Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




Somalia: immer schwerere Hungersnot

Dave Stockton, Infomail 1198, 5. September 2022

Somalia sowie Teile Äthiopiens und Nordkenias sind erneut von einer schweren Hungersnot betroffen, die auf die extreme und sich weiter verschärfende Dürre am Horn von Afrika zurückzuführen ist. Es handelt sich bereits um die längste Dürre seit 40 Jahren, da die Regenzeit dreimal hintereinander ausfiel. Nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die überdurchschnittliche Trockenheit in der Region anhält. Zu der Dürre kommt noch das Problem der eskalierenden Preissteigerungen für das Lebensnotwendige hinzu. Nach Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank liegt die Inflation bei Lebensmitteln auf dem Kontinent bei 40 Prozent.

Auswirkungen der Dürre

Subsistenzlandwirt:innen und Viehzüchter:innen haben mehr als drei Millionen ihrer Tiere sterben sehen und waren gezwungen, in behelfsmäßige Vertriebenenlager zu fliehen, die aus dürftigen Zelten und wenigen Einrichtungen bestehen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden seit Januar 2021, als die Dürre begann, mehr als 755.000 Menschen im Landesinneren vertrieben.

Auf die Landwirtschaft entfallen bis zu 60 Prozent des somalischen Bruttoinlandsprodukts, 80 Prozent der Arbeitsplätze und 90 Prozent der Exporte. Das Land und seine bereits verarmte Bevölkerung stehen vor dem absoluten Ruin. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind mindestens 7,1 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen) bereits von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Mai dieses Jahres litten 1,5 Millionen Kinder an Unterernährung, und die Zahl ist nach den sengend heißen Sommermonaten zweifellos noch viel höher. In einigen Regionen wurde bereits eine Hungersnot ausgerufen, aber die Hilfsorganisationen appellieren an die Geberländer, sich nicht zurückzuhalten, bis die Hungersnot für das ganze Land ausgerufen wird.

Das UN-Nahrungsmittelhilfswerk bemüht sich um die Versorgung von 882.000 Menschen, was 131,4 Millionen US-Dollar kosten wird, aber am 4. August waren erst 46 Prozent der Mittel aufgebracht.

Verglichen mit den Milliarden, die die USA und ihre NATO-Verbündeten seit Russlands Einmarsch in der Ukraine für ihr riesiges Rüstungsprogramm ausgeben, ist dies lächerlich gering. Die Situation am Horn von Afrika hat sich durch die Unterbrechung der Getreidelieferungen infolge der Besetzung der Südukraine durch russisches Militär und die Blockade der dortigen Häfen noch verschlimmert. Das erste Schiff unter der Flagge der Vereinten Nationen ist gerade erst in Dschibuti mit 23.000 Tonnen ukrainischem Weizen eingetroffen, der für Äthiopien bestimmt ist, wo der Krieg in Tigray eine von Menschen verursachte Hungersnot verursacht hat. Es werden noch viele weitere Sendungen benötigt werden.

Im Jahr 2011 starb in Somalia eine Viertelmillion Menschen – die Hälfte davon Kinder – in einer Hungersnot, die auf ein ähnliches dreijähriges Ausbleiben der Regenfälle folgte. Weniger als die Hälfte dessen, was die Geberländer für die humanitäre Hilfe zugesagt hatten, wurde tatsächlich ausgezahlt. Eine weitere Hungersnot ereignete sich im Jahr 2017.

Nach Angaben der Vereinten Nationen ist die Zahl der Menschen, die weltweit auf dem Weg in den Hunger sind, in den letzten Jahren von 80 Millionen auf 323 Millionen gestiegen, wobei 49 Millionen Menschen in 43 Ländern von einer Hungersnot bedroht sind.

