Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton, Infomail 1229, 8. August 2023

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant:innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner:innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat:innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist:innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter:innen mit französischen „Ausbilder:innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat:innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist:innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter:innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter:innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der einfachen Soldat:innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Frankreich nach Macrons Sieg: Kein Grund zur Klassenkollaboration!

Dave Stockton, Infomail 1190, 31. Mai 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ist Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurückgekehrt. Er besiegte Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 % und damit mit einem größeren Vorsprung als von vielen erwartet. Dennoch erzielte Le Pen mit mehr als 13 Millionen Stimmen ein Rekordergebnis für die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung), die frühere Front National (FN; Nationale Front).

Macrons Sieg wurde von den Regierungen in der gesamten Europäischen Union und darüber hinaus mit Erleichterung aufgenommen. Bis zu ihrer Imagekampagne sprach sich Le Pen für den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU, aus, versprach aber dennoch, im Namen der französischen Souveränität einen unerbittlichen Kampf gegen die Brüsseler Behörden zu führen. Bis kurz vor dem Wahlkampf war sie, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán, eine Bewunderin von Wladimir Putin. Doch der Einmarsch ihres Freundes in der Ukraine führte dazu, dass sie ein Wahlkampfflugblatt einstampfen musste, das sie lächelnd neben ihm zeigte. Sie an der Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft und stärksten Militärmacht der EU zu haben, hätte die EU massiv destabilisiert, vor allem in einer Zeit des Krieges in Europa.

Der Sieg von Emmanuel Macron war jedoch kein großer Triumph, obwohl Doppelamtszeiten in Frankreich eine Seltenheit sind. Dies spiegelte nicht nur einfach die Tatsache wider, dass Macron sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken als arroganter „Präsident der Reichen“ weithin verhasst ist, sondern auch die, dass zum zweiten Mal in Folge kein/e Kandidat:in der reformistischen Linken oder der gaullistischen Rechten in der zweiten Runde antrat – der Sozialistischen Partei und der Republikaner, Parteien, die die französische Politik seit den 1970er Jahren dominierten.

Entfremdung und Macrons Sieg

Ein Ausdruck der weit verbreiteten Entfremdung war eine ganze Reihe von Demonstrationen, die nach der ersten Runde in ganz Frankreich ausbrachen. Schüler:innen, Student:innen sowie Bahnarbeiter:innen im Norden von Paris prangerten „eine Wahl zwischen Pest und Cholera“ an. Außerdem hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidaten ihre/seine Stimme gegeben, und die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 %, dem niedrigsten Wert in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel ungültig gemacht oder leer abgegeben.

Le Pen konnte ihren Zuwachs im  Vergleich zu 2017 darauf zurückführen, dass sie sich auf soziale Themen konzentrierte, insbesondere auf die steigenden Lebenshaltungskosten für Erwerbstätige, und dass sie Themen mit sinkender Popularität wie Abtreibungsgegner:innenschaft, „Homo-Ehe“ und einen „Frexit“ aus der EU aufgab. Sie hat sogar ihre heftige Islamophobie etwas abgeschwächt, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen tatsächlich Franzosen und Französinnen sein können, aber an ihrer Forderung nach einem Verbot des Tragens des Hidschabs (Verschleierung) in der Öffentlichkeit und einem Referendum über härtere Einwanderungskontrollen festhielt.

Obwohl Le Pen und die RN nach keiner ernsthaften Definition des Begriffs Faschist:innen sind, wäre ein rassistische Populistin an der Spitze der ohnehin schon rassistischen französischen Polizei in der Tat eine Bedrohung für die 6,5 Millionen Einwander:innen oder Bürger:innen mit Migrationshintergrund in Frankreich (9,7 % der 67 Millionen Einwohner:innen) gewesen.

Der größte Erfolg Macrons besteht darin, dass er die traditionellen Parteien, sowohl die linken als auch die rechten, an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So erreichte Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei (PS) in der ersten Runde lächerliche 1,7 %, weniger als Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF) mit 2,28 %, während selbst die Vertreterin der gaullistischen Les Républicains (Die Republikaner:innen), Valerie Pécresse, nur 4,7 % erzielen konnte.

Dennoch hat sich Macrons eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Marsch), kaum eine solide Basis in der Bevölkerung geschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine wurzellose Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen, die sowohl von rechten als auch von linken Parteien angezogen werden, um eine Präsidentschaft der Fünften Republik zu unterstützen, die unter Macron noch bonapartistischer wurde. Und da dies seine letzte Amtszeit ist, ist es fraglich, ob die Partei ihn überleben wird. Die französische Wahlpolitik ist, offen gesagt, von Grund auf instabil. Im Moment ist die Wirtschaft relativ solide verglichen mit vielen anderen in der EU, aber ein ernsthafter Absturz in die Rezession, ausgelöst durch Stagflation und Krieg, könnte, wie es in Frankreich immer möglich ist, zu großen Protesten führen, wie wir es bei den Nuit debout – Protesten gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im Jahr 2016 und den Gilets jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018 – 2019 gesehen haben.

Mélenchon und die Parlamentswahl

Der einzige verbliebene Verfechter der Linken in der Mainstream-Politik ist nun Jean-Luc Mélenchon, der mit 21,95 % der Stimmen im ersten Wahlgang nur um 420.000 Stimmen von Le Pen (mit 23 %) geschlagen wurde. Er hat sofort eine Kampagne für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni gestartet, mit dem Ziel, die Partei des Präsidenten zu überflügeln und Macron zu einer Cohabitation (Zusammengehen) mit ihm als Premierminister zu zwingen.

Viele derjenigen, die sich im zweiten Wahlgang der Stimme enthalten haben, schließen sich nun bei den Parlamentswahlen dem Block von Mélenchon an.

Dessen „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat sich Anfang Mai nach dreiwöchigen Verhandlungen gegründet. Sie behauptet, die gesamte „Linke“ zu vereinen, zum ersten Mal seit der Wahl der „Gauche Plurielle“ (plurale Linke)-Regierung von Lionel Jospin (1997 – 2002). Ihr gehören nun die Grünen, die PCF und die SP an. Sogar die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) wurde eingeladen, ihr beizutreten, hat dies aber letztendlich abgelehnt.

Mélenchon versprach in seiner einstündigen Rede auf der Gründungsveranstaltung der NUPES einen „Bruch“ mit dem neoliberalen System, das „seit 40 Jahren den Planeten beherrscht, die Gesellschaften plündert, die Natur ausbeutet und die Menschen vernichtet“ – was er „Finanzkapitalismus“ nennt.  Aber natürlich geht es bei diesem „Bruch“ nicht um den Kapitalismus selbst, auch wenn er von einer Sechsten Republik spricht. Einige Linke haben behauptet, eine Regierung Mélenchons könne Reformen bringen, wie sie unter Léon Blum 1936 – 1938 durchgeführt wurden. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn erstens handelt es sich bei den heute beteiligten Parteien um langjährige reformistische Arbeiterparteien (PCF, SP) oder kleinbürgerlich-populistische Formationen wie LFI (Unbeugsames Frankreich) oder EELV (Europäische Ökologie – die Grünen) und zweitens waren Blums Reformen vor allem aus der Angst vor einer Welle von Fabrikbesetzungen und Streiks heraus durchgeführt worden.

NPA

Die Einladung an die NPA, der NUPES beizutreten, war auf den ersten Blick ungewöhnlich, und ihre Führung nahm die Einladung Mélenchons zu Gesprächen gerne an. Der Gewinn von Sitzen in der Nationalversammlung war für eine Partei, die nur 0,77 % der Stimmen erhielt, verlockend. Doch der Einstieg in die NUPES erwies sich als zu großer Sprung. Die NPA hat sich zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit der PS als Hauptproblem ansieht, die in ihrer Regierungszeit eine neoliberale Politik verfolgt hat. Ein Grund dafür ist, dass die LFI es versäumt hat, der NPA eine beträchtliche Anzahl von Sitzen anzubieten, auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou, obwohl er bereits bei den Wahlen in Bordeaux auf einer gemeinsamen Plattform mit der LFI kandidierte. Der entscheidende Grund war jedoch wahrscheinlich, dass fast die Hälfte des NPA-Nationalrats eine Kandidatur auf der NUPES-Liste strikt ablehnte. Der Beitritt zur NUPES hätte die NPA spalten können, die sich bereits in einer prekären Lage befindet, nachdem sie die großen Hoffnungen von vor etwa zehn Jahren, die antikapitalistischen Straßenbewegungen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu repräsentieren, verschwendet hat.

Ob eine/r der Kandidat:innen der NUPES-Parteien ein kritisches Votum der Arbeiter:innenschaft verdient, wird sich bald zeigen. Mélenchon, der schon immer ein politisches Chamäleon war, wenn es um Parteien und Programme ging, könnte sich nach links wenden, um die Stimmen der Gewerkschaften zu gewinnen, wie er es bereits mit den Umweltschützer:innen und Feministinnen getan hat.

Aber die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, die CFDT und die CGT, die selbst dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, einschließlich natürlich seiner „Reformen“, verheißt nichts Gutes für den Klassenkampf.

Sollte Mélenchon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und sich Macron „aufdrängen“ können, würde die Kohabitation eine Art Koalition darstellen, gegen die Le Pen und andere rechte Kräfte dann die Rolle der eigentlichen Opposition spielen könnten. Macron würde mit dem Argument „nach mir die Sintflut“ bald die Oberhand gewinnen.

In der Tat steht die französische Arbeiter:innenklasse vor der Qual der Wahl: Klassenkampf oder Klassenkollaboration unter „republikanischem“ und „linkspopulistischem“ Deckmantel. Die Bürokratien der wichtigsten Gewerkschaftsverbände (CFDT und CGT) haben derweil ihre Entscheidung  getroffen. Sie haben bereits zugestimmt, mit dem „Präsidenten der Reichen“ politisch zu verhandeln. Zweifellos sehen sie es als großen Fortschritt an, dass ein vermeintlich „gedemütigter“ Macron im Gegensatz zu 2017 nun mit ihnen über seine neoliberalen Reformen verhandeln muss. So billig sind diese Damen und  Herren zu kaufen!

Die einzige Möglichkeit, die Wahl zwischen Le Pens Pest oder Macrons Cholera zu bekämpfen, besteht darin, den Weg der Massenmobilisierung auf den Straßen, der Massenstreiks in den Betrieben und der Besetzungen in den Bildungseinrichtungen, des Widerstands gegen die Polizei in den Vororten zu eröffnen. Schließlich ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem soziale Bewegungen keine Seltenheit darstellen.

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten RN aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antikriegerischen und antirassistischen Kämpfer:innen gestellt haben. Sie haben die Nationale Front und die faschistischen Schläger:innen in der Vergangenheit abgewehrt und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über Le Pens Wahlversagen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung aus dem Kleinbürger:innentum, das durch die verschärfende Wirtschaftskrise ruiniert ist, hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken von den ersten Tagen der neuen Präsidentschaft an an die Spitze des Widerstands gegen Macrons Reformen stellen, unabhängig davon, ob Jean-Luc Mélenchon sein Premierminister wird oder nicht.




Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Dave Stockton, Neue Internationale 264, Mai 2024

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am 24. April kehrte Emmanuel Macron, ein arroganter neoliberaler „Reformer“, für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurück. Er schlug die altgediente rassistische Populistin Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 %, ein größerer Vorsprung, als viele erwartet hatten.

Allerdings hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidat:innen seine/ihre Stimme gegeben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 % und war damit die niedrigste in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel leer abgegeben oder sonst wie ungültig gemacht.

Ergebnis von Le Pen

Dennoch hat Le Pen mehr als 13 Millionen Stimmen erhalten, ein Rekord für die Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN), die frühere Front National (Nationale Front, FN). Die RN ist sicherlich eine üble reaktionäre Kraft, die Maßnahmen zur Diskriminierung der französischen Bürger:innen kolonialer Herkunft und zum Schikanieren der Jugend in den Banlieue-Vorstädten ergreifen würde, aber sie ist keine faschistische Bewegung.

Le Pens Stimmenzuwachs ist zum Teil auf ihre „Entdämonisierung“ zurückzuführen, die sie erreicht hat, indem sie soziale Fragen wie die steigenden Lebenshaltungskosten für die einfachen Leute in den Vordergrund gestellt und Themen wie Abtreibungsverbot und „Frexit“ aus der EU aufgegeben hat. Sie milderte auch ihre heftige Islamophobie etwas ab, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen Französ:innen sein können, aber ihre Forderung nach einem Verbot des Tragens der Hidschab-Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit und Referendum über strengere Einwanderungskontrollen  aufrechterhielt.

Massenenthaltung

Ein Grund für die rekordverdächtige Enthaltung ist die Tatsache, dass Macron sowohl die traditionellen Parteien der Linken als auch der Rechten an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So sind die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei in der ersten Runde auf einstellige Zahlen geschrumpft, und auf der rechten Seite sind auch die Gaullist:innen nicht mehr vertreten. Seine eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Vormarsch), ist eine in den Massen wenig verankerte Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen von rechts und links, die gut geeignet ist, die Basis für eine bonapartistische Präsidentschaft zu bilden.

