Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Italien: Kein sozialer Frieden mehr!

Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori zum landesweiten Streik der Basisgewerkschaften, Infomail 1234, 20. Oktober 2023

Vorspann: Für den 20. Oktober haben die Basisgewerkschaften S. I. Cobas (Berufsgruppenübergreifende Gewerkschaft des Basiskomitees) zu einem landesweiten Streik gegen die Angriffe der Regierung Meloni und Krieg aufgerufen. Wir veröffentlichen ein Flugblatt der Partito Comunista dei Lavoratori (PCL), einer italienischen trotzkistischen Organisation, mit der wir in Diskussion stehen.

Kein sozialer Frieden mehr!

Vereint die Kräfte der Klassengewerkschaft! Für eine anhaltende Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse!

Das neue Stabilitätsgesetz, das Meloni ankündigt, ist ein Betrug an den 18 Millionen Lohnempfänger:innen in unserem Land. Ein ganzes Jahr lang hat Giorgia Meloni eine arbeiter:innenfeindliche Politik betrieben. Dennoch hat sie einen sozialen Frieden genossen, der in Europa seinesgleichen sucht. Die maximale Aushöhlung der italienischen Löhne, die weitere Ausweitung der Arbeitsplatzunsicherheit, die Abschaffung des Bürgergeldes, die kriminelle Liberalisierung der Verträge, die Ablehnung jeder Form von Mindestlohn usw. haben nicht ausgereicht, um eine Massenmobilisierung der Lohnabhängigen wie in Frankreich, Großbritannien oder in Deutschland auszulösen.

Daher ist ein grundlegender Wandel erforderlich. Der heutige Generalstreik ist eine positive Tatsache. Aber es ist allen bewusst, dass er nicht ausreichen kann, um die Regierung zu stoppen. Er wird nur von einem Teil der Klassengewerkschaften unterstützt, und deshalb kann die Beteiligung trotz der Großzügigkeit und Selbstaufopferung seiner Organisator:innen nicht über einen bescheidenen Prozentsatz der Beschäftigten hinausgehen.

Es ist ein qualitativer Sprung erforderlich: ein Kampf für eine allgemeine Plattform, die Millionen von Lohnabhängigen als ihre eigene empfinden können – eine anhaltende Mobilisierung, die auf einen Sieg abzielt.

  • Für eine Lohnerhöhung von mindestens 400 Euro netto für alle Lohnarbeiter:innen

  • Für die Wiedereinführung der gleitenden Lohnskala

  • Für einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde (1.500 Euro pro Monat)

  • Für einen angemessenen Lohn für Arbeitslose von mindestens 1.200 Euro

  • Für die Aufhebung aller Gesetze zur Prekarisierung der Arbeit, die in den letzten zwanzig Jahren von Regierungen aller Couleur verabschiedet wurden

  • Für Arbeiter:innenkontrolle über die Arbeitsbedingungen, angefangen bei der Sicherheit

  • Für eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30/32 Stunden bei gleichem Lohn

  • Für eine außerordentliche Vermögensabgabe von mindestens 10 % auf die reichsten 10 %, um die Investitionen in Gesundheit, Bildung, ökologische Bodensanierung und erneuerbare Energien zu verdoppeln

  • Für die Streichung der Militärausgaben und der öffentlichen Schulden bei den Banken (derzeit 100 Milliarden allein an Zinsen pro Jahr!).

Wir brauchen eine nationale Versammlung von gewählten Delegierten, die eine Plattform für den Wandel definieren und einen ernsthaften Kampfplan beschließen können. Eine radikale Änderung der Kampfformen muss auf den Weg gebracht werden, mit der Besetzung aller entlassenden Unternehmen (wie bei GKN) und ihrer Verstaatlichung ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle. Alle Gewerkschaften der Arbeiter:innenklasse sollten ihre Kräfte in gemeinsamen Aktionen bündeln.

Schließlich können die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Verbrechen, die der Staat Israel gegen das palästinensische Volk und die gemarterte Stadt Gaza begeht, wo zionistische Bomben auf Schulen, humanitäre Organisationen, Journalist:innen und Krankenhäuser abgeworfen werden. Die Regierungen, die die arbeitenden Menschen in Europa ausbeuten und verarmen lassen, sind dieselben, die die israelischen Vergeltungsmaßnahmen unterstützen.

Das Gefühl der Einheit mit den unterdrückten Nationen gehört zur besten Tradition der Arbeiter:innenbewegung, die aufgerufen ist, die italienische Regierung, die sich bedingungslos auf die Seite Israels und seiner mörderischen Truppen stellt, auch aus diesem Grund herauszufordern. Für die revolutionäre Zerstörung des Staates Israel! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina, mit vollem Respekt für die Rechte des jüdischen Volkes, im Rahmen einer sozialistischen Nahost-Föderation.




Britannien: Widerstand gegen das reaktionäre Schlachtfest der Tories!

George Banks, Infomail 1234, 18. Oktober 2023

Dreizehn Jahre konservativer Toryherrschaft haben uns Haushaltssparkurs, Pandemie und Inflation gebracht – zusätzlich zu den dreifachen Bedrohungen durch Klimachaos, Rezession und Krieg. Es ist Zeit für sie zu gehen.

Im Jahr 2010, als die Konservative Partei gewählt wurde, gab es 29 Milliardär:innen in Großbritannien – jetzt sind es 171. Das Nationale Gesundheitswesen (NHS) des Landes wird in den Ruin getrieben. Unsere Schulen kollabieren. Schätzungsweise 14,5 Millionen Menschen – 22 % der Bevölkerung – leben unterhalb der Armutsgrenze.

Für diejenigen unter uns, die berufstätig sind, hat die Inflation unsere Löhne dezimiert, während die Zinsen steigen, die Wohnkosten in die Höhe schießen, Unternehmen in den Konkurs treiben und Arbeitsplätze und Existenzen vernichten. Trotz heldenhafter Streiks lagen die Lohnerhöhungen unter der Inflationsrate, und nun planen die Tories, Leistungen und Renten zu kürzen.

Aber für die reichen Freund:innen der Konservativen sieht die Sache anders aus. Die Öl- und Gasunternehmen haben Rekordgewinne erzielt, während die Gehälter der Vorstände der  100 FTSE-börsennotierten Spitzenfirmen durchschnittlich um 16 % – das Doppelte der Inflationsrate – auf 3,9 Millionen Pfund pro Jahr und Kopf gestiegen sind (FTSE: Financial Times Stock Exchange).

Die Tories verkörpern die Korruption und selbstgefällige Anmaßung im Herzen des britischen Kapitalismus. Johnsons „Partygate“-Skandal hat aufgedeckt, dass die Tories und ihre Kumpane während der Abriegelung tanzten und sich besoffen haben, während der Rest von uns keinen Kontakt zu unseren Lieben hatte und einige sogar die Beerdigung ihrer Angehörigen verpassten.

Hart rechts

Dreizehn Jahre Austerität, die Folgen des Brexit und  die verpfuschten, äußerst rechten Wirtschaftsreformen der ehemaligen Premierministerin „Liz“ Truss haben die Reichen reicher gemacht, aber den Niedergang des britischen Kapitalismus nicht aufgehalten und die Arbeiter:innen ärmer gemacht. Der amtierende Premier Rishi Sunak – der das ganze Charisma des Investmentbankers ausstrahlt, der er ist – hat die Tories in den Umfragen um 20 % hinter Labour zurückfallen lassen.

Der Parteitag der Konservativen fand vom 1. bis 4. Oktober in Manchester statt, inmitten einer Protestwelle der Arbeiter:innenklasse. Sunak und die erzreaktionäre Innenministerin „Suella“ Braverman, die verzweifelt versuchen, ihre Popularität bei der Rechten zu steigern, haben ihre „Wahlkampagne“ mit einer Reihe reaktionärer Maßnahmen gestartet.

Selbst die begrenzten umweltpolitischen Maßnahmen, die Boris Johnson versprochen hatte – die schrittweise Abschaffung benzinbetriebener Fahrzeuge und die Dekarbonisierung der Stromerzeugung bis 2030 – wurden fallengelassen. Diese dürftigen Versprechen waren bereits völlig unzureichend, aber jetzt wurde sogar die Illusion von Regierungsmaßnahmen, für Klimaschutz zu handeln, aufgegeben.

Auch die so genannte „Nivellierungsagenda“ ist gescheitert, wie die Entscheidung, die Verlängerung der Eisenbahnhochgeschwindigkeitsstrecke 2 nach Manchester zu streichen, zeigt. Die Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs gegenüber der Modernisierung des Schienennetzes wird die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs, seine international vereinbarten Klimaziele zu erreichen, weiter schwächen. Politische Maßnahmen wie diese entlarven Sunaks widerwärtigen neuen Slogan „langfristige Entscheidungen für eine bessere Zukunft“.

Da er der Arbeiter:innenklasse, von der die Tories dennoch erwarten, dass sie in großer Zahl für sie stimmen wird, nichts zu bieten hat, nutzte Sunak seine Grundsatzrede für einen gemeinen Angriff auf die am stärksten Ausgegrenzten der Gesellschaft – die trans Gemeinschaft. Er erklärte, die britische Öffentlichkeit werde „gezwungen“ zu glauben, dass „Menschen jeden Geschlechts sein können, das sie sein wollen“, und fügte hinzu: „Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau, das ist einfach gesunder Menschenverstand“. Obwohl diese Äußerungen international verurteilt wurden, ernteten sie lauten Beifall von den anwesenden Fanatiker:innen.

Dies sind nicht nur leere Worte, sondern zeitigen Konsequenzen im realen Leben: Im vergangenen Jahr wurden 4.732 Hassverbrechen gegen trans Personen registriert, ein Anstieg von 11 % gegenüber dem Vorjahr und die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2012. Im Bericht des Innenministeriums über Hassverbrechen heißt es, dass die intensive Diskussion von „Transgenderthemen“ durch Politiker:innen und Medien zu diesem Anstieg geführt haben könnte.

In den letzten Monaten haben die Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen zugenommen. Obwohl erste Versuche, traumatisierte Asylbewerber:innen dort unterzubringen, gescheitert sind, ist das Bibby Stockholm (schwimmendes Gefängnis) weiterhin bereit, 500 „Insass:innen“ einzusperren. Dasselbe könnte man von Ruanda sagen (Abkommen mit der britischen Regierung, aus Großbritannien Abgeschobene dort aufzunehmen). Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Bravermans Pläne gestoppt hat, hat er das Projekt nicht grundsätzlich abgelehnt. Ihr jüngster Appell, die UN-Menschenrechtskonvention neu zu schreiben, ist nur die jüngste reaktionäre Aktion.

Während im staatlichen Gesundheitsdienst 110.000 Stellen unbesetzt sind, die Gemeinden in Konkurs gehen und die Schulen verfallen, schlagen die Tories vor, die Erbschaftssteuer „abzuschaffen“ – ein Segen für die Reichsten, die diese Dienstleistungen nicht einmal in Anspruch nehmen.

Auch „Liz“ Truss nutzte die Gelegenheit, um wieder auf der politischen Bühne zu erscheinen, nachdem sie die Unterstützung von 60 Abgeordneten für ihre „Wachstumsgruppe“ zusammengeschustert hatte (so viel wie die Torymehrheit im Unterhaus). Offensichtlich unbeeindruckt von ihrer katastrophalen Amtszeit als Premierministerin, die nach nur 49 Tagen endete, schlug sie ihre Lösung für die wirtschaftliche Misere des Landes vor: mehr Steuersenkungen, ein kleinerer Staat und mehr Fracking. Ihre Zuversicht, dass solche Maßnahmen den Bau von „einer halben Million Wohnungen pro Jahr“ fördern würden, zeigt, wie wahnwitzig sie wirklich ist.

Nicht zuletzt greifen die Konservativen weiterhin unsere demokratischen Rechte an, indem sie das kürzlich verabschiedete Gesetz über die öffentliche Ordnung (Public Order Act) dazu nutzen, Demonstrant:innen zu überwachen und zu inhaftieren, die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung verschärfen, um wirksame Arbeitskampfmaßnahmen illegal zu machen, und eine Überprüfung versprechen, die darauf abzielt, bewaffneten Polizeibeamt:innen nach der Mordanklage gegen den Mörder von Chris Kaba (am 5.9.2022 in Streatham Hill, Südlondon, erschossener Rapper) Straffreiheit zu gewähren.

Stoppt die Tories!

Alles in allem handelt es sich um eine zutiefst reaktionäre Agenda. Sie muss gestoppt werden. Der Sieg der Labour Party bei den nächsten Wahlen ist jedoch alles andere als ausgemachte Sache. Trotz der Versuche Starmers, sich bei den Bossen als sichere Bank zu präsentieren, und trotz seiner Zurückhaltung, auch nur die bescheidensten Reformen für die Arbeiter:innenschaft zu versprechen, wird er bei der Wahl den Angriffen der rechten Medien ausgesetzt sein.

Seine mangelnde Bereitschaft, eine positive politische Vision für die Arbeiter:innenklasse zu präsentieren, wird viele apathisch zurücklassen. Er wird sich nicht auf das Heer begeisterter Freiwilliger verlassen können, zu dem Corbyn Zugang hatte, und er wird immer noch den Zorn der Milliardärsmedien zu spüren bekommen, für die die Tories immer die bevorzugte Option darstellen.

Die Stärke von Labour beruht auf ihren Verbindungen zu den Spitzen der prokapitalistischen britischen Gewerkschaftsbürokratie, die es ihr ermöglichen, den Widerstand der Arbeiter:innenklasse gegen die Wiederherstellung der „wirtschaftlichen Verantwortung“ effektiver zu beschwichtigen und zu kontrollieren. Deshalb wird die Strategie der Gewerkschaftsspitzen „Warten auf Labour“ nicht ausreichen, um die Forderungen der Arbeiter:innen zu erfüllen. Starmer hat deutlich gemacht, dass seine Regierung genauso migrant:innenfeindlich, kriegsbefürwortend und taschenfüllend für die Reichen sein wird wie die Tories – nur unter einem „humaneren“ und „effizienteren“ Deckmantel.

Es ist daher zu begrüßen, dass Sharon Graham von der Gewerkschaft Unite einen politischen Kampf mit Starmer angekündigt hat. Aber ihre alternativen Politikvorschläge sind unzureichend und in einigen Fällen – z. B. mehr Ölbohrlizenzen – reaktionär. Unite sollte eine Versammlung aller Organisationen einberufen, die bereit sind, die Agenda des ehemaligen Labourvorsitzenden Blair in Frage zu stellen und für sozialistische Maßnahmen zu kämpfen. Auf diese Weise kann die Arbeiter:innenklasse und können nicht nur ein paar Gewerkschaftsbürokra:innen über die Politik entscheiden, die wir brauchen, um den Planeten zu retten, die Reichen für die Wirtschaftskrise zahlen zu lassen und künftige Kriege zu verhindern.

Aber nur Massenaktionen der Arbeiter:innen – Demonstrationen, Streiks, ziviler Ungehorsam – können die Tories im Hier und Jetzt aus dem Amt jagen. Nur Massenunruhen können Starmer, sollte er Premierminister werden, in die Schranken weisen und Druck auf ihn ausüben, damit er politische Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse durchführt.

Indem wir Schritte unternehmen, um uns als Klasse zu organisieren, können wir ein Gegengewicht zum Einfluss der Kapitalist:innen bilden und einen erfolgreichen Kampf gegen die Bosse führen, um unsere Löhne, unsere Dienstleistungen und unsere Lebensbedingungen zu verteidigen.

Letztlich kann nur eine Regierung, die sich auf Arbeiter:innenorganisationen wie Streikkomitees, Aktionsräte und Selbstverteidigungseinheiten stützt, zu einer echten Arbeiter:innenregierung werden, die in der Lage ist, die kapitalistische Herrschaft zu stürzen und den Weg für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu ebnen. Nur eine revolutionäre Partei – nicht die Labour-Partei, die sich immer der herrschenden Klasse beugt – kann den Kampf für diese politische Umgestaltung führen. Das ist die Partei, die Workers Power aufbauen will. Wenn Ihr das auch wollt – schließt Euch uns an!




Frankreich: Peitscht Macron seine Reform durch?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Ohne Rücksicht auf Verluste peitscht Präsident Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre durch – gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, den Widerstand der Lohnabhängigen, der Gewerkschaften und der Jugend.

Seit dem 19. Januar gingen an 12 Aktionstagen Millionen auf die Straße, beteiligten sich an Streiks und legten zeitweilig das Land lahm. Anders als in vielen Klassenkämpfen der letzten Jahre gelang es Regierung und Unternehmen nicht, die Einheit der Gewerkschaften zu spalten. Nicht nur die radikaleren Verbände wie die CGT und SUD, sondern auch die notorisch kompromisslerischen wie die CFDT ließen sich bislang auf keinen Kuhhandel mit Macron ein und blieben beim „Non“ zur Rentenreform.

Dabei konnten und können sie sich auf eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stützen. Rund zwei Drittel lehnen Macrons Politik als Affront ab – und zwar in einem Maße, dass der Präsident und seine Regierung im Parlament keine Mehrheit für die Reform finden konnten.

Klassenkrieg

Doch all das vermochte die Reform nicht zu stoppen. Denn im Gegensatz zu seinen Gegner:innen mangelt es Macron an einem nicht: am Willen, einen zentralen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und alle Unterdrückten im Interesse des französischen Kapitals konsequent durchzuziehen. Dazu ist er auch bereit, die tradierten Spielregeln der Auseinandersetzung zu verlassen und selbst jene der heiligen bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen.

Macron führt einen Klassenkrieg. Er ist nicht nur entschlossen, sich selbst ein politisches Denkmal zu setzen – ganz so wie Margaret Thatcher im Bergarbeiter:innenstreik oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Schließlich verbanden diese Politiker:innen ihren Namen nicht einfach mit historischen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dazu bereit waren, ein höheres Risiko im Klassenkampf einzugehen, eine Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse zu suchen, die ihnen selbst Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die Gegenseite ebenso entschlossen gehandelt hätte. Doch die TUC-Gewerkschaften und Labour weigerten sich, dem Bergarbeiter:innen mit einem Generalstreik zu Hilfe zu kommen. Schröder war nicht nur bereit, den Rückhalt der SPD in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse für Jahrzehnte zu opfern, die DGB-Gewerkschaften bauten ihm letztlich auch die politische Mauer, indem sie die Agenda 2010 allenfalls symbolisch angriffen, ansonsten aber „kritisch“ begleiteten und die Montagsdemos bekämpften.

