Gesetze zur Mietenbegrenzung: Von löchrigen Deckeln und zaghaften Bremsen

Lucien Jaros/Jürgen Roth, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Egal ob Mietpreisbremse, Milieuschutz, Wohnraumversorgungsgesetz oder Mietendeckel: Die Mieten in der Hauptstadt sind in den letzten Jahren trotzdem explodiert. Dass die Idee eines Mietendeckels konkrete Formen annahm, war sicher erstmal ein Erfolg, weniger einer sozialen Politik der Regierungsparteien (SPD, Linke, Grüne), sondern des Druckes der MieterInnenbewegung und Projekte wie des Volksbegehrens zur Vergesellschaftung der größten Wohnkonzerne in Berlin (Deutsche Wohnen & Co. Enteignen) auf diese Parteien.

Bevor der jüngst vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kassierte Landesmietendeckel überhaupt in Kraft trat, hatte der Bund im April 2015 durch das landläufig als Mietpreisbremse bezeichnete Mietrechtsnovellierungsgesetz 3 neue Paragraphen (556d, e und f) in das BGB eingefügt.

Mietpreisbremse, Kappungsgrenze, Wohnraumoffensive

Demnach konnten die Landesregierungen bis 2020 „Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten“ für die Dauer von höchstens 5 Jahren festlegen. Dort darf bei Abschluss eines neuen Vertrags der Mietpreis die ortsübliche Vergleichsmiete um max. 10 % übersteigen, falls nicht mit dem/r VormieterIn ein Jahr vor Ende des Mietvertrags eine höhere Miete vereinbart war, die dann die Obergrenze markiert. Die Mietpreisbremse gilt in ca. 300 Gemeinden bzw. Teilen davon, jedoch nicht in allen Bundesländern. MieterInnen müssen gegen eine überhöhte Miete zur Not klagen und eine Senkung beantragen. Oft fehlen ihnen aber schon die Informationen über die Höhe der Vor- oder ortsüblichen Vergleichsmiete. Mehrere Studien belegen, dass die Bremswirkung schwach ist. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten wurde bei 60 bis über 90 % der Neuvermietungen der Richtsatz überschritten. Neubauten (ab Oktober 2014) und Modernisierungen blieben zudem ausgenommen.

Am 1.1.2019 trat ein neues Mietrechtsanpassungsgesetz in Kraft mit geringfügigen Verbesserungen: Die Mietpreisbremse wurde bis 2025 verlängert; VermieterInnen müssen Auskunft geben, wenn die Vergleichsmiete um mehr als 10 % überschritten wird; die Modernisierungsumlage wurde auf 8 % (statt 11 %) pro Jahr gesenkt; nach Modernisierung darf die Miete binnen 6 Jahren um max. 3 Euro/m2 erhöht werden; MieterInnen können auf Antrag zu viel gezahlte Miete zurückfordern; in die ortsübliche Vergleichsmiete fließen die letzten 6 (statt 4) Jahre ein.

Die Bundesländer haben mit der Kappungsgrenze ein weiteres schwaches Mittel in der Hand. Sie können Gebiete benennen, in denen Mieterhöhungen binnen 3 Jahren nicht mehr als 15 % betragen dürfen (das BGB erlaubt 20 %). Auch dieses Instrument wird nur in wenigen Bundesländern angewandt und die Gemeinden dürfen es nicht selbstständig beschließen. Es soll zudem in NRW und Schleswig-Holstein wieder abgeschafft werden. Auch hier müssen MieterInnen Anträge stellen. Darüber hinaus gilt die Kappungsgrenze wie die Mietpreisbremse auch nur für Bestandsmieten und diese müssen schon deutlich unter der Vergleichsmiete liegen, weil diese eh nicht überschritten werden darf.

