Die Asylgesetzgebung der Ampel – eine Chronologie der Niedertracht

Lukas Pfaff, Neue Internationale 284, Juli/August 2024

„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Mit dieser Aussage hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober letzten Jahres die Titelseite des „Spiegel“ gesichert. Es war ein gern gegebenes Zugeständnis an den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck, der zum bestimmenden Faktor der Politik der Ampelregierung geworden ist. Von der angespannten Weltlage international unter Druck gesetzt und von AfD und CDU im Innern vor sich hergetrieben, präsentiert sie sich als ausnahmsweise mal funktionierende Koalition der Willigen, wenn es darum geht, Geflüchteten das Leben zur Hölle zu machen. Im Rahmen der Abschiebeoffensive jagt seit Oktober ein Vorstoß den nächsten.

Eine unvollständige Chronologie der Niedertracht

Oktober 2023: Um unerlaubte Einreisen zu verhindern, führt Innenministerin Nancy Faeser vorübergehende Grenzkontrollen an deutschen Außengrenzen ein, die bis heute schrittweise verlängert wurden. Die FDP fordert derweil die Verlängerung um ein weiteres Jahr. Die Polizei dokumentiert eine auffällig niedrige Zahl von Asylgesuchen bei den aufgegriffenen Personen – der Verdacht auf illegale Zurückweisungen in tausenden Fällen ist berechtigt.

November 2023: Die Ministerpräsident:innen und Bundeskanzler Scholz schwören sich auf den gemeinsamen Kurs ein. Das erklärte Ziel: Deutschland so unattraktiv für Geflüchtete machen wie nur möglich. Hier erfolgt auch die Grundsteinlegung für das Rückführungsverbesserungsgesetz, das im Januar 2024 kommen wird.

Januar 2024: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) legt ohne Rechtsgrundlage die Asylverfahren palästinensischer Geflüchteter auf Eis. Dabei wäre die Entscheidungsgrundlage eigentlich vollkommen klar, da Palästinenser:innen, die aus Gaza fliehen, unter den subsidiären Schutz fallen – als akut von Verletzung und Tod bedrohte Kriegsflüchtlinge, die im eigenen Land nirgends sonst wohin flüchten können. Das Ziel ist wohl, ein Ende der Kampfhandlungen abzuwarten, um dann wieder ausweisen zu können.

Januar 2024: Der Bundestag beschließt die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie ergänzt das bestehende Gesetz um eine explizite Klausel über das Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel. Mit dem neuen Gesetz kann die deutsche Staatsangehörigkeit bei einem Verstoß gegen dieses mit einer Frist von zehn Jahren wieder aberkannt werden.

Januar 2024: Die Bundesregierung beschließt das Rückführungsverbesserungsgesetz, seit Februar ist es in Kraft. Es weitet die Anwendungsmöglichkeiten und Maximaldauer von Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft massiv aus. Es beschneidet das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung in Sammelunterkünften, da Polizist:innen sich auf der Suche nach abzuschiebenden Personen nun Zugang zu den Zimmern unbeteiligter Personen verschaffen dürfen. Es erleichtert das Betreten von Wohnraum bei Nacht und allgemein eine Ausweitung überfallartiger Abschiebeaktionen. Es erlaubt das Auslesen und Datensammeln von Clouddiensten und mobilen Endgeräten zur Identitätsfeststellung. Es führt die Strafbarkeit von Falschangaben im Asylverfahren ein – und ebnet damit einer Kriminalisierung von Beratungsstellen und Asylrechtsanwält:innen als Mittäter:innen den Weg. Zu guter Letzt beschneidet das Gesetz noch weiter das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, indem es die Wartedauer auf ungekürzte Leistungen und uneingeschränkte Gesundheitsversorgung von 18 auf 36 Monate erhöht.

April 2024: Mit der Bezahlkarte beschließt der Bundestag ein weiteres Diskriminierungsinstrument, um Geflüchteten das Leben madig zu machen. Das bedeutet: keine Überweisungen, eine Beschränkung von Bargeldabhebung sowie regionale Einschränkung dieser Funktion. Die Folgen für Geflüchtete sind absehbar: noch größere Stigmatisierung, ein Ausschluss von zahlreichen Einkaufs- und Dienstleistungsmöglichkeiten sowie eine massive Einschränkung der Freizügigkeit und damit noch verstärkte soziale Isolation.

April 2024: Das EU-Parlament beschließt die GEAS-Reform. Das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem tritt 2026 in Kraft und bezieht sich vor allem auf die EU-Außengrenzen. Es entfaltet für Deutschland deshalb vor allem an Flughäfen seine Wirkung, wo es die bisherige Gesetzgebung größtenteils ersetzen wird. Es beinhaltet verpflichtende Grenzverfahren unter Haftbedingungen – auch für Kinder –, um Geflüchtete bei unbegründeten Asylanträgen schneller und direkt von der Außengrenze abschieben zu können; weiter gesenkte Standards für sichere Drittstaaten, einen deutlich härteren Umgang mit Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten (etwa der Türkei) und die Möglichkeit zusätzlicher Verschärfungen der nationalen Praxis im Krisenfall. Lob kommt nicht nur von SPD-Innenministerin Nancy Faeser (man feiere einen „großen und wichtigen Erfolg“), sondern auch von Außenministerin Annalena Baerbock (die EU beweise „in schwierigen Zeiten Handlungsfähigkeit“).

Juni 2024: Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsident:innen diskutieren eine Auslagerung der Asylverfahren in Transit- oder Drittstaaten nach dem Ruandamodell und damit den bisher wohl aggressivsten Angriff auf das individuelle Asylrecht. Bei einer solchen Regelung wird jeder Mensch, der in Europa Asyl beantragt, in einen sicheren Drittstaat überführt und das Asylverfahren wird nach dortigem Recht verhandelt. Bei positivem Ausgang erhält die Asylsuchende Person Schutz vor Ort. Eine Machbarkeitsprüfung folgt, Ergebnisse werden im Herbst erwartet.

Die CDU kodifizierte diese Idee der Drittstaatenregelgung und damit die Abkehr vom Flüchtlingsschutz nach Genfer Flüchtlingskonvention und europäischem Recht in ihrem neuen Grundsatzprogramm. Konsequenterweise treiben die CDU-geführten Bundesländer gerade die Regierung mit Forderungen nach Abschiebungen nach Afghanistan vor sich her. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) will diesbezüglich gar mit den Taliban in Verhandlungen treten.

Juni 2024: Auf Vorstoß von Nancy Faeser plant die Bundesregierung eine weitere Verschärfung des Ausweisungsrechts. Menschen ohne deutschen Pass sollen bei Social-Media-Interaktionen, die die Billigung von Terrorakten nahelegen, ausgewiesen und abgeschoben werden. Rechtliche Grundlage dafür ist die Herabsetzung der Voraussetzungen für ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse und eine explizite Fokussierung auf terroristische Straftaten im Gesetzestext. Rückendeckung gibt es neben der CDU auch vom grünen Koalitionspartner. Beifall gibt es auch von der Gewerkschaft der Polizei. Das Gesetz ist eindeutig auf den Genozid in Gaza zugeschnitten.

Verschärfte Flüchtlingspolitik

Bei diesen Entwicklungen werden Stimmen laut, die eine vermeintlich neue Qualität der Politik der Bundesregierung ausmachen wollen. Sie stellen zwar eine weitere Verschärfung dar, aber keinen Bruch mit der bisherigen Flüchtlingspolitik. Bereits zu seiner Einführung vor inzwischen 30 Jahren war das Asylbewerberleistungsgesetz dazu gedacht, über Leistungseinschränkungen und Schikane Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuhalten. Der EU-Türkei-Deal, der bisher für mehr als 100.000 Schutzsuchende Entrechtung, Gewalt und Perspektivlosigkeit bedeutete, hat inzwischen 8 Jahre auf dem Buckel – und wird als Modellprojekt herangezogen, um die derzeitige Politik zu gestalten. Und parallel zu all diesen terminierbaren Maßnahmen läuft das mörderische Tagesgeschäft der Festung Europa auch ohne großes Aufsehen weiter. Von den EU-Staaten toleriert und mit Steuergeldern finanziert, darf sich der aufgeklärte Westen damit rühmen, das wohl niederträchtigste Grenzregime der Welt aufgebaut zu haben. Schüsse auf Geflüchtete an der griechisch-türkischen oder polnisch-belarusischen Grenze; gewalttätige Pushbacks und illegale, klandestine Gefängnisse auf der Balkanroute und in Polen; Flüchtlingsboote, die von der griechischen Küstenwache zurück in türkische Gewässer gezerrt werden oder, wie im Juni 2023 in Pylos, gleich unter deren wachsamen Augen im Mittelmeer versinken – mit 600 Menschen an Bord.

Die Maßnahmen zur Aussetzung der Asylverfahren für Palästinenser:innen und die Bemühungen um Abschiebungen nach Social-Media-Posts reihen sich darüber hinaus in eine Vielzahl bereits bestehender Versuche der Bundesregierung ein, die deutsche Palästinasolidarität zu kriminalisieren. Nicht zuletzt die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zeigt den Willen der Bundesregierung, die politische Verfolgung der Palästinasolidarität auch gesetzlich zu kodifizieren. Auch Kurd:innen als unterdrücktes Volk leiden derweil unter den beschlossenen Vorhaben. Eine Abschiebung in das „sichere Herkunftsland“ Türkei ist deutlich wahrscheinlicher geworden.