Macron verhält sich ähnlich. Er nutzt die bestehenden bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung, der Republik, um das Gesamtinteresse des Kapitals in einer Krise durchzusetzen. Dabei bildet die sog. Rentenreform ein Herzstück seines Vorhabens, den französischen Imperialismus auch ökonomisch konkurrenzfähiger zu machen. Und dafür geht er weiter als frühere Regierungen und Präsidenten.

Angriff auf die Demokratie

Nachdem sich abzeichnete, dass er für die Gesetzesvorhaben im Parlament keine Mehrheit finden würde, umging er es einfach, indem er sich auf Artikel 49.3 der Verfassung berief. Dieser erlaubt ihm, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass er sich auf eine Mehrheit unter den Abgeordneten stützt, geschweige denn auf ein Mandat des Volkes.

Bewusst nahm er dafür nicht nur die Diskreditierung seiner eigenen Partei bei Millionen Wähler:innen in Kauf, sondern auch die Ausweitung der Proteste. Er erhöhte den Einsatz im Klassenkampf, indem er die Angriffe auf die Rente mit einem auf die bürgerliche Demokratie und ihre Gepflogenheiten verband.

Am 16. März brachte Macron seine Reform unter Berufung auf Artikel 49.3 durch. Das darauf folgende Misstrauensvotum scheiterte am 20. März äußert knapp. 278 Parlamentarier:innen entzogen der Regierung das Vertrauen. 287 stimmten gegen den Misstrauensantrag. Neben Macrons „Ensemble pour la majorité présidentielle“, die über 245 Sitze verfügt, votierte die Mehrheit der Abgeordneten der konservativen, neoliberal-gaullistischen Les Républicains dabei für den Präsidenten.

Auch die folgende Prüfung durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) passierte das Gesetz. Das neunköpfige Gremium, von dem je drei Vertreter:innen vom Präsidenten, von der Nationalversammlung und vom Senat ernannt werden, gilt als Hüter der Verfassung. Faktisch hütet es aber den französischen Kapitalismus. Es setzt sich aus „respektablen“ Vertreter:innen der herrschenden Klasse zusammen wie den beiden ehemaligen Premierministern Laurent Fabius, einem rechten Sozialisten, und dem Konservativen Alain Juppé.

Wenig überraschend erklärte der Verfassungsrat die Reform für rechtens, monierte aber die Streichung von 6 Punkten – und zwar von solchen, die es zugunsten der Lohnabhängigen abgemildert hatten. Darüber hinaus verwarf er eine von der linkspopulistischen NUPES angestrengte Volksabstimmung.

Das soll nicht verwundern. Es war von Beginn an klar, dass Macron den antidemokratischen Paragraph 49.3 ziehen könnte, die Reformen durch parlamentarische Manöver – z. B. versuchte Obstruktionspolitik von Abgeordneten von La France Insoumise – nicht zu verhindern sein würden.

Seit den ersten Anläufen zur Reform in Jahr 2020 und spätestens Ende 2022 ließ Macron keinen Zweifel daran, dass er sein politisches Schicksal an die Maßnahmen knüpfte, sodass sie nur auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden könnten.

Höhepunkt der Mobilisierung

Die Umgehung des Parlamentes am 16. März läutete aber auch den Höhepunkt der Streiks und Protestwelle ein. Vom 19. Januar bis Mitte März beteiligten sich ein bis eineinhalb Millionen Menschen an den jeweiligen Aktionstagen. Hunderttausende legten zeitweilig die Arbeit nieder.

Mit dem Artikel 49.3 griffen Macron und die Regierung Borne auf die antidemokratischen, bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung zurück und machten damit den Kampf um die Renten auch zu einem um die Demokratie. Dies verbreitete und intensivierte die Auseinandersetzung enorm.

Am 23. März beteiligten sich 3,5 Millionen Menschen an den Demonstrationen im ganzen Land. Auch kleinere und mittelgroße Städte wurden in die Bewegung gezogen. In den Zentren des Landes fluteten Demonstrant:innen geradezu die Straßen. Rund eine Woche lang kam es zu täglichen Auseinandersetzungen vor allem von jugendlichen Demonstrant:innen mit der Polizei.

Zugleich breitete sich auch die Streikwelle aus – bei der Bahn, in Häfen und an Flughäfen, in den Raffinerien und in der Energiewirtschaft, an Schulen und Universitäten oder bei der städtischen Müllabfuhr. Allerdings erfassten die Streiks im wesentlichen nur Sektoren der Avantgarde, der bewussteren und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, nicht jedoch die Masse, vor allem nicht jene der Unorganisierten. Dazu hätte es eines einheitlichen Aufrufs von außen, von den Führungen der Intersyndicale bedurft, der jedoch während der ganzen Zeit ausblieb.

Generalstreik lag in der Luft

Schon im Januar und Februar war die Losung des Generalstreiks unter den Aktivist:innen der Bewegung populär. Nach dem 23. März lag er in der Luft.

Mit seinen antidemokratischen Maßnahmen hatte Macron selbst die Auseinandersetzung weiter politisiert, mit der Frage seines Regimes direkt verknüpft. Er stellte die Machtfrage.

Doch die parlamentarische Linke NUPES entpuppte sich als vollkommen unfähig, diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Nachdem das Parlament umgangen war, versuchte sie es beim Verfassungsrat mit der Einleitung eines monatelangen Volksbegehrens, während Millionen nicht nur wütend, sondern auch kampfbereit waren.

So kam die politische Schlüsselrolle der Führung der Gewerkschaften, der Intersyndicale, eines Zusammenschlusses aller größeren Verbände, zu – und hier besonders der linkeren, klassenkämpferischen wie der CGT und der SUD.

Nach zahlreichen Aktionstagen und angesichts des massiven Anwachsens der Aktionen in der Woche um den 23. März war die Stunde der Entscheidung  gekommen. Entweder würde die Bewegung massiv ausgeweitet werden und die Gewerkschaften und die Arbeiter:innenklasse würden ihrerseits die Machtfrage stellen – oder Macron droht, sämtliche weitere Proteste auszusitzen, indem er auf die Ermüdung und finanzielle Ausdünnung von Streikenden setzt und gegen die militanteren Demonstrant:innen mit immer brutaleren Polizeieinsätzen vorgeht. An seiner Entschlossenheit konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln.

Rolle der Apparate

Macron spekulierte außerdem auf die Gewerkschaftsführungen. Ihm war bewusst, dass sie keine politische Generalkonfrontation wollten, sie auf seine Zuspitzung des Kampfes mit keiner eigenen antworten wollten, die die Machtfrage aufwarf. Der Generalstreik lag Ende März in der Luft, aber die Spitzen der Intersyndicale wollten davon nichts wissen – und zwar weil ihnen bewusst war, dass ein Generalstreik gegen die Rente unwillkürlich auch einer zum Sturz von Präsident und Regierung gewesen wäre; weil ihnen bewusst war, dass er die Frage aufgeworfen hätte, wer anstelle von Macron und Borne regieren würde.

Die kompromisslerischen Held:innen vom rechten Flügel der Gewerkschaften wie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, standen im Grunde immer schon für Verhandlungen mit der Regierung bereit, wenn diese denn nur mit dem nötigen „Respekt“ verbunden wären, also in den Tretmühlen der Sozialpartner:innenschaft stattfänden. Doch mit diesen Gepflogenheiten hat Macron gebrochen, weil er den Angriff ohne weitere Zugeständnisse durchziehen will.

Die Spitze der radikaleren Gewerkschaften wie jene der CGT setzen darauf, dass, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre, eine Reihe von massenhaften Streik- und Aktionstagen die Regierung oder das Parlament zum Einlenken zwingen würde. Sie gingen im Grunde davon aus, dass der Kampf eine, für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidende Frage, im Rahmen der Austragungsform gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben würde. Auch wenn sie nicht alles verhindern würden, so hofften sie doch darauf, dass sie auch vorzeigbare Zugeständnisse erreichen könnten. Auch ihnen hat Macron einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Intersyndicale hatte insgesamt keine Antwort auf die Verschärfung des Klassenkampfes durch den Präsidenten. Sie war auf diese Zuspitzung nicht vorbereitet – und sie vermochte es daher auch nicht, ihrerseits Macron mit voller Wucht entgegenzutreten.

Was nötig gewesen wäre

Dazu wäre es nötig gewesen, nach dem antidemokratischen Verfassungscoup offen den Generalstreik auszurufen – einen Generalstreik, der auch im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung unmittelbar einen politischen Charakter gehabt hätte.

Das hätte aber erfordert, dass sich die Spitzen von CGT und anderen Verbänden bewusst ihrer Führungsaufgabe hätten stellen müssen, aufhören hätten müssen, als bloße Gewerkschaften, also ökonomische Interessenvertretungen zu handeln. Sie hätten als politische Führung der Arbeiter:innenklasse fungieren müssen.

Angesichts von 3,5 Millionen Demonstrierenden, Hunderttausenden Streikenden und einer Massenempörung im ganzen Land hätte ein Generalstreik auch die unorganisierten Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Jugend und Rentner:innen erfassen, mit der Bildung von Streik- und Aktionskomitees eine gigantische Bewegung schaffen können. Diese hätte nicht nur die Rentenreform kassieren, sondern auch die Regierung stürzen können und die Machtfrage aufgeworfen – und zwar nicht in einem bloß parlamentarischen Sinne, sondern im Sinne einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks und Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innenklasse stützt. Kurzum, ein solcher Kampf hätte eine revolutionäre Dynamik entwickeln können.

Doch die Gewerkschaftsführungen – rechte wie linke – zogen es vor, der Zuspitzung des Kampfes auszuweichen. Ende März, in den Tagen, ja in der Woche nach der Umgehung des Parlamentes wäre es möglich gewesen, die Bewegung auf eine neue Stufe zu heben, Schichten der Lohnabhängigen, aber auch des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten in den Kampf zu ziehen, die normalerweise nicht unter Führung der Gewerkschaften und der bewussteren Teile der Arbeiter:innenklasse mobilisierbar sind.

Ein solcher Schritte hätte auch sicherstellen können, dass die Bewegung breiter und stärker wird und siegen kann. Sie hätte auch den Rechten um Le Pen, die demagogisch versuchen, von der aktuellen politischen Krise zu profitieren, und in den Umfragen vorne liegen, das Wasser abgraben können.

Doch diese Chance wurde vertan. Am bislang letzten Aktionstag am 13. April beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben rund 1,5 Millionen Menschen. Das stellt natürlich noch immer ein enorm hohes Niveau an Aktivität dar. Aber zugleich ging auch die Streikbewegung massiv zurück. Der Kampf gegen die Rentenreform hat seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten.

Der nächste Aktionstag wird erst am 1. Mai stattfinden – also mehr als zwei Wochen nach dem 13. April. Das wäre der größte Abstand zwischen Aktionstagen seit Beginn der Bewegung. Da der Erste Mai ein traditioneller Kampftag ist, wird die Beteiligung enorm sein – aber zugleich wird es an dem Feiertag kaum Streiks geben.

Die Gewerkschaftsführungen geben sich natürlich kämpferisch, ja geradezu unnachgiebig. Selbst Laurent Berger will von Gesprächen mit einer Regierung, die ihm keinen Respekt zollt, nichts wissen. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet weist Macrons Einladung an die Gewerkschaften zu Gesprächen, bei denen nichts besprochen wird, als lächerlich zurück.

Aber all das darf uns nicht davor die Augen verschließen lassen, dass die Gewerkschaftsführungen über keine effektive Kampfstrategie verfügen, nachdem der institutionelle Weg abgeschlossen und die Rentenreform beschlossen ist.

Angesichts dieser strategischen Krise kommt das linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, bestehend aus Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, aus PS, Grünen und KPF, mit einem neuen Vorschlag um die Ecke. Ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung soll genommen und beim Verfassungsrat eingebracht werden, der über dessen Zulassung Anfang Mai entscheiden würde. Sollte er dies für rechtens erklären, müssten innerhalb von knapp neun Monaten 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden. Das Parlament könnte dann das Vorhaben ein halbes Jahr lang prüfen und würde dann darüber abstimmen – ein Verfahren, das allein angesichts der Stimmenmehrheit, die Macrons Ensemble pour la majorité présidentielle und Les Républicains auf sich vereinen, faktisch zum Scheitern verurteilt ist.

In Wirklichkeit ist das Referendum eine Ablenkung von der Frage, wie der Kampf gegen die Rentenreform und die anderen Angriffe der Regierung noch zum Erfolg geführt werden kann und welche Lehren aus der bisherigen Bewegung zu ziehen sind.

Ganz sicher sind es nicht jene, die Fabien Roussel, der nationale Sekretär der KPF, zieht. So erklärte er: „Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen.“ Das Zitat illustriert, wie tief diese sog. Kommunist:innen gesunken sind, wie wenig ihre ganze Politik über den demokratischen Tellerrand „ihres“ Landes hinauszureichen vermag.

Der aktuelle Niedergang der Bewegung bedeutet nicht, dass der Kampf gegen die Rentenreform schon verloren ist. Wohl aber ändern sich die Bedingungen, unter denen ein neuer Aufschwung, eine neue Situation entstehen kann, wo der Generalstreik wieder auf die Tagesordnung rückt.

Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass die gesamte Politik Macrons vor dem Hintergrund einer anhaltend hohen Inflation und geopolitischen Konfrontation, einer tiefgehenden sozialen, politischen und ökologischen Krise stattfindet. Daher kann seine Rentenreform wie die gesamte Regierungspolitik rasch durch andere Einschnitte der Lebensbedingungen der Massen erschüttert werden. Auch wenn Macron seine Rentenreform durch die Institutionen gebracht hat, so hat er längst nicht den französischen Kapitalismus wieder in fit gemacht. Die Beschädigung der bürgerlichen Demokratie, die Desillusionierung von Millionen und Abermillionen, die er billigend als Preis sozialer Verschlechterungen in Kauf nimmt, könnten sich dann als politischer Bumerang erweisen.

Daher gilt es nicht nur, die Bewegung aufrechtzuerhalten, sondern sie vor allem auf die unvermeidlichen nächsten Konfrontationen vorzubereiten.

Dies bedeutet erstens, klar zu erkenne und auszusprechen, dass weder die parlamentarische Linke noch die Führungen der Gewerkschaften eine politische und strategische Antwort auf die großen Angriffe der Regierung des Kapitals formulieren.

In den Gewerkschaften bedarf es jedoch nicht nur des Kampfes um Basisversammlungen und demokratische Aktionskomitees – es bedarf auch einer organisierten, gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Opposition gegen die Bürokratie.

Doch eine betriebliche und gewerkschaftliche Alternative reicht nicht. Eine klassenkämpferische Opposition muss auch eine enge Verbindung mit den sozialen Bewegungen gegen Krieg, Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung herstellen. Dazu bedarf es einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei, die sich auf ein Aktionsprogramm stützt, das den Kampf gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, auf die Arbeiter:innenklasse mit dem für den Sturz des Kapitalismus verbindet.

Anhang: Warum ist die Rentenfrage so bedeutsam?

Die sog. Rentenreform stellt ein Kernstück der Angriffe des Kapitals nicht erst seit der Präsidentschaft Macrons dar. Schon 1995 versuchte die damalige konservative Regierung Juppé, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen. Doch sie scheiterte am massiven Widerstand der Arbeiter:innenklasse und der Jugend und musste nach wochenlangen Protesten ihre Gesetzesreform zurückziehen.

Seither probierten sich faktisch alle Präsidenten und Regierungen, ob Sozialist:innen oder Konservative, an einer grundlegenden neoliberalen „Reform“ der Arbeitsbeziehungen und/oder der Sozialversicherung, der Sécurité Sociale, zu der neben der Rentenversichung öffentliche Krankenkassen, Unfallversicherung und die Kasse für Familienzulagen gehören.

Die Sécurité Sociale bildet somit ein zentrales Element der Klassenbeziehungen in Frankreich. Über sie wird ein großer Teil des „Soziallohns“ reguliert, also ein zentraler Teil des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse.

Schon am Beginn seiner ersten Amtszeit peitschte Macron im Jahr 2017 eine Änderung des Arbeitsgesetzes, des Code du Travail durch – damals noch gestützt auf eine massive Mehrheit im Parlament und ohne großen Widerstand. Darauf sollte die Rentenreform folgen. Doch die Streiks der Eisenbahner:innen im Jahre 2018 gegen wichtige Schritte zu Privatisierung und Verschlechterungen der Arbeitsbeziehungen, die Bewegung der Gilets Jaunes und schließlich die Pandemie zwangen Macron zur Verschiebung seiner von Beginn an angekündigten Rentenreform.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre enthält dabei zwei Aspekte. Zum einen stellt sie einen grundlegenden Angriff auf errungene Rechte der Arbeiter:innenklasse dar. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit stellt wie alle ähnlich gelagerten Verschlechterungen zugleich auch eine massive Rentenkürzung dar für alle, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Arbeitslosigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter Vollzeit arbeiten können. Darüber hinaus sieht die „Reform“ auch Abschläge für alle vor, die bis 64 nicht genügend volle Erwerbsjahre auf dem Buckel haben.

Zum anderen stellt sie nicht nur eine wichtige Errungenschaft der Lohnabhängigen dar, sondern spiegelt auch ein Kräfteverhältnis wider, eine klassenpolitische Stellung der Arbeiter:innenklasse. Wird die Rente geschleift, fällt auch diese Stellung, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals.




Frankreich: Schlüsselposition der Gewerkschaften im Kampf gegen Erhöhung des Renteneintrittsalters

Marc Lassalle, Infomail 1216, 9. März 2023

Nach sechs Tagen Streiks und Demonstrationen in Frankreich erreicht die Konfrontation zwischen den Arbeiter:innen und der Regierung in der Frage der „Rentenreform“ einen entscheidenden Moment. Am 7. März beteiligten sich rund 3,5 Millionen Menschen an den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen – ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung. Faktisch findet in vielen wichtigen Sektoren ein mehrtägiger Streik statt.

Den Gewerkschaften ist es seit Beginn des Jahres gelungen, sehr große Demonstrationen zu organisieren, nicht nur in Großstädten, sondern in Städten im ganzen Land, und, was noch bemerkenswerter ist, dies einen ganzen Monat lang mit einer Großdemonstration pro Woche fortzusetzen. Die Ablehnung der so genannten Reform der Regierung ist in der gesamten Bevölkerung und vor allem unter der Arbeiter:innenschaft massiv.