Der Champion der Linken ist nun Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde nur knapp von Le Pen geschlagen wurde. Er stellt sich nun so dar, als hätte er eine reale Chance, die Partei des Präsidenten bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni zu besiegen und sogar Premierminister zu werden und Macron in ein „Zusammengehen“ zu zwingen.

Die hohe Zahl der Stimmenthaltungen und ungültigen Stimmen spiegelt nicht nur die Tatsache wider, dass Macron weithin verabscheut wird, sondern auch, dass es keine/n Kandidat:in der reformistischen Linken gab, für die/den man stimmen konnte, und Mélenchon sich weigerte, zur Wahl Macrons aufzurufen, um Le Pen zu stoppen. Die weit verbreitete Entfremdung verdeutlichte sich nach der ersten Runde in einer Reihe von Demonstrationen, die in ganz Frankreich ausbrachen und bei denen Universitätsstudent:innen, Oberschüler:innen sowie Eisenbahner:innen die Wahl zwischen „Pest und Cholera“ anprangerten.

Linke

Die französischen Linken, die früher für die PS oder die kommunistische PCF gestimmt haben, unterstützen nun Mélenchons linkspopulistische Union Populaire und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent, was etwa 7,7 Millionen Stimmen entspricht. Mélenchon forderte seine Wähler:innen auf, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, lehnte es aber auch ab, sich für Macron zu erklären.

Diejenigen, die dafür plädierten, ungültig zu wählen, hatten Recht. Keine/r der beiden bürgerlichen Kandidat:innen hat auch nur eine einzige Stimme von der Arbeiter:innenklasse, der Jugend an den weiterführenden Schulen und in den Banlieues verdient. In der Tat werden Letztere derzeit weit mehr von Macrons Polizei schikaniert als von der extremen Rechten. Die Vorstellung, dass Macron dem Aufstieg des Faschismus im Wege steht, war der übliche zynische Trick, um die Wähler:innen in Panik zu versetzen, ihn als das kleinere Übel zu wählen.

Die Tatsache, dass die Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapistalistische Partei, NPA) darauf hereingefallen ist, zeigt, wie weit sie sich von einer unabhängigen Klassenpolitik entfernt hat. Auch die Tatsache, dass sie nun bei den Parlamentswahlen um einen Platz in Mélenchons Union Populaire buhlt – auf einer Plattform mit einem Potpourri aus volksfrontistischem „Republikanismus“ – könnte ihren Tod bedeuten, wo sie doch vor etwa zehn Jahren noch als Durchbruch für die extreme Linke galt.

In der Tat sind die Wirtschaftspolitik und die soziale Zerstörung, die Macron betrieben hat und die durch seine zweite Amtszeit drohen, ein wesentlicher Teil dessen, was den Aufstieg der rassistischen Rechten, Zemmour und auch Le Pen, angeheizt hat und weiterhin anheizen wird. Dabei ist Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, CFDT und CGT, nachdem sie dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, was natürlich auch seine „Reformen“ einschließt.

Widerstand

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten extremen Rechten aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend an den Unis, den Gymnasien und in den Banlieues, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antimilitaristischen und antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten und in der Vergangenheit die FN-Schläger:innen abwehren konnten. Und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über die Misserfolge von Le Pen und Zemmour bei den Wahlen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung des Lumpenproletariats unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieses Widerstands stellen und sich nicht auf das Hirngespinst von Jena Luc-Mélenchon als Macrons Premierminister konzentrieren.




Frankreich: Macron oder Le Pen – keine Wahl für die Arbeiter:innenklasse

Dave Stockton, Infomail 1185, 23. April 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag tritt der autoritäre neoliberale Amtsinhaber Emmanuel Macron gegen die rechtsextreme Veteranin und Rassistin Marine Le Pen an. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Runde kam es in ganz Frankreich zu einer Reihe von Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen, vor allem jungen Menschen, Student:innen an Universitäten und Oberschulen, die sich gegen das wehren, was sie als eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“ in der zweiten Runde betrachten.

Viele der Student:innen, die die Universitäten, darunter die Sorbonne in Paris, besetzt und auf der Straße demonstriert haben, verkünden offen, dass das, was sie ironisch als „die wirkliche dritte Runde“ der Wahlen bezeichnen, auf der Straße und in den Betrieben ausgetragen werden wird, egal wer im Präsident:innenpalast Elysée sitzen wird.

Zur Überraschung vieler Kommentator:innen liefert sich Le Pen mit Macron ein enges Rennen. Ein Grund dafür ist Macrons arroganter, monarchischer Stil und die Tatsache, dass er eine Reihe bösartiger Angriffe auf die verbleibenden sozialen Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse, der Armen und der Migrant:innen durchgeführt und repressive Polizeieinsätze gegen Demonstrant:innen entfesselt hat, insbesondere gegen die Bewegung der Gilets Jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018.

Zu seinen neoliberalen Reformen gehörten die des Arbeitsgesetzbuchs (Code du Travail), der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung der direkten Vermögenssteuer (ISF), die Kürzungen der individuellen Wohnbeihilfe (APL) und die (gescheiterten) Rentenreformen. Zu seinen antidemokratischen Angriffen zählten die dauerhafte Übernahme der Bestimmungen des Ausnahmezustands nach den Terroranschlägen ins Gesetz und seine islamfeindliche Kampagne gegen den „Separatismus“.

Le Pen hat die letzten Jahre damit verbracht, das Erbe ihres faschistischen Vaters Jean Marie abzustreifen. Dazu gehört auch die Umbenennung ihrer Partei, der ehemaligen Front National (FN; Nationale Front), in Rassemblement National (RN; Nationale Sammlungsbewegung). Und in der Tat hatte sie damit einen gewissen Erfolg. Sie weiß, dass allein ihre Vergangenheit und das Versprechen, das Tragen der Hidschab als Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu verbieten, weiterhin antimuslimische Wähler:innen anziehen wird.

In der Zwischenzeit hat sie eifrig um diejenigen geworben, die in der Vergangenheit nie die NF gewählt hätten, indem sie die sinkende Kaufkraft der Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht thematisiert und politische Maßnahmen wie den Austritt aus der Eurozone oder der EU selbst fallenlassen hat. Problematischer, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, sind ihre Verbindungen zu Putin und die Finanzierung durch russische Banken.

Ein weiterer großer Schrecken für Macron ist, dass ein größerer Teil der Wähler:innenschaft als je zuvor sich wahrscheinlich der Stimme enthalten wird – sogar mehr als die über 25 Prozent, die dies 2017 taten. Es scheint, dass die „republikanische Disziplin“ , die früher dafür sorgte, dass die Wähler:innen der Linken gegen die NF als antirepublikanische Partei stimmten und sogar für die Kandidat:innen der rechten Gaullist:innen, unter Macron, der weithin als Paradebeispiel für die politische Elite Frankreichs verabscheut wird, ein verlorenes Gut ist.

Die französischen Linken, die früher für die Sozialistische Partei (PS) oder die Kommunistische Partei (PCF) gestimmt hatten, schlossen sich diesmal Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer Partei La France Insoumise (Das ungehorsame Frankreich) an, die für diese Wahl in Union Populaire (Volksunion) umbenannt wurde, und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent und etwa 7,7 Millionen Stimmen.

Mélenchon hat seine Anhänger:innen aufgefordert, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, hat sich aber geweigert, Macron zu unterstützen. Eine Meinungsumfrage zeigt, dass sich bis zu zwei Drittel seiner Wähler:innen der Stimme enthalten werden. Er hofft, auf seinem Erfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni aufbauen zu können, für die er die offen gesagt lächerliche Idee hegt, sich Macron als Premierminister „aufzudrängen“.

In der Tat wäre es ein fataler Fehler, auf Mélenchon zu warten und sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Wie verschiedene Bewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt haben, sind Massenstreiks, Besetzungen von Arbeitsplätzen und Bildungsstätten der Weg, um neoliberale Reformen zu stoppen.

Heute haben diejenigen Recht, die für eine Blankowahl plädieren. Bei dieser Wahl gibt es keine/n Kandidat:in, nicht einmal eine/n von den traditionellen reformistischen Arbeiter:innenparteien, der/die die Stimmen der Arbeiter:innenklasse, der Jugendlichen an den Gymnasien und Universitäten und derjenigen, die in den sozial benachteiligten Vorstädten, den Banlieues, wählen dürfen, auf sich ziehen könnte.

Die Idee, dass Macron ein Hindernis für den Aufstieg des Faschismus bildet, ist ein Witz oder vielmehr ein zynischer Trick, um die Wähler:innenschaft in Panik zu versetzen, damit sie ihn als das vermeintlich kleinere Übel wählen. Das Problem bei diesem Argument ist, dass die Wirtschaftspolitik und die soziale Verwüstung, die der frühere Präsident Sarkozy und dann Macron angerichtet haben, den Aufstieg der rassistischen Rechten begünstigt haben und weiter begünstigen werden.

Die einzigen Kräfte, die es wirklich sowohl mit einer rassistischen bürgerlichen Republik als auch mit der extremen Rechten aufnehmen können, sind die Arbeiter:innenklasse und die Jugend der Unis, der weiterführenden Schulen und Banlieues, die schon immer den Großteil der antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten, die die NF-Schläger:innen in der Vergangenheit aus dem Weg geräumt haben und sie wieder aus dem Weg räumen können. Gewerkschaften und extreme Linke müssen sich vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieser Kräfte stellen.




Frankreich: LehrerInnenstreik gegen die desorganisierende Schulpolitik der Regierung

Marc Lassalle, Infomail 1176, 18. Januar 2022

Weniger als hundert Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. April haben die französischen LehrerInnen massiv, entschlossen und sehr kämpferisch gestreikt. Am 13. Januar fanden mit Unterstützung von zehn Gewerkschaften mehr als 136 Demonstrationen statt, bei denen etwa 80 000 Lehrkräfte auf die Straße gingen und die meisten Schulen geschlossen blieben.

Auch die Zahlen der Streikbeteiligung sind historisch: rund 75 Prozent des Lehrpersonals an den Grundschulen und 62 Prozent an den weiterführenden Schulen – so viel wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die LehrerInnen haben gestreikt und sind auf die Straße gegangen, um ihre tiefe Wut über die absurden Maßnahmen der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der in den letzten Tagen sprunghaft angestiegenen Zahlen der Epidemie – etwa 300.000 neue Fälle pro Tag – hat die Regierung beschlossen, die Schulen so weit wie möglich offen zu halten. Ironischer Weise verfolgen die LehrerInnen, die Gewerkschaften und die Elternorganisationen das gleiche Ziel wie die Regierung: Sie wollen die Schulen ebenfalls offen halten, aber nicht auf die gleiche Weise und nicht zu den gleichen Bedingungen!

Bürokratische, chaotisch, gefährlich

Innerhalb von weniger als einer Woche änderte die  Regierung ihre angekündigten Gesundheitsvorschriften dreimal (seit dem Start von Covid insgesamt 19 Mal), wobei die erste Änderung genau am Vorabend der Wiedereröffnung der Schulen nach den Weihnachtsferien veröffentlicht wurde. Zunächst wurden die Eltern verpflichtet, ihre Kinder dreimal zu testen, wenn sie mit einer infizierten Person in Kontakt gekommen waren. Der Unterricht wurde ohne Vorwarnung geschlossen, die Testergebnisse mussten überprüft, die Eltern kontaktiert werden. Viele LehrerInnen waren selbst krank. Eltern und Kinder standen bei kaltem Wetter stundenlang Schlange, um die Tests in Apotheken durchführen zu lassen: Das Gefühl eines absurd kafkaesken Systems, das von einer unfähigen Bürokratie (des)organisiert wurde, verbreitete sich noch schneller als das Virus und löste den Streik auf der Ebene der Beschäftigten aus.

Ein Lehrer erzählt: „In meiner Klasse wurden in einer Woche elf von 25 Kindern positiv getestet. Trotzdem bleibt die Klasse offen. Ich muss mit den Abwesenheiten der SchülerInnen, ihrer schrittweisen Rückkehr, mit MEINEN Masken, MEINEM Laptop, MEINEM Internetanschluss und meinem erschreckend niedrigen Lohn jonglieren.“

Ein anderer berichtet: „Nach zwei Jahren der Epidemie haben wir gerade erst durchsichtige Masken erhalten, die das Lippenlesen für die ersten Klassen ermöglichen, was wir vor mehr als einem Jahr beantragt haben. Wir haben hier keine/n SchulpsychologIn oder Schularzt/ärztin mehr, wir haben keine chirurgischen Masken. In meiner Schule können wir Masken nur dank der Spenden der Eltern kaufen!“

Diese Situation ist natürlich nicht auf die Schulen beschränkt, auch wenn die Spannungen dort am größten sind. Seit Beginn der Epidemie hat die Regierung alle Entscheidungen im Rahmen von „Verteidigungsräten“ mit einer Handvoll hochrangiger MinisterInnen von oben nach unten getroffen. Einmal hat sich Präsident Macron über die Ratschläge der medizinischen ExpertInnen einfach hinweggesetzt und eigenmächtig entschieden, umgeben von einem kleinen Kreis von Ja-SagerInnen, die ihn als „ersten Epidemiologen Frankreichs“ rühmten.