Klare Botschaften in Richtung Geflüchtete und Arbeiter:innenklasse

War der Koalitionsvertrag in Bezug auf Geflüchtete noch schizophren, wollte man neben mehr Rückführungen tatsächlich das vom Bundesverfassungsgericht für unzureichend befundene Asylbewerberleistungsgesetz überarbeiten, wird spätestens mit diesem Kurs klar, welche Botschaft die Bundesregierung senden will.

In Richtung Flüchtender heißt sie: „Bleibt draußen! Selbst wenn ihr nicht auf dem Weg hierher umkommt: Hier habt ihr keine würdige Existenz zu erwarten!“

Die sowieso düstere Perspektive von Geflüchteten in Deutschland war nicht trist genug. Ein Leben unter gefängnisartigen Bedingungen in Aufnahmezentren, ehe man meist dann sowieso keinen Flüchtlingsstatus erhält und abgeschoben wird oder ein elendes Leben in der Illegalität verbringt. Alternativ: bei gewährtem Flüchtlingsstatus ein Leben am untersten Ende der sozialen Hierarchie, mit den größten Drecksjobs oder in Arbeitslosigkeit mitsamt übelster Diskriminierung.

In Richtung Arbeiter:innenklasse lautet sie: „Den Flüchtlingen, die es gewagt haben, hierher zu kommen, machen wir das alltägliche Leben so hart und erniedrigend wie nur möglich. Sie sind Schuld an eurem Leid!“

Das alles müsste für die deutsche Arbeiter:innenklasse ein Skandal sein – ist es im rassistisch verhetzten Deutschland aber nicht. Dabei geht es hier nicht um ein moralisches Versagen, wie es die Brandmauerrhetorik stetig heraufbeschwört. Rassismus ist Ausdruck einer von der Barbarei der Klassengesellschaft gezüchteten Wahnvorstellung. Er ist Ausdruck einer politisch absichtlich durchgesetzten Verschärfung von Armut und Prekarisierung als Antwort auf eine wirtschaftliche Krisensituation. Es sind Kürzungen bei Bildung, Gesundheit, Klima und Sozialem, die die Menschen im Angesicht einer tristen Zukunft und mangels einer realistischen linken Alternative für genau diese Botschaft, die die Ampelregierung mit ihrer Politik sendet, empfänglich machen.

Für die Arbeiter:innenklasse werden die vermeintlichen Vorteile der rassistischen Politik jedoch damit erkauft, dass dadurch der Fortbestand eines Systems gesichert wird, in dem der Lebensstandard fast aller sinkt, ein Teil der Abgehängten dabei jedoch qua Nationalität noch härter angefasst wird. Der von Staat und bürgerlichen Medien geschürte Rassismus zeigt seine Funktion, Arbeiter:innen und Arme zu spalten und durch Aufhetzung der einen armen Schweine gegen andere arme Schweine den sozialen Kampf gegen den gemeinsamen Unterdrücker zu verhindern. Nancy Faeser verkündet derweil feierlich den Erfolg des neuerlichen Gewaltprogramms: Die Zahl der Asylanträge sei bereits gesunken.

Gemeinsamer Kampf gegen rassistische Spaltung

Dass damit jedoch keines der sozialen Probleme gelöst ist, mit denen die Lohnabhängigen im imperialistischen Deutschland derzeit konfrontiert sind, zeigt etwa die Diskussion um weitere Kürzungen im Sozialbereich, die von Christian Lindner erneut angestoßen wurde.

Solange die Lohnabhängigen die Spaltungen in ihren eigenen Reihen nicht überwinden, haben es ihre Gegner:innen leicht. Sie können sich nach und nach einzelne Fraktionen der Arbeiter:innenklasse vorknöpfen, ohne dass sie mit dem geeinten Widerstand der gesamten Klasse rechnen müssten. Allein der gemeinsame Kampf aller Lohnabhängigen und Unterdrückten könnte jedoch den notwendigen Widerstand erzeugen, um die noch drohenden Angriffe der Herrschenden abzuwehren.

Es kommt somit für die Arbeiter:innenklasse darauf an, eine gemeinsame Front gegen die Angriffe der Herrschenden aufzubauen – und zwar nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt. Eine solche Einheitsfront müsste möglichst alle Organisationen, Parteien und Gewerkschaften umfassen, die sich auf die Arbeiter:innenklasse, die Migrant:innen, die Unterdrückten stützen, und für konkrete Forderungen im Interesse der gesamten Klasse kämpfen. Zentral ist dabei der Kampf für gleiche Rechte, offene Grenzen, höhere Löhne und den Erhalt bzw. Ausbau der Sozialleistungen.




Britannien: Widerstand gegen den Abschiebungsplan nach Ruanda!

Dave Stockton, Infomail 1254, 14. Mai 2024

Der Plan der Tories, Flüchtlingen das Recht zu verweigern, in Großbritannien Asyl zu beantragen und sie stattdessen nach Ruanda abzuschieben, hat mit der Verabschiedung des Ruanda-Sicherheitsgesetzes eine weitere Hürde genommen.

Das Gesetz dient dazu, das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom November letzten Jahres aufzuheben. Dieses besagt, dass die Regelung gegen britisches und internationales Recht verstößt, weil es keine ausreichenden Beweise dafür gibt, dass Ruanda ein sicheres Land ist.

Die Regierung behauptet, die Regelung werde Flüchtlinge davon abhalten, auf „irregulärem“ Weg nach Großbritannien zu reisen. Innenminister James Cleverly rühmte sich, das Gesetz sei ein „Meilenstein in unserem Plan, die Boote zu stoppen“.

Barbarisierung

Nur wenige Stunden nach Verabschiedung des Gesetzes starben fünf Menschen, darunter ein achtjähriges Kind, bei dem Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren. Die Politik, Asylbewerber:innen jahrelang in Lager oder Gefängnisklötze zu sperren, ihnen das Arbeiten zu verbieten oder mit der Abschiebung nach Ruanda zu drohen, hat die Menschen nicht davon abgehalten, nach Großbritannien zu kommen.

Die Anprangerung von „Schleuserbanden“ fokussiert die Debatte auf ein Symptom, nicht die Ursache. Die Zunahme der lebensgefährlichen Kanalüberquerungen und der Schleuser:innennetze, die sie organisieren, ist eine Folge des allgemeinen Anstiegs der Flüchtlingszahlen, des beinahe Verschwindens der legalen Einreisewege und des harten Vorgehens gegen frühere Formen der Einreise über Flug- und Seehäfen oder den Kanaltunnel.

Die Fakten sind eindeutig: Die große Mehrheit der „irregulären Ankömmlinge“ sind asylberechtigte Flüchtlinge oder Lohnabhängige, die Arbeit und einen besseren Lebensstandard suchen. Staatsangehörige aus fünf Ländern – Iran, Irak, Syrien, Afghanistan und Albanien – machen 71 % derjenigen aus, die zwischen 2018 und 2023 in kleinen Booten übersetzten. 92 % von ihnen beantragten Asyl. Von den wenigen Anträgen, die bearbeitet wurden, erhielten 86 % eine Schutzgewährung.

Das Problem für die Regierung ist, dass Flüchtlinge nach britischem Recht und internationalen Verträgen das Recht haben, in jedem Land ihrer Wahl Asyl zu beantragen. Es gibt kein Gesetz, das sie dazu verpflichtet, im ersten „sicheren Land“ Asyl zu beantragen. Der größere Zusammenhang besteht darin, dass trotz der reaktionären Propaganda der Brexitbefürworter:innen, „die Kontrolle über unsere Grenzen wiederzuerlangen“, um die Einwanderung zu verringern, Großbritanniens krisengeschüttelte Wirtschaft mit niedrigen Löhnen von Arbeitsmigrant:innen abhängig ist, um das Gesundheitssystem mit Personal zu versorgen, die Ernte einbringen und ältere Menschen zu pflegen.

Solange das Vereinigte Königreich nicht seine internationalen Vertragsverpflichtungen völlig aufgibt, die es zur Prüfung von Asylanträgen verpflichten, sind die Regierungen daher gezwungen, immer höhere, phantastische Summen für die Befestigung der Grenzen und die Verfolgung von Flüchtlingen auszugeben, um andere „abzuschrecken“.

Auch das Ruanda-Gesetz wird die Ankommenden nicht abhalten. Dies bestätigte Matthew Rycroft, der für diese Politik zuständige Beamte als Permanenter Staatsunterminister im Innenressort, der den Abgeordneten erklärte, seine Behörde habe keine Beweise für die abschreckende Wirkung der Regelung.

Zweck

Der eigentliche strategische Zweck des Gesetzentwurfs besteht darin, die imaginäre „Invasion unserer Südküste“ (so die ehemalige Innenministerin Suella Braverman) in den Schlagzeilen zu halten und es der Regierung zu ermöglichen, sich als Verteidigerin der „Souveränität“ des Vereinigten Königreichs gegenüber den sich einmischenden „europäischen“ Gerichten zu präsentieren, die „unkontrollierte Einwanderung, unzureichende Integration und ein fehlgeleitetes Dogma des Multikulturalismus haben sich in den letzten Jahrzehnten als eine giftige Kombination für Europa erwiesen“ (wieder Zitat Braverman).