2018 wiederum startete die Bundesregierung eine Wohnraumoffensive mit den Zielen: Fertigstellung von 1,5 Millionen Wohnungen im Lauf dieser Legislaturperiode; Maßnahmen zur altersgerechten und energetischen Sanierung; neue Sozialwohnungen; Stärkung der MieterInnenrechte. Die Gewerkschaft BAU rechnet mit max. 1,2 Millionen Neubauwohnungen bis Ende 2021. Die Zahlen würden außerdem durch einen statistischen Trick aufgehübscht, weil Baugenehmigungen und unfertige Bauten mitzählten. Mit den in der Legislaturperiode ausgegebenen 5 Milliarden Euro für Baukindergeld, von dem nur EigenheimbesitzerInnen profitieren, könnten eigentlich 115.000 Sozialwohnungen errichtet werden. Sozialverband VdK und BAU beklagen außerdem völlig zu Recht, dass Bauen allein nicht reicht. Die Mieten gingen durch die Decke, während alle 12 Minuten eine Sozialwohnung durch Fristablauf aus der staatlich begrenzten Mietpreisbindung herausfiele (60.000 pro Jahr). Zwischen 2002 und 2019 seien 1,2 Millionen Sozialwohnungen verloren gegangen, also die Hälfte des Bestandes seit Anfang des Jahrtausends.

In Memoriam: Berliner Mietendeckel

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen waren während der Gültigkeit des Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin – vom Volksmund Mietendeckel getauft – seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, durfte höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 hätten die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren dürfen. Das nannte sich dann „atmender“ Mietendeckel.

Kern des Gesetzes war entsprechend eine Tabelle mit Obergrenzen, die sich von Baujahr und Ausstattungsmerkmalen ableiteten und deren Basis der Mietspiegel von 2013 war, als die Mieten schon deutlich anzogen. Die Obergrenzen umfassten dabei lediglich Neuvermietungen in vor 2014 bezugsfertigen Häusern und ließen auch immer noch gewisse Erhöhungen zu. Ein genereller Mietenstopp war der Deckel also nie.

Ausgenommen vom Gesetz waren Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Ein weiteres klaffendes Loch im Deckel stellte das individuelle Antragsverfahren bei zu hoher Miete dar, denn natürlich erfolgte der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen.

Das im Gesetz enthaltene Verbot von Möblierungszuschlägen wurde von manchen VermieterInnen umgangen, indem sie die Einrichtung an das Start-up mbly über eine monatliche Ratenzahlung verkauften, das wiederum einen Vertrag mit dem/r MieterIn über das Mobiliar abschloss. Die Berliner Stadtentwicklungsverwaltung beschloss eine neue Ausführungsverordnung im Februar 2021, die solche Praktiken unterbinden sollte.

Dass die Begrenzung der Modernisierungszulage nichts brachte, zeigte die Praxis Vonovias, als diese z.B. den Ersatz 30 bis 50 Jahre alter Fenster, die ohnehin ausgetauscht werden müssten, also eine nicht umlagefähige Instandhaltung, als Modernisierung mit entsprechendem Aufschlag berechneten.

Was dem Deckel völlig fehlte war, dass Obdachlosigkeit durch Verlust des Wohnraums in Folge von Mietpreissteigerung ausgeschlossen wird. Eine Pflicht, einen Teil der Wohnungen für besonders Bedürftige (Obdachlose, Geflüchtete, sexuell Unterdrückte und Jugendliche) bereitzustellen und leicht zugänglich zu machen, fehlte ebenso.

Vergangenheit

Bei allen Mängeln stellte der Deckel natürlich eine deutliche Verbesserung ggü. den bisherigen und immer noch in Kraft stehenden Bundesregelungen dar und hat eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlassung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

Doch selbst dies ist nun Vergangenheit. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Nichtigkeit des Deckels ging dieser in die Geschichtsbücher über – Deckel auf den Deckel, Klappe zu, die Länder hätten im Mietrecht nichts zu entscheiden.

Und was lernen wir daraus? Dass es fatal ist, den Kampf der MieterInnenbewegung auf rein rechtlicher Ebene zu führen, um Gesetze und Parlamentsbeschlüsse, so wichtig diese in Teilen auch sein mögen. Aber ohne die direkte demokratische Kontrolle über den Wohnraum durch MieterInnen und die ArbeiterInnenklasse selbst, z.B. durch Wohnhauskomitees oder Stadtteilräte wird auch der dichteste Deckel durch Staat und Immobilienkonzerne mit Leichtigkeit vom Topf gehoben…

  • Mietenstopp mit absoluten Obergrenzen statt einen löchrigen Mietensieb!
  • Obergrenzen müssen für alle Mietwohnungsarten gelten (auch für öffentlich geförderte, Wohnheime, Sozialwohnungen, WBS-Mieten)!
  • Mietsenkung auf 30 % des Haushaltseinkommens, wenn diese Schwelle trotz Obergrenze überschritten wird!
  • Kontrolle der Mietpreise und diskriminierungfreie Mietvergabe durch Kontrolle durch unabhängige demokratische Organe der MieterInnen und Gewerkschaften!
  • Verwaltung vergesellschafteten Wohnraums und einer Anstalt des öffentlichen Rechts durch MieterInnenräte und VertreterInnen der Beschäftigten!
  • Anpassung der Löhne an die Mietpreiserhöhungen und steigende Lebenshaltungskosten!