Folge des Klimawandels

Diese Zunahme der Hungersnöte ist eindeutig eine Folge des Klimawandels. Er betrifft bereits einen riesigen Landstrich in der Sahelzone, dem trockenen Grasland südlich der Sahara, und erstreckt sich bis zum Horn von Afrika, vom Sudan im Norden bis nach Kenia im Süden. Die Wüstenbildung in der Region hat soziale und politische Folgen und führt zu mörderischen Rivalitäten zwischen Nomad:innen, Viehzüchter:innen und Ackerbauern und -bäuerinnen um die knappen Landressourcen. Rebell:innengruppen und staatliche Kräfte tragen mörderische Konflikte in Mali, Burkina Faso, Tschad, Niger, Nigeria und Kamerun aus.

Interventionen ehemaliger Kolonialherr:innen wie der Französ:innen und der Brit:innen, die von den Vereinten Nationen und deutschen „Friedenstruppen“ unterstützt wurden, haben die Lage meist noch verschlimmert. Blutige Bürgerkriege zwischen und innerhalb des Sudan und des Südsudan sowie in jüngster Zeit zwischen Äthiopien und Tigray verschlimmern das Elend der Menschen.

Es ist bezeichnend, dass diese schreckliche Situation in Afrika zur gleichen Zeit auftritt wie das entsetzliche Leid, das die Überschwemmungen in Pakistan verursachen. Aber auch in Nordamerika, Europa und China sind extreme Wetterereignisse im Gange. Kein halbwegs informierter Mensch kann heute ernsthaft die extreme Klimakatastrophe leugnen, mit deren Erscheinungsformen – Dürren, Überschwemmungen, Waldbrände und Hungersnöte – die Welt jetzt konfrontiert ist.

Doch nach den Fiaskos der Klimakonferenzen von Paris und Glasgow mit ihren grandiosen Zielen und Reden haben die reicheren Länder keine ernsthaften Maßnahmen zu deren Umsetzung ergriffen. Es wurden keine Ressourcen für die Länder bereitgestellt, in denen die Katastrophen heute durchschlagen. Im Zuge des Ukrainekrieges und der NATO-Sanktionen kehren sie sogar zu fossilen Brennstoffen zurück.

Die sich abzeichnende Hungersnot in den Ländern am Horn von Afrika unterstreicht die von Aktivist:innen seit langem vorhergesagte Tatsache, dass die Menschen im globalen Süden die ersten Opfer sind, die historisch gesehen die geringste Verantwortung für die Emission von Treibhausgasen durch die Industrialisierung und die Verbrennung fossiler Brennstoffe tragen.

Die Weltpolitik, der Konflikt zwischen den Großmächten und die korrupten, eigennützigen lokalen Eliten, die von ihnen unterstützt oder eingesetzt wurden, machen die Lage noch schlimmer. Somalia selbst leidet seit Jahrzehnten unter dem Bürgerkrieg und den Interventionen der UN-Truppen, Äthiopiens und Kenias sowie unter der Brutalität politisch-islamistischer Kräfte wie al-Shabaab (Harakat al-Shabaab al-Mujahedin, HSM; Bewegung der Mudschahedin-Jugend).

Zu dem Leid, das Afrika seit drei Jahrhunderten durch die Ausbeutung seiner menschlichen und natürlichen Ressourcen durch die Europäer:innen – von den ersten Sklavenhändler:innen bis hin zu den Kolonialist:innen – erfahren hat, kommt nun noch die zunehmende Rivalität zwischen China und dem Westen in der Region hinzu.

Heute ist klar, dass Somalia sofort eine massive Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften benötigt, die sich die reichen imperialistischen Mächte durchaus zu gewähren leisten können. Aber dies wird nur ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde bleiben, wenn darauf nicht ein Programm von Sozialausgaben für Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Infrastrukturen aller Art und – ganz wichtig – Maßnahmen zur Eindämmung und Umkehrung der Umweltzerstörung folgt.

Dies ist die „Wiedergutmachung“, die Afrika verdient, aber sie wird niemals von denen kommen, die den Kontinent in der Vergangenheit beraubt haben und ihn auch heute noch berauben. Die Arbeiter:innenklassen Europas und Nordamerikas müssen die Wiedergutmachung dieses historischen Unrechts in ihre Programme und ihren Kampf um die Macht aufnehmen, damit sie dies in Zusammenarbeit mit der Arbeiter:innenklasse und den Kleinbauern und -bäuerinnen des globalen Südens zu ihrem und unserem gemeinsamen Nutzen umsetzen können.




USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.




Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?

Tobi Hansen, Neue Internationale 229, Juni 2018

Die Linkspartei tagt vom 8.-10. Juni in Leipzig. Im Zentrum der Vordiskussionen stand ihre Haltung zur Migrationspolitik, die offenkundig nicht nur die Rechten und die Regierung, sondern auch die „sozialistische“ Opposition umtreibt. Verschiedene Gruppierungen haben dazu Positionspapiere vorgelegt, beim Parteitag stehen kleinere Anträge zur Abstimmung. Der Antrag des Vorstandes versucht dabei, einiges zu verbinden – gegenüber Wagenknecht & Co. will er sich abgrenzen, der Rest des Textes bleibt aber möglichst schwammig gehalten. Zu dem hauptsächlichen Streitpunkt offene Grenzen heißt es:

„Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen beenden. Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges, faires System der Aufnahme von Geflüchteten und einen Lastenausgleich in Europa. Statt Abschiebung wollen wir Bleiberechte für Menschen und statt Familien auseinanderzureißen, wollen wir sie zusammenführen.“ (Antrag Parteivorstand)

Der Vorstand um Kipping und Riexinger versucht damit, zwei Flügel in der Partei hinter sich zu einen: einerseits die ostdeutschen Landesverbände mit und ohne Regierungsauftrag wie auch andererseits linkere Kreise um anti-rassistische GewerkschafterInnen, marx21 und Mitglieder, die als UnterstützerInnen in der Solidaritätsbewegung mit den Geflüchteten aktiv waren oder sind. So richtig es ist, den sozialchauvinistischen und nationalstaatsfixierten Argumentationen des Wagenknecht-Lagers eine Abfuhr zu erteilen, so entschlossen muss aber auch die bisherige Praxis der Landesregierungen bekämpft werden, an denen die Linkspartei beteiligt ist. Diese setzen seit Jahren die Abschiebungen um und zwar, wie das Beispiel Brandenburg zeigt, mitunter sogar konsequenter als andere Landesregierungen. Was nützen Beschlüsse zu „offenen Grenzen“ und „humanistischer Flüchtlingspolitik“, wenn die Landesregierungen, in denen DIE LINKE vertreten ist, weiter „Seehofer“-Politik umsetzen? Eine solche Politik ist unglaubwürdig und gegenüber den Geflüchteten, als deren Sachwalterin sich die Linke präsentiert, einfach nur zynisch.

Dies mag auch manchen in der Linkspartei unangenehm sein – getan wird freilich nichts. Statt ein konsequentes Ende dieses Doppelspiels zu fordern, drohen Formelkompromisse. Einige VertreterInnen der Landespolitik haben nun, um die Kluft zwischen schönen Worten und repressiven Taten zu verringern, eine Debatte über ein „linkes“ Einwanderungsgesetz angestoßen.

Dieses sieht vor, den Familiennachzug auszubauen. Anstelle von ökonomischer Verwertbarkeit soll das Vorweisen eines „sozialen Bezugspunkts“ und einer „Integrationsperspektive“ als Begründung für das Bleiberecht ausreichen. Sicherlich würde das eine weniger repressive Praxis darstellen als der staatliche Rassismus der Großen Koalition. Aber wie alle Vorschläge eines Einwanderungsgesetzes kommen auch diese nicht um Einschränkungen für die Migration bis hin zu staatlichen Sanktionsmaßnahmen, also Abschiebungen für Menschen, die es nach einem Jahr nicht geschafft haben, einen „Bezugspunkt“ zu finden, herum.

Einwanderungsgesetze haben – dies wird hier wieder einmal deutlich – immer einen grundsätzlich rassistischen Charakter, was immer bestimmte Kategorien zur Selektion beinhaltet, zu deren Umsetzung der bürgerliche Staat legitimiert wird. Eine sozialistische antirassistische Politik sieht eine Forderung nach offenen Grenzen vor allem nach dem Ende der „Festung Europa“ immer als Teil einer weitergehenden revolutionären Politik.