Das Gesetz über die Sicherheit in Ruanda hat in der Praxis drei Auswirkungen. Erstens bringt es Großbritannien in Konflikt mit seinen internationalen Vertragsverpflichtungen, da es der Regierung das Recht einräumt, sich über Gerichtsurteile von Gerichten hinwegzusetzen, die befugt sind, verschiedene Verträge der UNO und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu wahren. Zweitens wird damit ein Präzedenzfall für Massenabschiebungen geschaffen, da eine Regierung ein Land per Erlass zu einem „sicheren“ Ort erklären kann. Drittens werden dadurch Tausende von Arbeitsmigrant:innen in die Schattenwirtschaft getrieben, wo sie sich vor Denunziant:innen und Razzien der Grenzschutzbehörde verstecken – ein Bonus für skrupellose Arbeit„geber“:innen und kriminelle Ausbeutung.

Das Ruanda-Programm stößt seit seinem ersten Entwurf durch den ehemaligen Premierminister Boris Johnson im Jahr 2022 auf großen Widerstand. In der Folge geriet es zum Kernstück der Regierung von Rishi Sunak, der versucht, die Tory-Partei angesichts einer möglichen Wahlniederlage bei den kommenden Parlamentswahlen zusammenzuhalten.

Obwohl die Labour-Partei gegen Sunaks Gesetzentwurf gestimmt und versprochen hat, ihn im Falle eines Wahlsiegs wieder aufzuheben, hat ihr Vorsitzender Keir Starmer erklärt, Schmugglerbanden wie Terrorist:innen zu behandeln und mit der Europäischen Union ein Abkommen zu schließen, das die Rückführung von Menschen vorsieht, die den Ärmelkanal überqueren, um im Gegenzug eine Quote für diejenigen zu erhalten, die an den Grenzen der EU ankommen. Die Labour-Führung stimmt mit den Tories völlig darin überein, dass Flüchtlinge ein Problem seien, das ferngehalten werden müsse – sie will nur das Geld lieber für mehr Grenzschutz, Polizei und eine schnellere Bearbeitung der Anträge ausgeben.

In Großbritannien wird eine Kampagne erforderlich sein, um alles zu tun, was möglich ist, um die Flüge zu stoppen, einschließlich der Aktionen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und an den Flughäfen, die sich weigern sollten, mit dem Abschiebungsprogramm zu kooperieren. In unseren Gemeinden brauchen wir eine organisierte Selbstverteidigung gegen die Razzien der Grenzbehörden, wie sie 2021 in Glasgow und in den letzten Wochen in Margate (Kent) und Peckham (Südostlondon) stattfanden.




Warum wir für Staatsbürger:innenrechte für alle und offene Grenzen kämpfen müssen

Dilara Lorin, Neue Internationale 281, April 2024

Ob Bezahlkarten, Seenotrettung oder die Verschärfung der Asylgesetze – die Lage für Geflüchtete verschlechtert sich stetig. Während an den Außengrenzen Europas weiter fleißig aufgerüstet wird, um mehr Pushbacks und Gewalt durchsetzen zu können, hat sich In den letzten Jahren die Debatte immer mehr nach rechts verschoben, sei es die sogenannten bürgerlichen Mitte – oder auch innerhalb der Linken. Mit dem Weggang Wagenknechts hat die Linkspartei die Forderungen nach offenen Grenzen ihrerseits wieder präsenter in den Fokus gerückt, doch mittlerweile hört man häufiger dass „man realistisch denken“ muss. Warum das Schwachsinn ist und offene Grenzen, sowie Staatsbürger:innenrechte für alle notwendige Forderungen für alle fortschrittlichen Kräfte sein müssen, legen wir im folgenden dar.

Warum kämpfen wir für offene Grenzen?

Bewegungsfreiheit, sichere Fluchtwege und offene Grenzen: Für sich genommen, sind das reine demokratische Forderungen, die oftmals aufgeworfen werden, da sie als „moralisch richtig“ erscheinen. Für Marxist:innen steckt aber mehr dahinter: Grenzen sind untrennbar mit der Existenz kapitalistischer Nationalstaaten verbunden, welche wiederum die Aufgaben besitzen das Kapital zu verwalten und die Besitztümer der Herrschenden zu schützen. Für das Aufrechterhalten des kapitalistischen Systems ist dabei der Nationalstaat eine wesentliche Stütze, welche ohne gezogene Grenzen so nicht existieren könnte. Die Grenzen definieren den den inneren Marktes und Raum der politischen Macht im Land.

Diese Nationalstaaten existieren dabei nicht im luftleeren Raum, sondern sind Teil des imperialistischen Weltsystems. Der Großteil der Fluchtursachen – sei es Krieg, Armut, Umweltkatastrophen – sind selbst Folgen der Überausbeutung der halbkolonialen Welt durch imperialistische Nationen. Deswegen ist es unumgänglich für offene Grenzen einzustehen. Alles andere würde bedeuten, sich auf die Seite der eigenen Imperialistischen Interessen zu stellen und die Spaltung, die durch Nationalstaaten innerhalb der Arbeiter:innenklasse reproduziert wird sowie die Überausbeutung in den Halbkolonien, aufrechtzuerhalten.

Deswegen muss aktiv dagegen vorgegangen werden. Schließlich finden alle politischen Kämpfe im Rahmen eines global vernetzten kapitalistischen Weltsystems statt. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei „Internationalismus“ die Summe verschiedener Klassenkämpfe, verstehen wir das nicht so. Vielmehr bilden der Weltmarkt und das kapitalistische System eine Totalität, die selbst den Nationalstaaten ihren Platz in einer globalen Ordnung zuweise und die politischen, ökonomischen und ideologischen Entwicklungen in den Ländern maßgeblichen prägt. Nur vor diesem Hintergrund kann der Klassenkampf in einer Nation wirklich begriffen werden, nur vor diesem Hintergrund erklären sich auch die „nationalen Spezifika“.

Im Gegensatz zur Bourgeoisie hat die Arbeiter:innenklasse international objektiv das gleiche Interesse – die Abschaffung der mit dem Kapitalismus einhergehenden Ausbeutung und damit auch aller die Klasse trennenden Grenzen. Die Bourgeoisien aller Länder hingegen verteidigen zwar die bestehende Ordnung – und tun das auch bis zu einem gewissen Grad koordiniert. Aber zugleich stehen sie zueinander als Kapitalist:innen in Konkurrenz. Für sie bildet der Nationalstaat nicht nur einen Rahmen für ihr agieren, sondern auch ein unterlässliches Mittel in der Weltmarktkonkurrenz – bis hin zum politischen und militärischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Damit die Arbeiter:innenklasse erfolgreich sein kann, muss sie sich aber auf internationaler Ebene organisieren. Man kann daher auch von einem Gesamtinteresse der Arbeiter:innenklasse auf internationaler Ebene sprechen. Deswegen müssen nicht nur alle Ereignisse im Klassenkampf in ihrer Ursache Wirkung im internationalen Geschehen betrachtet werden und Internationalismus als Grundlage der eigenen Politik verstanden werden. Es bedeutet auch, dass die Spaltungen, die innerhalb der Klasse existieren – auch auf internationaler Ebene – aktiv bekämpft werden müssen.

Das ist an dieser Stelle kein reiner Automatismus. Die kapitalistische Konkurrenz  sorgt dafür, dass in imperialistischen Zentren auch Teile der Arbeiter:innenklasse – oftmals Arbeiter:innenaristrokatie, sowie Arbeiter:innenbürokratie – von besagter Überausbeutung profitieren. Praktisch wird das an der Politik der „Standortsicherung“ oder dem „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit“ sichtbar.

Warum sind Staatsbürger:innenrechte für alle notwendig?

Weniger populär, aber ebenso notwendig ist die Forderung nach Staatsbürger:innenrechte für alle. In der Vergangenheit wurde in der Refugee- oder Antirassismusbewegung immer wieder das Bleiberecht gefordert. Dies ist an sich nicht verkehrt, aber mehr als unzureichend. Warum?

Zum einen ist Bleiberecht eine minimale Forderung, die letzten Endes dazu führt, dass man hier nur „geduldet“ wird und defacto als Mensch zweiter Klasse in unserer Gesellschaft lebt. Denn Bleiberecht bedeutet nicht automatisch, dass man einen unbegrenzten Aufenthaltstitel hat. Rechtlich ist es der Status davor, der impliziert, dass man jederzeit wieder abgeschoben werden kann. Somit werden sie effektiv vom politischen Leben ausgeschlossen. Arbeiten darf man zwar, aber Einfluss nehmen, wer im Parlament sitzt und über die eigene Zukunft entscheidet? Das ist nicht drinnen.