Gegen das Berliner Mietenmonopoly!

Jürgen Roth/Christine Schneider, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Nachdem die erste Stufe in Richtung des geplanten Volksentscheids des Bündnisses (bzw. der Initiative) Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE)  schon im vorletzten Jahr weit mehr als die erforderlichen Unterschriften erreicht hatte mit dem Ziel, der Berliner Senat möge ein Gesetz zur Enteignung der Deutsche Wohnen und anderer großer Immobilienkonzerne mit mind. 3.000 Mietwohnungen beschließen, prüfte der Berliner Senat über Gebühr lang dessen Rechtmäßigkeit. Seit Ende Februar 2021 sammelt das Bündnis die dafür in der zweiten Stufe (Volksbegehren) nötigen 170.000 gültigen Unterschriften.

Erwähnenswert ist, dass DWE auch separate Unterschriftenlisten führt, wo sich UnterstützerInnen eintragen können, die das Ziel des Volksbegehrens teilen, obwohl sie mangels Wohnsitzes in Berlin oder deutschen Passes über keine gültige Stimme verfügen. Völlig berechtigt ist das dahinter stehende Bestreben, die Meinung dieser zahlenmäßig nicht unbedeutenden Gemeinde zu dokumentieren, auch ihr eine Öffentlichkeit zu verleihen.

Wir unterstützen die Unterschriftenkampagne nach besten Kräften und wünschen ihr viel Erfolg. Um nichtsdestotrotz sowohl unsere solidarisch-kritische Haltung zum Kurs des DWE wie auch den Unterschied zum jetzigen Volksbegehren zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick zurück auf die Erfahrungen mit einem früheren Anlauf zum Mietenvolksentscheid werfen.

Volksentscheid

Im Jahr 2015 scheiterte die „Initiative für soziales Wohnen“ mit einem Berliner Mietenvolksentscheid über einen von ihr ausgearbeiteten Entwurf eines Wohnraumversorgungsgesetzes. Dieses hätte zeitgleich mit den Landtagswahlen im September 2016 zur Abstimmung stehen sollen, wurde jedoch juristisch gekippt. Der neue rot-rot-grüne Senat sah sich nun jedoch gezwungen, ein paar Brosamen aus dem gescheiterten Gesetzesentwurf aufzunehmen.

Der Wohnraumversorgungsgesetzentwurf sah vor: eine Umwandlung der Landeswohnungsunternehmen von bestehenden privaten Rechtsformen (AG, GmbH) in Anstalten öffentlichen Rechts (AöR); Senkung der Mieten in den öffentlich geförderten Wohnungsbeständen mittels Richtsätzen; Förderung von Wohnungsneubau, Wohnungsmodernisierung und Wohnungsankauf durch einen staatlichen Fonds zur Zweckbindung und Kontinuität im sozialen Wohnungsbau (Finanzierung der landeseigenen Gesellschaften, Mietkappungen in geförderten Wohnungen).

An der realen Verschärfung und Verschlechterung der Lage in Berlin haben diese halbherzigen Initiativen des Senats jedoch nichts zu verändern vermocht. Im Gegenteil: Die Mieten steigen in der Bundeshauptstadt im Rekordtempo. Die „sozialen Maßnahmen“ der Landesregierung bleiben demgegenüber Makulatur.

Weder die Maßnahmen zur Mietentlastung in bestehenden Sozialwohnungen noch die Einrichtung eines Wohnraumförderfonds eignen sich, das fortlaufende Abschmelzen des Sozialwohnungsbestands aufzufangen. Pro Jahr sollen 5.000 gebaut werden, davon 3.000 von 6.000 Neubauwohnungen bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Jährlich entfallen aber 8.000 aus der Sozialbindung. Die Erhöhung der Mietzahlungsfähigkeit durch Subjektförderung von SozialmieterInnen sichert zugleich unverändert die Renditen der Immobilienwirtschaft, anstatt sie zu beschränken.