Strategischer Angriff

Die Regierung verteidigt weiterhin ihr Vorhaben, das Rentenalter auf 64 Jahre anzuheben, um jeden Preis. Es handelt sich nicht einfach um eine technische Maßnahme oder eine Episode innerhalb eines Gesamtplans. Für Präsident Macron ist dies die „Reform“ schlechthin. Da er während seiner letzten Amtszeit durch die Pandemie blockiert wurde, besteht er auf dieser Reform als Symbol seiner Präsidentschaft und seines Vermächtnisses. Für ihn müssen die Lohnabhängigen mehr arbeiten, um die Subventionen zu bezahlen, die der Staat den Unternehmer:innen während der Pandemie und danach großzügig gewährt hat (Energiekosten usw.).

Wie der neoliberale Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt, sollten die Bosse diese Reform „mit Begeisterung und Entschlossenheit“ unterstützen. Es geht um 8 bis 9 Milliarden Euro für die Wirtschaft! Je mehr die Minister:innen versuchen, die Reform zu erklären, desto kruder erscheint ihre Realität in den Augen der Lohnabhängigen. Trotz aller Behauptungen der Regierung, die Änderung sei „frauenfreundlich“, hat sich herausgestellt, dass sie vor allem für Frauen nachteilig ist, da sie länger arbeiten müssen. Die Reform wird auch Beschäftigte im unteren Lohnsegment besonders hart treffen, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit vor dem 20. Lebensjahr aufgenommen haben.

Angesichts der Zielsetzung von Macron und der Entschlossenheit der Bosse ist die derzeitige Strategie der Gewerkschaften jedoch völlig unzureichend. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen Konflikten eine Reihe von eintägigen Streiks durchgeführt und das Ergebnis war unweigerlich dasselbe: eine Niederlage. Nach einem anfänglichen Erfolg erschöpft sich Dynamik eintägiger Demonstrationen ab einem gewissen Zeitpunkt. Dann macht sie  Ermüdung und Unzufriedenheit Platz, was wie in einem Teufelskreis wachsende Demoralisierung und Unklarheit der Arbeiter:innen über die weitere Strategie provoziert. Die Zahl der Streikenden schrumpft, bis die Gewerkschaften den Streik einfach beenden oder, wie sie es manchmal ausdrücken, „den Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen“.

Unterschied

Dieses Mal ist die Situation in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind die Zahl der Streikenden und die Stärke der Demonstrationen so hoch wie seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr. Zweitens lehnen alle Gewerkschaften, einschließlich der sehr gemäßigten CFDT, die Reform ab, und es gibt bisher keine Anzeichen für eine Schwächung der „Intersyndicale“ (der Front von acht Gewerkschaften und Verbänden, die gegen die Reform sind). Dies stellt natürlich ein Zeichen für die Entschlossenheit und den Kampfgeist der Arbeiter:innenklasse dar.

Nach einer zweiwöchigen Pause – wegen der Schulferien – erklärten alle Gewerkschaften, dass eine entschlossenere Haltung erforderlich sei. „Die Intersyndicale bekräftigt ihre Entschlossenheit, Frankreich am 7. März lahmzulegen. Der 7. März sollte ein ,toter Tag’ (journée morte) in den Betrieben, Verwaltungen, Diensten, Schulen, Verkehrsmitteln sein … “ (Presseerklärung, 21/02).

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez erklärte: „Wenn die Regierung trotz der Mobilisierungen weiterhin stur bleibt, dann müssen wir mit größeren Aktionen, längeren, härteren, zahlreicheren, massiveren und erneuerbaren Streiks vorankommen“. Dies ist eine raffinierte Art, einen Generalstreik zu beschreiben, ohne ihn zu benennen. Ein erneuerbarer Streik (grève reconductible) ist in der Tat die französische Art, einen unbefristeten Streik einzuleiten. In den Betrieben wird die Kampfmaßnahme dann Tag für Tag von den betrieblichen Generalversammlungen (AGs) beschlossen, und zwar jeden Morgen.

Das hört sich zwar sehr demokratisch an, ist aber dennoch eine ziemlich fragile Kampfmethode, da sie von der kontinuierlichen und starken Beteiligung aller an den Versammlungen abhängt. Jeden Tag könnte der Kampf enden, so dass trotz der großen Opfer der Streikenden die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eher begrenzt sind. Die Regierung weiß, dass sie ein Ende erzwingen kann, indem sie einfach geringfügige Zugeständnisse mit den gemäßigteren Gewerkschaften aushandelt, wodurch die Moral der Streikenden geschwächt und die Einheit des Kampfes gebrochen wird.

Warum vermeidet Philippe Martinez es, einen unbefristeten Generalstreik auch nur zu erwähnen? In der Vergangenheit, vor allem 1968, haben die französischen Arbeiter:innen einen Generalstreik initiiert, und die Situation entglitt dann völlig der Kontrolle der obersten Gewerkschaftsführung. Seitdem zieht sie es vor, jeden Schritt eines Kampfes sorgfältig zu kontrollieren. Wenn man sie unter Druck setzt, würden sie sogar eine Niederlage vorziehen, anstatt sich von der Aktion der Basis ins Abseits stellen zu lassen.

Trotz dieser Feigheit der Gewerkschaftsbürokratie ist der Ausgang des Kampfes noch lange nicht entschieden. Sicher ist, dass der 7. März einen weiteren großer Tag der Streiks und Demonstrationen markierte, an dem rund 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Was kommt dann? Der 8. März war ein weiterer Tag der Demonstration für die Rechte der Frauen. Student:innenorganisationen riefen zu einem weiteren großen Protesttag am 9. März auf. Diese Verkettung von Terminen legt nahe, dass die Arbeiter:innen am 7. März in den Streik treten und dann draußen bleiben sollten! Mehrere wichtige kämpferische Gewerkschaften riefen für den 7. März und die folgenden Tage zu einem täglich zu erneuernden Streik auf. Dazu gehören die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Eisenbahnen, der Erdölraffinerien, der Häfen und Docks sowie die Beschäftigten der Kraftwerke. Die Frage ist: Wird dieser Funke stark genug sein, um einen Generalstreik zu entfachen?

Der Ausgang hängt von vielen Faktoren ab, aber einer der wichtigsten ist das aktive Eingreifen der politischen Parteien der Linken. Von der Front der Linksparteien, NUPES, ist nichts zu erwarten, ebenso wenig wie von ihrer führenden Kraft, der Partei von Jean-Luc Mélenchon, France Insoumise (FI). FI unterstützt formell die Aktionen der Gewerkschaften, konzentriert sich aber in Wirklichkeit auf das Parlament und die nächsten Wahlen. Im Parlament haben sie die Diskussion des Rentenreformgesetzes mit tausenden von Änderungsanträgen in einer ersten Sitzung zwar erfolgreich behindert. Der Entwurf wurde nun an den Senat weitergeleitet, wo die Rechten die Mehrheit haben, und wird wieder ins Parlament zurückkehren.

Die Taktik der Obstruktion reicht jedoch bei weitem nicht aus, um den Prozess zu stoppen. Die Regierung könnte versuchen, die Rechtskonservativen – Les Républicains – davon zu überzeugen, das Gesetz zu unterstützen, oder es einfach mit einer antidemokratischen Maßnahme zu verabschieden, die von der bonapartistischen Verfassung der 5. Republik ermöglicht wird. Zu Beginn des Streits versuchte die FI sogar, unabhängig von den Gewerkschaften eine Demonstration zu organisieren, was jedoch ein großer Flop war. Das soll nicht heißen, dass die Aktivist:innen von NUPES und FI nicht an den Demonstrationen und dem Kampf teilnehmen werden. Die meisten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert und ein fester Bestandteil der Mobilisierung. Aber auf politischer Ebene agieren alle diese Kräfte, FI, die Kommunistische Partei (PCF), die Sozialistische Partei (PS) und die Grünen ausschließlich auf parlamentarischer Ebene und überlassen die Durchführung von Streiks den Gewerkschaften.

Die radikale Linke

Alle Kräfte der radikalen Linken leiten den nächsten Schritt für den Kampf ein, aber sie sind sowohl gespalten als auch verwirrt.

Die Nouveau Parti Anticapitalistei (NPA = Neue Antikapitalistische Partei) ist durch die Abspaltung ihrer alten Führung geschwächt, die die Hälfte der Mitglieder mitgenommen hat. Dies führt zu der grotesken Situation, dass es zwei NPAs von ähnlicher Größe gibt, die auf den Demonstrationen präsent sind, Veranstaltungen organisieren und den gleichen Namen und das gleiche Logo verwenden. Die NPA-Plattform B (PFB), obgleich die Minderheit am letzten Kongress, hat die Kontrolle über den Apparat, die Presse, die Website, die Hauptamtlichen usw. behalten. Sie ist sichtbarer, da ihre Anführer:innen die Sprecher und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot und Philippe Poutou waren. Das Timing könnte jedoch nicht unglücklicher sein. Nachdem die NPA-PFB die Weltlage in den dunkelsten Farben analysiert hat (die Arbeiter:innenklasse in der Defensive, der Aufstieg der extremen Rechten usw.), betont sie die Notwendigkeit der Einheit:

„Die NPA schlägt vor, eine politische Alternative zu Macron aufzubauen, die aus der Mobilisierung hervorgeht, mit all jenen, die der prokapitalistischen Politik ein Ende setzen wollen, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.“

Dies mag zwar radikal klingen, aber ähnliche Aussagen waren in den 1970er Jahren bei der PCF und sogar bei der PS durchaus üblich. Sie schlägt in vagen Worten eine breite linke Regierung vor, mit NUPES, und sogar ein Minimum-Maximum-Programm. Zuerst setzen wir der prokapitalistischen Politik der Regerierung ein Ende, und dazu verbünden wir uns mit Reformist:innen, dann gehen wir zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung über. In gewissem Sinne ist dies ein erster Schritt zur Lösung der Zweideutigkeit, auf der die NPA gegründet wurde, allerdings zugunsten einer reformistischen Politik heute und des Sozialismus in ferner Zukunft. Es ist klar, dass die NPA-PFB einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen wird, dass sie sich in eine reformistische Partei auflöst oder einfach irrelevant wird.

Die andere NPA, die NPA-Plattform C (PFC), ist nach wie vor ein heterogener Block, der sich aus zwei Tendenzen der vor der Spaltung bestehenden Partei zusammensetzt, nämlich L’Étincelle (Funke) und Anticapitalisme et Révolution, die nun versuchen, eine einheitliche Partei zu organisieren. Sie sind politisch sehr aktiv unter den Jugendlichen und an den Arbeitsplätzen. Sie verteidigen zu Recht die Perspektive eines Generalstreiks.

„Ja, wir müssen einen Generalstreik anstreben, um die Dinge wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ohne Arbeiter:innen wird nichts produziert. Wenn wir streiken, wird nichts produziert und Profite und Dividenden sind dann Makulatur.“

Tatsächlich stehen ihre Aktivist:innen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Streikenden unter dem Motto „den Streik unter die Kontrolle der Streikenden stellen“ zu entwickeln. Oder, wie es Gael Quirante, Vorsitzender von A&R, auf ihrer nationalen Kundgebung im Februar ausdrückte: „Auch wenn der Beginn eines Generalstreiks nicht so einfach ist, wie auf einen Knopf zu drücken, müssen wir diesen Knopf auf jede Weise suchen, mit Generalversammlungen, mit Koordinierungen usw.“

Was jedoch in der Politik der NPA-PFC völlig fehlt, ist der Gedanke, dass alle Streikenden maximalen Druck auf die Gewerkschaften, also auch ihrer Führungen, ausüben sollten, um den Generalstreik auszurufen und diesen aktiv in den Betrieben, in allen lokalen, regionalen und anderen Strukturen der Gewerkschaften vorzubereiten und dafür offen und ausdrücklich zu werben. Eine der Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Mobilisierungen ist in der Tat die geringe Beteiligung an den Betriebsversammlungen, trotz der zahlreichen Demonstrationen. Und ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass die Masse der Arbeiter:innen trotz aller früheren Niederlagen der landesweiten Führung der Gewerkschaften vertraut. Dies gilt umso mehr, als die meisten der mobilisierten Arbeiter:innen nicht zur Avantgarde gehören: Viele von ihnen streiken und demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das wird sich nicht von selbst ändern. Es bedarf der Initiative – der Führung – durch politisch bewusste und erfahrene Aktivist:innen.

Die Aufforderung an die Gewerkschaftsführungen, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, könnte dabei sehr wirksam sein. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses, den „Druckknopf“ für den Generalstreik zu finden. Selbst in der gemäßigteren Gewerkschaft CFDT ist die derzeitige Position ihrer Spitze darauf zurückzuführen, dass auf ihrer letzten Generalkonferenz eine Mehrheit für die Ablehnung von Macrons Reform gestimmt hat. In den meisten Gewerkschaften sind die lokalen und mittleren Führungsebenen, die unter direktem Druck von unten stehen, tatsächlich von der Notwendigkeit radikalerer Aktionen überzeugt. Während Revolutionär:innen also versuchen müssen, Organe der Selbstorganisation zu schaffen, müssen sie gleichzeitig einen ernsthaften, entschlossenen Kampf Innerhalb der Gewerkschaften führen. Leider würde die NPA-PFC dies als Ketzerei ablehnen. Für sie, wie auch für Lutte Ouvrière und sogar Révolution Permanente (RP; Fracción Trotskista, FT), sollte die Einheitsfront im Grunde nur auf der Ebene der Basis und nicht auf der der Forderungen an die nationale Führung geführt werden. Damit geben sie und die ihnen folgenden Arbeiter:innen eine entscheidende Waffe gegen den Reformismus aus der Hand.

Diese Linie unterscheidet sich wenig von Lutte Ouvrière. Sie schreibt:

„Einige Gewerkschaften rufen zu einem erneuten Streik ab dem 7. März auf. In der Tat müssen wir uns in diese Richtung bewegen. Aber was die Regierung und die Bosse wirklich erschrecken könnte, wäre, dass die Streiks von unten beschlossen werden, dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten und dass sie über die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Grenzen hinausgehen.

Generalversammlungen mit einer großen Anzahl von Arbeiter:innen müssen über die Weiterführung der Bewegung und der Streiks diskutieren. Sie müssen über alles diskutieren, natürlich über die Forderungen, aber auch über die Art und Weise, wie die Bewegung geführt werden soll.

Sich überall zu treffen, um über die Mittel zur Weiterführung und Ausbreitung der Bewegung zu diskutieren, das ist der Weg, um in der Arbeiter:innenklasse eine Kraft zu erneuern, die unbesiegbar werden kann.“ (LO, 15.2.2023)

Das Überstimmung ist keine Überraschung, denn L’Étincelle, die größte Gruppierung der NPA-PFC, ist eine Fraktion, die aus LO ausgeschlossen wurde, und innerhalb der NPA wurde die gleiche Linie fortgesetzt, mit wenig oder gar keiner politischen Ausarbeitung darüber, was bei LO falsch gelaufen ist.

Die RP bewegt sich auf ähnlichem Kurs: „Angesichts des Zögerns der Intersyndicale gilt es, keine Minute zu verlieren. Die Möglichkeit eines wiederholten Streiks hängt in hohem Maße von den Bemühungen der Streikenden ab. Die Organisation der Basis in jedem Betrieb, der gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, muss sich im Dienste dieser Perspektive entwickeln.“ (RP, 22. Februar)

Auch wenn wir zustimmen, dass Initiativen von unten, die spontane Militanz der Arbeiter:Innen an der Basis von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch von größter Wichtigkeit zu betonen, dass die Befreiung der Gewerkschaften von der reformistischen Bürokratie erfordert, auf dem Höhepunkt des Kampfes den Widerspruch zwischen Basis und Führung aktiv voranzutreiben. Die Losung eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks (anstatt dies einfach der Basis zu überlassen) würde dazu beitragen, die Arbeiter:innen bei jedem Ausverkauf durch ihre Führung von diesen zu brechen und so die Grundlage für demokratische Massengewerkschaften zu legen, die in den Betrieben verwurzelt sind. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Massen sich auf die Bürokrat:innen als die Führung des Kampfes beziehen. Sie nur zu denunzieren oder, schlimmer noch, sie zu ignorieren, wird nicht reichen, um diese Situation zu ändern. Um diese Führung zu ersetzen, müssen wir Forderungen an die Gewerkschaftsführer:innen mit der Selbstorganisation des Streiks, Generalversammlungen, die Streikkomitees wählen, usw. und Koordinierungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiter:Innen kombinieren.

Offener Ausgang

Trotz dieser Schwäche der radikalen Linken ist der Ausgang des aktuellen Kampfes keineswegs von vornherein entschieden. Die Breite und die Stärke der Massenbasis ergeben sich aus dem Bewusstsein, dass es um viel mehr geht als um Renten. Alle haben die Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten auf harte Art und Weise zu spüren bekommen. Die Jugend, sowohl in den weiterführenden Schulen als auch an der Universität, schließt sich der Bewegung gegen Macron und seine Politik an. Viele haben erkannt, dass vom Kapitalismus, seiner Wirtschaft, seinen Kriegen und seiner Zerstörung des Planeten nichts Positives für sie zu erwarten ist. All diese Kräfte können sich vereinen, um die Regierung zu besiegen, wie sie es 2006 getan haben.

Die Breite der mobilisierten Kräfte erfordert eine Ausweitung des Streiks. Der Weg zum Generalstreik erfordert ein Hinausgehen der Forderungen nach einem Stopp der aktuellen Reform. Forderungen nach Lohnerhöhungen, nach massiven Mitteln für die öffentlichen Dienste (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten), nach offenen Grenzen, nach Steuern für die Reichen und auf Profite sollten von den Streikenden offen diskutiert werden und Teil eines Aktionsprogramms für Arbeiter:innen, einschließlich der stark ausgebeuteten Migrant:innen und der Jugend werden.

Doch trotz des historischen Niveaus der Kampfbereitschaft kann ein strategischer Sieg nur durch ein klares Bewusstsein für das Ziel des Kampfes gesichert werden. Zu diesem Zweck muss sich die großartig kämpferische Arbeiter:innenklasse in Frankreich mit einer revolutionären Partei und einem politischen Programm wappnen.