Dabei denken wir, dass Staatsbürger:innenrechte für alle, die sinnvollere Forderung im Kampf sein muss. Nicht nur weil alle Menschen die gleichen Möglichkeiten und Rechte haben sollten, unabhängig von ihrer Herkunft oder Nationalität, sondern auch weil durch diese Forderung die rassistische Selektion auf Basis der Herkunft verhindert. Denn auch wenn man es bei der aktuellen Hetze kaum glauben mag – der Kapitalismus ist auf Migration angewiesen. Dabei findet die Selektion daran statt, ob man dem Interesse des Arbeitsmarktes gerecht wird oder nicht. Den Aufenthalt zu begrenzen – und zu entrechten, sorgt dafür, dass Menschen den Konjunkturschwankungen noch stärker ausgeliefert sind, ihr Aufenthaltstitel immer prekär ist bis hin zur Abschiebung, wenn sie für den Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden.

Schließlich bedeutet der Kampf für Staatsbürger:innenrechte für alle nicht anders als die Forderung nach Abschaffung jeder rechtlichen und politischen Benachteiligung von Migrant:innen und Geflüchteten. Damit sie als Mitkämpfer:innen in den Klassenkampf voll miteinbezogen werden, müssen wir auch darum kämpfen, dass sie alle demokratischen Rechte ausüben können – insbesondere das Recht auf politische und gewerkschaftliche Betätigung, darunter das das aktive und passive Wahlrecht.

Natürlich heben die demokratischen Forderungen – offen Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte – die gesellschaftliche Unterdrückung und Diskriminierung der Migrant:innen noch nicht auf. Sie sind aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Kampf gegen die Unterdrückung wirklich erfolgreich geführt werden kann. Alles andere läuft – ob man das will oder nicht – letztlich auf eine Festschreibung entweder auf eine Selektion von Menschen, die einreisen dürfen oder nicht, oder auf die Fortschreibung rechtlicher Benachteiligung hinaus – Formen der Unterdrückung, die nebenbei bemerkt, vor allem die Lohnabhängigen treffen.

Und wie realistisch ist das?

Jene, die den Realismus fordern, werden an der Stelle natürlich nicht abgeholt werden sein. Zu Ihnen soll zuerst gesagt werden: Realistisch ist, sich anzuschauen, was notwendig ist, um gemeinsam den Klassenkampf führen zu können. Es ist dabei bezeichnend, dass Reformist:innen und andere „Realist:innen“ hier direkt radikale demokratische Forderungen ablehnen, nur weil sie selbst die Funktionsweise der nationalstaatlichen Kontrolle der Bewegung der Arbeitskraft auf internationale Ebene in Frage stellen.

Der Reformismus offenbart hier seinen bürgerlichen Charakter selbst auf dem Gebiet der demokratischen Reform, scheut er doch im Namen des Realismus vor dem konsequenten Kampf für tatsächliche Verbesserungen zurück.

Auch das Argument, dass – vor allem im Angesicht des Rechtsrucks – das Bewusstsein der Klasse noch nicht „bereit“ genug ist, ist an dieser Stelle fadenscheinig, vor allem von Organisationen, die für den Sozialismus eintreten. Denn von Revolution oder Sozialismus sind nicht weniger „unrealistisch“ als die Forderung nach offen Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Vielmehr ist vor allem angesichts des Rechtsrucks und der damit einhergehenden notwendig eine klare, internationalistische Perspektive hereinzutragen und für eine antirassistische Bewegung einzustehen.

Dabei ist die Verbindung entscheidend von demokratischen und klassenspezisischen Forderungen zentral, um der Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen entgegenzuwirken. Die Reichen sollen zahlen! Es sind nicht die Geflüchteten, die das Problem sind. Statt den Hass auf diese zu lenken und Angst zu schüren, dass sie Arbeit oder Wohnraum wegnehmen, ist die Perspektive klar: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Enteignung des leerstehenden Wohnraums und Spekulationsobjekten, um die Wohnungsnot unmittelbar zu lindern. Wir müssen für Verbesserungen für alle eintreten und gleichzeitig gegen den für sichere Fluchtwege, offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!  Wenn der Kapitalismus das Versprechen der „Einheit aller Menschen“ nicht einhalten kann, dann brauchen wir eine Revolution, die die Grenzen einreißt.




Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Irland: Widerstand gegen die extreme Rechte

Bernie McAdam, Infomail 1243, 23. Januar 2024

Die jüngsten Ausschreitungen in Dublin haben ein neues Licht auf die Aktivitäten der aufstrebenden irischen Rechtsextremen geworfen. Nach einer Messerstecherei vor einer Dubliner Schule entwickelte sich ein rechtsextremer Protest gegen Migrant:innen und Flüchtlinge, der durch rassistische Äußerungen in rechtsextremen Netzwerken in den sozialen Medien inszeniert wurde, zu einem Gefecht mit der irischen Polizei (Garda Siochána; Gardai). Es folgten Plünderungen und Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel, einschließlich eines Angriffs auf einen Busfahrer mit Migrationshintergrund, wobei viele Angehörige ethnischer Minderheiten im Stadtzentrum um ihre Sicherheit fürchteten.

Die Wahrheit über die Messerstecherei war so weit von den rassistischen Gerüchten entfernt wie nur möglich. Nicht ein algerischer Einwanderer war der Messerstecher, sondern ein Ire, der an einer psychischen Krankheit leidet. Tatsächlich kam Caio Benicio, ein brasilianischer Deliveroo-Fahrer, dem angegriffenen jungen Mädchen zu Hilfe und schlug den Angreifer mit seinem Motorradhelm zurück.

Diese Ausschreitungen finden vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf Flüchtlingslager und Schikanen gegen Bibliotheksmitarbeiter:innen im vergangenen Jahr statt. Mehrere flüchtlingsfeindliche Proteste haben sich vor Asylbewerber:innenheimen abgespielt, oft mit lokaler Unterstützung und Hassreden von bekannten rechtsextremen Aktivist:innen. Behelfsmäßige Lager wurden in Ashtown und zuletzt in der Sandwith Street in Dublin angegriffen, wo Zelte niedergebrannt wurden.

Parallel dazu wurden gewählte Vertreter:innen von Sinn Fein und People before Profit (PbP), die sich im Dail (Parlament) für die Rechte von Migrant:innen eingesetzt haben, angegriffen. In Leitrim wurde ein Brandanschlag auf das Haus von Martin Kenny, Abgeordneter von Sinn Fein, verübt, und Paul Murphy, Abgeordneter von PbP, wurde von rechtsextremen Schläger:innen körperlich angegriffen und sein Haus mit Posten umzingelt. Auch gegen Mick Barry, Deputierter der PbP-Solidarität, wurde ein Anschlag auf sein Büro verübt.

Bibliotheken wurden von rechtsextremen Schläger:innen versperrt und gestürmt, wobei auch Bibliotheksmitarbeiter:innen schikaniert wurden. All dies, um die Bereitstellung von LGBTIA+-Lesematerial, Drag-Events und „pornografischen“ Büchern zu verhindern. Die Mahnwache in der Stadtbibliothek von Cork im Juli wurde von Ireland First organisiert, der jüngsten rechtsextremen Partei in Irland. Die Irish Freedom Party und die National Party sind die beiden anderen großen Gruppen im rechtsextremen Spektrum.

Angriffe auf Migrant:innen

In Irland sind erst in jüngster Zeit rechtsextreme Gruppierungen entstanden, die zwar noch klein sind, aber eine wachsende Feindseligkeit gegenüber Migrant:innen und Flüchtlingen entwickeln. Der Aufstieg des Rechtspopulismus auf internationaler Ebene, insbesondere die Wahl von Trump, hat der irischen extremen Rechten zunächst Auftrieb gegeben. Die Alarmglocken begannen zu läuten, als der rechte Präsidentschaftskandidat Peter Casey, der behauptete, dass die nichtsesshafte Gruppe der Traveller (Fahrende) „im Grunde genommen Menschen sind, die in fremdem Land campieren“, 2018 den zweiten Platz belegte. Der Rassismus gegen Traveller bildete in der Vergangenheit einen Schwerpunkt der Diskriminierung in Irland.

In den letzten 20 Jahren gab es in Irland zahlreiche Kämpfe und Massenkampagnen, die darauf abzielten, die Regierungspolitik und reaktionäre Sozialgesetze zurückzudrängen. Dies reichte von Bewegungen gegen Müllgebühren, Haushalts- und Grundsteuerabgaben bis hin zu den erfolgreichen Massenmobilisierungen gegen Wassergebühren. Hinzu kamen die siegreichen Ergebnisse der Volksabstimmungen, die die Gleichstellung der Ehe und die Aufhebung des achten Zusatzartikels, was die Abtreibungsrechte verbesserte, sicherstellten.

Eine Gegenreaktion gegen diese Bewegungen war immer zu erwarten. Insbesondere die katholische Kirche war von den Ergebnissen des Referendums erschüttert. Kein Wunder, dass die aufkommende extreme Rechte sich gerne mit unzufriedenen Menschen verband, die einen traditionellen katholischen Standpunkt vertraten, der in der Ablehnung von LGBTIA+-Rechten und der Feindseligkeit gegenüber dem Recht der Frau auf sexuelle Selbstbestimmung verwurzelt war.

Das Hauptziel der Rechtsextremist:innen waren jedoch immer Migrant:innen und Flüchtlinge. Obwohl ihre Stimmen gering waren, fühlten sich die Rechtsextremen selbstbewusst genug, um in den letzten fünf Jahren bei einer Reihe von Wahlen anzutreten, als die Proteste gegen Flüchtlinge zunahmen. Sie begannen, aus einwanderungsfeindlichen Vorurteilen Kapital zu schlagen.