Die Situation ist sicherlich schwierig, denn es stellt sich die Frage, ob eine Klasse beim ersten Covid-Fall geschlossen werden sollte und welche Art von Tests für die Wiederaufnahme einer/s SchülerIn erforderlich sind. Die Gewerkschaften, die Lehrerinnen und die Eltern vertreten nicht unbedingt dieselben Positionen. Sie teilen jedoch zwei grundlegende Forderungen, und das gab dem Streik seine Stärke.

Forderungen

Erstens: Die Regierung darf nicht einfach von oben herab Gesundheitsvorschriften erlassen, ohne die praktischen Bedingungen vor Ort und die Meinungen der Betroffenen zu berücksichtigen. Zweitens darf sich die Debatte nicht auf die Frage „Testen oder Schließen der Klasse“ beschränken. Die Regierung kann keine Regeln aufstellen, ohne den Beschäftigten im Bildungswesen und den Eltern die Mittel an die Hand zu geben, um die Schulen unter guten und sicheren Bedingungen offen zu halten. Die Streikenden fordern FFP2-Hochfiltermasken, die Messung des CO2-Gehalts in den Schulen und Belüftungssysteme zur Luftauffrischung. Außerdem wollen sie die Einstellung von Vertretungen als Ersatz für die krankheitsbedingt ausfallenden LehrerInnen sowie von anderen Hilfskräften in den Schulen erreichen.

Die Regierung war sich der großen politischen Bedeutung dieses Streiks und der enormen öffentlichen Unterstützung hierfür bewusst und versprach noch am selben Tag 5 Millionen FFP2-Masken und die Einstellung von 3 300 zusätzlichen Lehrkräften. Wie die außergewöhnlichen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft in den letzten zwei Jahren gezeigt haben, können plötzlich Milliarden von Euro gefunden werden, wenn es nötig ist, und es gibt keinen Grund, warum die LehrerInnen, Kinder und Jugendlichen nicht unter grundlegend gesunden Bedingungen lernen können sollten.

Angriffe auf öffentliches Schulsystem

Die Wut der Lehrerinnen und Lehrer wurde jedoch nicht nur dadurch geschürt. Sie streikten auch gegen den Minister für nationale Bildung, Jean-Michel Blanquer. Er ist für verschiedene Angriffe auf das öffentliche Schulsystem verantwortlich, darunter eine Gegenreform der Sekundarstufe, die den Sektor tiefgreifend desorganisiert und geschwächt hat.

Blanquer hat die LehrerInnen verächtlich behandelt und erklärte in den letzten Tagen, dass „der Streik das Schulsystem noch mehr stören wird“ oder, noch zynischer, dass „man nicht gegen ein Virus streiken kann“. Darüber hinaus hat er eine rechtsgerichtete Kampagne gegen Universitäten und AntirassistInnen im Namen der „Laicité“ (des Laizismus) gestartet, die immer mehr zum Deckmantel für Islamophobie wird, indem er den „Linksislamismus“ an den Universitäten anprangert und die „faschistischen“ Fehler der UNEF, der StudentInnenvereinigung, ankreidet, weil sie Möglichkeiten und Räume für getrennte Versammlungen nur für die rassisch Unterdrückten organisiert hatte, und erklärt, dass „die Kleidung des Hidschab in unserer Gesellschaft nicht willkommen ist“.

Auch jenseits von Blanquer und dem Bildungssektor herrschen in der französischen Gesellschaft die gleichen Befehle von oben nach unten und die gleiche Geringschätzung der ArbeiterInnen Seit zwei Jahren stehen die Krankenhäuser im Kampf gegen  Covid an vorderster Front, ohne dass die Regierung viel getan hätte. Die Mittel für die Krankenhäuser und die Löhne des Pflegepersonals wurden nicht wesentlich aufgestockt, was dazu geführt hat, dass 20 Prozent der Krankenhausbetten wegen Personalmangels geschlossen sind. In der Zwischenzeit hat die Regierung sogar ihre Politik des Abbaus des öffentlichen Gesundheitssektors und der Schließung von Krankenhäusern fortgesetzt. Das gleiche Fehlen elementarer Schutzmaßnahmen gilt auch für andere Sektoren wie Verkehr, Reinigung, Geschäfte, Restaurants, öffentlich zugängliche Büros usw.

Die ArbeiterInnen haben also viele gute Gründe zu streiken, um ihre Kontrolle über die Hygienevorschriften auf allen Ebenen durchzusetzen, vom Arbeitsplatz bis zu den Schulen und Stadtvierteln. Der LehrerInnenstreik verkörpert die erste große progressive Aktion in Frankreich zum Thema Covid. Er kann und sollte über die Schulen hinaus ausgedehnt und verallgemeinert werden. Er könnte zu einer wichtigen Kraft bei den kommenden Präsidentschaftswahlen werden und die widerliche rassistische und chauvinistische Propaganda hinwegfegen. Dies könnte zu einem Sammelpunkt für alle ArbeiterInnen werden, die von den Lügen der PolitikerInnen angewidert sind, aber durch die Passivität der Gewerkschaften und die Zersplitterung und Kapitulation der offiziellen linken Parteien desorganisiert wurden.




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




Anti-Gesundheitspass-Demonstrationen in Frankreich – kein Pass oder keine Impfung?

Marc Lassalle, Infomail 1166, 11. Oktober 2021

Von Mitte Juli bis Ende August protestierten in Frankreich jeden Samstag rund 200.000 Menschen gegen die Einführung eines Gesundheitspasses. Auch jetzt sind noch jede Woche etwa 100.000 auf der Straße. Warum gibt es diese Bewegung, und worum geht es ihr wirklich?

Gründe

Im Juli kündigte Präsident Macron angesichts der vierten Covid-Welle an, dass für den Zutritt zu Kinos, Theatern und anderen Großveranstaltungen ein Gesundheitspass erforderlich ist, der entweder eine Impfung oder einen kürzlich durchgeführten negativen PCR-Test nachweist. Später wurde die Liste um Bars, Restaurants, Fernzüge und Einkaufszentren erweitert. Ab dem 30. August benötigen auch Beschäftigte in diesen Sektoren den Ausweis, und ab September ist die Impfung für alle Angestellten im Gesundheitswesen obligatorisch. MitarbeiterInnen, die die Impfung verweigern, können ohne Bezahlung suspendiert werden. Obwohl es für die Allgemeinheit keine solche Verpflichtung gibt, führt die Zahl der Orte, an denen dieser Ausweis erforderlich ist, de facto zu einer Impfpflicht.

Normalerweise kommt das politische Leben in Frankreich während der Sommerpause zum Erliegen, so dass nicht nur die Zahl, sondern auch die Tatsache, dass die Demos stattfanden, sehr überraschend ist. Hinzu kommt, dass sie in kleineren Städten stattfanden und nicht nur in Paris und anderen Großstädten. Insgesamt gab es jede Woche mehr als 200 Demonstrationen. In Toulon, einer Hochburg des Protests, blockierten 22.000 Menschen stundenlang die Autobahn und die Hauptstraßen.

Auf den Plakaten stand: „Wahlfreiheit“, „Leben ohne Pass“, „Mein Körper, meine Wahl, meine Freiheit“, „Nein zur Gesundheitsdiktatur“. Zu den DemonstrantInnen gehören Teile der ArbeiterInnenklasse (Beschäftigte im Gesundheitswesen, LehrerInnen), der Mittelschicht und des KleinbürgerInnentums und auch kleine KapitaleigentümerInnen, viele demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das, was von der Gelbwestenbewegung übrig geblieben ist, ist sehr präsent und aktiv. Neben der französischen Trikolore und dem Gesang der Marseillaise waren auch regionale Fahnen (Bretagne, Normandie) und sogar monarchistische Fahnen zu sehen: ein sehr vielfältiges, klassenübergreifendes Gemisch.

Die vorherrschende Vorstellung ist, dass die „Freiheit“ von der Regierung angegriffen wird und die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht, eine persönliche Entscheidung ist, eine grundlegende bürgerliche Freiheit, in die sich die Regierung nicht einmischen sollte. Dieses bürgerlich-individualistische Konzept der Freiheit ist in Frankreich stark ausgeprägt („Liberté“ ist das erste Motto auf allen Rathäusern) und ein wichtiger Teil des nationalen Mythos, der sogar in den Gewerkschaften und den linken Parteien und Organisationen, einschließlich der zentristischen Gruppen, weithin akzeptiert wird.

Ein zweites Element ist das weit verbreitete und tiefe Misstrauen gegenüber der Regierung, das sie sich weitgehend selbst zuzuschreiben hat. Im März 2020 erklärte der Gesundheitsminister, dass Gesichtsmasken nicht notwendig seien, aber es wurde bald klar, dass dies nur dazu diente, den Mangel an Masken im Land zu vertuschen, selbst für das Gesundheitspersonal. Die Haltung der Regierung zu Impfstoffen hat das Problem noch verschärft. Erst hieß es, der russische Sputnik V und die chinesischen Impfstoffe seien unwirksam, dann war AstraZeneca an der Reihe, dessen Impfstoff seit Juli für Spenden an andere Länder reserviert sind – eine sehr merkwürdige Auslegung der internationalen Solidarität.

Die sehr seltenen Fälle von Nebenwirkungen der Impfung werden in den Medien so übertrieben dargestellt, dass eine regelrechte Psychose entsteht. Ob die Haltung der Regierung mit wirtschaftlichen Interessen (der französische Pharmamulti Sanofi oder das Institut Pasteur könnten irgendwann einen Impfstoff entwickeln) oder mit nationalen Sicherheitsüberlegungen zusammenhängt, ist nicht klar. Die ganze Atmosphäre der Geheimniskrämerei in Bezug auf den EU-Vertrag für Impfstoffe und die Nutzung von Patentrechten zur Steigerung der Profite für einige von ihnen trägt jedoch zum Misstrauen bei.

Dies baut auf einer bereits diffusen Feindseligkeit gegenüber allen Impfstoffen auf. Laut Umfrage auf einer der Demos erklärten 66 Prozent, dass sie nicht geimpft werden wollen, und das Meinungsforschungsinstitut kam zu dem Schluss, dass „hinter der Verweigerung des Gesundheitspasses, die im Namen der Grundfreiheiten erfolgt, eine gemeinsame Anti-Impfkultur steht“. In der Tat wurden im Juli nach den ersten Protestaktionen zwei Impfzentren durch Feuer beschädigt, und auch ApothekerInnen wurden angegriffen.

Wie in anderen Ländern wird dies von einer starken Strömung rechtsgerichteter VerschwörungstheoretikerInnen beeinflusst. Seit Beginn der Covid-Pandemie hat dieses rechte Milieu mit dem Arzt Didier Raoult, Leiter einer Universitätsklinik in Marseille, eine neue Ikone geschaffen. Er behauptete (und tut dies immer noch), dass Chloroquin gegen Covid wirksam sei und überzeugte damit viele französische ÄrztInnen. Heute setzt er diesen Kreuzzug gegen Impfstoffe fort und erscheint vielen als wahrer Vertreter des „Volkes gegen die Elite“. Frankreich ist auch das Land, in dem der gefälschte Dokumentarfilm „Hold Up“ gedreht wurde: ein Stück Fake News, das auf der Idee einer großen Verschwörung aufbaut und Covid mit Bill Gates und dem Davoser Forum in Verbindung bringt, um einen autoritären Staat durchzusetzen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Proteste gegen den Gesundheitspass von rechtsgerichteten reaktionären Parteien, einschließlich offen faschistischer Organisationen, unterstützt, organisiert und oft auch dominiert wurden. In Paris wurden große Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern von Florian Philippot organisiert, der früher dem Rassemblement National von Marine Le Pen angehörte und heute Vorsitzender einer kleinen rechtsextremen Partei, den Patrioten, ist. Andere faschistische oder reaktionäre Gruppen sind ebenfalls aktiv, darunter Action Française, Bordeaux Nationaliste, Les Zouaves, La Ligue Du Midi und Civitas (katholische FundamentalistInnen). Im August waren auf mehreren Demonstrationen antisemitische Plakate zu sehen, auf denen Juden und Jüdinnen in Frankreich und anderswo für die Pandemie verantwortlich gemacht wurden und die den jüngsten Aufruf eines Armeegenerals zu einem Staatsstreich zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung unterstützten.