Politische Krise in Schweden: Streikmaßnahmen weisen den Weg vorwärts

Arbetarmakt, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Seit die Parlamentswahlen im September 2018 zu einem Patt im Parlament geführt haben, hinkt Schweden von einer Beinahe-Krise zur nächsten. Es dauerte bis Januar 2019, bevor eine Koalitionsregierung aus SozialdemokratInnen und Grünen mit parlamentarischer Unterstützung durch Zentrumspartei und Liberale gebildet werden konnte, und selbst dann war dies eine Minderheit im Riksdag (Abgeordnetenparlament).

Zugeständnisse an Bürgerliche

Die Alternative hätte eine rechtsgerichtete Koalition einschließlich der rechtsextremen, rassistischen SchwedendemokratInnen bilden können. Um dies zu vermeiden, waren die sozialdemokratische und die Grünen-Partei bereit, Schlüsselmaßnahmen aus dem Programm der Zentrumspartei und der Liberalen zu akzeptieren. Damals bemerkte das Magazin The Economist, dass das „Januar-Abkommen“ acht Vorschläge enthielt, „die in direktem Widerspruch zum [sozialdemokratischen] Manifest stehen, wie z. B. die Abschaffung von Gewinnbeschränkungen im privaten Wohlfahrtssektor und eine zusätzliche Einkommenssteuer für HochverdienerInnen“.

Unter den acht Maßnahmen waren zwei, die zum Kern der sozialdemokratischen Tradition gehörten: die Vermarktung von Mieten und ein Angriff auf das Kündigungsschutzgesetz (LAS), ein zentrales Gesetzeswerk aus den 1970er Jahren. Selbst mit dem Abkommen verfügte die Regierung nicht über eine parlamentarische Mehrheit, so dass sich alle Augen auf die Linkspartei und ihren Vorsitzenden Jonas Sjöstedt richteten, der das Abkommen (zu Recht) als einen Schritt in Richtung zunehmender Ungleichheit und weiterer Angriffe auf die Rechte und Bedingungen der ArbeiterInnenklasse charakterisiert hatte. Die Mitglieder der Linkspartei und ihre WählerInnen griffen auf die sozialen Medien zurück, um ihre Führung aufzufordern, „den roten Knopf zu drücken“, d. h. die neue Regierung und das neoliberale Abkommen abzulehnen.

Wie ein Mitglied der Linkspartei, der ehemalige Abgeordnete Daniel Sestrajcic, der den linken Bezirk Malmö vertritt, schrieb: „Wenn die SozialdemokratInnen die Partei von dem, was von der Sozialdemokratie übrig geblieben ist, säubern und ihre eigene Umwandlung zu einer offen bürgerlichen Partei annehmen wollen, dann ist das ihre eigene, traurige Entscheidung. Für die Linkspartei gibt es nur einen Knopf zu drücken: den roten.“

Die Liberalen und die Zentrumspartei erkannten die potentielle Schlüsselrolle der Linkspartei und bestanden darauf, dass das Abkommen eine Klausel enthält, dass die Regierung ihr keinen Einfluss auf ihre politische Richtung gestattet. Nach Erhalt einer „geheimen Notiz“ des sozialdemokratischen Premierministers Stefan Löfven, dass diese Klausel nun angeblich veraltet sei, kündigte die Linkspartei an, dass sie sich bei der Abstimmung über die Regierungsbildung der Stimme enthalten werde, und sorgte damit für deren Bildung. Um die Pille eines solch demütigenden Rückziehers zu versüßen, behauptete Sjöstedt, dass, wenn die Regierung eine von zwei „roten Linien“, nämlich die Vermarktung von Mieten oder rechtliche Angriffe auf die Arbeitsplatzsicherheit, überschreite, die Linkspartei für die Absetzung von Stefan Löfven stimmen würde.

Regierungsbildung mit Unterstützung der Linkspartei

Wie Arbetarmakt, die schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, seinerzeit schrieb, hätte die Drohung mit einer großen Prise Salz aufgenommen werden müssen. Jahrzehntelang bestand die langfristige Strategie der Linkspartei darin, in eine Regierungskoalition mit den SozialdemokratInnen eingebunden zu werden und sich so einen „linken Einfluss“ in der Verwaltung des bürgerlichen Staates zu sichern.

Die Linkspartei begründete ihre Unterstützung für eine nach rechts gehende Koalition als das „kleinere Übel“ im Vergleich zu einer rechtsgerichteten Koalition mit den SchwedendemokratInnen. Natürlich ist es lobenswert, diese daran zu hindern, irgendeine Rolle in der Regierung zu gewinnen, jede/r Sozialist/in würde dem zustimmen, aber sie aus der Regierung herauszuhalten, ist das eigentliche Ziel, und dazu bedarf es einer langfristigen Strategie. Die Unterstützung einer Regierung, die sich dem Angriff auf die ArbeiterInnenrechte und der „Vermarktung“, d. h. der Erhöhung der Wohnkosten, verschrieben hat, wird unweigerlich genau die Bedingungen verbessern, unter denen die SchwedendemokratInnen aufblühen können.

Es sickerte etwa zu dieser Zeit durch, dass sozialdemokratische Insiderinnen von ihrer größten Befürchtung sprachen: eine militantere Linkspartei könne Teile des LO (Landsorganisationen i Sverige), des wichtigsten Gewerkschaftsbundes, abspalten und „sich als große, linkssozialistische Partei etablieren“. Jede echte sozialistische Partei hätte alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, schrieben wir, um genau das zu tun. Mit dieser Haltung hätte sie dann gestärkt in eine mögliche neue Wahlperiode gehen, nicht den Respekt von Stefan Löfven gewinnen, sondern irgendwo weit weg von den Büros und Wohnungen der Abgeordneten sich an die ArbeiterInnen und Armen des Landes wenden können, an alle, die von rechter und rassistischer Politik bedroht sind.

Die natürlichen Losungen wären gewesen: Keine Unterstützung für das Januar-Abkommen oder für die darauf basierende bürgerliche Regierung Löfven! Alle offen bürgerlichen Parteien aus der Regierung heraus! Kein Einfluss für die SchwedendemokratInnen! Bringt alle bürgerlichen Vorschläge zu Fall – bringt die Regierung zu Fall!

Stattdessen begnügten sich die Abgeordneten der Linkspartei mit der Androhung eines Misstrauensvotums gegen Löfven zu einem späteren Zeitpunkt, sollte er ihre „roten Linien“ überschreiten, und sie enthielten sich bei der entscheidenden Abstimmung über die Regierung. Bei späteren Enthüllungen stellte sich heraus, dass ein Teil der hinter verschlossenen Türen vereinbarten Abmachung darin bestand, dass der LO-Vorsitzende, ein überzeugter Sozialdemokrat, auf linken Parteitagen sprechen sollte, zusammen mit anderen symbolischen Krümeln, die der Linkspartei als Belohnung dafür gegeben wurden, dass sie der neuen Regierung nicht im Wege stand.

In den fast zwei Jahren seither hat die sozialdemokratisch-grüne Regierung einige der Vorschläge des Januar-Abkommens auf Zeit blockiert. Sie sieht sich mit Drohungen von beiden Seiten konfrontiert: von rechts, wenn ihre liberalen AnhängerInnen im Parlament, die mit dem mangelnden Fortschritt unzufrieden sind, zu ihren früheren BündnispartnerInnen bei den ChristdemokratInnen und SchwedendemokratInnen wechseln, und von links durch LO und den Mieterbund, zwei konstituierenden Teilen der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung, falls sie tatsächlich versuchen sollte, die Vorschläge umzusetzen.

Was den Plan zur Vermarktung der Mieten betrifft, so hat die Regierung versucht, den Vorschlag in einem Ausschuss zu begraben, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass das Thema verschwindet. Die Führung des 538.000 Mitglieder starken MieterInnenverbandes, der die Mieten in Tarifverträgen aushandelt, fühlte sich ihrerseits durch den Druck ihrer Mitglieder gezwungen, eine Kampagne gegen den Vorschlag zu starten, zu Demonstrationen aufzurufen und Petitionen gegen den Vorschlag einzureichen. Vor allem im Raum Göteborg haben radikalere Kräfte zu Recht weiter gedrängt und Proteste organisiert, nicht nur gegen diesen Vorschlag im Besonderen, sondern gegen das gesamte, verrottete Januar-Abkommen an sich.

Der LAS-Konflikt

Gemäß dem Abkommen würde das Verfahren zur Behandlung von vorgeschlagenen Angriffen auf das Gesetz über die Beschäftigungssicherheit (LAS) darin bestehen, dass ein Parlamentsausschuss einen Bericht veröffentlicht und dann auf der Grundlage dessen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und der Arbeit„geber“Innenorganisation, dem schwedischen UnternehmerInnenverband, geführt werden. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen würden dann von der Regierung zum Gesetz gemacht. Sollte jedoch als Schlüsselbedingung kein Kompromiss zwischen den Arbeitsmarktparteien erzielt werden, würde die Angelegenheit wieder an die Regierung zurückgehen, um sie per Gesetz zu lösen.

Dies verschaffte den Arbeit„geber“Innenverbänden natürlich einen großen Vorteil: Sollten sich die Gewerkschaften weitreichenden Angriffen widersetzen, müssten sich die „ArbeitgeberInnen“ nur zurücklehnen und stattdessen die Regierung die Änderungen für sie durchführen lassen.

Diese Bedingung war sowohl für Premierminister Löfven als auch für die sozialdemokratische Führung von Vorteil. Wenn sie die LO-Führung dazu bringen könnten, den Angriffen zuzustimmen, würden die geplanten Gesetzesänderungen, ursprünglich eine Erfindung der Liberalen und der Zentrumspartei, stattdessen auf magische Weise in einen Vorschlag der Gewerkschaften selbst verwandelt.

Nachdem der Ausschuss seinen Bericht vorgelegt hatte, räumte sogar Premierminister Löfven ein, dass die Vorschläge „stark zugunsten der Arbeit,geber’Innen geneigt“ waren, und benahm sich damit, als ob angesichts des Initiators der Gesetzesänderungen und der Anweisungen an den Ausschuss dies eine Überraschung sei. Mit anderen Worten, ein besseres Ergebnis hätten die KapitalistInnen nicht verlangen können.

Zwei Hauptvorschläge des Berichts waren, dass es den UnternehmerInnen freigestellt werden sollte, fünf statt zwei ArbeiterInnen von der üblichen Regel „Zuerst drin, als LetzteR raus“ von Kündigungen auszunehmen, und dass das derzeitige Recht der ArbeiterInnen in kleineren Unternehmen, eine ungerechtfertigte Kündigung vor Gericht für ungültig erklären zu lassen, aufgehoben werden sollte. Wie die militante Gewerkschafterin Daria Bogdanska in einem Interview mit Arbetarmakt sagte, waren die Vorschläge des Berichts eindeutig nur als ein Anfang weiterer Angriffe gedacht und würden es „den Bossen viel, viel leichter machen, MitarbeiterInnen aus heiterem Himmel zu entlassen, selbst bei kleineren Konflikten, Ungehorsam oder einfach durch das Erfinden eines Grundes, um z. B. GewerkschaftsaktivistInnen loszuwerden“.

Die erste Verhandlungsrunde …

Während die LO-Führung als Teil des sozialdemokratischen Parteiapparats betrachtet werden kann (bis 1990 waren die LO-Mitglieder automatisch Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, und der/die LO-Vorsitzende hat immer noch einen Sitz im sozialdemokratischen Exekutivausschuss), muss die Gewerkschaftsführung immer noch eine Mitgliedschaft berücksichtigen, da sie in ihrer Rolle als Vermittlerin des wirtschaftlichen Klassenkampfes gefangen ist.

Schon vor den LAS-Verhandlungen konnten wir den Beginn einer Fragmentierung des LO beobachten, wobei eine Reihe von Gewerkschaften, darunter die 500.000 Mitglieder starke Kommunal, die größte LO-Branchengewerkschaft, die Kommunal- und Gesundheitsbeschäftigte organisiert, rebellierte und im Vorfeld der jährlichen Tarifvertragsverhandlungen mit der Koordinierung des Verbandes brach.

Diese Risse in der Bürokratie weiteten sich bereits vor Beginn der Verhandlungen aus, wobei innerhalb der LO-Führung hektische Aktivitäten stattfanden, um eine Einigung zu erzielen und damit das Gesicht der Regierung zu wahren. Bereits im Dezember 2019 konnte die Gewerkschaftspresse enthüllen, wie eine kleine Gruppe sozialdemokratischer LoyalistInnen innerhalb der LO-Führung aktiv an der Seite des Arbeit„geber“Innenverbandes arbeitete, um ein Abkommen vorzubereiten und sich im Vorfeld der Verhandlungen heimlich mit ihnen auf eine Absichtserklärung zu einigen. Der skandalöse Brief, der den kritischeren Gewerkschaftsteilen wie Kommunal vorenthalten wurde, machte deutlich, dass diese BürokratInnen bereits bereit waren, den UnternehmrInnen das Recht einzuräumen, jede/n ArbeiterIn nach Belieben zu entlassen, sogar noch vor jeglichen Verhandlungen.

In einem Antrag an den LO-Kongress erklärten die Gewerkschaften Kommunal und Seko (die Gewerkschaft der Beschäftigten im Dienstleistungssektor und in der Kommunikationsbranche), dass sie kein Vertrauen mehr in die Verhandlungen des Dachverbandes zu diesem Thema hätten, während Byggnads (Svenska Byggnadsarbetareförbundet; BauarbeiterInnengewerkschaft) äußerte, dass ihr Zutrauen in diesen „beschädigt“ sei. Der Berufsverband der Angestellten, TCO, sah ähnliche Proteste, bei denen u. a. LehrerInnen- und KrankenpflegerInnengewerkschaften drohten, dem Verhandlungskomitee ihr Vertrauen zu entziehen.

Den KritikerInnen gelang es jedoch nicht, die Verhandlungen zu stoppen, die mit der im Juni beginnenden ersten Runde starteten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der LO-Teil des Verhandlungsausschusses bereit erklärt, „große Zugeständnisse“ zu machen, d. h. Verrat an ihrer Mitgliedschaft zu begehen.

Dennoch waren die Verbandsspitzen nicht bereit, ganz so weit zu gehen, wie es die nun selbstbewussten VertreterInnen des schwedischen Kapitalismus verlangten, und die Verhandlungen scheiterten. Erneut wurde der Vorschlag an die Regierung zurückgegeben. Wieder einmal lag der Druck auf der Linkspartei, die sich in einer Art politischem Angsthasenspiels wiedersah. Würden sie ihre Drohung zurückziehen, jetzt, da sie die Regierung tatsächlich stürzen könnte? Würde Löfven in der Lage sein, den LO zur Wiederaufnahme von Verhandlungen zu drängen? Oder könnte er die Liberalen und die Zentrumspartei davon überzeugen, die Niederlage bei diesem Vorschlag zu akzeptieren?

Die Linkspartei ihrerseits interpretierte ihre Drohung mit der „roten Linie“ dahingehend, dass das LAS nicht per Gesetz und gegen den Willen der Gewerkschaften geändert werden dürfe. Wie die neue Vorsitzende der Linkspartei, Mehrnoosh „Nooshi“ Dadgostar, sagte, zöge sie neue Verhandlungen vor, aber ohne die Drohung einer Änderung per Gesetz, die, so argumentierte sie, durch die Drohung der Linkspartei, die Regierung zu stürzen, falls es dazu kommen sollte, zunichtegemacht wurde. Die Linkspartei wollte, erklärte Dadgostar, Premierminister Löfven „mehr Zeit“ geben (um die Parteien zu zwingen, die Verhandlungen zu erneuern), und dass erstere dann „das Problem lösen“ würde.

Was die Führung der Linkspartei jedoch nicht erklärt hat, war genau das, worüber die Parteien verhandeln sollten. Was sollte „gelöst“ werden? Selbst wenn die Drohung, das Gesetz im Parlament zu ändern, als aus der Gleichung herausgenommen betrachtet werden könnte (was nicht sicher war), würde dies nur dazu führen, dass die Gewerkschaften durch das Abkommen vom Januar gezwungen wären, über Angriffe auf die Beschäftigungssicherheit zu verhandeln.

Während die Linkspartei zögerte, handelten die Sozialdemokratische Partei und ihre Verbündeten in der Gewerkschaftsbürokratie. Sie bereiteten eine zweite Verhandlungsrunde vor, um einem Misstrauensvotum im Parlament zuvorzukommen, sei es auf Initiative der Linkspartei oder der rechten Opposition, die offen ihre Absicht erklärt, im Falle einer Machtübernahme die gleichen brutalen Angriffe auszuführen, selbst wenn sie die Regierung in dieser Frage zu Fall bringen sollte.

 … und die zweite Runde

Sobald die Verhandlungen gescheitert waren, trafen sich die LO-VertreterInnen wieder heimlich mit ihrem Gegenüber von der UnternehmerInnenseite, um die Wiederaufnahme der Verhandlungen zu erörtern. Wie die Gewerkschaftspresse berichtete, wurde diesmal sogar der LO-Exekutivausschuss außen vor gelassen, und die AnführerInnen kritischer Gewerkschaften wurden erst informiert, als ein Vorschlag für die Wiederaufnahme der Verhandlungen vorlag.

Da sie wussten, dass mehrere der Mitgliedsgewerkschaften ihre Ablehnung insbesondere in der Frage der Änderung der zulässigen Entlassungsbedingungen versprochen hatten, riefen die BürokratInnen, die für einen Verhandlungsabschluss waren, den Rest des Vorstands erst zu einer Sitzung ein, nachdem sie neue Verhandlungen vorbereitet hatten – „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, wie der Vorsitzende der BauarbeiterInnengewerkschaft bemerkte. Die BauarbeiterInnengewerkschaft gab daraufhin ihren Vorbehalt gegen die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit „einer Waffe am Kopf“ zu Protokoll, zusammen mit der MalerInnengewerkschaft, der Dienstleistungs- und Kommunikations-, der Gebäudeinstandhaltungs-, der Papier- und der TransportarbeiterInnengewerkschaft.