Sozial-chauvinistischer Vorstoß

Ganz anders am rechten Flügel der Linkspartei. Dort wird vielmehr die Forderung nach offenen Grenzen angegriffen. So wird – entgegen jeder realen Entwicklung – munter behauptet, dass auch das „globale Kapital“ offene Grenzen fordere. Diese würden genutzt werden, um die Arbeitskräfte z. B. in der EU, aber natürlich auch weltweit gegeneinander auszuspielen und in Konkurrenz zu setzen. Dabei unterschlagen die „KritikerInnen“ an den offenen Grenzen immer, dass es nirgendwo „offene Grenzen“ gibt, dass jede Einwanderungspolitik des „globalen Kapitals“ immer eine staatlich regulierte sein muss, die sich nach der erwarteten Nützlichkeit und den Bedürfnissen der Kapitalverwertung richtet.

Historisch gesehen hat die marxistische und revolutionäre ArbeiterInnenbewegung genau deswegen alle Einreisebeschränkungen bekämpft, um so zu verhindern, dass MigrantInnen gegen „einheimische“ ArbeiterInnen ausgespielt werden. Sie hat das auch getan, weil die nationalen Grenzen selbst schon die Lohnabhängigen spalten und ihrer Einheit entgegenstehen. Der Klassenkampf ist international, heißt es schon im „Kommunistischen Manifest“. Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, so bedeutet er auch, dass die ArbeiterInnenklasse als eine internationale Klasse, nicht bloß als eine Summe nationaler Gruppen von Lohnabhängigen zu begreifen ist.

Ganz anders nicht nur bei Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, zwei traurigen Gestalten, denen der Sozialchauvinismus des sozialdemokratischen Reformismus und des Stalinismus offenbar zur zweiten Natur geworden ist.

Einige VertreterInnen der SL (Sozialistische Linke) wie MdB Fabio De Masi und Parteivorstandsmitglied Ralf Krämer versuchen, dieser Politik in einem Thesenpapier höhere „strategische“ Weihen zu verleihen und bringen dabei solche Aussagen zustande:

„Keine linke Einwanderungspolitik sollte eine Destabilisierung der Gesellschaft und eine Schwächung der Kampfbedingungen der ArbeiterInnenklasse durch Migration billigend in Kauf nehmen, geschweige denn mutwillig herbeiführen.

Migrationsprozesse sollen die größtmöglichen positiven und geringsten negativen Effekte für alle Beteiligten haben, das Wohl der Menschen in den Herkunftsstaaten, den Zielstaaten und der MigrantInnen ersichtlich befördern und nicht unterminieren. Eine linke Migrationspolitik muss darauf gerichtet sein, mit diesem Spannungsverhältnis produktiv umzugehen.“ (Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik unter Punkt 7)

Hier „lernen“ wir Erstaunliches, die nationalstaatlich begründete „Wagenknecht-Position“ wird ausformuliert. Anscheinend werden die Kampfbedingungen der Klasse dadurch bestimmt, wie viele der Klasse angehören und inwieweit sie unterschiedliche Sprachen sprechen, welche Politik die Klasse gegen das Kapital vertritt, scheint weniger wichtig zu sein. Diese Kampfbedingungen der Klasse hängen nämlich, besonders im Jahr des 200. Geburtstages von Karl Marx, von der Politik ab, die in die Klasse getragen wird. Das allein entscheidet darüber, wie „stark“ oder „schwach“ die Klasse kämpfen kann oder eben nicht. De Masi gehört auch den „Linken“ in der Linkspartei an, die meinten, einen „Brexit“ mit unterstützen zu müssen. Auch bei der EU war ihm der nationale Rahmen wichtiger als der gemeinsame Kampf gegen die kapitalistische EU auf europäischer Ebene.