Die französische Linke

Die Position der meisten französischen linken Parteien und Gewerkschaften ist bestenfalls zweideutig. Alle sind gegen die Zwangsimpfung, und eine gemeinsame Position ist in einer Petition zusammengefasst, die von Jean-Luc Mélenchon und anderen Abgeordneten der Parteien France Insoumise und PCF, aber auch aus Gewerkschaften CGT, SUD sowie der Partei NPA unterzeichnet wurden. Das kurze Dokument prangert die Maßnahmen gegen ArbeiterInnen (wie die Aussetzung des Arbeitsvertrags), die Tatsache, dass PatientInnen ohne den Pass nur in Notfällen in Krankenhäuser eingelassen werden, und die allgemeine Kontrolle, die der Pass einführt, an. Außerdem wird eine generelle Impfung mit massiven Mitteln und Einstellungen für das Gesundheitssystem sowie die Abschaffung von Patenten auf Impfstoffe gefordert.

Diese Forderungen sind zwar richtig, umgehen aber mehrere entscheidende Fragen. Sollen die ArbeiterInnen und AktivistInnen an den Samstagsdemos teilnehmen? Wie soll die Covid-Pandemie bekämpft werden? Gibt es eine absolute Freiheit, den Impfstoff zu wählen oder nicht? Vor allem aber weichen sie der Frage aus: Was ist der Charakter der Bewegung: ist sie fortschrittlich oder reaktionär?

Die Frage, ob man die Demos unterstützen soll, hängt eindeutig von dieser Charakterisierung ab. Die Neue Antikapitalistische Partei, NPA, versuchte, alle zu versöhnen, indem sie im Juli schrieb: „Im Gegensatz zu dem, was sie uns glauben machen wollen, sind die Zehntausenden von Menschen, die sich mobilisiert haben, kein Haufen von schrecklichen Antivax-ReaktionärInnen. Auch wenn es unter ihnen einige Randgruppen der extremen Rechten und VerschwörungstheoretikerInnen gibt, die niemals unsere Verbündeten sein werden, kann die soziale und politische Linke nicht passiv bleiben.“ Ja, aber was sollte dann getan werden? Leider weicht das NPA-Flugblatt dieser Frage aus, indem es erklärt, dass „sie sich den Mobilisierungsinitiativen anschließen würden, wo immer es möglich ist, ihre Politik zu vertreten“.

Während sich in einigen Städten CGT- und SUD-Ortsverbände den Demonstrationen angeschlossen haben, ruft der SUD-Gesundheitssektor dazu auf, sich nur an solchen Mobilisierungen zu beteiligen, die „nichts mit den von Rechtsextremen und VerschwörungstheoretikerInnen initiierten Protesten zu tun haben, die wir bekämpfen“.

Die einzige Gruppe, die von Anfang an auf die „Bewegung“ aufgesprungen ist, ist Révolution Permanente, RP, die Sektion der Fracción Trotskista, die sich kürzlich von der NPA abgespalten hat. RP hat jahrelang die Gefahr der extremen Rechten in Frankreich unterschätzt. Sie hat die Bewegung der Gelbwesten unkritisch unterstützt und das Gleiche mit den Anti-Pass-Demonstrationen getan.

RP räumt ein, dass die teilnehmenden Personen stark gegen Impfungen sind: „Die Bewegung beschränkt sich weiterhin darauf, den Gesundheitspass mit einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Impfstoff anzuprangern“, und weiter: „Auch wenn die Mobilisierung mit ihrer Opposition gegen den Autoritarismus im Gesundheitsbereich eine fortschrittliche Perspektive zum Ausdruck bringt, können wir nicht verbergen, dass die Mehrheit der mobilisierten Personen mehr oder weniger entschieden gegen den Impfstoff ist, oft aufgrund von Zögern, mangelnder Information und totaler Ablehnung der Politik Macrons.“ (rp 17 Juli)

RP weist darauf hin, dass dadurch eine diffuse Idee entsteht, um vor allem die Einheit zu betonen: „Ob man geimpft ist oder nicht, es ist wichtig, gegen den Gesundheitspass zu kämpfen“. Indem sie jedoch darauf bestehen, dass RevolutionärInnen teilnehmen sollten, offenbaren sie einen groben Opportunismus. So loben sie beispielsweise Jérôme Rodriguez, einen der Anführer der Gelbwesten, für seine Slogans „Geimpft oder nicht geimpft, wir sterben vor Hunger“, „Geimpft oder nicht geimpft, wir werden alle wegen der Ökologie sterben“, „Geimpft oder nicht geimpft, um unsere Freiheit wiederzuerlangen, sollten wir Macron und seine gesamte Regierung stürzen, um wieder zu leben.“ (Ebenda). Diese Slogans sind schlichtweg falsch. Sie tragen zur Verwirrung bei, spielen bestenfalls die Hauptfrage der 100-prozentigen Impfung für alle herunter und sind weit davon entfernt, einen progressiven Weg vorzuschlagen.

RP prangert auch die Komplizenschaft und die engen Kontakte zwischen der organisierten ArbeiterInnenbewegung und den FaschistInnen an: „Wir haben zum Beispiel gesehen, wie gewerkschaftlich organisierte Feuerwehrleute der SUD in der Nähe von fundamentalistischen Priestern der Civitas marschiert sind oder wie ein Funktionär der CGT-Ortsgruppe ein Mitglied der RN, das ins Mikrofon spricht, mit seinem Schirm geschützt hat. Wir haben auch gesehen, wie Verschwörungstheoretiker wie Richard Boutry von streikenden Beschäftigten des Gesundheitswesens das Mikrofon angeboten bekamen.“

Die RP besteht jedoch darauf, dass die großen Gewerkschaften in die Bewegung eingreifen sollten, um zu verhindern, dass die FaschistInnen Einfluss auf die ArbeiterInnen ausüben: „Es ist unabdingbar, dass die ArbeiterInnenbewegung eine hegemoniale Politik gegenüber der Mobilisierung des 17. Juli (der ersten Anti-Pass-Demo) entwickelt, an der sich Teile der ArbeiterInnenschaft beteiligen.“ (Ebenda)

Eine ausgewogenere und kritischere Einschätzung wird von der Fraktion L’Etincelle (Der Funken; einer Fraktion innerhalb der NPA) geäußert. Während L’Etincelle die Bewegung der Gelbwesten kritiklos unterstützt hat, ist er in diesem Fall aufgrund seines Workerismus zurückhaltender. In einer aktuellen Bilanz (Convergences Révolutionnaires, cr 8. September) der Proteste im ganzen Land kommen sie zu dem Schluss: „Zwar haben ArbeiterInnen und Angestellte an diesen Demonstrationen teilgenommen, aber sie taten dies als Einzelpersonen, und es hat sich kein wichtiges ArbeiterInnenkontingent gebildet, ob unter einem gewerkschaftlichen Banner oder nicht.“

Zur Frage des Antisemitismus: „Die Leute, die diese [antisemitischen] Plakate tragen, konnten problemlos unter den anderen DemonstrantInnen marschieren. Abgesehen von Ausnahmefällen wurden sie nicht zur Rede gestellt. Das bedeutet nicht, dass die Masse der Menschen antisemitisch ist, sondern dass diese verwerflichen Positionen für sie nicht schockierend waren.“

Und, um zum Schluss zu kommen: „Eine Tatsache ist sicher: keine Protestaktion hat in diesen zwei Monaten eine stark soziale Ausrichtung gehabt.“ „Es ist vor allem ein gesellschafts- und klassenbezogener Herbst, auf den wir zählen sollten, um gegen die Angriffe der Regierung diese beunruhigende Flut von Obskurantismus, die der extremen Rechten hilft, in den Hintergrund zu drängen oder zu marginalisieren.“

Der Charakter der Bewegung

In Anbetracht all dieser Elemente stellt sich die einfache Frage: Welches ist der Charakter der Bewegung selbst? Auch wenn sie einige berechtigte Forderungen stellt (gegen die Entlassung von nicht geimpften Lohnabhängigen), ist es ziemlich offensichtlich, dass es sich um eine Massenbewegung gegen die Impfung handelt. Sie verharmlost die sehr reale Gefahr der Pandemie und lehnt alle Sicherheitsmaßnahmen des Staates ab. Wie die bevorstehende nächste Welle in Frankreich und weltweit zeigt, ist die Gefahr der Pandemie real. In Wirklichkeit wird sie von den bürgerlichen Regierungen heruntergespielt. Alle ihre Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, lediglich die Auswirkungen auf die Unternehmen im Industrie- und Finanzsektor zu begrenzen.

Natürlich haben diese halbherzigen Maßnahmen verständlicherweise Teile der KapitalistInnenklasse verärgert, deren Unternehmen nicht geschützt wurden, wie Restaurants, Kinos, Tourismusbetriebe usw. Vor dem Hintergrund einer Wirtschafts- und Gesundheitskrise, von der die ArbeiterInnenklasse und die Armen am stärksten betroffen sind, spricht die Bewegung zwar berechtigte Ängste und Wut an, aber sie lenkt sie auf ein reaktionäres Ziel.

Die Bewegung selbst trägt keinen zweideutigen Charakter, wie ihn die Gelbwestenbewegung mancherorts aufwies. Sie ist eine reaktionäre kleinbürgerliche Massenbewegung. Selbst wenn sie reale Themen aufgreift oder berechtigte Forderungen erhebt, ändert dies nichts an ihrem grundlegenden Charakter. In der Tat haben die meisten reaktionären populistischen Bewegungen einige reale Missstände für die Massen angesprochen, denn das müssen sie, wenn sie verarmte Teile des KleinbürgerInnentums und sogar Teile der ArbeiterInnenklasse für ihre reaktionären Ziele mobilisieren wollen.

Das „Anti-Vax“-Element der Bewegung ist also kein untergeordneter Aspekt, sondern ihr Kern. Die weite Verbreitung von Verschwörungstheorien und Irrationalismus ist kein Ausreißer in einer ansonsten unterstützenswerten Anti-Regierungs-Bewegung, sondern entspricht ihrem Wesen. Der No-Vax-Aufruf und die damit verbundene Ablehnung oder zumindest Verharmlosung der Gesundheitsgefahr stehen im Zentrum der Bewegung.

Deshalb sollten die Gewerkschaften und die organisierte Linke die Anti-Vax-Protestaktionen nicht unterstützen. Es ist sinnlos, verwirrend und gefährlich zu glauben, dass eine Mobilisierung, die sich zentral auf die reaktionäre Anti-vax-Ideologie stützt, zu einer fortschrittlichen ArbeiterInnenbewegung umorientiert werden kann.

Was ist zu tun?

Stattdessen sollte sich die französische ArbeiterInnenbewegung auf drei Hauptpunkte konzentrieren:

  1. Die Grundlage jedes fortschrittlichen Protests gegen die Regierung sollte die Forderung nach 100 Prozent kostenlosen Impfungen für alle sein. Heute ist dies nicht der Fall, und die Klassenungleichheiten spiegeln sich direkt in den Statistiken wider. Vor dem Sommer hatten sich 72 Prozent der ÄrztInnen, aber nur 59 Prozent des Krankenhauspflegepersonals und 50 Prozent der PflegehelferInnen stechen lassen. Ähnliche Zahlen gelten für ArbeiterInnen und Angestellte. Covid hat die ärmsten Gebiete, die ungelernten und die eingewanderten ArbeiterInnen stark getroffen. Auch in ländlichen Gebieten sind große Teile der Bevölkerung aufgrund von Vorurteilen und fehlenden medizinischen Einrichtungen nicht geimpft. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen und all jene, die von der IT-Lücke zurückgelassen wurden. Die Gewerkschaften sollten fordern, dass die Regierung anstelle einer repressiven Kampagne mobile Impfzentren in diesen Gebieten eröffnet und Pflegepersonal und ÄrztInnen einstellt, um alle diese Bevölkerungsschichten zu erreichen.
  2. Die Gewerkschaften sollten die ArbeiterInnen in separaten Demonstrationen organisieren und sich nicht denen von FaschistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen anschließen. Dies könnte z. B. mit einem Streik im medizinischen Bereich beginnen, aber unter der Woche und nicht am Wochenende, und sich auf die ArbeiterInnenorganisationen stützen. Offensichtlich sollten wir versuchen, die ArbeiterInnen, die von den Samstagsdemonstrationen angezogen wurden, zurückzugewinnen, indem wir sie in eine separate ArbeiterInnenmobilisierung einbinden.
  3. Die Vorstellung, dass die Impfung eine rein individuelle Entscheidung ist, ist abzulehnen und zu bekämpfen. Dies ist eine reaktionäre „libertäre“ Position, die nichts mit den kollektiven Werten und der Solidarität der ArbeiterInnenklasse zu tun hat. In mehreren Sektoren sind die ArbeiterInnen bereits verpflichtet, sich impfen zu lassen, z. B. gegen Hepatitis. Kinder müssen geimpft werden, um in Kindergärten und Schulen aufgenommen zu werden. Durch solche Maßnahmen konnten Krankheiten, die früher tödlich waren, wirksam ausgerottet werden. In Zeiten einer Pandemie kommt die „Freiheit“, sich nicht impfen zu lassen, der Freiheit gleich, das Virus auf andere Menschen zu übertragen und sie damit in Gefahr zu bringen. Jede Entscheidung, die auf einer rein individuellen Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses beruht, ist nichts anderes als ein bürgerlicher „liberaler“ Ansatz im Gesundheitsbereich. Wir lehnen zwar das repressive Arsenal von Macron und seiner Regierung ab, stellen uns aber nicht auf die Seite der ReaktionärInnen, nur weil sie ebenfalls gegen ihn sind.