Deutsche Wohnen & Co. enteignen!

Das Berliner mietpolitische Bündnis hat sich die Enteignung  der „Deutsche Wohnen & Co.“ (im Folgenden nur noch DW genannt) zum Ziel gesetzt und fordert dazu einen Volksentscheid. Das Bündnis setzt sich bisher aus Einzelpersonen, betroffenen MieterInnen sowie Mitgliedern linker Gruppierungen zusammen. Eine Erweiterung des Bündnisses wird angestrebt.

Es nimmt im Gegensatz zu 2015 die größten Immobilienkonzerne aufs Korn statt der landeseigenen Wohnungsgesellschaften – und damit die größten MietpreistreiberInnen. Ein weiterer Fortschritt besteht darin, dass die Losung der Enteignung wieder populär gemacht werden konnte. Außerdem bildet DWE auch so etwas wie einen Kristallisationspunkt für die bislang nach Kiezen zersplitterte Szene von MieterInneninitiativen. Schließlich muss man ihm zugutehalten, dass es auch eine aktive Rolle in der bundesweiten Vernetzung dieser Initiativen spielt.

Im Unterschied zu 2015 sollte kein eigener Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt werden, sondern der Senat wird aufgefordert, die bundes- wie landesverfassungsrechtlichen Mittel dazu auszuschöpfen. Laut Grundgesetz und Landesverfassung ist eine entschädigungslose Enteignung aber ausgeschlossen. Diese soll jedoch möglichst gering ausfallen. Das Bündnis sah sich aber gezwungen, in diesen sauren Apfel zu beißen, um die Möglichkeiten eines Volksentscheides überhaupt zur Mobilisierung nutzen zu können.

Warum die DW?

Der Konzern ist der größte private Vermieter mit rund 110.000 Wohnungen in Berlin und der zweitgrößte in der BRD. Die DW erzielte im Jahr 2017 einen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro. Zu den größten InvestorInnen zählen das BlackRock-Assetmanagement und der staatliche norwegische Staatspensionsfonds.

Die Summe allein verrät schon, dass dieser große Gewinn und der Druck der AktionärInnen auf dem Rücken der MieterInnen erzielt und ausgetragen werden. Eine der besten Methoden zur Profitmaximierung heißt „energetische Modernisierung“ nach § 559 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Dieser Paragraf besagte, dass 11 % der Modernisierungskosten jährlich auf die Miete draufgeschlagen werden können. Nach 9 Jahren wäre die Modernisierung vom/von der MieterIn abbezahlt, aber die höhere Miete bleibt und das Unternehmen macht mit der Modernisierung zusätzlichen Gewinn. Ab 2019 wurde mit der Bundesmietpreisbremse die Umlage auf 8 % gesenkt und bei energetisch notwendigen Sanierungen in Berlin zur Zeit der Gültigkeit des Mietendeckels der Aufschlag auf 1–1,4 Euro/m2 gekappt. Damit geraten die VermieterInnen lediglich später in die Zusatzgewinnzone.

Ziel des Ganzen soll angeblich sein, dass MieterInnen die Mieterhöhung durch geringere Energiekosten wieder einsparen – was sich in der Praxis nicht beweisen lässt. In vielen Fällen erweist sich die Sanierung gar als schädlich für die Bausubstanz, da sie durch die außen angebrachten Dämmplatten nicht mehr richtig atmen (Schimmelbildung) und sich im Fall der Benutzung von Styropor als Material sogar die Brandgefahr erhöhen kann. Der ganze Spaß wird von der Bundesregierung durch die KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) noch gefördert.

In der Praxis der DW sieht das so aus, dass oft jahrelang notwendige Reparaturen und Sanierungen nicht durchgeführt werden, für die eigentlich der/die VermieterIn aufkommen müsste. Beschwerden von MieterInnen werden ignoriert, auf lange Warteschlangen im Callcenter abgewälzt, oder es wird gar die Schuld an den Reparaturen auf die MieterInnen geschoben. Die notwendigen Reparaturen werden dann im Zuge der „energetischen Modernisierung“ mitgemacht und zu 100 % auf die MieterInnen abgewälzt. Eine weitere Methode der Profitmaximierung besteht darin, den Berliner Mietspiegel juristisch anzugreifen und somit die eigene Vorstellung von zulässigen Mietgrenzen per Gericht durchzusetzen. Ähnliche Machenschaften finden auch bei den nächst größten Konzernen am Berliner Wohnungsmarkt, Vonovia und Akelius, statt.

Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, einen Volksentscheid zur Enteignung der DW durchzuführen und diese in kommunales Eigentum in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts überzuleiten, die ohne Gewinnabsichten und mit besonderem Mieterschutz betrieben werden soll. Diese Enteignung soll über die §§ 14 und 15 des Grundgesetzes und die §§ 23 und 24 der Berliner Landesverfassung erfolgen. Diese beinhalten eine Entschädigungszahlung nach Verfahrenswert. Die Idee des Bündnisses ist es nun, die Entschädigung über den Sachwert laufen zu lassen. Der Beschluss des Volksentscheides soll kein Gesetzesentwurf sein, sondern eine Handlungsanweisung mit Verpflichtungsklausel für den Senat. Neben der Enteignung soll sie Berlin verpflichten, dass es keine privaten WohnungseigentümerInnen mit mehr als 3.000 Wohnungen mehr geben darf.

Im Laufe der Kampagne ließ sich DWE jedoch dazu hinreißen, einen konkreten Gesetzentwurf auszuarbeiten. Das kann als Gradmesser für ein im Erfolgsfall zustande kommendes Landesgesetz durchaus richtig sein. Doch müsste dann das Bündnis der Öffentlichkeit erklären, dass es sich um einen solchen handelt, einen Prüfstein, ein Kontrollinstrument und nicht um eine juristische Hilfestellung für den (zukünftigen) Senat. DWE bleibt hier jedoch algebraisch. Dies passt zu ihrer grundlegend blauäugigen Herangehensweise an die Auswirkung eines Volksentscheids, selbst im Erfolgsfall. Dieser verpflichtet Abgeordnete und Parlament nämlich zu gar nichts. So wurde vor ca. 15 Jahren das Hamburger Hafenkrankenhaus geschlossen, obwohl sich über 75 % im Entscheid dagegen ausgesprochen hatten. Dieser lammfromme Legalismus setzte sich fort in der inhaltlichen Ablehnung unseres Antrags von Anfang 2020, die Entschädigungssumme auf den symbolischen Betrag von 1 Euro zu beziffern. Das war schon ein Zugeständnis, da laut Grundgesetz und Landesverfassung die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung, die wir eigentlich vertreten, formalrechtlich ungültig ist. Die überwältigende Mehrheit lehnte dies als zu niedrig ab. In der Unterschriftsliste hält DWE eine Entschädigungssumme zwischen 7,3 und 13,7 Milliarden Euro für 200.000 Wohnungen für angemessen. 240.000 Wohnungen sollten aber von der Enteignung betroffen sein. Der Senat redet von deutlich höheren ca. 30 Milliarden Euro Entschädigung. Aber die vom Bündnis vorgeschlagene Zahl ist kein Pappenstiel: Pro Wohnung (berechnet auf 240.000) beliefe sie sich auf 31.000–57.000 Euro, pro EinwohnerIn Berlins auf 2.100–3.900 Euro.

Ein Pappenstiel stellte dagegen die Verschleuderung des Bestands öffentlicher Wohnungen in der Hauptstadt zwischen 1989 und 2010 dar: Seit dem Mauerfall wurden mehr als 310.000 Wohnungen durch den Verkauf von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften privatisiert, mehr als die Hälfte der ehemals 585.000 kommunalen Wohnungen, davon 150.000 ab 2002 unter dem rot-roten Senat (SPD/DIE LINKE). So wurde 2004 die GSW mit einem Bestand von 65.000 Wohnungen an ein internationales Konsortium zum Preis von 405 Millionen Euro verkauft, also für 6.230,77 Euro pro Wohnung!!! Wer enteignet(e) hier eigentlich wen?

Volksentscheid:  Realistisch? Illusorisch?

Wie sind die Erfolgsaussichten eines solchen Volksentscheids? Schwer zu sagen. Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht. Die GegnerInnen sind ökonomisch mächtig und politisch einflussreich. Und es wird mit allen Mitteln gearbeitet werden: Einschüchterungen, Verleumdungen, Lächerlich–Machen,  Spaltungsversuche, Lockangebote, juristische Tricksereien usw. werden an der Tagesordnung sein, und die bürgerlichen Medien werden sicherlich „auf Linie“ gebracht  werden.