Hier wird der Arbeitsmigration gleichzeitig viel Abstruses unterstellt. Für wen ist die „Einwanderung“ destabilisierend oder noch schlimmer, wer könnte denn so was „mutwillig herbeiführen? Hier sehen wir das Bewusstsein derjenigen, die am ehesten einer „linken Sammlungsbewegung“ folgen dürften, wenn es denn mittelfristig zum Bruch kommt. Schon 2015/16 hatte Lafontaine (für viele der „Stratege“ im Hintergrund dieses Flügels) dem US- Imperialismus böse Absichten im Nahen und Mittleren Osten unterstellt, aber nicht hauptsächlich gegen die dortigen Völker, sondern gegen die arme EU, welche dann die Geflüchteten aufnehmen müsste – inwieweit Russland auch diese Absichten hegt, wurde nie klar. Das ist aber mit „mutwillig“ gemeint.

Dass Migrationsprozesse die „größtmöglichen positiven Effekte“ haben sollen, ist ein wohlfeiler Wunsch, vor allem wenn anscheinend ausgeblendet wird, warum sich Menschen überhaupt zur Flucht aufmachen. Gleichzeitig wird aber mit unterstellt, dass diese nicht das „Wohl der Menschen“ in den „Zielländern“ unterminieren sollen. Das ist Sozialchauvinismus in reinster Form. Nach der Methode hätten auch die ostdeutschen ArbeitsmigrantInnen Anfang der 1990er Jahre nicht nach Westdeutschland gehen dürfen. Zum einen drohte ihnen nicht der Verlust ihrer Unversehrtheit im Osten, zum anderen wollten sie ja „nur“ ein höheres Einkommen erzielen. Solche Beweggründe sind nicht beliebt bei den Thesenschreibern:

„Unbegrenzte Schutzgewährung für Menschen in Not ist etwas anderes als eine unbegrenzte Einwanderung, die auch all diejenigen einschließen würde, die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen.

Im anderen Fall ist die Migration ein sozio-ökonomisch motivierter Akt, der weder alternativlos ist, noch den letzten Strohhalm darstellt, sondern bei dem eine Wahl unter verschiedenen möglichen Optionen getroffen wird. Hier haben die Aufnahmeländer ein Recht zur Regulierung der Migration.“ (Thesenpapier unter Punkt 2)

Hier wird unklar, ob wir in der gleichen Realität leben wie die Thesenschreiberlein. Nach unserer Ansicht wurde Deutschland 2015 eben nicht von einer Million SoftwareentwicklerInnen überrannt, die seitdem das WLAN lahmlegen, sondern diese Geflüchteten hatten existenzielle Nöte wie Bürgerkrieg, Hunger, Armut als Fluchtgründe. Gerade sog. „Arbeiterversteher“ unter den Autoren wie R. Krämer unterstellen hier Millionen Armutsflüchtlingen, dass sie sich ja etwas aussuchen könnten, dass sie „Optionen“ hätten.

Für Millionen weltweit, die selbst ihre Arbeitskraft aufgrund der kapitalistischen Verhältnisse nicht reproduzieren können, ist dies eine politische Kampfansage, die nicht weit von dem rassistischen Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ entfernt ist.

Hier wird bewusst die sog. „Arbeitsmigration“ den Asylsuchenden gegenübergestellt. Genauso pervers werden oftmals die Entscheidungen des BAMF auch getroffen. Ist jemand in Not, der keine Arbeit findet, der/die aufgrund von politischen, religiösen Gründen sozial diskriminiert wird und die Flucht nach Europa als letztes Mittel sieht, nur um dann dort oftmals in illegaler und ungesicherter Beschäftigung von Abschiebung bedroht zu sein – ist das jetzt Asylsuche oder „freiwillige“ Arbeitsmigration? Es ist zu befürchten, dass R. Krämer die Antwort kennt.