Covid hat grundlegende Schwächen der französischen Linken enthüllt und ihre tiefe Führungskrise offengelegt. Der Versuch, gegensätzliche Ansätze durch vage und zweideutige Formulierungen in Einklang zu bringen, wie es die NPA getan hat, verwirrt die Probleme nur noch mehr. Der AbenteurerInnentum der RP ist sogar noch gefährlicher. Nur eine klare, klassenbezogene Analyse der grundlegenden Probleme und klassenkämpferische Lösungen dafür können den französischen ArbeiterInnen, aber auch denen in anderen Ländern, im Kampf gegen die bürgerlichen Regierungen, ihre Sparmaßnahmen und ihre regressiven Sozialreformen helfen. Das ist auch der einzige Weg, um der Gefahr faschistischer reaktionärer Ideen und Kräfte zu begegnen, die andernfalls eine breitere Öffentlichkeit und mehr Einfluss gewinnen könnten.




Mali: Nieder mit dem französischen Kolonialismus – Truppen raus!

Marc Lassalle, Infomail 1158, 17. August 2021

In einer Erklärung vom Juni 2021 kündigte Präsident Macron das Ende der französischen Opération Barkhane (nach der Sicheldüne Barchan in der Sahara benannt) in Mali an. Diese Militärintervention wurde 2013 unter dem Namen Serval vom damaligen Präsidenten François Hollande gestartet, angeblich um den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen, die die Hauptstadt Bamako bedrohten. Zum Zeitpunkt ihres Beginns wurde sie von allen französischen Parteien unterstützt, darunter der Front de Gauche (Linksfront), der Kommunistischen Partei und Jean-Luc Mélenchon. Die einzigen nennenswerten Ausnahmen waren die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) und Lutte Ouvrière (LO), die die Aktion aus einer antiimperialistischen Position heraus ablehnten.

Acht Jahre später sieht die Bilanz für den französischen Imperialismus düster aus, aber für die Menschen in Mali ist sie noch schlechter. Trotz der Stationierung von 5.100 SoldatInnen im Land und des Einsatzes eines Arsenals von Hightechwaffen wie Drohnen, Hubschraubern, Raketen, Düsenjägern usw. ist die Sahelzone (das Gebiet südlich der Wüste Sahara) laut Emmanuel Macron zum „Epizentrum des internationalen Terrorismus“ geworden. Die Dschihadisten werden sogar zu einer Bedrohung für andere Länder wie Burkina Faso und streben eine Ausdehnung auf den Senegal oder die Elfenbeinküste an.

Zwei Staatsstreiche innerhalb von neun Monaten haben den Staat Mali noch weiter an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, und auch der Tschad ist destabilisiert. Seit 2012 wurden in der Region 8.000 Menschen, zumeist ZivilistInnen, getötet, 2 Millionen wurden vertrieben und 3,9 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. Die Parallele zum gleichzeitigen Rückzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan und zur dortigen katastrophalen Lage ist offensichtlich. Trotz aller Ankündigungen ist dies jedoch noch lange nicht das Ende der französischen Kolonialherrschaft in der Region, und neue Krisen und Interventionen stehen bevor.

Kolonie

„Frankreich befreit. Frankreich trägt Werte. Es verfolgt keine eigenen Interessen in Mali. Es verteidigt keine wirtschaftlichen oder politischen Pläne. Es dient einfach dem Frieden“, behauptete François Hollande 2013. Leider ist diese Rhetorik nur eine Anhäufung von zynischen Lügen und eine völlige Verfälschung der Wahrheit.

Die Aktionen der AQMI (Al-Qaida im Maghreb) und anderer fundamentalistischer islamistischer Gruppen sind absolut reaktionär, und wir verurteilen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und anderer Grundfreiheiten sowie die Auferlegung theokratischer Maßnahmen. Aber genau wie die imperialistische Besatzung in Afghanistan dienen Demokratie und Frauenrechte nur als ideologisches Feigenblatt. Der wahre Grund für diese Intervention liegt woanders.

Der französische „Dienst an der Freiheit und am Frieden“ begann mit der militärischen Besetzung des Landes im Jahr 1863, woraufhin Mali in Französisch-Westafrika eingegliedert wurde, zunächst als Haut-Sénégal-Niger und dann als Französisch-Sudan. Um die Reis- und Baumwollproduktion zu entwickeln, wurden massiv ZwangsarbeiterInnen eingesetzt, und die Bevölkerung lieferte in beiden Weltkriegen unter der Bezeichnung „tirailleurs“ (Scharfschützen) Hunderttausende als Kanonenfutter für die französische Armee.

Wie in anderen französischen Kolonien war die 1960 erlangte Unabhängigkeit eher formal als real. Ein Staatsstreich im Jahr 1968 brachte einen Diktator, Moussa Traoré, an die Macht, der mit Unterstützung des französischen Staates bis 1991 Präsident blieb. In wirtschaftlicher Hinsicht wird das Big Business vollständig von den französischen multinationalen Unternehmen im Bankensektor (BNP-Paribas), in der Infrastruktur und im Baugewerbe (Bolloré, Bouygues), in der Telekommunikation (Orange) usw. beherrscht, mit einem komfortablen Überschuss von 300 Millionen Euro im Handelsaustausch zugunsten Frankreichs. Wie die meisten anderen Staaten des französischen Kolonialreichs ist Mali in Bezug auf seine Währung vollständig von Frankreich abhängig: Der Franc CFA wird in der Tat in Frankreich gedruckt und streng von der französischen Währungsaufsicht kontrolliert.

Mali ist eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Laut dem Index für menschliche Entwicklung liegt es mit einer Lebenserwartung von 53 Jahren und einer Analphabetenrate von 69 Prozent auf Rang 175 von 187 Ländern. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Nach der Krise der Baumwolle, einst das „weiße Gold“, ist der einzige bekannte Reichtum echtes Gold: Mali ist der drittgrößte afrikanische Produzent, und dies macht zwei Drittel des Wertes seiner Exporte aus, die von kanadischen und südafrikanischen Unternehmen kontrolliert werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die malischen MigrantInnen einen bedeutenden Teil der französischen ArbeiterInnenklasse ausmachen, vor allem im Baugewerbe, und wie alle anderen EinwanderInnen durch die rassistischen diskriminierenden Gesetze in Frankreich besonders unterdrückt werden.

Warum also ist Frankreich so besorgt über ein armes, rückständiges Land mitten in Afrika?

Intervention

Der erste Grund ist natürlich, dass Mali, wie die meisten anderen afrikanischen Länder, vom französischen Imperialismus als gegenwärtige und zukünftige Quelle von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften angesehen wird. Der Norden des Landes ist weitgehend unerforscht, aber neben Gold und Erdöl könnten auch andere Mineralien vorhanden sein. Es gibt auch Pläne, die Sonnenenergie in der Sahara zu nutzen und sie als elektrische Energie nach Europa zu übertragen.

Noch wichtiger für Frankreich ist die große Uranmine von Arlit in Niger, die nur wenige Stunden von der malischen Grenze entfernt liegt. In dieser Mine wird der größte Teil des Urans für französische Reaktoren und natürlich auch für Atomwaffen produziert. Eine stabile und kontrollierte Lage in Nordmali ist für die Fortsetzung der Produktion dieses strategischen Rohstoffs in Arlit unerlässlich.

Die Kontrolle der Lage in Mali ist auch für die Sicherung der Verbindungswege zwischen Zentralafrika und dem Maghreb von entscheidender Bedeutung. Wie zu Zeiten der Karawanen, als der Handel durch die Sahara florierte, werden diese Routen heute stark für den Warenverkehr aller Art genutzt, darunter Zigaretten, Waffen, Drogen, aber auch Menschenhandel. Sie werden auch jedes Jahr von Tausenden von MigrantInnen genutzt, die versuchen, nach Libyen oder Tunesien und dann nach Europa zu gelangen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mali ein wichtiges Glied in der französischen Kolonialherrschaft über die gesamte Region ist und der französische Imperialismus nicht dulden kann, dass das Land zerfällt und den Weg für unkontrollierte bewaffnete Gruppen im Dienste anderer Interessen frei macht. Dies könnte in der Tat die gesamte Region weit über die Sahelzone hinaus destabilisieren.

Nach schnellen Siegen gegen die dschihadistischen Gruppen (AQMI, MUJAO – Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika, Ansar Eddine – HelferInnen der islamischen Religion) zu Beginn der Intervention übergab die französische Armee die Kontrolle über den nördlichen Teil des Landes an eine bewaffnete Tuareg-Gruppe, MNLA (Mouvement National de Libération de l’Azawad; Nationalbewegung für die Befreiung Azawads). Die Dschihadisten erlitten mehrere Niederlagen, breiteten sich aber dennoch in der Region aus und versuchten, sich mit anderen Konflikten zu verbinden, beispielsweise im Zentrum Malis. Die anfängliche Popularität der französischen Intervention verflüchtigte sich nach mehreren Fällen von Morden an der Zivilbevölkerung. Da die staatliche Autorität schwindet, gerät das Land immer mehr unter die Kontrolle bewaffneter Gruppen.

Schwacher Staat

Das Problem ist, dass Mali als Staat seit seiner Gründung von Grund auf schwach war. Wie viele andere Kolonialstaaten war er ein künstliches Ganzes. Der Norden ist eine Wüstenregion, die im Wesentlichen von den Tuareg bevölkert wird, einem Volk ohne Staat, das heute über fünf Länder verstreut ist. Weiter südlich wird die Sahelzone von ViehhirtInnen bewohnt, erst in der Nähe des Niger ist Landwirtschaft möglich. Die Spannungen zwischen den Tuareg und dem malischen Zentralstaat bilden seit Jahrzehnten ein nahezu ständiges Phänomen, das mehrere Aufstände und BürgerInnenkriege nach sich zog.

Zu diesem Flickenteppich kommt noch hinzu, dass der Zentralstaat durch imperialistische Vorherrschaft extrem geschwächt ist. Zwischen 1970 und 1980 hat sich die Verschuldung verdoppelt, wobei Frankreich Hauptkreditgeber war. In den 1990er Jahren setzten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eine harte Politik der Umschuldung (Strukturanpassungspläne) durch, die zu Privatisierungen und Kürzungen im ohnehin spärlichen öffentlichen Sektor, einschließlich der Schulen und der Gesundheitsdienste, führte. In vielen Dörfern gibt es keine Schulen, und die Gesundheitsdienste beschränken sich auf traditionelle Medizin. Kein Wunder, dass sich die malische Armee in einem erschreckenden Zustand befindet. Die Korruption ist weit verbreitet, und die hundert Millionen Euro, die westliche Mächte dort investiert haben, sind in den Händen einer unfähigen bürokratischen Kaste einfach verschwunden.

Auch die internationale Lage stellt eine mächtige Quelle der Destabilisierung dar. Die französisch-britische Intervention in Libyen hat das Regime von Gaddafi schnell gestürzt, aber ein politisches Chaos geschaffen, wo die Kontrolle über das libysche Öl heftig umstritten ist. Der Sturz des Gaddafi-Regimes führte zur Bildung bewaffneter Gruppen in Nordmali: Tuareg-SoldatInnen, die einst zu Gaddafis Armee gehörten, flohen nach Mali, und die riesigen Waffenbestände Libyens wurden in die gesamte Region verkauft. Auf globaler Ebene ist Mali nur ein Spielball in einem neuen Kampf um Afrika, in dem die alten, vom französischen Imperialismus geschaffenen Herrschaftsverhältnisse von anderen Ländern, einschließlich China, bedroht werden.

Ein Grund für die Barkhane-Expedition war also, die französische Vormachtstellung in seinem Hinterhof zu bekräftigen. Frankreich ist wahrscheinlich das einzige Land, das fast nach Belieben Truppen in die Region schicken kann, ohne auch nur den Anschein einer von der UNO sanktionierten internationalen Friedensmission zu erwecken. Und dies praktisch ohne internationalen Protest oder Empörung. Die Szenen, in denen französische FallschirmjägerInnen Timbuktu einnahmen, waren zum einen als Machtdemonstration für andere afrikanische Länder gedacht: „Benehmt euch, oder das Gleiche wird in eurem Land passieren“, und zum anderen, um andere Mächte abzuwehren.

Doch wie Napoleon einst sagte, kann man mit einem Bajonett vieles tun, außer sich darauf zu setzen. Acht Jahre später hegt Frankreich nicht die Absicht, sich weiter an einer nicht enden wollenden Friedensmission zu beteiligen, die sich bereits in einen langsamen Zermürbungskrieg verwandelt. Die Erklärung des Endes der Opération Barkhane ist also nur ein Schachzug, um die Realität eines Strategiewechsels zu verschleiern.