Es folgte die COVID-Krise, bei der faschistische Aktivist:innen auf Verschwörungstheorien und Proteste gegen Lockdowns und Impfen setzten. Aber es war die Aufnahme von 70.000 ukrainischen Flüchtlingen durch die irische Regierung im Jahr 2022, die die extreme Rechte auf den Plan rief.

Die irische Regierung beschloss, so viele ukrainische Flüchtlinge wie möglich in Hotels, leerstehenden Gebäuden usw. unterzubringen, aber alle anderen Flüchtlinge mussten sich selbst versorgen. Dies führte zu Obdachlosenlagern und etwa 500 Flüchtlingen, die auf der Straße leben. Das hat diese Lager zu leichten Zielen für die Faschist:innen gemacht. Nicht nur Obdachlosenlager, sondern auch Hotels, in denen Flüchtlinge untergebracht waren, bildeten die Angriffspunkte.

Die Krise wurde noch verschärft, als die Regierung im März ankündigte, dass Hotelverträge zur Unterbringung von Flüchtlingen gekündigt würden, da sich die Hotelbetreiber:innen der Touristensaison näherten. In einem Land, in dem bereits 250.000 Wohnungen fehlen und ein Mangel an erschwinglichen Miet- und Kaufobjekten herrscht, fanden rechtsextreme Demagog:innen leider auch in einigen Arbeiter:innengemeinden Gehör. Die Vernachlässigung der Wohnungskrise durch die irische Regierung und ihre diskriminierende Politik haben diesem Anstieg des Rassismus Vorschub geleistet.

Wie man die extreme Rechte stoppen kann

In Irland kam es in letzter Zeit zu Massenbewegungen und einem fortschrittlichen sozialen Wandel, was jedoch kaum auf das Eingreifen von Gewerkschaften zurückzuführen ist. Die irische Arbeiter:innenklasse ist durch Angriffe auf ihren Lebensstandard in Bedrängnis geraten.

Jahrelange Sparmaßnahmen, die Auswirkungen von Covid, ein marodes Gesundheitswesen und eine chronische Wohnungskrise haben die Arbeiter:innenklasse schwer getroffen. Aber die Gewerkschaftsführung hat diesen Zustand nicht in Frage gestellt. Sie macht sich sogar mitschuldig an den Angriffen der Regierung, indem sie ihre Mitglieder durch die Unterzeichnung von Sozialpartnerschaftsabkommen zügelt.

Wenn die organisierte Arbeiter:innenklasse über ihre Gewerkschaften weiterhin untätig bleibt, können wir mit einer stärkeren Bedrohung von rechts rechnen. Die Selbstgefälligkeit der Bürokrat:innen in Bezug auf die Vertretung ihrer Arbeiter:innen wird durch ihre katzbuckelnde Nutzlosigkeit angesichts der rassistischen Angriffe auf Wanderarbeiter:innen ergänzt.

Der Irische Gewerkschaftskongress (ICTU) organisierte als Reaktion auf die Ausschreitungen eine kleine Mittagskundgebung, bei der ICTU-Generalsekretär Owen Reidy von „unserer wunderbaren Polizei“ sprach. Dies ist eine völlig unangemessene Reaktion, die die Realität auf den Kopf stellt. Genauso wenig wie die Behauptung von Mary Lou McDonald von Sinn Fein, dass die Regierung und der Kommissar es versäumt hätten, die Gardai richtig auszustatten. Die Gardai, die eine sehr weiche und ineffektive Haltung gegenüber dem randalierenden Mob eingenommen hat, wird weder Migrant:innen noch irgendeine andere Gruppe von Arbeiter:innen im Kampf verteidigen!

Es hat wichtige Mobilisierungen gegen die Rechte gegeben, von der Linken, die geholfen hat, das Camp in der Sandwith Street zu verteidigen, bis zu den Zehntausenden, die letztes Jahr bei der „Irland für alle“-Demonstration gegen den zunehmenden Rassismus mitmarschiert sind. Die jüngste Zunahme der „For All“-Kampagnen könnte durchaus als Katalysator für eine koordinierte antirassistische und antifaschistische Einheitsfront wirken.

Was wir jetzt dringend brauchen, ist eine Einheitsfront von linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse, die Flüchtlinge angemessen verteidigen und faschistische Angriffe zerschlagen kann. Eine ermutigte extreme Rechte wird nicht vor Flüchtlingen Halt machen, wie wir bereits bei der Einschüchterung linker Abgeordneter gesehen haben. Das Wachstum des Faschismus wird von seiner Fähigkeit abhängen, die Straßen zu kontrollieren, als eine effektive Straßenkampftruppe. Mit faschistischem Terror kann man nicht argumentieren, aber man kann ihn physisch stoppen. Organisierte Selbstverteidigung ist eine Notwendigkeit und muss ernsthaft aufgebaut werden.

Zugleich müssen reale Problem wie die Wohnungskrise angegangen werden. Zu lange hat die Regierung die Interessen des multinationalen Großkapitals, der Immobilienentwickler:innen und der abwesenden Vermieter :innen geschützt. Wir müssen Sofortmaßnahmen zur Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen fordern, indem wir leerstehende Gewerbe- und Unternehmensimmobilien nutzen.

Wir brauchen ein massives Sofortprogramm für gesellschaftlich nützliche öffentliche Arbeiten, um Vollbeschäftigung zu schaffen und die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur zu entwickeln. Die Arbeiter:innenklasse sollte an der Ausarbeitung einer Anhörung zu den sozialen Bedürfnissen beteiligt werden, die sich mit Fragen wie dem chronischen Wohnungsmangel, dem heruntergekommenen Wohnungsbestand und dem Aufbau eines öffentlich finanzierten nationalen Gesundheitsdienstes mit gleichberechtigtem Zugang befasst.

Diese öffentlichen Arbeiten sollten Teil eines demokratisch entwickelten Produktionsplans unter der Kontrolle der Arbeiter:innen sein. Ein massives Wohnungsbauprogramm würde einen Teil dieses Plans bilden und, wie der Rest des Programms, durch die Besteuerung der Reichen finanziert werden. Ein solcher Schritt würde den Kampf für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft eröffnen, in der für den Bedarf und nicht für die kapitalistische Gier produziert würde!

Der Faschismus ist ein Produkt des kapitalistischen Zerfalls. Bürgerliche „demokratische“ Regierungen fördern das Wachstum des Faschismus durch ihre Unfähigkeit, die Probleme des krisengeschüttelten Kapitalismus zu lösen. In ähnlicher Weise kann das Fehlen einer revolutionären Alternative zum Kapitalismus das Wachstum der extremen Rechten nur fördern. Eine solche revolutionäre Alternative, die sich auf ein Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse stützt, muss jetzt aufgebaut werden, damit sie Faschismus und Kapitalismus auf den Müllhaufen der Geschichte befördern kann!




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!



Israels Angriff auf Dschenin

Dave Stockton, Infomail 1227, 4. Juli 2023

Am 3. Juli startete die israelische Armee eine massive Attacke auf Dschenin im nördlichen Westjordanland mit mehreren Drohnenangriffen und mindestens einem Raketeneinschlag in einem Wohnblock. Nach Angaben von Anwohner:innen wurden in den frühen Morgenstunden bis zu 10 Luftangriffe geflogen, wobei Rauch aus den Trümmern von Gebäuden aufstieg.

Ein Konvoi gepanzerter israelischer Fahrzeuge wurde gesichtet, der sich in Richtung des großen Flüchtlingslagers der Stadt bewegte. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden bei dem Angriff mindestens acht Palästinenser:innen getötet und mehr als 20 weitere verwundet.

Der palästinensische Krankenwagenfahrer Khaled al-Ahmad sagte der Nachrichtenagentur Reuters: „Was sich im Flüchtlingslager abspielt, ist ein echter Krieg. Es gab Angriffe aus der Luft auf das Lager, und jedes Mal, wenn wir mit fünf bis sieben Krankenwagen hinfahren, kommen wir voller Verletzter zurück.“

Associated Press berichtet, dass in diesem Jahr bereits mehr als 140 Palästinenser:innen im Westjordanland durch israelischen Beschuss getötet wurden. Das riesige Lager ist der Sitz des Dschenin-Bataillons, dem Kämpfende der Fatah, der Hamas und des Islamischen Dschihad angehören, und hat sich zum Hauptstützpunkt des Widerstands entwickelt. Minister:innen der rechtsextremen Regierung von Benjamin Netanjahu wie der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir und der Finanzminister Bezalel Smotrich, die beide der rechtsextremen Siedlerbewegung nahestehen, haben ihr Ziel, die Palästinenser:innen von ihrem Land zu vertreiben, schamlos verfolgt.

Am 21. Juni wüteten israelische Siedler:innen im Westjordanland in dem Dorf Turmus Ayya und fackelten 30 Häuser und 60 Autos ab. Dies wurde sogar von der Regierung Biden verurteilt, vielleicht weil in dem Dorf viele palästinensische Amerikaner:innen leben.