Trotzdem wurden neue Verhandlungen aufgenommen, die eindeutig dem Wunsch von Teilen der LO-Exekutive entsprangen, die sozialdemokratische Regierung zu retten und die Parteien der Liberalen und des Zentrums zu beschwichtigen. Wie ein/e GewerkschaftsvorsitzendeR gegenüber der Gewerkschaftspresse sagte, haben die VertreterInnen für einen Vertragsabschluss „offensichtlich die Regierung und die SozialdemokratInnen in Rechnung gestellt“, was ein/e andere/r GewerkschaftsvorsitzendeR als „die schlimmste Art von schmutzigen Tricks“ bezeichnete.

Doch selbst nach dieser beträchtlichen Anstrengung der Bürokratie für ein Verhandlungsabkommen konnte sich der Verhandlungsausschuss nicht auf die von den UnternehmensvertreterInnen vorgeschlagenen Angriffe einigen, und am 15. Oktober scheiterte die zweite Verhandlungsrunde. Am Ende lehnte die gesamte LO-Exekutive den zweiten Deal ab. Diesmal erschien jedoch die Verhandlungsdelegation der Angestellten- und FreiberuflerInnenverbände beschämend auf einer Pressekonferenz mit dem/r Vorsitzenden des Arbeit„geber“Innenverbandes und erklärte, sie „bedauere“ die Ablehnung des Abkommens durch den Gewerkschaftsdachverband und erklärte sich bereit, ein eigenes Abkommen zu schließen. Hier erklärten sich die TCO-BürokratInnen bereit, die LO-Beschäftigten den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen – ein Verrat, der verurteilt werden muss.

Zurück zum Parlament

Jetzt wickelt sich die Regierung wieder einmal fest. Während Premierminister Löfven erklärt hat, dass der weithin verabscheute Ausschussbericht zur LAS nun für ungültig erklärt wurde, ist die sozialdemokratische Führung unsicher, wie sie weiter vorgehen soll. Löfven deutet einen weiteren Ausschuss an, diesmal auf der Grundlage des nur vom Gewerkschaftsverband der Angestellten und freien Berufe akzeptierten Deals und mit den vom LO abgelehnten Angriffen auf den Kündigungsschutz. Hoffentlich – für Löfven – würde dies dann zu einer dritten Verhandlungsrunde führen, in der der LO irgendwie überzeugt werden könnte, die Angriffe abzusegnen. Mit anderen Worten, die Bedrohungen für die Beschäftigungssicherheit sind nach wie vor sehr real.

Unterdessen wird für die Linkspartei das, was im Januar 2019 impliziert war, nun klarer artikuliert. Die Partei tritt jetzt offener als ein externer (in der Praxis ausgeschlossener), aber loyaler Teil der Unterstützungsbasis der Regierung im Parlament auf. Ihr Hauptanliegen bleibt es, Löfven an der Macht zu halten, indem sie auf dem hohen Anspruch beharrt, sich als verlässliche und würdige Koalitionsnachwuchspartnerin für eine künftige sozialdemokratische Regierung zu positionieren. Bei den ersten wirklichen Tests ihrer berühmten „roten Linien“ zeigte die Parteiführung ihre Loyalität gegenüber den Interessen der sozialdemokratischen Bürokratie.

Die langfristige Strategie der Linkspartei bedeutet, dass sie letztlich auch nicht bereit ist, die sozialdemokratische Hegemonie über die Gewerkschaft und die breitere ArbeiterInnenbewegung anzufechten. Sie ist nicht in der Lage, das Vakuum zu füllen, das durch den Rückzug der SozialdemokratInnen aus einigen Hochburgen entstanden ist, ohne sie offen herauszufordern. Löfven weiß, dass die heutige Linkspartei eine rein parlamentarische Konstruktion ist. Wenn nur ihre Abgeordneten ihren Worten Kraft verleihen, ohne eine Bewegung in den Betrieben, in den Gewerkschaften oder auf den Straßen, die sie unterstützt, wäre eine Neuwahl für die Linkspartei ebenso gefährlich wie für die SozialdemokratInnen.

Neben einem Misstrauensvotum kann man über eine Reihe anderer Wege aus der Krise für die Regierung spekulieren, aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint keiner davon sehr wahrscheinlich. Die Liberalen und die Zentrumspartei könnten in ihren Forderungen nach einer „Reform“ des Kündigungsschutzes nicht leicht nachlassen. Die Linkspartei könnte die Regierung stürzen, aber ohne dass sich sonst etwas ändern würde, wäre wahrscheinlich eine blau-braune moderate/christdemokratische/schwedendemokratische die nächste, und die würde sicherlich die Rechte und Bedingungen der ArbeiterInnenklasse angreifen wollen, so wie es die jetzige Regierung versprochen hat.

Auch wenn Löfven den Liberalen und der Zentrumspartei ihre Änderungen im LAS-Gesetz verweigerte, könnten sie ihr altes Bündnis mit den Moderaten und ChristdemokratInnen nicht ohne weiteres reformieren, um eine neue Regierung zu bilden, da sich diese Parteien nun in eine entschieden konservative und rechte Richtung bewegt haben und damit beschäftigt sind, die Grundlagen für ein Bündnis mit den SchwedendemokratInnen zu legen.

Lösung zu welchen Bedingungen?

Wie die LO-Führung zu Recht betont, geht es bei den Verhandlungen und dem Vorschlag aus dem Abkommen vom Januar, der zu ihnen geführt hat, in Wirklichkeit um mehr als nur um Änderungen am LAS. Stattdessen vergleicht der LO den Prozess mit der Entwicklung eines neuen Saltsjöbaden-Abkommens (unter Bezugnahme auf den historischen Vertrag von 1938, der das „schwedische Modell“ für den Arbeitsmarkt einläutete und die Prinzipien des offiziellen, wirtschaftlichen Klassenkampfes regelte). Die Angriffe auf das LAS sollten daher als Beginn einer eskalierenden Demontage aller traditionellen Rechte der ArbeiterInnenklasse in Schweden betrachtet werden.

Wenn im Januar-Abkommen von „Flexibilität“ die Rede ist, dann ist das ein Code nicht nur für eine Rückkehr zum Arbeitsmarkt des frühen 20. Jahrhunderts mit TagelöhnerInnenarbeit und sehr schwachem Schutz für die ArbeiterInnenklasse, sondern auch etwas Neues, was die Art und Weise betrifft, wie die IT-Technologie die kapitalistische Produktion selbst weniger abhängig von festen (und für die ArbeiterInnenklasse „sicheren“) Strukturen für Lohnarbeit macht, die den Arbeitsmarkt des 20. Jahrhunderts und damit die Gewerkschaftsstrategie im schwedischen Modell charakterisierten. Vorbei ist die Zeit, in der eine LO-Gewerkschaft neue Beschäftigte in der Fabrik X einfach an ihrem ersten Arbeitstag als Mitglieder registrieren und sich dann 40 Jahre lang zurücklehnen und Beiträge eintreiben konnte, während sie in aller Ruhe Tarifverträge aushandelte.

Angesichts einer solchen Umgestaltung des Arbeitsmarktes, die bereits in vollem Gange ist, stellt sich nicht nur die Frage nach einem defensiven Kampf, sondern auch nach einer völlig anderen Art von Gewerkschaftsbewegung, die bereit ist, neuen Formen der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung entgegenzutreten. Die Frage ist nicht nur, ob die Führung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung bereits gewonnene Reformen verteidigen kann, sondern ob sie dafür sorgen können, dass dieser Übergang zu den Bedingungen der ArbeiterInnenklasse und nicht zu denen des Kapitals gelöst wird. Der Kampf um das LAS ist ein Lackmustest dafür, wie alle beteiligten Parteien diese Herausforderung annehmen werden.

Die taktischen Manöver der sozialdemokratischen Führung zeigen deutlich, dass sie dem Machterhalt Vorrang vor einer prinzipientreuen Verteidigung der Rechte der ArbeiterInnenklasse einräumt. Und die Untätigkeit der Führung der Linkspartei zeigt (bestenfalls), dass sie nicht in der Lage oder nicht willens ist, gegen die Regierung zu kämpfen. Von den anderen Parteien im Riksdag, den offen bürgerlichen, können wir natürlich nichts anderes erwarten als fortgesetzte Angriffe, damit sie die Profite ihrer Klientele sichern.

Die Methoden der LO-Führung gegen die widerspenstigen Gewerkschaftsführungen, die sich bisher gegen die Angriffe gewehrt haben, zeigen, dass man ihr für eine langfristige Verteidigung nicht trauen kann, geschweige denn, dass sie bereit wäre, in die Offensive zu gehen. Auch können die TCO-Gewerkschaftsmitglieder nichts von ihrer Verhandlungsdelegation erwarten, was die pathetische Zurschaustellung ihres/r Vorsitzenden nach der zweiten Verhandlungsrunde Seite an Seite mit den Bossen unterstrichen hat. Die Lösung für die Arbeiterinnen aller Gewerkschaften, die nun Angriffen auf ihre Beschäftigungssicherheit ausgesetzt sind, besteht daher darin, sich zu unseren eigenen Bedingungen zu wehren.

Zurückschlagen

Seit Dezember 2019 zirkuliert in der Gewerkschaftsbewegung auf Initiative der Gewerkschaft in der Volvo-Lkw-Fabrik in Umeå eine Petition der ArbeiterInnen zur Verteidigung des Kündigungsschutzes. Alle GewerkschafterInnen sollten mit neuer Kraft versuchen, sie in ihrer Gewerkschaftsabteilung einzubringen. Verabschiedet und verbreitet die Petition der Gewerkschaft/ArbeiterInnen!

Aber eine Petition kann nur den ersten Schritt im Verteidigungskampf verkörpern. Die BürokratInnen in den Führungsetagen der Gewerkschaften führen ihr Leben oft unter völlig anderen Bedingungen als ihre eigenen Mitglieder und werden deshalb nicht mehr Widerstand leisten als den, zu dem wir sie zwingen. Die Führung der LO- wie auch die aller TCO-Gewerkschaften muss unter Druck gesetzt werden, keine neuen Verhandlungen zu diesen Bedingungen aufzunehmen, mit einem Mandat, nicht zu streiken, und wenn es bereits eine politische Vereinbarung über den Angriff auf die Beschäftigungssicherheit gibt.

Es sollte nur darüber verhandelt werden, wie die Bedingungen verbessert werden können, nicht darüber, wie viel schlechter die Dinge sein sollten. Wenn das Foulspiel des LO zur Erzielung einer Einigung und zum Ausverkauf unserer Rechte weitergeht, und es gibt keinen Hinweis auf das Gegenteil, müssen die AktivistInnen in den kritischen Gewerkschaften darauf hinwirken, dass ihre VertreterInnen nicht nur aus dem Verhandlungsausschuss ausscheiden, sondern auch mit dem LO vollständig brechen. Zieht das faule Mandat des Verhandlungsausschusses zurück! Keine Verhandlungen unter dem Galgen!

Neben der Petition der Beschäftigten und dem Druck der Basis für ein klares Nein zu neuen Verhandlungen müssen alle Beschäftigten, ob GewerkschafterInnen oder nicht, auch damit beginnen, politische Streiks vorzubereiten und zu organisieren. Diese Forderung ist z. B. auch vom Gewerkschaftsnetzwerk der Linkspartei und der (stalinistischen) Kommunistischen Partei erhoben worden, allerdings nur im Sinne einer kurzfristigen Protestaktion. Das würde nach der derzeitigen Praxis nicht gegen das tarifvertragliche Streikverbotsmandat verstoßen. Solche kürzeren politischen Streiks wären ein Schritt in die richtige Richtung, aber in dieser ernsten Situation können wir es uns nicht leisten, dort stehenzubleiben. Wir müssen wilde Streiks und einen allgemeinen politischen Streik organisieren, um die Angriffe abzuwehren und die Beschäftigungssicherheit zu stärken und nicht zu schwächen, unabhängig davon, was im Tarifvertrag über Streiks steht. Organisiert wilde Streiks!

Die Führungen des LO, des TCO, der SozialdemokratInnen und der Linkspartei sind auf die Probe gestellt worden. Wenn die ArbeiterInnenklasse mit Bedrohungen unserer Rechte konfrontiert ist und die KapitalistInnenseite ihre Positionen überall vorantreibt, wird uns der Weg der Kompromisse und Zugeständnisse nur in den Ruin führen. Da die KapitalistInnen nie in ihren Bemühungen nachlassen, unsere Ausbeutung zu verstärken, kann der Kampf zur Verteidigung des LAS nicht durch die parlamentarischen Erwägungen der ReformistInnen oder den Konsens innerhalb der LO eingeschränkt werden, wenn sie unsere Rechte ausverkaufen. Ein Zurückschlagen der Angriffe, sei es in Form eines Verrats durch die LO oder durch das Gesetz, durch politische Streiks wird der erste Schritt sein, um nicht nur den Kampf für das LAS zu gewinnen, sondern die ArbeiterInnenbewegung unter einer neuen Führung zu reorganisieren, die auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet ist und die ArbeiterInnenklasse nicht verraten wird.




Krise und Klassenkampf: Warum wir eine Antikrisenbewegung brauchen

Martin Suchanek, Neue Internationale 249, September 2020

2020 ist von Pandemie und Krise geprägt. Vor unseren Augen entfaltet sich der tiefste ökonomische Einbruch seit den 1930er Jahren, wenn nicht in der Geschichte des Kapitalismus. Fast alle Länder der Welt befinden sich in einer Rezession, deren Dauer noch immer unabsehbar ist. In diesem Jahr soll die Weltwirtschaft (gerechnet als Summe aller Bruttoinlandsprodukte) nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds um durchschnittlich 4,9 % schrumpfen. So die Einschätzung vom Juni 2020 – und diese unter der optimistischen Annahme, dass es zu keiner 2. Welle des Corona-Virus im Herbst kommt.

Die Pandemie hat die Krise zwar nicht verursacht, wirkt dabei aber wie ein Katalysator – und wird das auch weiter tun, insbesondere was den Einbruch des Welthandels betrifft.

Die Folgen für die Lohnabhängigen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, große Teile des KleinbürgerInnentums und die Mittelschichten sind verheerend. Die Krise wird eine massive Vernichtung von Kapital erfordern, von Bereinigung der Konkurrenz und damit den Kampf um die Neuaufteilung von Märkten und geostrategischen Einflussgebieten zwischen den imperialistischen Kapitalien und Mächten – USA, China, aber auch Deutschland, Russland, Frankreich, Britannien, Japan – wie auch wichtigen eigentlich halb-kolonialen Regionalmächten – Indien, Türkei, Brasilien, … – massiv verschärfen.

Selbst in den USA, dem nach wie vor reichsten und mächtigsten kapitalistischen Land, verloren über 40 Millionen ihre Jobs. In den vom Imperialismus beherrschten, halb-kolonialen Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Osteuropas werden die Folgen noch weitaus verheerender ausfallen.

Lage in Deutschland

Allein aus diesen Gründen sollte die Schaffung einer Anti-Krisenbewegung auf der Hand liegen. Doch die letzten Monate zeigen, dass dies auf beachtliche Schwierigkeiten stößt.

Dabei hat die Krise natürlich auch Deutschland und die EU erfasst. Das BIP von deren Mitgliedsstaaten soll allein 2020 um über 10 % schrumpfen. Für Deutschland ist ein Einbruch von nur 7,8 % prognostiziert.

Zweifellos verfügt der hiesige Imperialismus aufgrund der Weltmarktstellung des deutschen Kapitals, aber auch der extremen Arbeitsproduktivität, eines riesigen Billiglohnsektors und damit einer hohen Ausbeutungsrate über vergleichsweise große Konkurrenzfähigkeit und größere Reserven als viele andere Staaten. Jedenfalls konnte die Bundesregierung ein milliardenschweres Konjunkturprogramm auflegen, Milliarden zur Rettung strategisch wichtiger Unternehmen wie der Lufthansa bereitstellen und die Kurzarbeit bis Ende 2021 verlängern. Im Vergleich zu anderen Ländern erwies sich auch das Gesundheitssystem als weniger kaputtgespart.

Die Regierung beglückwünscht sich dazu, dass sie das Land bisher „gut“ durch die Krise geführt hätte. Selbst die parlamentarische Opposition – mit Ausnahme der AfD, die im Moment jedoch mit eigenen Machtkämpfen zu tun hat – weiß nicht recht, ob sie der Einschätzung der Regierung zustimmen oder diese kritisieren soll. Furchterregend sind die „Kritiken“ von Grünen, Linkspartei und FDP für die Große Koalition jedenfalls nicht. Die Unternehmerverbände sind mit der Regierung Merkel weitgehend zufrieden. Auch die massive Neuverschuldung betrachten sie als alternativlos – erhalten doch die Unternehmen den Löwenanteil der Gelder.

Auch der EU-Haushalt und die noch vor einem Jahr undenkbare gemeinsame Verschuldung erfreuen sich nicht nur großkoalitionärer Unterstützung, sondern stoßen im Bundestag, bei Kapital und Gewerkschaften auf wenig Einwände.

Auch wenn die Oppositionsparteien offiziell die Politik der nationalen Einheit unter Corona für beendet erklärt haben, so wirkt diese nach. CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne bringen sich für den Wahlkampf 2021 in Stellung und schließen verschiedenste Koalitionen nicht aus. Die SPD bringt zwar auch eine „linke“ Regierung mit Grünen und Linkspartei ins Spiel – und ernennt zugleich das Gesicht des rechten Flügels zum Kanzlerkandidaten. Doch so kann sie sich zumindest an einer etwaigen „Transformationskoalition“ abarbeiten und noch ein Stück weiter zur „Mitte“ rücken.

Gewerkschaften

Entscheidend ist freilich, dass die Gewerkschaften einen zentralen Teil des nationalen Schulterschlusses in der Krise mit zu verantworten haben. Gegen die drohenden Massenentlassungen, Kürzungen, Flexibilisierung usw. setzen sie verbissen auf SozialpartnerInnenschaft, „gerechte Verteilung der Lasten“, Kurzarbeit und „europäische Zusammenarbeit“ – nicht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sondern der bürgerlichen Regierungen und der EU-Kommission.

Die sozialdemokratisch kontrollierten und geführten Gewerkschaften und die Betriebsräte in den Großunternehmen erweisen sich als entscheidende soziale Stütze der kapitalistischen Krisenpolitik der Großen Koalition.