Schließlich warnen wir wie bei jedem Volksentscheid vor Illusionen in den bürgerlichen Staat. Ergebnisse von Volksentscheiden verpflichten die Regierung und den Staat ja zu nichts.

Aber dem steht ein gemeinsames Interesse hunderttausender Berliner MieterInnen gegenüber: Wohnraum darf keine Ware bzw. Kapitalanlage sein.

Bei allen grundsätzlichen Grenzen und Schwächen von Volksentscheiden hat die Initiative das Potenzial, eine Massenbewegung zu einem der entscheidenden politischen Themen in Berlin und zahlreichen anderen Städten zu entfachen, die außerdem die Wohnungs- mit der Eigentumsfrage direkt verknüpft. Wir unterstützen daher die Initiative und werden uns nach Kräften an ihr beteiligen.

Insbesondere ist es wichtig, die Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Schließlich hat die Miethöhe unmittelbaren Einfluss darauf, was einem/r vom Lohn bleibt, und damit auch auf  den Verlauf von Tarifkämpfen.

Sollte die MieterInnenbewegung sich zu einer organisierten Massenbewegung entwickeln, ergäben sich daraus auch die Mittel zur Kontrolle der Durchsetzung der Volksentscheidsforderung im Falle seiner Annahme. Im Falle seiner Ablehnung hätten wir noch eine Rechnung offen und sollten dann für deren Begleichung sorgen.

Mit Differenzen leben

Nur wenn wir die Kampagne in unserem Selbstverständnis als ein Aktionsbündnis führen, können wir auch mit inneren politischen Differenzen leben. Solche sollen nicht unter den Teppich gekehrt werden, aber sie brauchen das gemeinsame Aktionsziel nicht zu gefährden. Wir, und sicherlich auch andere, lehnen z. B. eine Entschädigung der enteigneten Immobilienkonzerne ab, sehen das aber nicht als Hindernis, die Kampagne mitzutragen.

Auch über die politische Reichweite des Mietenkampfes gibt es sicherlich unterschiedliche Sichtweisen. Während für die einen (z. B. für uns) der Kampf gegen Wohnraum als Kapital oder Ware langfristig nur erfolgreich  sein kann, wenn er ausgeweitet wird auf die Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel der Großunternehmen, sehen andere ihr Ziel mit der Enteignung der Immobilienkonzerne als erreicht an. Darüber darf und muss gestritten werden, wenn wir unser gemeinsames Aktionsziel dabei nicht aus den Augen verlieren: „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“.

Unsere Haltung ist also sowohl solidarisch wie kritisch. Aus der Volksentscheidskampagne heraus streben wir an, eine Massenbewegung für Enteignung und Kontrolle über die Umsetzung des Ergebnisses aufzubauen, die Staat, Parlament und Gerichten grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen soll. Über die begrenzten Mittel einer BürgerInneninitiative in den 3 Stufen des Volksentscheids hinaus muss sich der proletarische Charakter – die überwältigende Mehrzahl der MieterInnen ist ja lohnabhängig – auch in Form der Anwendung von Mitteln des Klassenkampfes ausdrücken: politische Streiks für Enteignung, Lohntarifforderungen bei Mieterhöhungen, Mietpreiskontrollkomitees und MieterInnenvereinigungen für Mietstopps und -boykotte der Erhöhungen.

Nur solche Methoden und Organisationsformen können eine kontrollierende Gegenmacht auf dem Wohnungsmarkt ausüben und schließlich die Enteignung der Immobilienhaie zugunsten der ArbeiterInnenklasse bewerkstelligen, ohne hintenrum wieder aus eigener Tasche für sie aufzukommen. Letztlich hat das jüngste Inkasso des Berliner Mietendeckels, der schärfere Einschnitte in die Mietpreise als die gleichnamige Bremse der Bundesregierung vorsah und trotzdem noch genug Schlupflöcher enthielt, durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, dass DWE über seine Kampagne hinaus gebraucht wird, um den Startschuss zu dessen Wiederinkraftsetzung, Verteidigung zu inszenieren.