Ali Abunimah, Co-Gründer der Website The Electronic Intifada, berichtete auf Al Jazeera (Al Dschasira): „Man darf nicht vergessen, dass Dschenin und das nördliche Westjordanland im Allgemeinen stark unter der israelischen Siedlerkolonisierung durch die fanatischsten Siedler:innen leiden, die in den letzten Wochen überall im Westjordanland Pogrome verübten, die von der israelischen Armee und der israelischen Regierung gefördert und unterstützt wurden.“

Er fügte hinzu, der Angriff sei „die Rache für den zunehmenden Widerstand gegen die Invasion der Siedler:innen im nördlichen Westjordanland und den rekordverdächtigen Diebstahl palästinensischen Landes für koloniale Siedlungen“.

Netanjahu kehrte Ende 2022 ins Amt zurück und kündigte ein Gesetz an, das die Macht des Obersten Gerichtshofs beschneiden soll, der die Siedler:innen erzürnt hatte, indem er ihre ungeheuerlichsten Landnahmen für illegal erklärte. Die „Reform“ würde es einer einfachen Mehrheit in der Knesset ermöglichen, fast alle Entscheidungen des Gerichts aufzuheben, und sie hätte den zusätzlichen Vorteil, dass sie „Bibi“ (Benjamin Netanjahu) helfen würde, seinem Prozess wegen Korruption zu entgehen. Die Angelegenheit hat monatelang zu Massendemonstrationen am Mittwochabend in Tel Aviv und Jerusalem geführt und dem Ansehen des Landes bei seinen internationalen Verbündeten geschadet.

Unterdessen wurde der Siedlungsprozess in der Woche vor dem Angriff auf Dschenin beschleunigt. Netanjahu gab bekannt, dass er 1.000 neue Siedlerhäuser in Eli genehmigt habe, und nannte diesen Schritt eine „Antwort auf den Terror“. Kurz zuvor hatte die zivile Verwaltung der israelischen Verteidigungsstreitkräfte Pläne für weitere 7.349 Wohneinheiten im Westjordanland genehmigt, die zu den 12.149 Objekten gehören, die im Jahr 2023 das Planungsstadium erreicht haben. Der Minister für Nationale Sicherheit, Ben-Gvir, forderte die Regierung in einer Rede auf einem Siedleraußenposten am Berg Sabih auf, eine groß angelegte Militäraktion im Westjordanland zu starten, um Land für den Ausbau der Siedlungen zu räumen.

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass unter dieser offenkundig rassistischen Regierung eine ganz neue Phase der Massenenteignung (d. h. der ethnischen Säuberung) im Gange ist. Es ist auch klar, dass die Sorge der westlichen Demokratien um die Demokratie, die im Zusammenhang mit der Ukraine lautstark geäußert wurde, gedämpft ist, wenn es um Palästina geht, abgesehen von den routinemäßigen Plädoyers für die Wiederbelebung der Gespräche über die gescheiterte „Zwei-Staaten-Lösung“. Israel ist mehr denn je ein sich ausbreitender Kolonialstaat, der insofern, als er einer Minderheit von Palästinenser:innen den Verbleib gestattet, tatsächlich ein rassistischer Staat im Stil der Apartheid ist.

In der Zwischenzeit haben seine konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Unterstützer:innen in Europa und Nordamerika eine unerbittliche Kampagne geführt, um alle, die die Palästinenser:innen verteidigen, als Antisemit:innen zu verleumden. Ihr besonderes Schreckgespenst ist die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen), die viele auf den falschen Anspruch Israels aufmerksam gemacht hat, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein.

Es ist klar, dass die Sache eines säkularen, binationalen, demokratischen und sozialistischen Palästinas ein Lackmustest dafür ist, was  revolutionärer Sozialismus und ein Antiimperialismus im 21. Jahrhundert bedeuten.




Nein zur EU-Asylrechtsreform! Offene Grenzen für alle!

Paul Dreher, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Am 8. Juni verständigten sich die EU-Innenminister:innen auf eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS). Faktisch stellt sie eine Abschaffung des ohnedies schon massiv eingeschränkten Asylrechts für Hunderttausende Geflüchtete dar. Ohnehin ist der Status einer geflüchteten Person längst äußerst prekär. So sind Geflüchtete der Hetze bürgerlicher Medien sowie rechter Gewalt ausgesetzt und haben in der Regel weder das Recht zu arbeiten noch, ihren Wohnort zu wählen.

Und auch das nur, wenn sie den tödlichsten Fluchtweg der Welt, das Mittelmeer mit seiner Festung Europa, überleben. Keine Woche nach dem Beschluss nahm die rassistische Außenpolitik der EU 500 – 600 weitere Tote in Kauf, als ein überfülltes Fischerboot vor der Küste Griechenlands kenterte. Laut Aussagen von Geflüchteten aufgrund der griechischen Küstenwache, welche im Rahmen eines Pushbacks das Boot aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Beschluss der Innenminister:innen stellt einen weiteren massiven rassistischen Angriff dar. Bevor er in Kraft tritt, muss er noch durch die gesetzgebenden Institutionen – EU-Kommission, -Rat und -Parlament. Eine Verteidigung des Asylrechts ist von diesen nicht zu erwarten, zumal die Regierungen der EU-Staaten wie auch alle größeren Fraktionen des EU-Parlaments in den Beschluss der Innenministerkonferenz eingebunden waren.

Aber die Verhandlungen und Beratungen der EU-Organe können und müssen noch genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht auzubauen.

Was haben die Innenminister:innen beschlossen?

Die Reform, welche von der Bundesregierung als „politischer Durchbruch” gesehen wird, bedeutet eine quasi Abschaffung des geltenden Asylrechts. Sie sieht unter anderem die Nutzung von großen Asylzentren an den EU-Außengrenzen mit Einschränkung der Bewegungsfreiheit – praktisch Gefängnisse für Antragssteller:innen auf Asyl – vor. In diesen sollen Geflüchtete, worunter ebenfalls Familien mit Kindern zählen, bis zu drei Monate lang eingesperrt, jedoch möglichst schnell wieder abgeschoben werden.

Insbesondere,  wenn es sich um Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten” handelt oder aus Staaten, aus denen Antragssteller:innen in der Vergangenheit mit einer ziemlich geringen Wahrscheinlichkeit Erfolg auf Asyl hatten (darunter fallen z. B. die Türkei, Indien oder Tunesien). Sollte eine Abschiebung in das Herkunftsland nicht möglich sein (zum Beispiel, weil dort Krieg herrscht), so ist jetzt auch eine in ein „sicheres Drittland” möglich, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise (wie entfernte Verwandtschaft) mit der geflüchteten Person assoziiert wird.

An den Außengrenzen inhaftierte Geflüchtete werden registriert und möglichst gründlich identifiziert. Die entsprechenden Daten, darunter neben biometrischen Fingerabdrücken auch Gesichtsfotos, sollen in einer EU-Datenbank gesichert und von Asyl- und Strafverfolgungsbehörden aller EU-Staaten abgerufen werden können, damit sogenannte „Sekundärmigration”, d. h. die Chance auf Asyl in einem anderen Land der EU (mit möglicherweise menschengerechteren Lebensgrundlagen), verhindert wird. Ein Recht auf Asylberatung oder rechtlichen Beistand wird den Menschen dabei nicht gewährt.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Während die SPD-Bundestagsfraktion 2020 noch Horst Seehofer kritisierte und die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, sieht es heute ganz anders aus, von den Grünen ganz zu schweigen. Wieder einmal beweisen beide Parteien mit ihrer Zustimmung, dass ihnen die imperialistischen Interessen der EU, insbesondere Deutschlands, wichtiger sind als Menschenleben. Zwar sprachen sich 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen aus dem Bundestag sowie eine Handvoll aus Landtagen gegen die aktuelle Fassung der Asylreform aus, tragen die Politik aber faktisch mit. Überhaupt fällt die parteiinterne Kritik sehr schwach aus, auch wenn die Berichterstattung mancher bürgerlichen Medien das anders sieht. Von grünen Kritiker:innen der Parteispitze fallen Aussagen wie, dass die Verhandlungssituation „sicherlich schwierig” sei und man sich sicher sei, dass doch trotzdem irgendwie für die richtige Politik gekämpft werde. Erik Marquardt, ein Mitglied der Grünen, welcher dafür bekannt ist, sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen zu wollen, spricht trotzdem von „Vertrauen in die Bundesregierung”, und dass eben alle Menschen Fehler machen. Dass es sich hier jedoch nicht um einen alltäglichen menschlichen Fehler handelt, sondern um die systematische Vertretung der Politik des Kapitals, wird von den parteiinternen Kritiker:innen verkannt.

Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform grundlegend als Angriff auf die Menschenrechte ab. Während SPD, FPD und auch die Grünen die faktische Aushebelung des Asylrechts als „geringeres Übel“ (für wen???) verteidigten, bezeichnen CDU und CSU die Verschärfungen als „guten Schritt“, dem weitere folgen müssten. Damit will sich die AfD erst gar nicht aufhalten. Für sie stellt selbst dieser rassistische Hammer eine „bloße Alibiveranstaltung“ dar, denn noch immer könnten Geflüchtete aus einzelnen Ländern wie Afghanistan und Syrien Asyl erhalten. Auch wenn die AfD-Forderungen im EU-Parlament keine große Rolle spielen werden, so verweisen sie darauf, dass längst nicht das Ende der rassistischen Fahnenstange erreicht ist, selbst wenn die „Reform“ angenommen wird.