Neue Mission

Frankreich wird 2.000 Truppen in der Region belassen, zusätzlich zu den 4.000 SoldatInnen von der Elfenbeinküste bis nach Dschibuti. Diese Streitkräfte haben seit der Unabhängigkeit bereits 48 Mal in der Region interveniert, fast einmal pro Jahr.

Seit vielen Jahren versucht Frankreich, seine Intervention durch ein internationales Mandat zu decken. Dies dient nicht nur der politischen Absicherung, sondern ermöglicht auch die Ersetzung französischer Truppen durch solche aus anderen Ländern. Die UNO hat eine friedenserhaltende Mission MINUSMA (Mission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation du Mali; multidimensionale, integrierte Mission der Vereinten Nationen für die Stabilisierung Malis) mit Truppen aus anderen afrikanischen Ländern, darunter dem Tschad, geschaffen. Es wurde ein Sondergipfel „G5 Sahel“ mit Mali, Niger, Tschad, Burkina Faso und Mauretanien eingerichtet. Die europäischen Länder haben Barkhane logistisch unterstützt und Mittel für die Ausbildung der malischen Armee bereitgestellt. Dieser Logik folgend hat Frankreich im Grunde einen Deal mit den Tuareg-Kräften im Norden, vor allem mit der MNLA, geschlossen und sie als Stellvertreterin der französischen Armee eingesetzt.

Die Europäische Union wird zunehmend in die politische Intervention im Maghreb und in der Sahelzone hineingezogen, die sie faktisch als ihre Südgrenze betrachtet, und unterstützt den französischen Imperialismus als führende Kraft bei dieser Aufgabe. Im Rahmen der MINUSMA leitet die EU eine Mission zur Ausbildung der malischen Armee und Polizeikräfte. Allein Deutschland hat inzwischen mehr als 1.000 SoldatInnen im Land stationiert, um die französischen imperialistischen Interessen zu unterstützen und seine eigenen zu verfolgen. Mehrere EU-Länder, darunter Frankreich, Schweden, Estland und die Tschechische Republik, sponsern eine neue „Antiterror“-Interventionsgruppe namens Takuba, deren Aktionen sich nicht auf Mali beschränken, sondern die gesamte G5-Sahelzone abdecken sollen.

Die Intervention des französischen Imperialismus oder gemeinsame Missionen mit seinen Verbündeten, sei es unter dem Banner der UNO, der EU oder einer anderen „friedenserhaltenden“ Allianz, können für das malische Volk keine fortschrittliche Lösung bringen.

In der Tat ist das Gegenteil der Fall. Alle imperialistischen Kräfte und ihre Hilfstruppen müssen aus dem Land abgezogen werden. Wenn sie so besorgt um die Menschen in Mali sind, könnten sie ihre Waffen einfach in den Händen von ArbeiterInnen-, Frauen- und demokratischen Organisationen lassen. Nur durch die Selbstorganisation der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, die Bewaffnung des Volkes und die Bildung von ArbeiterInnen-, bäuerlichen und Volksmilizen wird es möglich sein, die reaktionäre Gewalt und die Unterdrückung der Frauen durch fundamentalistische islamische Kräfte, durch die malische Armee und andere Besatzungstruppen zu beenden.

Diese Form der Selbstverteidigung und Selbstorganisation muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf gegen den eisernen Griff, den Frankreich und andere imperialistische Mächte durch Schulden und sogenannte „Umstrukturierungsprogramme“ auf den Kontinent ausüben. Wenn man die soziale Verwüstung des Landes angehen will, müssen die Schulden gestrichen und alle imperialistischen Unternehmen und die korrupte KapitalistInnenklasse des Landes selbst, die seine Reichtümer ausplündert, entschädigungslos enteignet werden. Ebenso müssen die zentralen demokratischen Fragen in Mali und darüber hinaus angepackt werden: das Recht auf nationale Selbstbestimmung für Völker wie die Tuareg, die Verteidigung und Ausweitung der Frauenrechte, Abschaffung der militärischen und bürokratischen Elite, die Landfrage, die sich aufgrund der globalen Erwärmung und der Versteppung des Bodens verschärft hat und wahrscheinlich weiter zuspitzen wird.

All diese Fragen müssen im Kampf gegen die IslamistInnen, die putschistischen Regime und die ImperialistInnen angegangen werden. Um diese zentralen sozialen und demokratischen Fragen und die Zukunft des Landes zu bewältigen, ist der Kampf für eine verfassunggebende Versammlung von entscheidender Bedeutung, um die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Armen in den Städten und auf dem Land, die Frauen, die unterdrückten Nationalitäten, die demokratische Intelligenz und sogar Teile der städtischen Kleinbourgeoisie zu mobilisieren. Angesichts des bonapartistischen Charakters des Regimes in Mali und seines Staates müssten die Wahlen und die Arbeit einer verfassunggebenden Versammlung von Aktionsräten der ArbeiterInnenklasse und der Volksmassen kontrolliert werden, die innerhalb einer solchen Versammlung dafür kämpfen, die Macht in die Hände einer ArbeiterInnen- und Bauern- und Bäuerinnenregierung zu legen, die sich auf diese Räte und eine bewaffnete Volksmiliz stützt.

Um eine solche Perspektive herbeizuführen, muss die ArbeiterInnenklasse die politische Führung in einem solchen revolutionären Kampf übernehmen und die ungelösten demokratischen Fragen mit dem Kampf für eine sozialistische Transformation in Mali und auf dem gesamten Kontinent verbinden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Partei aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt.

Der Rückzug aller imperialistischen Truppen ist der Schlüssel für jede Entwicklung in diese Richtung. Die französischen, deutschen und anderen „friedenserhaltenden“ Truppen haben sich nicht nur als völlig unfähig erwiesen, die Kräfte der Reaktion zu stoppen, sie sind selbst Teil des Problems, da sie systematisch an Gräueltaten beteiligt sind. Mehr noch, es ist ihre koloniale und imperialistische Herrschaft über das Land, die die Massen verarmen lässt und jede echte demokratische oder soziale Entwicklung blockiert, und es sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des französischen Imperialismus und seiner Verbündeten, die sie verteidigen. Die imperialistischen Truppen sind tödliche Feindinnen jeder echten und unabhängigen Bewegung der Volksmassen und insbesondere der ArbeiterInnenklasse, sei es in Mali oder in einem anderen afrikanischen Staat. Deshalb muss die ArbeiterInnenklasse in Frankreich und der EU vorbehaltlos gegen jede Form der imperialistischen Intervention in Mali und auf dem gesamten Kontinent kämpfen.

  • Französische Truppen und alle ihre Verbündeten raus aus Mali und anderen afrikanischen Ländern! Nein zu jeder neuen „friedenserhaltenden“ Mission der UN oder der EU!
  • Nein zur Festung Europa! Öffnet die Grenzen für MigrantInnen! Volle demokratische Rechte in Europa für MigrantInnen und EU-ArbeiterInnen!
  • Streichung der Schulden Malis! Stoppt die Ausplünderung des afrikanischen Kontinents durch die imperialistischen Länder!



Frankreich: Macrons Krieg gegen den „Separatismus“

Kady Tait/Dave Stockton, Infomail 1136, 25. Januar 2021

Am 9. Dezember hielt Frankreichs Premierminister Jean Castex eine Pressekonferenz ab, um die Veröffentlichung eines „Gesetzentwurfs zur Stärkung der republikanischen Werte“ anzukündigen, der angeblich darauf abzielt, den Laizismus (Trennung von Religion und Staat) und die Meinungsfreiheit zu verteidigen, die angeblich von der „ruchlosen Ideologie des radikalen Islamismus“ angegriffen werden.

In der Vorwoche hatte Innenminister Gérald Darmanin ein hartes Durchgreifen gegen 76 Moscheen angekündigt, die beschuldigt werden, „islamistischen Separatismus“ zu fördern. Die Moscheen werden von der Polizei untersucht und diejenigen, die als „Brutstätten des Terrorismus“ gelten, werden unter dem neuen Gesetz, das ursprünglich den Titel „gegen Separatismus“ trug, geschlossen. Darmanin hat sogar gefordert, Halal (nach islamischer Lehre erlaubte)-Lebensmittel aus den Supermärkten zu entfernen, weil sie angeblich antifranzösisch seien.

Frankreich, das mit 5,7 Millionen, das sind 8,8 Prozent der Bevölkerung, die größte muslimische Gemeinschaft Europas beherbergt, war auch Schauplatz einer Reihe blutiger Terroranschläge, die entweder von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen verübt wurden, die von dschihadistischen Terrorgruppen wie ISIS oder al-Qaida und ihren AblegerInnen inspiriert wurden oder mit ihnen in Verbindung standen.

Die Serie begann mit den Morden an 16 Menschen bei der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015. Es folgten die Massenmorde an 130 Menschen und 350 Verletzten in der Konzerthalle Bataclan, im Stade de France und in Bars und Restaurants im Zentrum von Paris am 13. November 2015. Dann kam das Massengemetzel an unschuldigen Menschen, die den Bastille-Tag in Nizza am 14. Juli 2016 feierten, mit 86 Toten.

Das neue Gesetz wurde bereits im Sommer vorbereitet, aber die schreckliche Enthauptung eines Lehrers, Samuel Paty, am 16. Oktober, dicht gefolgt von der Ermordung von drei Menschen in der Kirche Notre Dame in Nizza am 29. Oktober, entfachte nicht nur in der Bevölkerung Gefühle des berechtigten Entsetzens und der Empörung gegen die TäterInnen, sondern heizte auch die Kampagne der Regierung gegen den „Separatismus“ an. Dies wiederum hat die Debatte darüber neu entfacht, was der erste Artikel der französischen Verfassung bedeutet, wenn er die Republik als „unteilbar, laizistisch, demokratisch und sozial“ deklariert.

Schiefe Begründung

Natürlich haben sich die revolutionären SozialistInnen immer gegen jede Form der Ein-Personen-Herrschaft gewandt, sei es eines/r MonarchIn oder eines/r PräsidentIn, und sie haben in ihrem Programm die Forderung nach der Trennung zwischen Staat und Kirche oder jeder anderen religiösen Körperschaft erhoben. Wenn Macron jedoch versucht, sein neues Gesetz mit dem Verweis auf das von 1905 zu rechtfertigen, das die Laïcité, den Laizismus, in der Dritten Republik verankerte, vergleicht er nicht Gleiches mit Gleichem.

Dieses Gesetz hat die zentrale Bastion der Reaktion, die katholische Kirche, ihres Einflusses in Schulen, öffentlichen Ämtern und in der Armee beraubt. Da MuslimInnen in Frankreich über wenig oder gar keine institutionelle Macht verfügen, anders als die katholische Kirche, die immer noch 15 % der Grundschulen und 20 % der weiterführenden Schulen betreibt, stellen sie keine Bedrohung für Demokratie und Freiheit dar. Die Bedrohung für sie geht von einer Regierung und politischen Parteien aus, die Gemeinschaften angreifen, die sich nicht in eine nationale, bürgerliche politische Kultur integrieren wollen oder denen diese Integration faktisch verweigert wird.

Unsere Verteidigung der Rede- und Pressefreiheit bedeutet keine Duldung von Aufstachelung zu Hass oder Gewalt gegen Minderheiten und Einzelpersonen. Es sind keine neuen Gesetze erforderlich, um solches Verhalten zu unterbinden. Was „radikale“ PredigerInnen oder politisch-islamistische Gruppen betrifft, so ist die sicherste Grundlage für die Kontrolle solcher Elemente die Einbeziehung einer Gemeinschaft, deren Mitglieder das volle Recht genießen, ihre Religion auszuüben, und deren Gefühle in einer Gesellschaft respektiert werden, die ihnen und ihren Kindern die gleichen Möglichkeiten wie allen anderen BürgerInnen bietet.

In Wirklichkeit haben das neue Gesetz und sein Inspirator, Präsident Emmanuel Macron, ganz andere Ziele im Sinn: einen „Aufklärungsislam“ mit französischen, säkularen, republikanischen Werten zu schaffen. Dahinter verbirgt sich jedoch ein noch niederer Wunsch: rassistische Stimmen von Marine Le Pen und dem Rassemblement National (ehemals FN) abzuziehen. Schlimmer noch, die von den Medien verbreiteten Reden von Macron und seinen MinisterInnen in den letzten Wochen und Monaten haben zweifellos zu den Angriffen auf Frauen, die den Hidschab (Kopftuch, -schleier) oder Nikab (Gesichtsschleier) tragen, in Paris beigetragen, sowie zu den Schändungen von Moscheen in Montélimar, Bordeaux, Béziers und anderen Städten.

Die Regierung hat auch das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) aufgelöst, indem sie Verbindungen zu „radikalen“ Netzwerken behauptete und es als „Feind der Republik“ bezeichnete. Tatsächlich wurde das CCIF gegründet, um MuslimInnen zu verteidigen, die Angriffen ausgesetzt sind, und wird von linken Kampagnen wie S.O.S Racisme unterstützt. Das Verbot ist lediglich ein Versuch, Kritik am islamophoben Rassismus zu verhindern.