Natürlich bedeutet das nicht, dass es nicht auch bedeutende Konflikte zwischen den einzelnen Kräften des nationalen Schulterschluss gäbe. So preschen diverse Unternehmerverbände mit massiven Forderungen nach Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, einer „Aussetzung“ des Mindestlohns für besonders „arme“ Betriebe, … vor. Es ist kein Zufall, dass diese Forderungen insbesondere von kleineren Kapitalen und aus dem KleinbürgerInnentum  kommen, weil sie in diesen Formen der Verschärfung der Ausbeutung (Erhöhung des absoluten Mehrwerts) die einzige unmittelbar greifbare Form sehen, ihre Unternehmen am Leben zu halten.

Umgekehrt wissen auch die Großkapitale, dass zuverlässige, also partnerschaftliche Gewerkschaften und Betriebsräte in Krisenzeiten viel wert sein können, um den Betriebsfrieden zu sichern, um Strukturanpassung und Umstellung der Produktion zu gewährleisten. Sie kennen außerdem ihre „PartnerInnen“ als Menschen, die sich für „ihr“ Unternehmen ins Zeug legen und gern zu Kompromissen bereit sind.

Allein, die kommende Krise wird diese Kompromissfähigkeit auf die Probe stellen, nicht weil die Bürokratie diese aufkündigen wollte, sondern weil die kapitalistische Konkurrenz ein historisches Maß an Personalabbau, Umstrukturierung, Veränderung der Produktion verlangen wird und damit auch die sozialpartnerschaftliche Regulierung an den Rand ihrer Möglichkeiten bringt.

Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen sind sich dieser Spannung bewusst. Die Führungen von ver.di und IG Metall wissen, dass sie ihren Mitgliedern nicht nur sozial gestalteten Verzicht bieten können, sondern zumindest auch so tun müssen, dass sie etwas im Interesse der Lohnabhängigen bewegen wollen. Das betrifft einerseits das scheinbare Zaubermittel Kurzarbeit. Andererseits spiegeln das auch Tarifforderungen wie 4,8 % in der Tarifrunde öffentlicher Dienst wider wie die nach einem bundesweiten Manteltarifvertrag im öffentlichen Personennahverkehr oder nach einer 4-Tage-Woche in der Metall- und Elektroindustrie. Wenn die IG Metall-Führung dabei im Voraus auf vollen Lohnausgleich und erst recht auf Personalausgleich verzichten will, so belegt dies, wie sehr diese Form von Arbeitszeitverkürzung im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Logik bleibt.

Hoffnung auf das Kapital

Letztlich hofft nicht nur Olaf Scholz, sondern hoffen auch alle Gewerkschaftsapparate und die gesamte SPD, dass die Wirtschaft durch die Regierungsmaßnahmen mit einem „Wumms“ aus der Krise kommt. Im Klartext heißt das: Sie setzen auf die überlegene Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals, so dass mit dem „Wumms“ Unternehmen anderer Länder plattgemacht oder Extraprofite durch die Ausbeutung von Arbeitskräften in anderen Regionen erzielt werden.

Das ist jedoch ungewiss. Erstens verfolgt nicht nur der deutsche Imperialismus diese „Idee“. Auch Länder wie China, Japan, die USA und viele mehr werden das versuchen – und das heimische Kapital hat dabei keineswegs die besten Karten. Zweitens schrumpfte der Weltmarkt in der Krise dramatisch und wird angesichts der Pandemie, aber auch der Tendenz zum Protektionismus und zur ökonomischen Blockbildung weiter viel volatiler bleiben als vor der Krise. Das macht auch verständlich, warum die Regierung einen neuen Anlauf zur kapitalistischen Einigung der EU macht, weil diese als ökonomischer Raum, als erweiterter „Heimathafen“ für das deutsche Kapital fungieren kann.

Daraus können wir in jedem Fall ersehen, dass sich die Partnerschaft zwischen Gewerkschaften, SPD einerseits, CDU/CSU und Unternehmerverbänden (und in gewisser Weise auch mit Grünen und FPD) andererseits keineswegs nur auf betriebliche und gewerkschaftliche Belange erstreckt, sondern auch auf die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus.

Im Grunde würde auch die Linkspartei gerne als linker Flügel dabei mitspielen. Die anderen  trauen ihr aber nicht so recht, weil es ihnen zu riskant erscheint, der Linkspartei ein Mitsprachrecht in außenpolitischen, geo-strategischen und EU-politischen Fragen einzuräumen. Sie gilt noch zu sehr als Friedenspartei. Wie die SPD vor über 100 Jahren und die Grünen im Jugoslawienkrieg gezeigt haben, kann das sehr schnell ins Gegenteil umschlagen. Doch selbst wenn die Linkspartei sich weiter verrenkt, so wird sie kurzfristig für eine Regierung auch nicht gebraucht. Umso blamabler ist es, dass sie selbst in dieser Lage einer imaginären Reformkoalition nachläuft, statt sich wenigstens als kämpferische, links-reformistische Partei zu präsentieren.

Bremsen

All diese Faktoren erklären, warum die Führungen der Gewerkschaften und die reformistischen Parteien jede Bewegung blockieren und, wo diese unvermeidlich ist, diese von oben kontrollieren und beschränken oder ins Leere laufen lassen wollen. Dieses Problem wird sich sicherlich hinsichtlich der kommenden Tarifrunden stellen. Andererseits müssen linke GewerkschafterInnen und linke Organisationen in diese eingreifen, um der Gewerkschaftsführung die Kontrolle des Kampfes zu erschweren. Eine andere Methode konnten wir bei Voith in Sonthofen beobachten. Die IG Metall konnte dort einen monatelangen Streik nicht verhindern. Aber sie unterstützte ihn nicht, ließ ihn so langsam an seine Grenzen stoßen, so dass er in einer Niederlage endete. Diese Taktik, Streiks formell zu unterstützen, aber auf den Einzelbetrieb beschränkt stattfinden zu lassen, kommt in der aktuellen Situation einem Sterben auf Raten gleich, weil Schließungen einzelner Betriebe eines Konzerns auf lokaler Ebene besonders schwer zu verhindern sind, weil das Kräfteverhältnis und auch die Möglichkeit, ökonomischen Druck aufzubauen, in einer Krise schlechter sind als in Phasen der Expansion des Kapitals.

Das Problem der Kontrolle und Verhinderung von Bewegungen und Kämpfen beschränkt sich natürlich nicht auf die Gewerkschaften. Bei Fridays for Future (FFF) spielt die Grüne Partei eine vergleichbare, in gewisser Weise noch beschämendere Rolle. Die Spitzen der Gewerkschaften und Betriebsräte sind wenigstens formal gewählt, die Führung von FFF hat sich einfach selbst qua „Geburtsrecht“ fest etabliert, eine Konferenz, eine Wahl oder demokratische Kontrolle gab es nie. In den Gewerkschaften ist es auch kein Geheimnis, dass der Apparat und der gesamte Laden letztlich sozialdemokratisch kontrolliert wird. Die Parteibücher und Verbindungen zur SPD sind durchaus bekannt. Bei FFF wurde lange behauptet, dass die Bewegung „überparteilich“ sei, um dann zu erfahren, dass diese „überparteilichen Menschen“ wie Luisa Neubauer für die Grünen zum Bundestag kandidieren.

Wo bleibt die „radikale“ Linke?

All das erklärt auch, warum sich die rechten Hygiene-Demos von wirren QuerdenkerInnen bis zu Nazis als Pseudo-Opposition präsentieren konnten, die vor allem unter kleinbürgerlichen Schichten zu fischen versuchen.

Die antirassistischen Massendemonstrationen im Juni in Solidarität mit Black Lives Matter, aber auch gegen das Rassismusproblem in Deutschland selbst verdeutlichten, dass auch in Corona-Zeiten große Mobilisierungen und Aktionen möglich sind. Das Anwachsen der neu-rechten Demos im August macht aber auch klar, dass diese entstehende kleinbürgerliche, reaktionäre Bewegung nicht einfach verschwinden wird oder wegdemonstriert werden kann. Letztlich muss ihr der soziale Nährboden entzogen, eine Massenbewegung gegen die Verarmung, Verelendung, Arbeitslosigkeit … in den Betrieben, im öffentlichen Dienst, an den Unis und Schulen, in den Wohnvierteln aufgebaut werden.

Von den Apparaten der ArbeiterInnenbewegung können wir die Initiative dazu nicht erwarten, so wichtig es auch ist, ihre Mitglieder, ihre Basis zu gewinnen und zu mobilisieren. Dazu muss die „radikale“ Linke, ob nun klassenkämpferische GewerkschafterInnen, MieterInnenbewegung, AntirassistInnen, Umweltbewegung, … jedoch selbst eine politische Initiative ergreifen.

An Einzelkämpfen, Mobilisierungen für bestimmte Themen, gegen Räumungen, gegen Braunkohlekraftwerke oder auch rassistische und faschistische Angriffe, selbst an Warnstreiks oder einzelnen betrieblichen Abwehrkämpfen wird es nicht mangeln. Alle diese verdienen und brauchen Solidarität und Unterstützung.

Für sich allein werden sie jedoch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht verändern. Das ist angesichts der geringen Größe der Kräfte links von der Linkspartei, der „radikalen Linken“ und linker GewerkschafterInnen auch nicht von diesen zu verlangen.

Aber sie können die Initiative für ein Aktionsbündnis ergreifen, das alle wichtigen politischen, gesellschaftlichen und betrieblichen Aspekte des Kampfes gegen die Krise bündelt und zusammenfasst. Eine solche Kraft wäre natürlich noch immer zu schwach, die Angriffe von Kapital und Regierung zu stoppen, ein Antikrisenprogramm im Interesse der Masse der Bevölkerung durchzusetzen, den Kampf gegen alle Entlassungen zu führen, Betriebsschließungen zu verhindern, gleiche Rechte für alle, die hier leben, durchzusetzen usw. usf.

Aber eine solche Kraft könnte als Hebel fungieren, um den Einfluss des Reformismus und der Gewerkschaftsapparate über die Klasse in Frage zu stellen und die Gewerkschaften, die Linkspartei, ja selbst Teile der SPD und damit ihre AnhängerInnen zur Aktion zu zwingen.

Wo beginnen?

Angesichts dieser Situation müssen wir die Frage ins Zentrum rücken, wie wir den notwendigen Klassenwiderstand entfalten. Wenn wir nicht anfangen, Widerstand aufzubauen, werden seitens des Kapitals Fakten geschaffen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, Antworten auf die aktuellsten Fragen zu geben: Wer verhindert die Zwangsräumung, wenn man aufgrund von Kurzarbeit die Miete nicht zahlen kann? Wie retten wir die Geflüchteten, die aktuell an der EU-Außengrenze zum Tode verurteilt werden? Wie wehren wir uns gegen Entlassungen und Sparmaßnahmen?

Wir müssen jetzt anfangen, Antworten auf diese Fragen zu geben – auch als kämpferische Minderheit. So können wir für größere Teile der Lohnabhängigen und Aktive sozialer Bewegungen sichtbar werden, Orientierung vermitteln und zu einem Sammelpunkt des gemeinsamen Handelns geraten.

Entscheidend werden dabei Forderungen sein, um eine gemeinsame Bewegung aufzubauen. Die drängendsten Fragen für Millionen Lohnabhängige müssen dabei im Zentrum stehen. Wir schlagen folgende Punkte für die Neuformierung einer Antikrisenbewegung vor:

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin! 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!
  • Öffnung der Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen, Umsetzung von Schutz- und Hygieneplänen unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit stehen! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Keine Rendite mit der Miete! Für die Aussetzung aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.! Nutzung von Leerstand, um Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen Räume zur Verfügung zu stellen!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle! Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe!

Dafür müssen wir aktiv werden. So können wir unsere Forderungen und die Verteidigung demokratischer Rechte, einschließlich des Streikrechts, miteinander verbinden. Unmittelbar geht es darum, all jene zu vereinen, die beim nationalen Schulterschluss von Kapital und Kabinett nicht weiter mitmachen wollen, all jene, die im Betrieb, an Schule, Uni und im Stadtteil eine neue Antikrisenbewegung aufbauen wollen. Es hilft nichts, darauf zu warten, dass reformistische und gewerkschaftliche Führungen die Initiative ergreifen. Das müssen wir vielmehr selbst tun.




Wirtschaftskrise in Österreich: Zusammenbruch an allen Fronten

Mo Sedlak, Infomail 1004, 15. Mai 2020

Die Corona-Pandemie hat mit Rekordarbeitslosigkeit, Kursstürzen auf den internationalen Märkten und dem Zusammenbruch der internationalen Produktionsketten begonnen. Auf die Welt und auf Österreich kommt eine historische Wirtschaftskrise zu, und weder Kapital noch Regierung können allein zurück zur alten Normalität. Die ArbeiterInnenklasse, die Arbeitslosen und die auf den Sozialstaat angewiesenen spüren die Krise schon jetzt am schlimmsten. Aber auf uns kommen die härtesten Angriffe seit Jahrzehnten noch zu, wenn die Krisenkosten verteilt werden sollen.

Österreich war eines der ersten Länder, in dem die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeitslosenzahlen berichtet wurden. In den ersten zwei Wochen der Ausgangsbeschränkungen hatten 200.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren (1), das ergibt mit 12,2 % die höchste Quote seit 1946. Weitere 870.000 Menschen sind in Kurzarbeit (2). Ein Drittel der ArbeiterInnen und Angestellten in Österreich gehen im Moment also nicht zur Arbeit, die österreichischen Konzerne fallen um die Profite aus ihrer Ausbeutung um.

Österreich hat zwar eine vergleichsweise hohe Lohn-Ersatzquote in der Kurzarbeit (niedrige Einkommen bekommen bis zu 90 % ausgezahlt), aber natürlich ist die Kaufkraft der ArbeiterInnen und kleinen Selbstständigen eingebrochen. Viele Geschäfte dürfen auch gar nicht aufsperren, und wo die Produktion noch läuft (zum Beispiel beim Kunststoffproduzenten Greiner in Linz, wo erst ein Streik Schutzmaßnahmen erzwingen konnte (3) brechen die Aufträge weg, wenn die Verarbeitung der Zwischenprodukte stillsteht.

Dazu kommt, dass in Österreich besonders viel für internationale Produktionsketten hergestellt wird. 41 % des Bruttoinlandprodukts wird importiert oder exportiert. Das bedeutet, die besonders schlimme Pandemie in Italien und das Herunterfahren der Autoproduktion in Deutschland haben noch eine zusätzliche Auswirkung auf Österreich.

Weitgehender Zusammenbruch

Kurzfristig ist in Österreich also gleichzeitig die Produktion, Beschäftigung, und die Nachfrage im Konsum- und Industriebereich zusammengebrochen. Das allein kann die Basis für eine tiefe Krise sein, weil zwar die verlorene Kaufkraft (kurzfristig) durch Staatshilfen ersetzt werden kann, die Profitabilität der Firmen aber nicht.

Anders gesagt: Außer Preistreiberei mit Medizinprodukten und Erschleichen der intransparent vergebenen Notfallsfonds hat das österreichische Kapital weder eine Möglichkeit, durch die Krise zu kommen, und noch weniger danach wieder zur alten Normalität zurückzukehren.

Pleiten, große Verkäufe und Kreditausfälle, die jetzt schon begonnen haben, verbreiten die Krise dann in alle Bereiche der Wirtschaft. Der OECD-Generalsekretär Gurria, erklärte dass allein die Ausgangsbeschränkungen bis zu 2 % weniger Wirtschaftswachstum pro Monat bedeuten würden, mit der Mehrbelastung des Gesundheitssystems kommt das wohl auf bis zu 5 % pro Monat, mehr als im ganzen Krisenjahr 2008 (4).

Globale Krise

Die Coronapandemie ist aber nur der Auslöser dieser Rezession (das bedeutet ein länger anhaltendes Schrumpfen der Wirtschaftsleistung), nicht der eigentliche Grund. Noch zwei andere krisenhafte Entwicklungen brechen jetzt gleichzeitig aus, und machen die Lage kompliziert.

Erstens ist die Profitabilität in Europa schon seit 2016 zurückgegangen, im nicht-finanziellen Bereich sogar schon seit 2014 (5). Das hatte zu einer Verlagerung der Investitionen auf Finanzmärkte und einer Blase konkret für Unternehmensanleihen geführt (die sind im Gegensatz zu Aktien festverzinst und gelten als sichere Anlage). Ein Platzen der Blase und die Pleiten der am wenigsten profitablen Unternehmen, wie es im Kapitalismus regelmäßig vorkommt, war schon zu erwarten gewesen.

Zweitens waren von der letzten Krise 2008 noch einige geopolitische Rechnungen offen. Diese Krise war hauptsächlich über eine international koordinierte Geldpolitik und das starke Wirtschaftswachstum in China gelöst worden. Der internationale Kapitalismus ist aber auf recht ernsthaftem Wettbewerb aufgebaut, besonders jetzt wo sich die USA, China und in geringerem Maße EU und Russland als Führungsmacht beweisen wollen. Die Spannungen waren schon seit Jahren schlimmer geworden, am deutlichsten war das an den Handelskriegen zwischen USA und China, den Embargos zwischen EU und Russland und dem Zerbrechen der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA zu erkennen.

Diese Manöver waren sehr kostspielig, und sind mit einem Preiskrieg auf dem Ölmarkt zwischen Russland und Saudi-Arabien Ende Februar voll ausgebrochen. Diese Auseinandersetzung hat so hart eingeschlagen, dass die Preise für Rohöl Ende April bei -30 Dollar pro Barrel (also unter 0) und Anfang Mai noch immer fast 80 % unter dem Vorjahrespreis lagen (6).

Mit Startnachteil in die Krise

Die kommende Rezession wird tiefer und auch komplizierter als die historische Krise 2008. Die Startbedingungen in Österreich sind aber noch schlechter, weil viele Auswirkungen von damals sich nicht wieder „eingependelt“ haben. Ende 2019 war die Arbeitslosigkeit um 100.000 Menschen höher als am letzten Tiefpunkt 2008 (7).

Um durch die gegenwärtige Krise zu kommen haben die größten Unternehmen schon heftige Ansprüche angemeldet. Die AUA möchte fast 800 Millionen Euro, die Benko-Gruppe hat in Deutschland um einen ähnlichen Betrag angesucht (und wird sich in Österreich auch nicht zurückhalten). Insgesamt hat Finanzminister Blümel schon 14 Milliarden Euro an Hilfen versprochen.