Widerstand ist nötig!

Auch wenn von den EU-Institutionen nichts zu erwarten ist, so können und müssen die Beratungen und Verhandlungen der kommenden Monate genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht aufzubauen.

Der Protest gegen den rassistischen Angriff darf nicht weiter auf Petitionen und Kundgebungen von Menschenrechtsorganisationen, von NGOs und antirassistischen Initiativen beschränkt sein wie beim bundesweiten Protesttag am 15. Juni.

Wir brauchen eine Massenbewegungen, von antirassistischen,  Migrant:innenorganisationen, Gewerkschaften, der Linkspartei. Die Abgeordneten, die sich im Parlament gegen die rassistischen Maßnahmen ausgesprochen haben, müssen eine solche Mobilisierung unterstützen – und zwar nicht nur EU-weit!

Was braucht es stattdessen?

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer und einer insgesamt menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter:innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen und deshalb fordern wir:

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Statt des Europas der Imperialist:innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




EU-Migrationsregime: Vorsicht Falle!

Jürgen Roth, Neue Internationale 274, Juni 2023

Wie zynisch kann Geschichte doch sein! Fast auf den Tag genau 30 Jahre sind vergangen seit der Asylrechtsänderung durch den Deutschen Bundestag (26. Mai 1993). Drei Tage später verübten 4 Neonazis einen verheerenden Brandanschlag auf das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen, bei dem 5 Menschen ums Leben kamen und 14 zum Teil schwer verletzt wurden. So viel zur Wirksamkeit der Asylrechtsänderung, die mit entsprechendem Mediengetrommel als Eindämmung des rechten Straßenmobs verkauft wurde, um ihm die Basis zu entziehen, die angeblich in „Überfremdung“ bestehe. Überfremdung wurde zum Unwort des Jahres 1993 gewählt.

Blutspur

Schon vorher hatte der rassistische Pöbel in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln gewütet – ebenfalls mit Toten und Verletzten. Doch weit entfernt davon, seine Untaten in die Schranken zu weisen, wirkte die legale Verschärfung des Asylrechts – gegen Geflüchtete, nicht den rechten Mob! Erinnert sei nur an die Attentate des NSU und den Amoklauf in Hanau, die sich wie eine Blutspur durch die jüngere Geschichte der BRD ziehen, begleitet von anschwellenden Massenbewegungen wie Pegida. In diesem Szenario muss man die demokratischen Abgeordneten, die für das neue Asylrecht gestimmt haben, als Kompliz:innen, nicht Gegner:innen der offen physischen Gewalt gegen Migrant:innen bezeichnen.

Am 26. Mai 1993 beschloss der Bonner Bundestag mit Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung. Ohne die Zustimmung durch die meisten SPD-Parlamentarier:innen wäre sie nicht zustande gekommen. Dieser „Asylkompromiss“ Artikel 16 a des Grundgesetzes sah vor, dass der alte Artikel „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ erheblich eingeschränkt wurde. 16 a führte den „sicheren Drittstaat“ ein. Demnach erhält ein/e Schutzsuchende/r kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn sie/er über ein EU-Mitglied oder einen anderen Staat eingereist ist, in dem die Möglichkeit existiert, einen Asylantrag einzureichen. Deutschland ist von solchen vollständig umringt. Heute werden weniger als 1 % aller Asylanträge positiv beschieden. Weitere verschärfte Klauseln wurden im Grundsatz im Mai 1993 angelegt: das Asylbewerberleistungsgesetz, das die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialhilfe senkt; das sogenannte Flughafenverfahren, mittels dessen auf dem Luftweg eingereiste Schutzsuchende seither 3 Wochen im Transitbereich eines Airports festgehalten werden können, das als „exterritoriales Gebiet“ eingestuft wurde.

Als die Grünen damals für den Tag der Abstimmung die Aufhebung der Bannmeile um den Bundestag forderten wurde dies mit den Worten abgelehnt, man beuge sich nicht dem Druck der Straße. Man beugte sich genauer nicht diesem, fortschrittlichen Druck, sehr wohl aber dem reaktionären: 521 Abgeordnete stimmten für die gravierenden Verschlechterungen. Kanzler Kohl weigerte sich, an den Trauerfeiern in Mölln und Solingen teilzunehmen. Sein Terminkalender gestatte keinen „Beileidstourismus“ – ganz in diesem selektiven Sinn.

EU der Menschenrechte?

Erhalten nicht trotzdem 35 % der Asylsuchenden in der BRD einen Schutzstatus? Dies gilt aber nur, weil Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention gewisse Abschiebungen verbieten. Doch jetzt droht hier schlimmeres Ungemach als vor 30 Jahren in Deutschland, wo ja Schutzsuchende auf andere EU-Staaten verwiesen wurden. Am 8. Juni 2023 wollen die Innenminister:innen eine Vorentscheidung fällen.

Im Klartext: Schutzsuchende werden im geplanten neuen Grenzverfahren behandelt, als seien sie niemals eingereist. Das deutsche Flughafenverfahren steht hier deutlich Pate. Sie werden an den Außengrenzen in Lagern festgesetzt und überwacht. Gleichzeitig will man die Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ senken. Folglich sollen sie in solche Staaten verfrachtet werden können, in denen sie niemals waren und in die sie auch nicht gelangen wollten. Erforderlich ist nur, dass Teilgebiete als sicher gelten. Die Genfer Flüchtlingskonvention muss also nicht verbrieftes Recht darstellen, um im Eilverfahren abgeschoben werden zu können. Eine individuelle Prüfung der Fluchtgründe ist ebenso wenig vorgeschrieben, obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel steht: „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“

Scholz und Faeser opfern also elementare Bestandteile des EU-Asylrechts, um einerseits mit rechtspopulistischen Regierungen einen Deal zu schließen, der das Auseinanderfallen dieses Blocks verhindern soll. In geringerem Maß spielen auch die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern eine Rolle bei dieser „Kehrtwende“. Entschuldigen können sie sie nicht. Ukrainekrieg, Verfolgungsdruck in Afghanistan, Syrien und der Türkei stehen fürs genaue Gegenteil.

Diskursschwenk

Wie vor 30 Jahren bereiten die Damen und Herren im Parlament zum rechten Diskurs. Innenministerin Nancy Faeser sprach direkt nach den Vorfällen der Berliner Silvesternacht von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“, Jens Spahn (CDU) strickte flugs eine Verbindung mit „ungeregelter Migration“ her, in der Bundesregierung ist „irreguläre“ Einwanderung zum geflügelten Wort mutiert, Robert Habeck hat nichts mehr gegen Haftlager einzuwenden und eine FDP-Bundestagsabgeordnete nahm wieder das Unwort des Jahres 1993 in den Mund. Die Täter:innen in Nadelstreifen handeln wieder nach dem Motto: „Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!“

Abschiebepraxis: Malta, Libyen …

Weitgehend unbeachtet hatte die EU-Kommission bereits im Dezember 2021 Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen, die der EU-Rat dann im Juni übernahm. Das Straßburger Parlament hatte sie nur geringfügig abgeschwächt. Die Vorgänge an der polnischen Grenze zu Belarus (Weißrussland) vom Winter 2021 wurden zum Anlass genommen, Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zweieinhalb Jahren gegenüber der Kommission rechtfertigen zu müssen. An den Außengrenzen wird alles ignoriert, was passiert. Griechenland darf ungestraft Migrant:innen zurückdrängen. Frontex leistet aktive Beihilfe. So jüngst bei der Rückführung eines ehemaligen Fischerboots mit 500 Geflüchteten aus Maltas Seezone durch eine libysche Miliz nach Bengasi: Frontex, maltesische Behörden und ein Schiff der Bundesmarine, welches regelmäßig im Mittelmeer patrouilliert – warum wohl? –, schritten nicht ein, geschweige denn leisteten sie Seenotrettungshilfe.

… Niger

Der Niger gilt seit 2015 als weiterer Grenzwächter Europas. Im Juli 2022 erneuerte die EU ihre „Antischmuggelpartnerschaft“, lagert ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers aus. 2010 hat die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hier angefangen, von den EU-Staaten bezahlte „Transitzentren“ zu bauen. Von hier sollen aus Algerien oder Libyen Abgeschobene in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. 2015 erließ Niger das Gesetz 036, das Migration und ihre Unterstützung (Transport, Unterbringung) illegalisiert und mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu 3.000 Euro ahndet. In der Folge wichen Flüchtende auf gefährlichere und teurere Fluchtrouten durch die Sahara aus. Bleibt ein Auto liegen, gibt es kaum Hilfe, zumal allein die Benutzung eines Satellitentelefons als Straftat gilt. Seit 2014 registrierte die UNO 2.000 Todesfälle in der Wüste – Tendenz steigend. Expert:innen rechnen mit weit höheren Zahlen.