Ein „französischer“ Islam?

Macron verspricht eine „Rückkehr der Republik“ in Gebiete in Frankreichs Städten, aus denen sie, wie er behauptet, ausgeschlossen wurde. Er verspricht Mittel für das Bildungs- und Justizministerium, um „eine republikanische Präsenz in jeder Straße, in jedem Gebäude“ zu gewährleisten.

Das neue Gesetz stellt Moscheen nicht nur unter verstärkte Überwachung und Aufsicht, sondern verlangt auch, dass ihre Imame in Frankreich ausgebildet und zertifiziert werden. Indem es den Fluss ausländischer (hauptsächlich türkischer und saudischer) Finanzierung und Ausbildung drastisch behindert, hat das neue Gesetz sein Ziel erklärt, einen staatlich sanktionierten Islam zu schaffen. Islamische Organisationen, die Gelder vom französischen Staat erhalten, müssen eine „säkulare Charta“ unterzeichnen. Die Gesetzgebung umfasst mehr Mittel für die Hochschulbildung und die Lehre der islamischen Kultur, Zivilisation und Geschichte … aus französischer Sicht.

In einer Rede, die dem neuen Gesetz folgte, nahm Macron am 2. Oktober wiederholt Bezug auf das, was er „Separatismus“ nannte, ein Konzept, das er definierte als, „ein … politisch-religiöses Projekt, das sich durch wiederholte Diskrepanzen mit den Werten der Republik materialisiert, was oft dazu führt, dass … sportliche, kulturelle und kommunale Praktiken entwickelt werden, die als Vorwand für die Lehre von Prinzipien dienen, die nicht mit den Gesetzen der Republik übereinstimmen“.

In letzter Zeit hat dieser Begriff den „Kommunitarismus“ abgelöst, den der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy verwendet hat. Er machte sich berüchtigt, als er als Innenminister zur Zeit der Unruhen 2005 in den Wohnsiedlungen der Außenbezirke sagte, er würde die Polizei als Hochdruckreiniger einsetzen (kärcherisieren), um den „Abschaum“ aus den Banlieues zu entfernen. Sarkozy, der sich auf eine Kandidatur für die Präsidentschaft vorbereitete, spielte die antiimmigrantische Karte aus, um der Herausforderung durch Jean-Marie Le Pens FN den Wind aus den Segeln zu nehmen. Macron, der sich im April 2022 zur Wiederwahl stellt und dessen Umfragewerte ihn bei 26 % gegen Marine Le Pens 25 % sehen, hofft, diesen demagogischen Trick wieder anwenden zu können.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat eine ganze Reihe islamfeindlicher Gesetze und kommunaler Verordnungen, die sich als Verteidigung des Säkularismus tarnen, die Politik vergiftet. Einem Gesetz von 2004, das den Hidschab an staatlichen Schulen verbot, folgte 2010 eines, das das Tragen der vollen Gesichtsverhüllung auf der Straße bannte. Der Senat verbot sogar verschleierten Müttern, mit ihren Kindern auf Klassenfahrten zu gehen.

Ein Maß für die antimuslimische Hysterie, die das Land erfasst hat, zeigte sich, als einige lokale Behörden versuchten, Alternativen ohne Schweinefleisch in Schulkantinen zu verbieten. Im Jahr 2013 richtete der Präsident der Sozialistischen Partei, François Hollande, eine Laizität-Beobachtungsstelle ein, um das Gesetz von 1905 anzuwenden und weiterzuentwickeln. 2016 versuchte die Polizei, Frauen in sogenannten Burkinis an einem Strand in Südfrankreich zu zwingen, diese auszuziehen. Nichts könnte besser kalkuliert sein, um dafür zu sorgen, dass französische MuslimInnen auf radikale PredigerInnen hören, wenn sie behaupten, die französische Gesellschaft sei von Natur aus antimuslimisch.

In einer Gesellschaft, die mit dieser Art von reaktionären Vorurteilen gesättigt ist, überrascht es nicht, dass Macron eine Reihe von pseudoakademischen Rechtfertigungen aufgreift, um den muslimischen Gemeinschaften diese demütigenden Einschränkungen aufzuerlegen, weil sie sich nicht an die Werte der säkularen Republik anpassen.

Macrons Rede entlehnte ihr Hauptthema aus den Werken einer Reihe von Intellektuellen. Ein Paradebeispiel dafür bildet der Historiker und Philosoph Georges Bensoussan. Er schrieb 2002 das Buch „Die verlorenen Territorien der Republik“ und 2017 „Ein unterwürfiges Frankreich: die Stimmen der Ablehnung“ (Une France soumise: Les voix du refus).

In einem Vorwort zu Bensoussans Buch schrieb die prominente Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter, dass „eine zweite Gesellschaft versucht, sich heimtückisch innerhalb unserer Republik durchzusetzen, ihr den Rücken zu kehren, und explizit auf Separatismus und sogar Sezession abzielt“.

Es ist nicht das erste Mal, dass Feministinnen, ob liberal oder „sozialistisch“, ein gefährliches Spiel mit dem Säkularismus und den muslimischen Gemeinschaften treiben. Viele französische Feministinnen unterstützten das staatliche Verbot des Hidschab, weil sie daraus den Schluss zogen, dies sei Teil des Kampfes gegen patriarchale und sexistische islamische Praktiken. Noch einmal Badinter: „Wenn wir Frauen das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Schulen erlauben, dann haben die Republik und die französische Demokratie ihre religiöse Toleranz deutlich gemacht, aber sie haben jede Gleichberechtigung der Geschlechter in unserem Land aufgegeben.“

Natürlich muss die Linke die Frauen in den muslimischen Gemeinschaften im Westen unterstützen, die gegen die Unterdrückung der Geschlechter in ihren Gemeinschaften und ihren Familien kämpfen. Ebenso müssen wir die heldenhaften Kämpfe von Feministinnen und Sozialistinnen, die in muslimischen Ländern wie Afghanistan, Iran, Ägypten, der Türkei, Pakistan oder Saudi-Arabien für die Rechte der Frauen kämpfen, bekannt machen und unterstützen. Wir müssen die Behauptungen von „AntiimperialistInnen“, DrittweltlerInnen und PostmodernistInnen zurückweisen, dass wir damit westliche, rassistische Werte aufzwingen würden. Die Unterstützung der militärischen Interventionen eines imperialistischen Staates und seiner rassistischen Maßnahmen im eigenen Land ist jedoch ein verlogener und reaktionärer Feminismus.

Ganz im Gegenteil zur Befreiung verleiht sie reaktionären PredigerInnen ein falsches MärtyrerInnentum und schürt rassistische Islamophobie in der Mehrheitsbevölkerung. Sie ignoriert auch die Tatsache, dass es muslimische Frauen sind, die oft in vorderster Front Opfer islamfeindlicher Angriffe werden. In jedem Fall können sie nicht gegen ihren Willen von patriarchalen Strukturen „befreit“ werden.

Hier sollten wir uns an die Worte des irischen Marxisten James Connolly aus dem Jahr 1915 über den Kampf der Frauen erinnern: „Niemand ist so geeignet, die Ketten zu sprengen, wie die, die sie tragen, niemand ist so gut ausgestattet, um zu entscheiden, was eine Fessel ist.“

Imperialismus

Frankreich ist nicht nur das Vorbild und der Archetyp der bürgerlichen Revolution. Neben Großbritannien war es von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die erfolgreichste kolonisierende und imperialistische Macht. Es war auch diejenige, die den längsten und wildesten Widerstand gegen den Verlust dieses Imperiums leistete, nicht zuletzt, weil sie ihre ehemaligen SiedlerInnenkolonien, vor allem Algerien, als französisch betrachtete.

Indochina und Algerien hinterließen tiefe Narben im französischen Nationalbewusstsein und, in Form von De Gaulles Fünfter Republik, auch in den staatlichen Institutionen. Diese Geschichte zog, wie die des britischen Empires, ein demographisches Erbe nach sich: Millionen von Menschen, deren familiäres Erbe in diesen Kolonien liegt. Was das Erbe von „afrikanischem Frankreich“ und „französischem Algerien“ anbelangt, so erstreckt sich dieses Erbe auf die dominierende Religion und die Sprachen dieser Gemeinschaften.

Ein weiteres Erbe ist die unverschämte Forderung französischer PolitikerInnen, sowohl der sogenannten Linken als auch der Rechten, dass diese Menschen ihre Kultur nicht ausüben oder bewahren oder ihre Religion öffentlich zum Ausdruck bringen sollen. Wenn sie es doch tun, werden sie des Kommunitarismus oder Separatismus bezichtigt. Aus diesem Grund haben sich französische AkademikerInnen und Präsidenten oft in Anklagen über den „angelsächsischen Multikulturalismus“ ergangen. Kurz gesagt, der französische bürgerliche Säkularismus ist untrennbar mit dem französischen Imperialismus verbunden, der auch keine tote Geschichte verkörpert, sondern eine lebendige, brutale Realität in einem großen Teil Afrikas.

Nicht nur Le Pen spielt auf dieses Thema an, sondern auch die Präsidenten Sarkozy und Macron. Selbst der „sozialistische“ Präsident François Hollande, der zwar bestreitet, dass der Republikanismus eine rivalisierende Religion ist, konnte 2016 sagen: „Was wir brauchen, um gemeinsam erfolgreich zu sein, ist die Schaffung eines Islams von Frankreich“. Ob es nun brutal oder höflich ausgedrückt wird, dies ist eine Forderung nach Zwangsassimilation. Sie wird den gegenteiligen Effekt haben, wie immer, die „natürliche“ Vermischung der Kulturen der Bevölkerungen zur Bereicherung aller zu verlangsamen oder umzukehren.

So beschritt Macron einen ausgetretenen Pfad, als er das Thema eines „Rückzugs der Republik“ in den 1.500 öffentlichen Wohnsiedlungen der inneren Vororte von Paris und anderen französischen Städten mit ihrer Jugend nordafrikanischer und subsaharischer muslimischer Herkunft aufgriff. Er behauptete: „Wir haben unseren eigenen Separatismus in einigen unserer Viertel geschaffen, wo die Versprechen der Republik nicht mehr eingehalten werden. Wir haben Bevölkerungsgruppen mit derselben Herkunft und derselben Religion konzentriert.“

Er beschrieb die dort vorherrschende Kultur als „eine systematische Art und Weise, die Dinge zu organisieren, um gegen die Gesetze der Republik zu verstoßen und eine parallele Ordnung zu schaffen, andere Werte zu etablieren, eine andere Art und Weise zu entwickeln, die Gesellschaft zu organisieren, die zunächst separatistisch ist, aber deren ultimatives Ziel es ist, sie vollständig zu übernehmen.“

Angesichts der französischen Bilanz von Massenmorden und Folter während des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954–62) ist es kaum verwunderlich, dass selbst die Jugendlichen, deren Familien sich vor 50 Jahren in Frankreich niederließen, die Trikolore nicht als Flagge der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sehen, sondern als eine der Armut, des Kolonialismus und der Grausamkeit. Auch war die Brutalität nicht auf Algerien beschränkt. Als AlgerierInnen am 17. Oktober 1961 trotz einer Ausgangssperre in Paris friedlich gegen die französische Unterdrückung demonstrierten, eröffnete die Polizei das Feuer, tötete 300 Menschen und warf ihre Leichen in die Seine. Der berüchtigte Präfekt der Pariser Polizei, der Nazi-Kollaborateur Maurice Papon, wurde nie vor Gericht gestellt, und eine lange Karriere, die auch die Hinrichtung von WiderstandskämpferInnen unter dem Vichy-Regime umfasste, endete 1981 im „ehrenvollen“ Ruhestand.

Auch die Frage des französischen Imperialismus in Afrika gehört nicht der Vergangenheit an. Indem er den islamistischen Radikalismus stigmatisierte, brachte Macron diesen direkt mit den Interessensphären des französischen Staates im Nahen Osten und in Afrika in Verbindung:

„Also überall gibt es eine Krise des Islam, der von diesen radikalen Erscheinungsformen, diesen radikalen Impulsen und dem Wunsch nach einem neu erfundenen Dschihad, der die Zerstörung des Anderen bedeutet, infiziert wird: Das Projekt für ein territoriales Kalifat, das wir in der Levante bekämpft haben, das wir in der Sahelzone bekämpfen, und überall die radikalsten, mehr oder weniger heimtückischen Formen davon.“

Offensichtlich geht es ihm um die Sphären der militärischen Aktivitäten Frankreichs in den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika südlich der Sahara. Etwa 4.500 Militärangehörige koordinieren den Einsatz gegen dschihadistische Gruppen in Mali, Mauretanien, Niger, Burkina Faso und Tschad. Diese ehemaligen französischen Kolonien haben in der Tat nie aufgehört, unter französischer Vormundschaft zu stehen.

Die Linke und der Laizismus

Die französische Linke neigt dazu, sich in den Kulturkampf um Republikanismus und Laizismus zu verstricken, obwohl sie Macrons drakonische Angriffe auf die Bürgerrechte und seinen offensichtlichen Rassismus verurteilt.