Drohende Angriffe

Zum Vergleich: Die Konjunkturpakete 2008-2010 hatten insgesamt ungefähr 5,65 Milliarden Euro gekostet (8). Um diese Kosten wieder hineinzubekommen hatte die rot-schwarze Regierung die ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen mit Sparpaketen 2010 und 2012 umfassend angegriffen. Die Summen, die jetzt bereitgestellt werden, versprechen noch viel krassere Einsparungen und Verschlechterungen.

Der österreichische Versuch, sich innerhalb von Europa einen Startvorteil zu verschaffen wird daran scheitern, dass der wichtigste Teil der Industrieproduktion und des Bankensektors fest in europäische Produktionsketten eingebunden ist. Die kommende Krise droht auch, die Europäische Union zu zerreißen. 2008 ist es den nord- und westeuropäischen Ländern gelungen, die härtesten Klassenkämpfe in den Süden zu verlagern. Das wird diesmal nicht möglich sein, harte Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und den Sozialstaat werden die Lage bis zur politischen Krise verschärfen.

Der österreichischen ArbeiterInnenklasse drohen nach der gestiegenen Arbeitslosigkeit und dem Verdienstverlust gleich eine tiefe Krise und anschließend harte Sparpakete. Auch die begonnenen Verschlechterungen im Arbeitsrecht – 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche – geben einen Vorgeschmack darauf, wie die Regierung versuchen wird die österreichische Profitabilität auf unsere Kosten wiederherzustellen. Auch alle, die auf den Sozialstaat, das staatliche Bildungssystem und die öffentliche Krankenversorgung angewiesen sind, werden darunter massiv leiden.

Der Kapitalismus in Österreich steuert auf die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu. Die türkis-grüne BürgerInnenblockregierung ist entschlossen, das auf dem Rücken der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Unterdrückten auszutragen.

Gleichzeitig zeigt sich jeden Tag die Unfähigkeit des Kapitalismus, die ArbeiterInnen vor den Gefahren der Gesundheitskrise zu schützen. Die kommenden Auseinandersetzungen werden die Fronten zwischen Arbeit und Kapital noch klarer zeigen und auch die sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsbürokratie zur Positionierung zwingen.

Die ArbeiterInnenbewegung muss mit mutigen Kämpfen in die kommenden Auseinandersetzungen gehen und muss jedes kapitalistische Prinzip in Frage stellen, wenn sie aus dieser Krise wieder herauskommen will. In Österreich und der EU hat mit der Corona-Pandemie eine entscheidende Auseinandersetzung begonnen, vor der sich niemand verstecken kann.

Endnoten

(1) https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/cornavirus-arbeitslosenzahl-in-oesterreich-steigt-mehr-als-50-prozent-a-3dd384fb-cdb9-4a2a-b385-ede4865774fa

(2) https://kurier.at/chronik/oesterreich/coronavirus-plus-270000-870000-in-kurzarbeit-50-prozent-immunitaet-in-suedtiroler-dorf/400817348

(3) https://afainfoblatt.com/2020/04/30/erfolg-beim-greiner-streik-forderungen-durchgesetzt/

(4) http://arbeiterinnenmacht.de/2020/04/01/pandemie-zur-weltwirtschaftskrise-drohende-katastrophe/

(5) EUROSTAT, Tabellen namq_10_a10 und nama_tfa_st

(6) https://markets.businessinsider.com/commodities/oil-price?type=wti

(7) https://awblog.at/wirtschaftspolitische-herausforderungen-2020/

(8) http://wug.akwien.at/WUG_Archiv/2009_35_4/2009_35_4_0527.pdf




Kampf gegen Rentenkürzungen in Frankreich an einem Wendepunkt

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die Streikbewegung gegen die Rentenreform steht nach zwei
Monaten von Massenaktionen, die nicht nur Macron das Fürchten lehrten, sondern
auch zu einer Inspiration für Millionen in ganz Europa wurden, an einem
Wendepunkt. Die Regierung und die von ihr forcierten Angriffe sind unverändert
unpopulär, ja verhasst. Macron, der selbsternannte und selbstherrliche
Sonnenkönig eines „humanitären“ (Neo-)Liberalismus, enthüllt einmal mehr sein
arbeiterInnenfeindliches Gesicht. Alle Umfragen zeigen, dass seine „Reformen“
bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung weiter auf massive Ablehnung
stoßen.

An den Aktions- und Streiktagen, die von den Gewerkschaften
ausgerufen werden, beteiligen sich nach wie vor Hunderttausende, wenn nicht
Millionen. Die Demonstrationen offenbaren nicht nur tief sitzende Wut und
Empörung, sondern auch die Entschlossenheit, Dynamik, Kreativität und
Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse. Seit Anfang Dezember haben die
Streikenden bei der Bahn und Metro sowie die LehrerInnen im öffentlichen Dienst
gezeigt, dass Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt und sogar
gestürzt werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse ihre ganze Kampfkraft in
die Waagschale wirft. Millionen Lohnabhängige aus allen Wirtschaftsbereichen,
SchülerInnen, Studierende, die Überreste der „Gilets Jaunes“, alt wie jung
betrachten den Streik als ihre Sache, solidarisieren sich bei den Aktionstagen
oder durch Spenden für Aktive, die seit Wochen die Stellung halten. Wie kaum
ein anderer Ausstand wird der gegen die Rentenkürzungen von unten, von der
Basis der Beschäftigten getragen – und er verdeutlicht damit die Stärken, die
allein schon aus dem spontanen Gewicht der Klassen erwachsen.

Zugleich offenbaren sich aber auch die Schwächen und
Probleme der Bewegung. Im Folgenden werden wir diese kurz darstellen, um dann
auf die Frage einzugehen, wie sie überwunden werden können.

Verrat der CFDT-Führung

Die Regierung Macron hat es geschafft, die Gewerkschaften zu
spalten, indem sie Anfang des Jahres der Streikbewegung ein „Gesprächsangebot“
machte und versprach, einen Aspekt der Reform „auszusetzen“.

Dies war natürlich nie ernst gemeint, was sich schon daran
zeigt, dass eigentlich nur die Aussetzung des „Scharnieralters“, ab dem
Menschen ohne Abschläge in Rente gehen können, für einen Teil der Bevölkerung
in Aussicht gestellt wurde. D. h. jene, die vor dem 64. Lebensjahr zur
Zeit mindestens 41,5 Betragsjahre (ab 2021 mindestens 43 Jahre) vorweisen
können, sollten auch schon früher ohne Verlust in Ruhestand gehen können.

Selbst diese Offerte, die bestenfalls die Verschlechterung
für eine kleiner werdende Gruppe von Lohnabhängigen für einige Jahre
aufgeschoben hätte, war nie mehr als ein unverbindliches Gesprächsangebot.

Der Kern der Reform, den das Unternehmerlager seit Jahren
einfordert, sollte ohnedies nie in Frage gestellt werden. Es geht um die
allgemeine Absenkung aller Renten durch eine Veränderung ihrer
Bemessungsgrundlage. Zur Zeit werden die finanziell besten 25 Beitragsjahre zur
Berechnung der Höhe der Renten herangezogen. Kommt die Reform durch, werden in
Zukunft 43 Beitragsjahre in die Ermittlung des Rentenniveaus für fast alle
Berufgruppen – ausgenommen sind nur wenige wie Militärs, Teile der Polizei,
PilotInnen, OperntänzerInnen – einfließen. Der Rentenklau betrifft also die
gesamte ArbeiterInnenklasse und alle Einkommensschwächeren, Prekären,
Erwerbslosen besonders hart. Dramatische Abschläge und ein besorgniserregender
Zuwachs der Altersarmut sind vorprogrammiert.

Das eigentliche Ziel der Regierung war also offensichtlich
und leicht zu durchschauen: der Streik sollte beendet oder zumindest geschwächt
werden. Die ArbeiterInnen sollten zurück zur Arbeit, während die
GewerkschaftsführerInnen über den Verhandlungstisch gezogen werden.

Die rechts-sozialdemokratische CFDT – nach Mitgliedern die
zweitgrößte, nach gewählten betrieblichen VertreterInnen die größte
Gewerkschaft des Landes – und einige kleinere Verbünde nahmen das „Angebot“
jedoch freudig auf. Der CFDT-Vorsitzende Berger verkündete gar den Sieg der
Streikbewegung, die er ohnedies nie gewollt hatte. Seine Gewerkschaft hatte
ihre Mitglieder und FunktionärInnen nie zum Streik aufgerufen. In den von ihr
organisierten Bereichen kam es kaum zu Arbeitsniederlegungen. Am Beginn hatte
sich die CFDT sogar gegen die Mobilisierung zu stellen versucht, musste dann
aber auf die Bewegung aufspringen und rief Ende 2019 gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften zu den Aktionstagen auf, um noch Einfluss ausüben zu können.

Das Angebot der Regierung griff sie umso freudiger auf. Die Spitzen
kleinerer Gewerkschaften wie der UNSA, die vor allem bei der Pariser Metro
stark vertreten ist, folgten dem Kurs der CFDT. Sie stießen aber auf Widerstand
bei ihrer streikenden Basis, die sich gegen den Willen ihrer Vorstände weiter
am Arbeitskampf beteiligte.

Dass sich der Widerspruch zwischen Führung und Basis bei den
regierungsnahen Gewerkschaften manifestiert, zeigt, dass letztere durchaus von
den BerufsverräterInnen an der Spitze gebremst werden kann. Der Streikbruch
v. a. der CFDT verdeutlicht jedoch nicht nur deren verräterischen
Charakter, er hat auch der Regierung geholfen, selbst wieder die Initiative zu
ergreifen, indem sie die Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Aussetzen der Streikbewegung

Der offene Streikbruch verschärft ein letztlich noch
größeres Problem, nämlich die Tatsache, dass seit Wochen keine neuen Sektoren
in den Ausstand traten. Auch die großen Aktionstage im Jahr 2020 können nicht
über das Problem hinwegtäuschen, dass die Streikfront seit Ende Dezember
zahlenmäßig stagnierte und die Arbeitsniederlegungen in vielen Bereichen
langsam zurückgingen. Auch wenn die bürgerlichen Medien im Januar die
Entwicklung übertrieben, so nahm der Prozentsatz der fahrenden Züge und Metros
doch sichtbar zu.

Am 20. Januar beschloss eine Mehrheit der
Streikversammlungen (assemblées générales, AG) schließlich die „Aussetzung“ der
Arbeitsniederlegungen im Transportsektor. Der unbefristete Streik kam damit
vorerst zum Erliegen und er sollte nur noch an den großen, landesweiten
Aktionstagen aufrechterhalten werden. Auch wenn diese Taktik zu eintägigen
Streiks und Massendemos mit über einer Million führte, so kann und darf die
Aussetzung der Streiks nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung nicht
mehr in der Lage ist, ihr wirksamstes und mächtigstes Kampfmittel gegen die
Regierung einzusetzen.

Dass viele Beschäftige von Bahn und Metro nach 45 Tagen des
intensiven Arbeitskampfes erschöpft sind und sich nicht mehr in der Lage sehen,
die Streikfront pausenlos zu halten, lässt sich leicht nachvollziehen. Die
Einkommensverluste der ArbeiterInnen, die die Bewegung tragen und deren Spitze
stellen, können außerdem nicht vollständig und dauerhaft durch Streikgelder und
durchaus beachtliche Solidaritäts-Spenden von mehreren Millionen Euro
aufgefangen werden.

Hinzu kommt, dass der Sektor, der neben den Beschäftigten
bei Bahn und Metro die meiste Streikaktivität aufwies, die LehrerInnen im
Bildungsbereich, selbst im Gegensatz zum Transportsektor nie flächendeckend und
unbefristet die Arbeit niedergelegt hat. Die LehrerInnengewerkschaft FSU und
die meisten AGs konzentrierten sich auf die Aktionstage, während die große
Mehrheit der LehrerInnen in der „Zwischenzeit“ ihrem Beruf nachging.

Die Erschöpfung der kampfstärksten Schichten der Klasse
kommt nach so langer Zeit nicht verwunderlich. Im Gegenteil, sie haben sehr
lange durchgehalten. Es zeigt sich aber, dass ein solch bedeutender politischer
Generalangriff der Regierung nicht zurückgeschlagen werden kann, wenn die
Streikfront nur auf die Avantgarde der Klasse beschränkt bleibt und keine neuen
ArbeiterInnenschichten in den Kampf treten.

Rolle der Gewerkschaftsbürokratie

Hier stellt sich jedoch die Frage: Woran lag es, dass eine
Ausweitung des Streiks nicht gelang? An Appellen von linken oder kämpferischen
AktivistInnen, an Aktionen wie Blockaden, Besetzungen usw. hatte und hat es
nicht gemangelt. Viele der AktivistInnen der AGs haben immer wieder darauf
gedrängt. Bei den Demonstrationen im Januar waren die Parolen des
„Generalstreiks“ und der Ausweitung des Kampfes wie der Forderungen durchaus
populär, was verdeutlicht, dass die Basis der Bewegung nach einer Lösung für
die aktuellen Problem sucht.

Um zu verstehen, warum der Streik dennoch nicht weiter
ausgeweitet wurde, müssen wir die Rolle der Gewerkschaftsführungen begreifen,
denen trotz der Dynamik von unten letztlich die Führung der Bewegung zufiel.

Anders als die StreikbrecherInnen im Vorstand der CDFT weisen bis heute die meisten Gewerkschaften die „Verhandlungsangebote“ der Regierung zurück. Die gemeinsame Gewerkschaftskoordination Intersyndical aus CGT, FO, FSU, Solidaires, FIDL, MNL, UNL und UNEF gibt letztlich den Takt der Bewegung vor, legt die Aktionstage fest. Sie hofft, mittels weiterer solcher Manifestationen die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch schon am Beginn der Streikbewegung zeigte sich die Rolle der Bürokratie dieser Verbände in mehrfacher Hinsicht.

Erstens riefen die meisten der Verbände ihre eigenen Mitglieder über die schon streikenden Sektoren hinaus nicht zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf. Gewerkschaftszentralen wie z. B. die FO (nach CGT und CFDT die drittgrößte des Landes) unternahmen praktisch nichts, um den Streik auf jene Sektoren auszuweiten, wo sie stark sind, ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufzurufen und dabei praktisch zu unterstützen.

So befanden sich tatsächlich nur einige Gewerkschaften der Intersyndical im Streik, namentlich CGT, SUD und die LehrerInnengewerkschaft FSU. Und selbst die CGT versuchte kaum, über den Transportsektor hinaus ihre Mitglieder in den Kampf zu rufen.

Zudem verzichteten die aktiveren, linken Gewerkschaften – und hier vor allem die CGT-Führung – darauf, jene, die nicht ständig streikten, dafür offen zu kritisieren, zum Kampf aufzufordern und sich nicht nur an andere Führungen, sondern auch an die Basis zu wenden. Zwischen den Zentralen bestand und besteht jedoch eine Art politisches Stillhalteabkommen, das für die Zeit ihrer formalen Kampfunterstützung auch die CFDT einschloss.

Diese Politik fällt nicht vom Himmel, sondern sie spiegelt auch die Zielsetzung und Taktik der Gewerkschaftsführungen wider, inklusive jener der de facto führenden Kraft CGT. Diese organisiert zweifellos die wichtigsten und kämpferischsten Streikenden im Transportsektor, auch wenn radikalere Gewerkschaften wie Solidaires (SUD) eine Rolle unter einer sehr militanten Minderheit spielen mögen.

Die Massenbewegung, die CGT-Spitze wie die gesamte Intersyndical kritisieren zurecht den politischen, gesamtgesellschaftlichen Charakter der Rentenreform. Doch bei aller kämpferischen Rhetorik führt die Gewerkschaftsführung die Schlacht um die Rentenreform nicht wie einen politischen Klassenkampf mit der Regierung, sondern wie einen besonders bedeutsamen gewerkschaftlichen, also wirtschaftlichen Konflikt.

Letztlich hoffte auch sie, die Regierung durch den Druck der
Aktion zu einem „wirklichen“ Verhandlungsangebot zwingen zu können.

Die Regierung Macron und die gesamte herrschende Klasse
Frankreichs hingegen führen den Kampf als das, was er ist: eine Klassenschlacht,
die nicht nur massive Rentenkürzungen durchsetzen, sondern auch das
Kräfteverhältnis nachhaltig zu ihren Gunsten verschieben soll.

Daher verweigerte sie „echte“ Verhandlungen und spaltete
vielmehr erfolgreich mit einem Scheinangebot. Nachdem der Streik schwächer
wird, tritt sie auch nach und rückt wieder von den Zugeständnissen ab, die der
CFDT versprochen wurden. So verkündete Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 24.
Januar, dem Tag der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Parlament, dass das
Renteneintrittsalter von 64 „im Gesetzentwurf enthalten“ bleibe.

Gleichzeitig verschärft die Regierung die Tonart gegenüber
den Streikenden und Demonstrierenden. So wurde die Besetzung der CFDT-Zentrale
durch kämpferische ArbeiterInnen in der bürgerlichen Presse als „Terrorismus“
gebrandmarkt. Die Stimmung im Land soll zum Kippen gebracht, also gegen die
„Minderheit“ der Streikenden in Stellung gebracht werden, die alle anderen „in
Geiselhaft nehmen“ würden.

Die Gewerkschaftsführungen waren auf diese politische Gegenoffensive
nicht vorbereitet – nicht einfach aus politischer Unwissenheit oder
Blauäugigkeit, sondern weil sie, selbst wenn sie sich kämpferisch geben, eine
politische Entscheidungsschlacht mit der Regierung vermeiden wollten und
wollen. Denn genau eine solche würde eine Ausweitung des Streiks zu einem
politischen Massenstreik, letztlich zu einem unbefristeten Generalstreik
wahrscheinlich mit sich bringen. Natürlich wäre es auch möglich, dass die
Regierung selbst zeitweilig den Rückzug antritt. Aber angesichts des wichtigen,
strategischen Charakters der Reform für Macron konnte darauf nie spekuliert
werden. Ein Generalstreik hätte daher rasch die Frage seiner Verteidigung gegen
polizeiliche Repression oder gar gegen den Einsatz des Militärs im Inneren
aufwerfen können (wie die Besetzung der Raffinerien vor einigen Jahren) – somit
also nicht nur die Rentenreform, sondern auch die Frage der politischen Macht.

Da die Gewerkschaftsführungen diesem Kampf aus dem Weg gehen
wollten und wollen, spielen sie unwillentlich der Regierung in die Hände.
Sobald diese erkennt, dass die ArbeiterInnenklasse schwächelt, weil deren
Führung zögerlich und schwach ist, setzt sie nach.