Finanzialisierung des Wohnungsmarktes

Veronika Schulz, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Rasante Preissteigerungen am Wohnungsmarkt, stetig wachsende Gewinne privater Immobilienkonzerne, satte Renditen für deren AktionärInnen – seit über einem Jahrzehnt wird auch in Deutschland verstärkt mit der Ware und Kapitalanlage Wohnen spekuliert. Für Millionen MieterInnen bedeutet dieses Monopoly durch steigende Mieten bei stagnierendem oder gar sinkendem Lohnniveau ein Armutsrisiko. Auch Luxussanierung, gezieltes Rausekeln mit Hilfe verschleppter Instandhaltung („Entmietung“) und schlussendlich Zwangsräumung bei Mietschulden, oftmals in die Obdachlosigkeit, sind probate Mittel, um durch die Neuvermietung der auf diese Weise frei gewordenen Wohnungen höhere Einnahmen zu erzielen.

Wie es überhaupt dazu kam, dass Wohnungen als Anlageobjekte für das Finanzkapital in den Fokus rückten, welche politischen Entscheidungen dies nicht nur begünstigt, sondern erst in diesem Ausmaß ermöglicht haben und warum von einer „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarktes gesprochen werden muss, wollen wir hier kurz nachzeichnen.

„Sozialer“ Wohnungsbau = bezahlbares Wohnen für alle?

Westdeutschland, soziale Marktwirtschaft, Wohlstand für alle – glaubt man diesem Dogma, muss auch bezahlbares Wohnen für alle ausdrücklich erwünschtes Staatsziel und süße Realität gewesen sein. Auch in der aktuell angespannten Situation auf dem Mietwohnungsmarkt ist die Forderung nach „mehr“ und „schneller“ gebauten Sozialwohnungen allgegenwärtig, auch von Linkspartei und der Interventionistischen Linken (IL). Der „soziale“ Wohnungsbau war jedoch für die ArbeiterInnenklasse zu keiner Zeit eine Errungenschaft auf Dauer.

Ab den 1950er Jahren wurden zehn Millionen Sozialwohnungen, u. a. auch als Dienstwohnungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst sowie von Staatsbetrieben wie Post und Bahn, gebaut. Auch Unternehmen setzten zu dieser Zeit auf Werkswohnungen. In beiden Fällen, beim Bau von Sozial- wie auch Werkswohnungen, subventionierte der Staat entweder direkt oder durch Verzicht auf Steuereinnahmen indirekt diese Maßnahmen.

Der Bundesgerichtshof hat mehr als einmal geurteilt, dass Immobilienunternehmen eine zeitlich unbegrenzte Sozialbindung selbst bei Vergabe von Krediten oder Bauland durch die öffentliche Hand nicht verpflichtend auferlegt werden darf. Temporäre Sozialbindung ermöglicht für die massenhaft aus selbiger fallenden Wohnungen erst die enormen Anschlussmietpreissteigerungen. Allein zwischen 2016 und 2018 sind pro Jahr knapp 85.000 Wohnungen aus der Preis- und Belegungsbindung gefallen. Alle 6 Minuten wird also eine Wohnung dem „freien Markt“ überlassen. In München sind nicht einmal mehr 10 % der Wohnungen Sozialwohnungen, in Berlin 13 %. Der Anteil der Personen bzw. Haushalte mit Anspruch auf einen Berechtigungsschein für Sozialwohnungen (WBS) liegt in beiden Städten bei um die 50 %. Der sogenannte „soziale“ Wohnungsbau erwies sich bisher also nicht als Lösung auf dem Weg zu ausreichendem und bezahlbarem Wohnraum.

Subvention von Eigentum durch die Hintertür

Gerade im Bereich der Bau- und Wohnungswirtschaft greift der Staat durch eine Vielzahl an Steuervergünstigungen, Abschreibungsmöglichkeiten und Finanzhilfen massiv in das Wirtschaftsgeschehen ein – aus dieser Sicht kann also keine Rede vom „freien Markt“ sein, der der Immobilienlobby bei Mieterhöhungen sonst so heilig ist. Im Jahr 2018 wurde die Immobilienwirtschaft direkt oder indirekt mit etwa 25 Mrd. Euro subventioniert. Abgesehen von der Agrarindustrie ist kaum ein Wirtschaftsbereich dermaßen stark bezuschusst.