„In der UN-Menschenrechtscharta ist zwar ein universales Auswanderungsrecht verankert, jedoch kein entsprechendes universales Einwanderungsrecht. Ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gibt es also de facto nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Asylrecht und Einwanderungs,recht‘ prinzipiell gleichzusetzen, ist also sachlich, normativ und handlungstheoretisch unbegründet. In letzter Konsequenz würde damit das Asylrecht in seiner politischen und moralischen Geltungskraft geschwächt und durch ein Gesetz zur unbegrenzten Einwanderung entwertet und überflüssig gemacht.“ (Thesenpapier)

Es wird so getan, als ob das Asylrecht verteidigt wird, während man auf das Niveau bürgerlicher Phantasien zurückfällt. Nach diesen Ausführungen brauchen wir eigentlich keine Kämpfe um das Recht auf Bewegungsfreiheit einschließlich der Arbeitsmigration mehr zu führen, da ja schwer absehbar ist, wann dieser Kapitalismus endet. Zum anderen wird auf übelste Weise eine ungebremste Arbeitsmigration für eine de facto Aufhebung des Asylrechts verantwortlich gemacht. Bis dahin genügen Menschenrechtscharta, das Völkerrecht gegen Krieg und die sozialen Absichten des Grundgesetzes völlig – hier wird pure Sozialdemokratie geboten.

Es wäre auch mal wichtig zu klären, ob sozialistische Politik bei dem stehenbleiben soll, was so in „absehbarer“ Zeit umsetzbar ist. Dann können wahrscheinlich auch andere Ziele wie 100.000 neue Pflegekräfte, eine Mindestrente von 1050 Euro oder das Ende der Rüstungsexporte verworfen werden, zumindest wenn man das so angeht, wie die AutorInnen hier sich mit Migration und Flucht beschäftigen.

Sie bleiben brav in den bürgerlichen Kategorien der Einwanderung und der nationalstaatlichen Schutzsphäre. Mit dieser Einstellung sind auch Landesregierungen mit der CDU in Ostdeutschland denkbar. Interessant ist noch, dass einige von denen, die zuvor als „Linke“ in der Partei bekannt waren wie De Masi oder auch Sevim Dagdelen, diese Positionen unterstützen und somit in dieser Frage real rechts vom Vorstand stehen.

In manchen „Online-Diskussionen“ kommt die ganze „Tragik“ dieser Partei, der Basis und sicherlich vielen „ehrlichen“ SozialistInnen zum Ausdruck. Die Wagenknecht-„Fans“ sehen sich als „Linke“ in der Partei ähnlich wie früher die Frontfrau selber. Sie trauen Kipping und speziell den Landesregierungen nicht über den Weg. Diese tun ja nichts für die Hartzis und nichts gegen die existierende Armut in Deutschland, was leider auch stimmt. Bedauerlicherweise kommt dann häufig der Umkehrschluss, dass der Vorstand bzw. seine klare Mehrheit nur deswegen für z. B. offene Grenzen sind, um halt nichts für die armen Deutschen zu tun, und deswegen wird dann jeder neuen populistischen und sozialdemokratischen Fährte von Wagenknecht & Co. gefolgt.

Chauvinismus und Illusion

Es wird die Illusion verbreitet, dass der Nationalstaat den „Sozialstaat“ verteidigen könnte so ähnlich, wie gewisse Kapitalfraktionen „ihren“ Markt vor Konkurrenz schützen wollen. Dabei wird dann anscheinend ignoriert, dass z. B. Hartz IV wie die gesamte Agenda 2010 im nationalen Rahmen eingeführt wurden, um diese dann während der Austeritätspolitik auf ganz Europa auszudehnen. Unser Klassenkampf muss stets dem „Niveau“ der Gegenseite angemessen sein, Rückschritte helfen uns gar nichts. Revolutionärer Internationalismus, wie ihn schon Marx, Engels, Lenin, Liebknecht und Trotzki zur Migrationsfrage äußerten, ist hochaktuell wie die sozialdemokratische Illusion in den Nationalstaat leider auch. Die Gründung der I. Internationale (IAA) war u. a. geradezu eine mustergültige proletarisch-internationalistische Antwort auf die damalige Arbeitsmigration v. a. nach Großbritannien (gewerkschaftliche Organisierung der ArbeitsmigrantInnen statt Abschottung durch den britischen bürgerlichen Nationalstaat; siehe auch die Einlassungen zur irischen Frage wie die Agitation unter ausländischen Bauarbeitern auf der Londoner Weltausstellung!). Die Politik von IAA und obiger „Linker“ trennt fürwahr ein Klassengraben – er fließt zwischen zwischen proletarischem Internationalismus und national-liberaler bürgerlicher „ArbeiterInnen“politik, zwischen Karl Marx und Gustav Noske!