Es gibt keine glaubwürdige Bedrohung des Laizismus durch Frankreichs muslimische Bevölkerung, weder durch Hidschab oder Nikab tragende Frauen in Schulen, auf den Straßen oder an den Stränden, noch durch Halal-Essensangebote in Restaurants. Die reale Bedrohung liegt vielmehr im repressiven und intoleranten Vorgehen des Staates und seiner Verbreitung einer staatlichen Zwangsideologie als in einer angstinduzierten Selbstzensur.

Was von Macrons Gesetz und seinem Wettbewerb mit Marine Le Pen um die rassistischen Stimmen angegriffen wird, sind demokratische Rechte, und dazu gehören die religiöser Minderheiten, nicht mutwillig von Antiklerikalen provoziert zu werden.

Die genuin marxistische Position ist, dass Religion eine private Angelegenheit sein sollte, soweit es den Staat betrifft. Dazu gehört sicherlich die Verteidigung der Freiheit der Kritik und der Widerstand gegen staatliche oder kommerzielle Medienzensur, aber sie vermeidet Aktionen gegen oder für eine bestimmte Religion. In diesem Zusammenhang ist es falsch, LehrerInnen zu FrontkämpferInnen in einem Kulturkrieg gegen eine Religion zu machen, selbst unter edlen Losungen wie der Redefreiheit.

Auf jeden Fall ist eine solche Freiheit nie als „absolutes Recht“ verstanden worden (in einem Kino „Feuer!“ zu rufen, rassistische Beleidigungen zu schreien, um eine Menschenmenge gegen MigrantInnen aufzuhetzen). Absolute Redefreiheit würde bedeuten, die Rechte anderer Menschen zu verletzen. Die Aufstachelung zu rassistischen Konflikten ist keineswegs dasselbe wie die Freiheit, eine Religion zu kritisieren (oder den Atheismus oder den Säkularismus, was das betrifft).

Die französische Linke muss eine unabhängige Rolle spielen. Die Aufgabe besteht darin, die muslimischen Jugendlichen und ArbeiterInnen in die französische ArbeiterInnenbewegung einzubinden, und das geht nicht, indem wir uns in die Fahne und Ideologie der Bourgeoisie hüllen. Wenn wir das täten, würden wir uns gegenüber dem Kulturkrieg, der gegen die französischen MuslimInnen geführt wird, auf die falsche Seite der Barrikaden stellen. Echte Toleranz muss auf Verständnis und gemeinsamem Kampf beruhen, anstatt eine Religion zu verspotten und zu verhöhnen, als ob dies sie verbannen würde.

Macrons Strategie besteht darin, einen Teil der muslimischen Bevölkerung zu „republikanisieren“, indem er sie entlang von Klassenlinien spaltet. Wenn der Angriff auf den religiösen Obskurantismus und die Argumente für den Säkularismus nicht von links kommen, auf einer Klassenbasis, werden sie den gegenteiligen Effekt zeitigen.

Die französische Linke muss lernen, dass sie einen aussichtslosen Kampf führen wird, wenn sie sich nicht gegen die Attacken des französischen Staates auf Minderheiten stellt. Diese Angriffe treiben die Menschen der Mehrheitsgesellschaft in die Arme der kleinbürgerlichen und nationalistischen Organisationen, ob diese nun die rassistischen PopulistInnen der RN/FN oder die ausgesprochenen FaschistInnen sind. Unter der muslimischen Minderheit werden sie den „Radikalismus“ und sogar den Dschihad-Terrorismus fördern.

Das Echo auf die Parolen und Forderungen des bürgerlichen Säkularismus ignoriert die reaktionären Zwecke, für die sie benutzt werden. Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und Säkularismus werden leere Abstraktionen bleiben, wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn sie nicht durch Werte der ArbeiterInnenklasse wie Solidarität und kollektives Handeln zur Verteidigung der Unterdrückten untermauert werden. Der eine Weg führt zu Islamophobie, der andere zu einem militanten Klassenkampf gegen das System, das auf rassischer, nationaler und sexuell-geschlechtlicher Unterordnung und der darauf basierenden Förderung aller Arten von Ungleichheit beruht.




Frankreich: Nieder mit der Krankheit des Kapitalismus!

Marc Lassalle, Infomail 1097, 31. März 2020

„Wir befinden
uns im Krieg. Die gesamte Aktion der Regierung und des Parlaments sollte nun
auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden.(…) Wir befinden uns im
Krieg. Die Nation wird ihre Söhne und Töchter unterstützen, die als
medizinische Fachleute in den Städten und in den Krankenhäusern an der Front
sind. Wir sind ihnen die Mittel und den Schutz schuldig“.

Mit martialischen Tönen, die sich vage an den reaktionären Premierminister Clemenceau während des Ersten Weltkriegs anlehnten, appellierte Präsident Macron in den letzten zehn Tagen mehrmals an die französische Nation und kündigte die besonderen Bewegungsbeschränkungen an, um die Epidemie zu stoppen. Doch trotz ihrer Schwere können seine Worte kaum eine Realität verbergen, die sich von seiner Erzählung ganz erheblich unterscheidet.

Regierung

Erstens ist die Kriegsmetapher natürlich eine reine Propagandafiktion. Nein, es ist kein Krieg. Es ist die Pandemie, vor der die WHO und andere SpezialistInnen die Regierungen der Welt seit Jahrzehnten gewarnt haben. Was haben sie getan, um sich darauf vorzubereiten? Schlimmer als nichts.

Monatelang hat
die Regierung die Schwere der Krankheit geleugnet. Bis Ende Februar glaubten
die meisten Menschen den Medien und dachten, es handele sich um kaum mehr als
eine Art Grippe. Als ob sie das noch einmal betonen wollte, bestand die
Regierung darauf, den ersten Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März zu
organisieren. Dies war trotz der sich häufenden Beweise und Empfehlungen völlig
verrückt, da es die Verbreitung des Virus dramatisch steigern würde.

Ein weiterer
Beweis ist das schiere Fehlen von Schutzmasken in Frankreich. Im Jahr 2011 gab
es noch etwa eine Milliarde Masken auf Lager. Dann entschied die Regierung,
dass es zu teuer sei, diesen Bestand zu halten, und gab die Verantwortung
angeblich an lokale Organisationen ab. In der Folge verschwand der Bestand, und
heute müssen sogar ÄrztInnen schutzlos an die „Front“ gehen, ganz zu schweigen
von den ArbeiterInnen in den Geschäften, im Transportsektor usw. All dies wurde
durch eine Nebelwand der Propaganda verdeckt, die behauptete, dass Masken nicht
wirklich so nützlich seien und dass es ausreiche, sich nur die Hände zu waschen.
Heute versucht die französische Regierung jedoch krampfhaft, etwa 100 Millionen
Masken aus China zu kaufen, was kaum für einen Monat ausreichen wird.

Dasselbe gilt
für die Virentests. Während die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, zu
testen, zu testen und abermals zu testen, ist das französische System völlig
überfordert und kann nur etwa 2.000 Tests pro Tag durchführen, während
Deutschland ein Mehrfaches davon absolvieren kann und Südkorea bereits einen
guten Bruchteil der Bevölkerung getestet hat.

Natürlich sind
die ÄrztInnen und das Pflegepersonal empört, denn dies ist nur ein weiteres
Zeichen für die schrecklichen Folgen der neoliberalen Politik, die seit
Jahrzehnten von rechten und linken Regierungen auf diesem Sektor betrieben
wird.

Die Zahl der
Krankenhausbetten, die jetzt so kostbar erscheinen, ging zwischen 1982 und 2013
von 612.898 auf 428.987 zurück, ein Rückgang um 30 Prozent als Folge einer
Reihe von Reformen, die den gesamten Sektor umstrukturierten und nur durch den
Willen zur Reduzierung des Staatshaushalts diktiert wurden. In Paris und in
allen Regionen wurden Krankenhäuser geschlossen, weil sie als „nicht rentabel“
eingestuft wurden. Wo sie doch offen blieben, war dies oft nur das Ergebnis
langer Kämpfe der ArbeiterInnen und der lokalen Bevölkerung.

Seit mehr als
einem Jahr streikt das Personal der Notaufnahmen und fordert die Einstellung
von mehr Krankenpflegekräften und ÄrztInnen sowie Lohnerhöhungen. Tatsächlich
sind die Krankenhäuser bei jeder Grippeepidemie überfordert. Infolgedessen
sieht sich das französische System nun mit der Pandemie konfrontiert, die den
Osten des Landes und die Pariser Region besonders schwer getroffen hat, ohne
die notwendige Schutzausrüstung, entwaffnet und geschwächt durch die Regierung
selbst.

Der öffentliche medizinische Forschungssektor hat den Mangel an Finanzmitteln für die Untersuchung dieser speziellen Art von Virus angeprangert. Der Privatsektor hat sie nie als attraktive Option betrachtet, wahrscheinlich weil solche Krankheiten lange Zeit die  halbkoloniale Welt trafen, die für die Damen und Herren der Pharmakonzerne kaum der Mühe wert waren. Um das Jahr 2000, insbesondere mit dem Aufkommen von SARS, wurde im öffentlichen Sektor eine gewisse Forschung über Behandlungen und Impfungen begonnen. Nach dem Abklingen der Epidemie wurde all dies jedoch aufgrund mangelnder Mittel und des dürftigen Interesses der medizinischen Behörden eingestellt. Da SARS dem Coronavirus ähnlich ist, gingen wertvolle Jahre verloren, um sich auf diese neue Epidemie vorzubereiten.

ArbeiterInnenklasse

Natürlich soll
die Kriegsrhetorik der Regierung in Wirklichkeit nur dazu dienen, abweichende
Stimmen zum Schweigen zu bringen. Oder wie Macron es ausdrückt: „Wenn man sich
auf einen Krieg einlässt, muss man sich ganz und gar engagieren, man muss sich
in Einheit mobilisieren“. Unheilvoller Weise war eine der ersten Aktionen
dieses „Krieges“ eine Flut von 25 Dekreten zur Deregulierung der
ArbeiterInnenrechte: Der Arbeitstag wurde auf 12 Stunden (von 10) erhöht, die
Arbeitswoche kann bis zu 60 Stunden (von 48) betragen, die Ruhezeit wird auf 9
Stunden (gegenüber 11 heute) reduziert, und all dies bis Dezember 2020. Die
klare Absicht besteht darin, die ArbeiterInnen am Ende der „Sperrzeit“
überauszubeuten, damit die Bosse einen Teil ihrer Gewinne zurückerhalten
können. In der Tat werden die massiven Refinanzierungspakete, die die Regierung
den Bossen versprochen hat, und das Programm der Verstaatlichungen enorme
Kosten für die ArbeiterInnenklasse verursachen. Wie 2008 sollen sie die
Hauptlast einer massiven Erhöhung der Staatsverschuldung und der Kürzungen des
Sozialsystems und Einschränkungen der Arbeitsrechte tragen.

Auf Initiative der radikalen Linken (NPA, Nouveau Parti anticapitaliste, SUD, Solidaires Unitaires Démocratiques) analysiert ein interessanter Appell aktiver GewerkschafterInnen und AktivistInnen der sozialen Bewegungen die Situation und kritisiert die Regierung. Er enthält eine Reihe von Forderungen, die wir voll und ganz unterstützen können:

  • die sofortige Einstellung aller Unternehmen, die für das Funktionieren der Gesellschaft nicht unerlässlich sind;
  • eine massive und sofortige Finanzspritze für das Gesundheitssystem;
  • Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie;
  • sofortige und groß angelegte Öffnung von Unterkünften für Obdachlose und die sogenannten Sans-Papiers, die keine offiziellen Dokumente besitzen;
  • Schließung von Zentren für amtlich Internierte;
  • die Befreiung eines Maximums von Gefangenen aus den überfüllten Gefängnissen.

Dieser Appell
schließt jedoch mit einer utopischen Note. „Teilung des Reichtums angesichts
von Covid-19. Die Zeit von Covid sollte nicht eine Zeit der Angst, der
Ausgrenzung und des repressiven Staates sein. Sie sollte im Gegenteil eine Zeit
der Solidarität sein, eine Zeit der Organisation der Gesellschaft selbst, um
unsere eigene Solidarität durchzusetzen und zu verwirklichen. Wir sollten
TrägerInnen von Forderungen, Initiativen zur Kontrolle und Neuorganisation der
Gesellschaft, zur sanitären und sozialen Dringlichkeit sein“.

Gegen all dies
haben der Kapitalismus und sein Staat den Krieg erklärt, und sie werden zum
bösartigsten Widerstand fähig sein. Die ArbeiterInnenklasse sollte nicht von
einem friedlichen Prozess träumen, sondern ihre Waffen des Klassenkampfes
vorbereiten und zu den ernsthaftesten Maßnahmen bereit sein, einschließlich des
Generalstreiks, der Revolte und der Machtergreifung, um ihre Eroberungen zu
verteidigen und ihre eigene Neuordnung der Gesellschaft durchzusetzen.