… Polen

Polen gilt als Opfer der Destabilisierungsversuche der EU durch den belarusischen Diktator Lukaschenko. Kein Wunder also, dass jetzt auch seine Binnengrenzen verstärkt überwacht werden. Die Bundesinnenministerin traf sich diesbezüglich jüngst mit dem polnischen Vizeressortchef Grodecki. Deutsche und polnische Behörden werden demnach ihre Kontrollen entlang der gemeinsamen Grenze ausweiten. Brandenburgs Innenminister Stübgen (CDU) hatte seine Bundeskollegin aufgefordert, dem schon lang praktizierten Beispiel Bayerns und Österreichs folgend, auch stationäre Grenzkontrollen zu errichten. Dies wurde zwar einstweilen zurückgewiesen, doch wird die Bundespolizei (früher: Bundesgrenzschutz) Einsätze in der polnischen Grenzregion weiter intensivieren.

… Österreichs

Zuvor hatte Faeser bereits mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner über die Beibehaltung Beibehaltung der gemeinsamen Grenzkontrollen gesprochen, die eigentlich schon lange gegen das Schengener Abkommen verstoßen. Beide waren sich gerade in Hinblick auf den derzeit verhandelten „Asyl- und Migrationspakt“ (GEAS) einig, dass Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengengebiets erst aufgehoben gehören, wenn der Außengrenzschutz funktioniert. Dass das ähnlich wie im Mittelmeer und Nordafrika nur mit illegalen Rückführungen (Pushbacks) vor sich gehen muss, ist eine Binsenweisheit.

Pushback für GEAS!

Der Aufschrei unter einschlägigen humanitären und Seenotrettungs-NGOs wie Pro Asyl, Sea-Watch etc. ist zwar riesig, doch im Gegensatz zu 2015 bleiben die Straßen, so am 26. Mai 2023 in Berlin, beschämend leer. Die Politik dieser Organisationen besteht zum großen Teil aus Petitionen, also einer Form von Betteln an „unsere“ Politiker:innen, darunter ausgerechnet Hauptkriegstreiberin Baerbock. Natürlich sollten wir alle Mobilisierungen, seien sie auch noch so zahm geraten, unterstützen. Die Arbeiter:innenklasse muss gemäß ihren ureigensten historischen Interessen jedoch auch das Feld der Einwanderungspolitik zu ihrem gestalten. Sie muss beginnen mit dem Eintreten für konsequente demokratische Reformen, die in der Forderung nach offenen Grenzen und vollen staatsbürgerlichen Rechten, nicht nur Bleiberecht und Duldung, gipfeln. Darüber hinaus muss sie die legalen Voraussetzungen für ihre Klasseneinheit ergänzen durch soziale Forderungen wie Verteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden, Mindestlohn, Anspruch auf volle Sozialhilfe, Reisefreiheit, gegen Arbeitsverbote und Residenzpflicht, für normales Wohnrecht statt Unterbringung in Lagern, Anerkennung der Berufsabschlüsse, kostenlosen Sprachunterricht usw. Doch um ihren Anspruch, die führende Klasse in der zukünftigen Weltgesellschaft zu werden zu untermauern, bedarf es des Aufbaus einer revolutionären kommunistischen Arbeiter:innenpartei und -internationale, die sich für die Abschaffung des kapitalistischen Systems in die Bresche wirft, das in seiner imperialistischen Epoche durch das Wirken des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt auch die Ungleichheiten zwischen den Nationen und Ungleichmäßigkeit ihrer Entwicklung zugunsten der Großmächte und auf Kosten einer immer mehr zunehmenden Masse der Weltbevölkerung verstärkt…




Weitere Verschärfung der EU-Flüchtlingspolitik droht

Susanne Kühn, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der EVP-Chef und CSU-Vize Manfred Weber mimt den Einpeitscher: „Die EU schlafwandelt in eine neue Migrationskrise, obwohl der rasant steigende Migrationsdruck offensichtlich ist“, lässt er Mitte April verlauten.

Damit will er unter anderem der italienischen Regierung Meloni beispringen, als deren Fürsprecher sich Weber seit einiger Zeit hervortut. Anfang Mai hat Italien den Notstand ausgerufen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll gestoppt werden.

Weber, Meloni und andere Rechte bzw. Konservative fordern, dass die Außengrenzen der EU noch weiter abgeriegelt werden.

Abschottung und Tote an den Außengrenzen

Dabei erreichten gerade 31.000 Flüchtlinge in den ersten drei Monaten die Küsten Maltas und Italiens. Das stellt zwar eine deutliche Steigerung gegenüber 2022 dar. Aber die Ursache dafür bildet keine „Flüchtlingswelle“, sondern eine Veränderung der Fluchtrouten. Nur wenige Menschen kommen noch über die Türkei, die Balkanroute oder Marokko nach Europa. Mehr als die Hälfte der nach Italien Geflüchteten nimmt die gefährliche Reise über den Seeweg auf sich – trotz der barbarischen Zustände in Tunesien selbst und trotz der lebensgefährlichen Route. Allein 2023 (Stand 12. April) fanden 600 Flüchtende im Mittelmeer den Tod, seit dem Jahr 2014 sind es insgesamt 26.358 Menschen.

Nun wollen Weber und Co. ein weiteres Abkommen mit der tunesischen Regierung, die für die EU die rassistische Drecksarbeit erledigen soll, ähnlich wie die Türkei in ihrem  Abkommen mit der EU.

Diese Forderung steht für eine weitere brutale Barbarisierung des EU-Grenzregimes. Die Hetzkampagne soll den Boden für eine weitere rassistische Abschottung, verschärfte Einsätze von Frontex, Auffanglager an den EU-Außengrenzen, Kriminalisierung von ehrenamtlichen Fluchthelfer:innen sowie verschärftes Vorgehen gegen Flüchtlinge und Asylbewerber:innen in Deutschland und anderen EU-Staaten bereiten.

Dabei plant die EU längst, was Weber vorschlägt. Beim Gipfel im Februar 2023 wurden ein weiteres Mal eine Verstärkung der Grenzkontrollen und die Beschleunigung von Abschiebungen beschlossen. Außerdem müssen zukünftig Ablehnungen von Asylanträgen in einem Land auch in allen anderen anerkannt werden.

Strittig war und ist nur, wie der rassistische Spuk finanziert werden soll: über Haushalte der Staaten, über jenen der EU oder im Rahmen des „Solidaritätsmechanismus“ zwischen den Ländern.

Rassismuskrise

Zu Recht bezeichnet Pro Asyl die sog. „Flüchtlingskrise“ als Rassismuskrise. „Die EU – ein Bund aus 28 Staaten, mit insgesamt 510 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von rund 15 Billionen Euro – ist 2015 nicht wegen einer Million Schutzsuchender in die so genannte Flüchtlingskrise geraten – sondern aufgrund der Fliehkräfte immer weiter um sich greifender nationalistischer und rassistischer Tendenzen. Rassismus und Populismus sind verantwortlich für die aktuelle ‚Flüchtlingskrise’ der EU. Nicht die Flüchtlinge.“

Nur ein kleiner Teil der über 100 Millionen Geflüchteten weltweit schafft es bekanntlich in die EU, deren imperialistische Mitgliedsstaaten jedoch kräftig mitwirken an jenen Verhältnissen, die die Menschen zur Flucht zwingen.

In Deutschland haben 2022 193.000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Die oft beschworene Steigerung ergibt sich statistisch einfach daraus, dass während der Pandemie auch die Zahlen der Geflüchteten und Asylbewerber:innen deutlich zurückgingen. Gestiegen ist im letzten Jahr die Anerkennungsquote (auf 72 % bei Erstanträgen) – und das trotz einer extrem rigiden Überprüfung. So erhielten laut Pro Asyl „im Jahr 2022 fast 40.000 zunächst vom BAMF abgelehnte Asylsuchende doch noch einen Schutzstatus, in den meisten Fällen durch eine Gerichtsentscheidung, aber auch, weil das BAMF die ursprüngliche Ablehnung korrigierte. In über der Hälfte dieser Fälle erhielten Menschen aus Afghanistan nachträglich Schutz, weil sie mit ihrer Klage bei Gericht oder einem Folgeasylantrag erfolgreich waren oder das BAMF mit einem Abhilfebescheid den ursprünglichen, falschen Bescheid aufhob.“

So erhalten zur Zeit zwar die meisten Geflüchteten aus Afghanistan und Syrien eine zumindest vorübergehende Anerkennung, Anträge von Menschen aus dem Iran werden hingegen in den meisten Fällen abgelehnt. So viel zum Menschenrechtsland Deutschland.

Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, dass die sog. „Flüchtlingswelle“ eine Erfindung ist, dass es vor allem um die Hetze gegen Geflüchtete und Migrant:innen geht – und darum, den Boden für weitere Gesetzesverschärfungen und eine noch rigidere Abschottungs- und Abschiebepraxis vorzubereiten.

Dieser Entwicklung muss entschieden entgegengetreten werden.

  • Nein zu allen Abschiebungen! Bleiberecht und volle Staatsbürger:innenrechte für alle Geflüchteten und Migrant:innen!

  • Für offene Grenzen! Schluss mit Frontex und allen anderen rassistischen Grenzkontrollen!

  • Schluss mit dem Lagersystem! Aufhebung der Residenzpflicht! Recht auf freie Wahl des Wohnortes und auf Arbeit!