Für die antikapitalistische Linke in der Partei wird es wichtig werden, nicht allein als „Anhängsel“ des Vorstandes gegen diese Positionen zu kämpfen. So gut Stellungnahmen wie die von GewerkschafterInnen mit marx 21 zusammen auch sein mögen (https://www.marx21.de/klassenpolitik-gewerkschafter-gegen-obergrenzen/), so wenig prägen diese die aktuelle Praxis der Partei, auch der AktivistInnen in den Gewerkschaften.

Wenn also die Abstimmungen gegen Wagenknecht & Co. in Leipzig gewonnen werden, was derzeit gesichert zu sein scheint, so muss für die antikapitalistische, sozialistische Linke der Kampf danach weitergehen. Wagenknecht mag sozialchauvinistisch argumentieren, aber die Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen sind der tägliche Beweis für eine sozialdemokratische Praxis mit Abschiebungen, Duldung und Repressionen.

Wenn die antikapitalistische Linke sich danach an den Vorstand kettet, leistet sie gleichzeitig auch der Regierungspolitik der Linkspartei in o. a. Bundesländern Vorschub. So geht kein Bruch mit sozialdemokratischer Politik, so lässt man sich davon vereinnahmen, als „linkes“ aktives Fähnchen für einen durch und durch auf R2G getrimmten Vorstand unter Kipping und Riexinger Schützenhilfe zu leisten, der diese Politik deckt. Diese erfolgt auf der gleichen Seite des oben erwähnten Grabens, auf der auch die De Masis, Dagdelens, Krämers und Wagenknechts stehen.




Libyen: Totgeschwiegenes Leid

Jaqueline Katherina Singh, REVOLUTION-Germany, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Während im Innern der Festung Europa rechte Hetze und Gewalttaten zunehmen, scheinen die Außengrenzen unbezwingbar. Menschen, die vor Hunger, Krieg, Gewalt und Ausbeutung fliehen, lässt man im Mittelmeer ertrinken oder in Massenlagern an der Grenze von Griechenland oder der Türkei ihr Dasein fristen. Damit man sich gar nicht erst mit dem „Problem“ der Flucht herumschlagen muss, wurde in den letzten Jahren viel getan. Kriegsgebiete wie Afghanistan wurden zu sicheren Herkunftsländern erklärt, um jene, die es nach Europa geschafft haben, wieder abschieben zu können. Daneben wurden auf unzähligen Gipfeltreffen und Konferenzen Abkommen geschlossen, die Länder, durch die zentrale Fluchtrouten verlaufen, dazu verpflichteten, die Menschen, die fliehen wollen, gar nicht erst passieren zu lassen. Aktivist_Innen wie von der Organisation Jugend rettet!, die hingegen versuchen, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, oder Leute bei ihrer gefährlichen Flucht unterstützen, werden kriminalisiert.

Zusammengefasst: Man tut viel, um sich nicht mit dem Leid, oftmals durch die EU selbst erzeugt, herumzuschlagen. So wundert es auch nicht, dass es nur bei einem kurzem medialen Aufschrei, der schnell in der Leere verhallte, blieb, als im letzten Jahr an die Öffentlichkeit kam, wie die praktische Umsetzung der „Fluchtverhinderung“ aussieht. Die Rede ist hier von den Gefängnislagern und Sklavenauktionen in Libyen. Das Land selbst steht seit dem Sturz von Diktator Gaddafi unter der Kontrolle von Milizen, unterschiedlichen Warlords und zwei konkurrierenden Regierungen. Doch das hinderte die EU nicht, 2016 die Zusammenarbeit zu erneuern. Schließlich hatte diese bereits Tradition. Laut einem Bericht von Amnesty International gibt es die Kooperation zur Migrationsverhinderung seit den 1990er Jahren zwischen Italien und Libyen, die bis heute beispielsweise in Form von gemeinsamen Patrouillen im Mittelmeer anhält. Aktuell wird diese Küstenwache übrigens von einem Warlord angeführt. Die Europäische Union mischt zwar „erst“ seit 2005 mit, investierte aber bisher dreistellige Millionenbeträge, damit das Land in den Grenzschutz investieren kann. Zusätzlich gibt es Lehrgänge und Unterstützung für den dortigen Polizei- und Militärapparat.

