten. Der Bundesstaat Assam mit seiner großen Einwanderungsbevölkerung hat die Übung bereits hinter sich. Er ist einer der ärmsten Staaten, in dem viele BürgerInnen keine Ausweispapiere haben und von Inhaftierung und „Staatenlosigkeit“ bedroht sind. Schon jetzt sind viele Menschen, die in Assam geboren wurden, von der Registrierung ausgeschlossen worden.

Die Reaktion auf diesen Angriff waren weit verbreitete Proteste in ganz Indien aus allen Schichten, insbesondere an den Universitäten. Dies wurde mit Polizeibrutalität und Todesfällen von DemonstrantInnen beantwortet. Im selben Jahr entzog Modi dem muslimischen Staat Jammu und Kashmir die begrenzte Autonomie, die er hatte. Die indische Armee verstärkte ihre Besatzung, und der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Proteste wurden brutal niedergeschlagen. In jüngster Zeit haben acht Bundesstaaten Anti-Konversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindu-Frauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden.

Es ist wichtig, die wirklichen Elemente des Faschismus innerhalb der Sangh-Parivar-Bewegung und der BJP zu erkennen. Es ist klar, dass die RSS auf eine lange Geschichte der Organisation von Pogromen gegen MuslimInnen zurückblickt, sie ist eine paramilitärische Organisation und verfügt über eine Massenbasis von „kulturellen“ und sportlichen Organisationen. Sie ist auch eng mit staatlichen Kräften verbunden. Bei den letztjährigen Unruhen in Delhi handelte es sich überwiegend um Angriffe auf muslimische Gebiete durch Hindu-Mobs, wobei es viele Berichte über die Beteiligung der Polizei gab. Die meisten der 53 Toten waren Muslime, und der Auslöser scheint ein BJP-Führer gewesen zu sein, der die Polizei aufforderte, die Straßen zu räumen, nachdem ein Sitzstreik von Frauen gegen das CAA stattgefunden hatte.

Modis wirtschaftliche Strategie

Während dies charakteristisch für Modis Hindutva-Politik ist, war sein strategisches Ziel immer, den indischen Kapitalismus entlang von Linien zu rationalisieren, die für das Großkapital akzeptabel sind. Der Druck für Veränderungen entlang dieser Linien beschleunigte sich nach der globalen Krise 2008, was zu massiven Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse und die Bauern-/Bäuerinnenschaft führte. Dazu gehören vor allem die zahlreichen neuen Arbeitsgesetze, die darauf abzielen, große globale Produktionsunternehmen nach Indien zu locken, insbesondere solche, die China meiden wollen.

Es wurden gesetzliche Bestimmungen zu Löhnen, Arbeitsschutz, Arbeitsbeziehungen und sozialer Sicherheit erarbeitet, die 44 bestehende Gesetze umfassen. Ein Beispiel ist ein neues Arbeitsgesetz, das die sofortige Entlassung von bis zu 300 Arbeitskräften ohne weitere Erklärung und ohne Zustimmung der Behörden erlaubt. Zuvor war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen festgelegt. Die Gesetze beschneiden die Rechte der ArbeiterInnen, verlängern den Arbeitstag, öffnen den Weg für weitere Privatisierungen und geben den Bossen mehr Freiheiten im Streben nach Profiten.

Neben diesen arbeiterInnenfeindlichen Gesetzen hat Modi seine Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung ausgeweitet, indem er die Bauern und Bäuerinnen ins Visier nahm. Die LandwirtInnen fordern die Aufhebung von drei Gesetzen, die im vergangenen September verabschiedet wurden. Die Gesetze erlauben es Konzernen, Ernten ohne Gebühren oder Steuern zu Marktpreisen aufzukaufen und damit den von der Regierung festgelegten Mindeststützungspreis zu beenden. Dies würde dazu führen, dass Konzerne Rohstoffe in unbegrenzten Mengen horten und dadurch die Preise manipulieren können.

Ähnlich fordern die LandwirtInnen die Rücknahme des Stromänderungsgesetzes. Damit wird die Versorgung der Bauern und Bäuerinnen mit kostenlosem Strom gestoppt. Sie fordern auch die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien (114.000 Euro) für LandwirtInnen vorsieht, die keine Alternative zu der traditionellen Art haben, ihre Felder mit Feuer zu roden. Diese Reformen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Historische Generalstreiks

Die Antwort zahlreicher regionaler und gewerkschaftlicher Organisationen auf diese neuen drakonischen Gesetze war der Aufruf zu einem Generalstreik am 26. November 2020, der zum größten aller Zeiten geriet. Über 250 Millionen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen schlossen sich dem eintägigen Streik an und legten die Wirtschaft lahm. Es war der zweite Generalstreik in diesem Jahr. ArbeiterInnen des öffentlichen und privaten Sektors schlossen sich zusammen mit vielen bäuerlichen Gewerkschaften und StudentInnen, während im ganzen Land Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden.

Über 250 bäuerliche Organisationen, die im Allindischen Bauern-/Bäuerinnen-Kampfkoordinationskomitee zusammengeschlossen sind, unterstützten den Generalstreik, und die Gewerkschaften halfen bei der Mobilisierung der Bauern/Bäuerinnen „Chalo Delhi“ (Geh nach Delhi!) am 26. und 27. November. Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen, die in 31 Gewerkschaften organisiert sind, schlossen sich diesem Marsch an, gestärkt durch Studierende und TransportarbeiterInnen.