Die Schwäche der Bewegung

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird jedoch auch
durch politische Schwächen der Basis erleichtert. Diese ist zwar weit
kämpferischer, betrachtet aber selbst den Kampf über weite Strecken als
gewerkschaftliche Auseinandersetzung, nicht als politischen Klassenkampf. Dies
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie bislang die politische Führung der
Intersyndical überlässt.

Auch wenn der Streik von den Streikversammlungen, den
assemblées générales, in den Betrieben getragen wurde, so waren diese doch weit
davon entfernt, die Führung der Bewegung zu übernehmen.

Die AGs stimmten zwar jeden Tag über die Fortführung des
Streiks ab, aber nur ein kleiner Teil wählte oder bestimmte eine betriebliche
Streikleitung oder ein Streikkomitee. Eine über die Betriebe und Abteilungen
hinausgehende Koordinierung gab es nicht, allenfalls in Einzelfällen. In vielen
Fällen beschränkten sich die Versammlungen sogar nur darauf, den Bericht von
GewerkschaftsvertreterInnen zu hören, zu klatschen und auf dessen Vorschlag für
die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.

D. h. die faktische Leitung des Arbeitskampfes lag
weiter bei einer, den AGs nicht verantwortlichen Führung, die von den
Gewerkschaftszentralen bestimmt wurde. Ohne Wahl und Koordinierung von
Streikkomitees konnten die AGs zu keinem Zeitpunkt zur Führung des Streiks
werden, schon gar nicht auf überbetrieblicher Ebene. Auf landesweiter Ebene
existiert erst recht keine alternative politische Führungskraft zur von der CGT
maßgeblich bestimmten Intersyndical.

Daran änderte auch das weit verbreitete und berechtigte
Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der Gewerkschaftsspitze nichts. Diese
vermochte es vielmehr, die politische Verantwortung für die Ausweitung des
Streiks durch ein geschicktes Manöver auf die Basis abzuwälzen.

Da formal nur die AGs über die Durchführung und
Weiterführung des Streiks in einem Betrieb oder einer Abteilung entscheiden,
rechtfertigten die Gewerkschaftszentralen – so auch die linke CGT – ihre
Versäumnisse, aktiv weitere Sektoren in den Kampf zu ziehen und in weiteren
Betrieben und Branchen systematisch zu agitieren, damit, dass sie die
ArbeiterInnen nicht „bevormunden“ möchten. Nur die ArbeiterInnen in den
Betrieben dürften über ihren Streik und dessen Fortführung entscheiden. Das, so
die Bürokratie, würde großzügig respektiert werden. Daher würden sie auf
„bevormundende“ Aufrufe zu allgemeinen Streiks verzichten, dieser müsse „von
unten“ kommen.

Damit schob die Führung der Gewerkschaften jedoch bloß ihre
politische Verantwortung, den Kampf auszuweiten und zu verstärken, auf die
„Basis“ ab, d. h. auf voneinander weitgehend isolierte einzelne
Belegschaften oder Abteilungen.

In der Phase des Aufstiegs und der Ausweitung der
Streikbewegung treten diese Probleme einer solchen Struktur nicht so sehr in
Erscheinung. Getragen von der Nachricht großer Streikbeteiligung, riesiger Demonstrationen
und Solidarität der Bevölkerung stimmen natürlich auch viel leichter AGs für
den Streik. Sobald die Bewegung jedoch rückläufig ist, sobald sich
Ermüdungserscheinungen zeigen, schlägt die Dynamik leicht in ihr Gegenteil um –
mehr und mehr AGs werden, von der allgemeinen Stimmung beeinflusst, zum Rückzug
blasen. Wie der Beschluss zur Aussetzung des Streiks im Transportwesen, der in
vielen Betrieben zeitgleich erfolgte, zeigte, existierte natürlich zu jedem
Zeitpunkt in der Wirklichkeit auch eine überbetriebliche Verbindung – jedoch
keine von der Basis gewählte oder kontrollierte, sondern vom
Gewerkschaftsapparat.

Es ist also, wie bei jeder Bewegung, ein Mythos, dass es
keine Führung gebe. Die scheinbare Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jeder Streikversammlung
bedeutet nur, dass die wirkliche Führung, der von der CGT kontrollierte
Gewerkschaftsapparat, schwierige Entscheidungen scheinbar großzügig an die
Basis abtritt. So kann die CGT-Zentrale jede Verantwortung für das Aussetzen
des Streiks abstreiten, indem sie auf die eigenständigen Beschlüsse der
Basisversammlungen verweist – und diese „respektiert“.

Zweifellos kommen der Gewerkschaftsbürokratie dabei
Illusionen der Basis zugute. Gegenüber der berechtigten Befürchtung vor
Bevormundung und Gängelung durch den Apparat erscheint die Demokratie der
Vollversammlung ein wirksames Mittel. Aber es ist ein politisch unzulängliches,
ja wirkungsloses Mittel. Der Zentralisierung des Kampfes durch die Bürokratie
stellt sie eine „Dezentralisierung“ entgegen, der Führung durch einen
reformistischen Gewerkschaftsapparat somit die Illusion des Verzichts auf eine
politische Führung überhaupt.

Die tragische Ironie dieser Selbsttäuschung besteht darin,
dass die Macht der Bürokratie über die Bewegung nicht beseitigt, sondern nur
weniger sichtbar wird, weniger offen und somit indirekt hervortritt. Sie wird
damit aber auch unfassbarer und letztlich auch schwerer zu bekämpfen.

Vor allem aber kann so keine alternative Führung zu jener
der Bürokratie aufgebaut werden, weil auch das Problem der Zentralisierung des
Streiks, der Koordinierung, der Ausweitung und Bündelung der Schlagkraft im
Kampf gegen Kapital und Regierung nicht gelöst werden kann.

Notwendig war und ist es, in der Bewegung gegen die
Rentenreform daher für zwei Forderungen einzutreten:

  • Von den Gewerkschaftsführungen eine konsequente Ausweitung des Kampfes zu fordern, bis hin zu einem politischen Generalstreik zur Rücknahme der Angriffe.
  • Die Wahl, Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit von Streikkomitees aus den AGs und deren Koordinierung zu lokalen, regionalen und landesweiten, der Basis wirklich verantwortlichen Aktions- und Streikleitungen zu fordern. Diese sollten auch jetzt, wo viele AGs den Streik ausgesetzt haben, gewählt werden, um so überhaupt erst eine organisierte Verbindung zwischen den kämpfenden Belegschaften zu bilden, die einen Mobilisierungsplan erarbeitet, um den Streik wieder auszuweiten und voranzubringen. Die Gewerkschaftsführungen müssten aufgefordert werden, sich voll hinter die Beschlüsse solcher Koordinierungen zu stellen.

In der aktuellen Situation müssten diese Forderungen mit
konkreten Schritten verbunden werden, wie das Rückfluten der Streikbewegung
gestoppt und eine neue Ausweitung vorbereitet, ja in Gang gesetzt werden kann. Auch
wenn die Reform wahrscheinlich nur mit einem Generalstreik gestoppt werden
kann, so kann dieser angesichts einer Bewegung, die mit rückläufigen
Streikzahlen kämpft, nicht einfach proklamiert werden. Schon gar nicht wird der
abstrakte Ruf nach einer „Ausweitung“ der Streikbewegung Betrieb für Betrieb zu
diesem Ziel führen können.

Die Taktik der Gewerkschaftsführungen und der Intersyndikal,
die Beschäftigten bei Bahn, Metro, im Bildungssektor und andere regelmäßig zu
Aktionstagen zu mobilisieren, spiegelt in dieser Lage einerseits den weiter
bestehenden Kampfwillen der ArbeiterInnen wider. Sie birgt aber andererseits
die große Gefahr in sich, dass sich die Streikbewegung nach und nach in
Aktionstagen erschöpft.

In dieser Situation kann jedoch die Forderung nach einem
landesweiten Aktionstag, der mit einem Generalstreik möglichst aller Sektoren
verbunden wird, eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn eintägige
Arbeitsniederlegungen aufgrund ihres letztlich symbolischen Charakters oft und
leicht als Beruhigungspille missbraucht werden können, so kann ein solcher
eintägiger Streik im Fall einer rückläufigen Streikbewegung auch ein Mittel zur
erneuten Sammlung der Kräfte sein, um der ArbeiterInnenklasse vor Augen zu
führen, dass sie über die Mittel und Kampfkraft verfügt, den Angriff der
Regierung zurückzuschlagen. D. h. ein solcher eintägiger Streik dürfte
nicht als „Höhepunkt“ einer Auseinandersetzung verstanden werden, sondern als
Schritt zur Mobilisierung, zur Vorbereitung eines unbefristeten Generalsstreiks.

Ein solcher könnte nicht nur die Totenglocken für die
Rentenreform, sondern auch für die Regierung Macron läuten lassen – in jedem
Fall wäre er ein Fanal des Widerstandes der ArbeiterInnenklasse in ganz Europa
nach Jahren des Rückzugs, der faulen Kompromisse und des Aufstiegs der Rechten.




Frankreich: Regierung will ArbeiterInneneinheitsfront spalten

KD Tait, Infomail 1084, 15. Januar 2020

Am Freitag, dem
10. Januar, gingen die Beschäftigten in ganz Frankreich zum 37. Tag der Streiks
und Demonstrationen gegen den Versuch der Regierung Macron, das Rentenalter zu
erhöhen und die Renten im öffentlichen Sektor massiv zu kürzen, hinaus.

Der
Frontalangriff auf die Altersversorgung des öffentlichen Sektors zielt auf die
Einführung eines einheitlichen punkte-basierten Systems ab, das die 42
sektoralen Rentensysteme des Landes wegfegen und ein „Schlüsselalter“ einführen
würde, das bedeuten würde, bis 64 zu arbeiten, um eine volle Rente zu erhalten,
zwei Jahre über das derzeitige offizielle Rentenalter von 62 Jahren hinaus.

Die Rentenreform
ist ein entscheidender Test für beide Seiten. Ein Sieg für Macron wird den Weg
für die neoliberale Schocktherapie ebnen, die den Kern seiner innenpolitischen
Agenda bildet.

Auf der anderen
Seite würde eine Niederlage für den Mann, der seine Präsidentschaft darauf
setzte, sich den Gewerkschaften in den Weg zu stellen, einen großen Rückschlag
für das Projekt der französischen KapitalistInnen bedeuten, die Beschäftigungsverhältnisse
zu deregulieren und die Art von Niedriglohn- und unsicheren Wirtschaftsmodellen
einzuführen, die Großbritannien drei Jahrzehnte lang verdorben haben.

Eine Bewegung
von unten

Im vergangenen
September wurde die Pariser Metro durch einen massiven eintägigen Streik
lahmgelegt. Im Oktober streikten ohne Vorwarnung mehrere Bahnwartungszentren
einige Wochen lang. Ein Eisenbahner, der in einer Vollversammlung sprach, erklärte:

„Wir drängten
sie [das Management] zum Rückzug. Sie gaben ihr Projekt in diesem Zentrum auf.
Es ist schon lange her, dass wir sie zum Rückzug zwingen konnten. Warum haben
wir diesmal gewonnen? Ich glaube, weil diesmal alles von der Basis aus begann.
Wir sagten ,genug, damit, ihnen [den GewerkschaftsführerInnen] zu gehorchen und
darauf zu warten, dass sie uns sagen, wir sollten mobilisieren. Wir haben die
Werkzeuge niedergelegt und dann hat sich die Belegschaft versammelt und die
Situation diskutiert. Durch diese Diskussion kamen wir zu einer Einigung und
dann handelten wir alle zusammen. Das ist es, was sie fürchten, dass wir uns
organisieren‘“.

Der Druck von
der Basis war von zentraler Bedeutung, um die zögerlichen Gewerkschaftsführungen
zum Handeln zu zwingen, nachdem sie immer wiederkehrende Niederlagen durch
Macron hingenommen hatten. Die Streiks der A&E-Beschäftigten im Frühjahr
2018, die nicht von den nationalen Gewerkschaften, sondern von einer
Basiskoordination (Collective Inter-Urgence) angeführt wurden, zeigen die
zunehmende Fähigkeit und Bereitschaft der einfachen Mitglieder,
erforderlichenfalls auch ohne ihre FührerInnen wirksame Maßnahmen zu ergreifen.

Zum ersten Mal
seit Jahren wird die Taktik der Gewerkschaftsführung, eintägige Streiks oder
Aktionstage „ohne Morgen“ durchzuführen, offen kritisiert. Im vergangenen Jahr
traten die EisenbahnerInnen in einen längeren Streik mit einer besonders
selbstzerstörerischen Taktik: zwei Streiktage pro Woche über zwei Monate lang.
In der Folge wurden sie geschlagen. Jetzt haben sie ihre Lektion gelernt und
streiken seit Wochen mit aller Kraft.

Ein weiteres
Merkmal dieser Bewegung ist die Anzahl der Vollversammlungen, AGs, die in den
Betrieben schon vor dem Streik stattfinden. Normalerweise werden die AGs erst
nach Beginn eines Streiks einberufen. Seit Wochen bereiten sich die
ArbeiterInnen in AGs vor und diskutieren in ihnen, und die politisch
bewusstesten in „branchenübergreifenden AGs“, die verschiedene Sektoren und
Gewerkschaften umfassen, die Streiks planen.

Viele Streikende
sind sich bewusst, dass sie nicht nur gegen die Rentenreform, sondern auch
gegen die gesamte neoliberale Reformpolitik inmitten der Amtszeit von Emmanuel
Macron kämpfen. Seine Regierung ist heute schon geschwächt. Die Gelbwesten-Bewegung
hat trotz ihrer gefährlichen politischen Widersprüche den Glauben daran gefördert,
dass ein anhaltender militanter Widerstand die Regierung destabilisieren und
den Weg zu Siegen öffnen kann. Dies ist wahr – vorausgesetzt, die Bewegung
organisiert sich von unten und behält eine strenge Kontrolle über Ablauf und
Ergebnisse.

Teilen und
herrschen

Trotz des
entschlossenen Widerstands der kämpferischen Sektoren ist es klar, dass die
Dauer des Streiks und das Versäumnis, breitere Forderungen zu stellen, die die
Beschäftigten des privaten Sektors in den Widerstand hineinziehen können, ihren
Tribut fordern, da die Zahl der StreikteilnehmerInnen zurückgeht.

Macrons
Premierminister Édouard Philippe hat seine Gelegenheit genutzt, um die
zerbrechliche Einheit der Bewegung zu nutzen, indem er einen zynischen „Kompromiss“
vorschlug, der diejenigen, die vor 2027 in den Ruhestand treten, von der höheren
Altersgrenze ausnimmt. Indem er die älteren Arbeitskräfte von den jüngeren
trennt, setzt Philippe darauf, die gemäßigten Gewerkschaften von den MilitantInnen
zu trennen und der Regierung einen Sieg zu sichern, indem er genau die gleichen
Methoden anwendet, die seine VorgängerInnen bei früheren Rentenreformen zur
Spaltung des öffentlichen und privaten Sektors angewandt haben.

Philippe hätte
nicht gehandelt, wenn er sich nicht einer positiven Reaktion der Gewerkschaft
CFDT sicher gewesen wäre, und er wurde nicht enttäuscht. Die Gewerkschaft, die
nur widerwillig und unter dem Druck ihrer Basis Aktionen unterstützte, machte
das so genannte „Schlüsselalter“ zu ihrer roten Linie, und so hat ihr dieser
Trick den Vorwand geliefert, den sie gesucht hat, um die CGT und andere
Gewerkschaften im Stich zu lassen – wieder einmal.

Die CGT
reagierte auf den Vorschlag der Regierung und forderte die Beschäftigten auf,
den Konflikt zu eskalieren und am 14., 15. und 16. Januar zu streiken. Es gibt
keine Alternative zum Zurückschlagen – aber wieder einmal geben die AnführerInnen
der „linken“ Gewerkschaften Frankreichs die Verantwortung auf, von der Front
aus zu führen, und weigern sich, das zu tun, was für einen entscheidenden
Schlag notwendig ist: d. h. den Streik über die Bahn- und Bildungsbastionen
des öffentlichen Sektors hinaus zu verallgemeinern.

Wie bei den
Protesten gegen das Arbeitsgesetz im Jahr 2017 besteht die Gefahr, dass die
CFDT bereit ist, einen Bruch in der Einheitsfront der ArbeiterInnen herbeizuführen.
Selbst dann war die Regierung gezwungen, das Gesetz per Präsidialdekret unter
Umgehung des Parlaments durchzusetzen – eine diktatorische Maßnahme, auf die
Philippe erneut zurückzugreifen droht.

Eine Strategie
zum Sieg

Die einzige Möglichkeit,
die Einheitsfront aufrechtzuerhalten und die Initiative gegen die Regierung zurückzuerobern,
besteht darin, die Front zu erweitern, die LehrerInnen und das
Gesundheitspersonal auf unbestimmte Zeit an der Seite der EisenbahnerInnen in
Aktion zu bringen und die Kontrolle der Mitgliederbasis über die Strategie auf
nationaler Ebene zu behaupten. Das bedeutet, die Vollversammlungen der Betriebe
auf regionaler und nationaler Ebene zu koordinieren und, was entscheidend ist,
die Streiks auf den privaten Sektor auszuweiten.

Eine Ausweitung
der Streiks auf den privaten Sektor, die ein entscheidender Schlag gegen Macron
wäre, erfordert eine effektive Organisation, um Streikposten zu bilden und die
nicht streikenden Beschäftigten zum Beitritt zu bewegen. Aber hier sind Ziele
erforderlich, die über die Rücknahme der Rentenreform hinausgehen.

Eine erste Maßnahme,
um die Einheit der Bewegung zu erhalten, ist die Forderung nach einer
Angleichung der sektoralen Renten und einer schrittweisen Senkung des
Rentenalters. Darüber hinaus sollte die Bewegung die Forderungen gegen die
Demontage der öffentlichen Dienstleistungen, für mehr Stipendien für die
Studierenden, aber auch für höhere Löhne und gegen zeitweilige und unsichere
Beschäftigung, die Prekarität, aufgreifen. Diese sollten in den AGs
demokratisch diskutiert und demokratisch und landesweit in eine einheitliche
Forderungsplattform aufgenommen werden.