Das alles geschieht im Namen der „Schlepperbekämpfung“. Doch schaut man sich die Situation an, merkt man, dass man eher Schlepper, Sklavenhandel, Folter und Tod finanziert, anstatt diese Übel zu beenden. Denn Menschen, die nach Libyen kommen, sind per se illegal. Aktuell sollen es 700.000 bis 1.000.000 sein. Meist werden sie von Schleppern oder Menschenhändlern mit dem Versprechen eines Arbeitsangebotes gewonnen und kommen oftmals Nigeria, Niger, Bangladesch oder Mali. Einmal in den Fängen solcher Leute, sind sie ihnen komplett ausgeliefert. Sie werden von ihrer Heimat nach Libyen gebracht, viele sterben auf dem Weg oder werden an andere Schlepper oder Milizen verkauft. Bei diesen müssen sie dann die Kosten für ihre Flucht abarbeiten. Für rund 400 Dollar werden Männer als Arbeitskräfte verkauft, Frauen als Sexsklavinnen oder Prostituierte. Geflüchtete, die von der Küstenwache auf der Flucht übers Mittelmeer erwischt werden, landen in Internierungslagern. Die dort erlebte Gewalt ist kaum in angemessene Worte zu fassen. Auf zu wenig Raum, mit maximal einer Mahlzeit am Tag sind sie dann der Willkür der Gefängniswärter ausgesetzt. 2017 veröffentlichte Oxfam einen Bericht, demzufolge 80 % der Befragten schilderten, Gewalt und Misshandlungen erlitten zu haben. Alle weiblichen Befragten gaben , Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein. Viele der Frauen berichteten, dass es keine Rolle spiele, ob sie schwanger seien.

Was ist unsere Perspektive?

Weltweit befinden sich 65,5 Millionen auf der Flucht. Viele davon Frauen und junge Mädchen, die besonders mit sexueller Gewalt zu kämpfen haben. Für diejenigen, die es nach Europa schaffen, hört der Schrecken nicht auf. Je nachdem, wo man landet, hat man es mit Massenlagern, mangelnder Privatsphäre etc. zu tun. Hinzu kommen die steigende Gewalt von Rechten und rassistische Gesetze. Um dagegen zu kämpfen, bedarf es einer antirassistischen Bewegung auf europäischer Ebene. Diese sollte sich gegen die Festung Europa richten und gegen rassistische Asylgesetze, Abschiebe- und Migrationsabkommen stellen sowie für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle eintreten. Daneben muss sie auch für die spezifischeren Forderungen für geflüchtete Frauen einstehen wie den Ausbau und die kostenlose Nutzung von Frauenhäusern, die Möglichkeit, einen Asylantrag unabhängig vom Mann zu stellen, sowie für den Ausbau der medizinischen und physischen Versorgung für Geflüchtete.

Um Grauen wie in Libyen zu beenden, reicht es nicht, darauf zu hoffen, s sich aus dem „gescheiterten Staat“ eine zentrale Regierung entwickelt. Vielmehr verschleiert dies das Problem. Denn auch eine neue bürgerliche Zentralregierung würde Politik im Interesse der EU umsetzen – oder dazu gezwungen werden. Die unmenschliche Behandlung von Geflüchteten würde also weitergehen. Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen wir uns gegen den Imperialismus als Weltsystem stellen. Denn dieser ist verantwortlich für Armut, Kriege, Umweltzerstörung und Unterdrückung.