Anfang Dezember blockierten zwischen 150 und 300 Tausend die Hauptstadt Delhi, mit Unterstützung von Kongress- und Kommunistischen Parteien. Polizei und paramilitärische Kräfte haben den Marsch wiederholt angegriffen, mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern.

Viele der LandwirtInnen kommen aus dem Punjab (Pandschab) und Haryana, aber es gab Proteste und Unterstützung von Bauern und Bäuerinnen aus dem ganzen riesigen Land, auch aus dem westlichen Teil Uttar Pradeshs, aus Kerala und Tamil Nadu. Zwei Monate später kommen die Bauern und Bäuerinnen und ihre Familien immer noch an. An den verschiedenen Grenzen Delhis wurden Lager mit Langars (Gemeinschaftsküchen) eingerichtet. Über 50 Todesfälle sind zu beklagen, aufgrund von Erkältung, Herzinfarkten und sogar Selbstmorden.

Trotz der Versuche der Regierung, die DemonstrantInnen als „TerroristInnen“, MaoistInnen oder SeparatistInnen abzustempeln, hat die Bewegung ein erstaunliches Maß an Solidarität zwischen den Gemeinschaften und Kasten gezeigt. Sie begann mit Sikh-Bauern/-Bäuerinnen und -ArbeiterInnen, mobilisierte aber bald Hindus und MuslimInnen in ganz Indien. Die Hauptlosung des Marsches laute „Kisan Mazdoor Ekta Zindabad“, es lebe die Einheit von Bauern/Bäuerinnen und ArbeiterInnen, was auch die Solidarität zwischen den Jats, einer Gemeinschaft, die in Pandschab 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht, aber den größten Teil des Landes besitzt, und den Dalits (zur Kaste der Unberührbaren zählend), die 32 Prozent der Bevölkerung Pandschabs stellen, aber nur 2,3 Prozent des urbaren Bodens besitzen und meist LandarbeiterInnen sind, zum Ausdruck bringt. In der Vergangenheit gab es scharfe Kämpfe zwischen Jats und Dalits um den Zugang zu kommunalem Land.

Am 26. Januar 2021 fuhr ein riesiger Marsch, darunter Tausende von Traktoren und Motorrädern, am Tag der Republik in Delhi ein und durchbrach die Polizeisperren, wobei einige in das berühmte Rote Fort eindrangen. Die DemonstrantInnen kehrten in die Camps zurück, aber die Presse startete eine hysterische Kampagne, in der die Bauern und Bäuerinnen für die Gewalt verantwortlich gemacht wurden. Dies bereitet den Boden für einen staatlichen Angriff auf die Camps.

Nach dem Traktorenmarsch befahl die Landesregierung den DemonstrantInnen, das Lager in Ghazipur (Stadt im Osten Uttar Pradeshs) zu räumen und schickte die Bereitschaftspolizei. Nach einem Patt zog sich die Polizei zurück. Im Singhu-Lager (Dorf in Haryana nahe Delhi) griffen 200 Männer der Hindu Sena (Hindu-Armee), einer rechtsextremen Hindu-ChauvinistInnengruppe, die Bauern und Bäuerinnen mit vermuteter Duldung der Polizei an, wurden aber von den Lagernden zurückgeschlagen.

Offensichtlich nähert sich der Kampf einer kritischen Phase. Die Regierung hat die Verhandlungen endlos in die Länge gezogen, in der Hoffnung, dass sich Demoralisierung und Müdigkeit einstellen. Gerade jetzt ist es notwendig, dass die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften eine Führung in dieser Krise anbieten; eine, die über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgeht. Es muss einen gemeinsamen und dauerhaften Widerstand gegen die landwirtInnen- und arbeiterInnenfeindlichen Gesetze geben, kombiniert mit einem Kampf gegen niedrige Löhne und die Auswirkungen der Pandemie.

Die Gewerkschaften müssen einen unbefristeten politischen Generalstreik organisieren, der die Wirtschaft lahmlegen kann, bis Modi einlenkt. Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen sollten Aktionsräte am Arbeitsplatz und in den Dörfern/Bezirken einrichten, die einen solchen Streik demokratisch organisieren und leiten können. Demokratische Gremien wie diese können aus den riesigen Reserven der Wut auf Modi und die großkapitalistischen und multinationalen LandräuberInnen schöpfen. Sie können zu einem Sammelpunkt gegen alle Formen der Unterdrückung werden, einschließlich der durch Kaste und Nation. Sie können eine Barriere gegen all jene sein, die kommunalistischen Hass schüren.

Angesichts der staatlichen Repression und der hindu-chauvinistischen Angriffe ist es unerlässlich, dass eine angemessene Selbstverteidigung auf interkommunaler Basis organisiert wird. Wenn dies geschieht, kann die Bewegung die bedingungslose Rücknahme von Modis Gesetzen und auch seiner arbeiterInnenfeindlichen Maßnahmen erzwingen. Sie könnte dann in die Offensive gehen und sich selbst aufmachen, um Modi zu stürzen und den Weg für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnen-Regierung zu öffnen, die Indiens Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor auf demokratisch geplanter Basis entwickeln kann.