Somit spielt der Staat auch beim Bau sogenannter „frei finanzierter“ Wohnungen eine nicht unerhebliche Rolle. Immobilienfirmen leihen sich für Boden und Bau zunächst Geld bei Banken. Durch Vermietung verdienen die Firmen als Eigentümerinnen, zahlen Steuern an den Staat und bedienen zudem die Kredite bei den Banken. Im Gegenzug zur Verschuldung der Firmen gewährt der Staat Steuererleichterungen und Abschreibungsmöglichkeiten und verzichtet somit auf Einnahmen, was auf lange Sicht zugunsten dieser aufgeht, die Banken verdienen allemal gut daran. Zwischen 1980 und 2014 flossen auf diese Weise knapp 100 Mrd. Euro in den Wohnungsbau, davon 80 % für die Bildung von Wohneigentum! Privateigentum wird somit auf Kosten von SteuerzahlerInnen und MieterInnen aufgebaut.

Von der Liberalisierung des Wohnungsmarktes …

Betrachten wir die Situation in den Gebieten der ehemaligen DDR, so waren diese nach der Wiedervereinigung in besonderem Maße von Mietpreissteigerungen betroffen.

In den 1990er Jahren wurden in der DDR mehr als 1,2 Millionen bzw. ein Drittel der ehemals kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungen privatisiert. Das entsprach 20 % des gesamten ostdeutschen Wohnungsbestandes (1). Die DDR hatte seit ihrem Bestehen die Mietpreise auf den Stand von 1936 eingefroren. Die durchschnittliche Mietbelastung lag bei nur drei Prozent des Einkommens. Die Restauration kapitalistischer Eigentumsverhältnisse ebnete den Weg für die Aufhebung der existierenden Mietpreisfestsetzung. Anschließend sorgten politisch verordnete Mietsteigerungen um durchschnittlich (!) 600 % dafür, dass im Osten fortan Mieten auf Westniveau erzielt werden konnten (während die Löhne nie so weit angeglichen wurden). An diesem Beispiel werden die historische Tragweite der vollzogenen Vermögensumverteilung und gewissermaßen auch eine Enteignung der Ostdeutschen deutlich (2).

Für private InvestorInnen bedeutete dieser gänzlich neu zu erschließende Markt paradiesische Zustände für ihre Kapitalanlagen. In der Folge kauften sich in den 1990er Jahren Kapitalbeteiligungsgesellschaften (Private Equity Funds) in großem Stil besonders auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt ein.

Bereits im Laufe der gesamtwirtschaftlichen Welle von Privatisierung und Liberalisierung in den Jahrzehnten seit 1980 überließ der deutsche Staat auch im Westen den Wohnungsbau dem Kapitalmarkt und privaten InvestorInnen. Bundesweit wurde 1990 die Wohnungsgemeinnützigkeit ersatzlos abgeschafft und 2001 die Wohnungsbauförderung faktisch beendet. Hinzu kam die allgemeine Deregulierung der Finanzmärkte, in deren Zug die Koalition aus SPD und Grünen unter Kanzler Schröder zu Beginn des Jahrtausends den Wohnungsmarkt generell für Hedgefonds öffnete. Auch die gesetzlichen Grundlagen sowie Zuständigkeiten wurden in dieser Phase neu geregelt. Bei der Föderalismusreform von 2006 wurde die Wohnraumförderung den Ländern übertragen, wodurch eine vollständige Unterwerfung der Mieten unter Marktmechanismen erfolgte, denn die bisher geltenden Kostenmieten für Sozialwohnungen waren durch Bundesrecht und –gesetzgebung festgelegt, was durch die Neuregelung der Zuständigkeit ausgehebelt wurde. Auch die Mieten für Sozialwohnungen orientieren sich seitdem an den örtlichen Mietspiegeln und somit Marktmieten für Neubauten, was regelmäßige Erhöhungen zulässt.

 … zur Finanzialisierung

Der Begriff „Finanzialisierung“ beschreibt einerseits den Trend zunehmender privater Finanzanlagen im Immobiliensektor, andererseits auch den verstärkten Einfluss des Finanzsektors und seiner Erwartungen auf die Wohnungswirtschaft (3).

Dadurch, dass dauerhaft mehr Wohnungen aus der Sozialbindung fallen, als neue gebaut werden, wird aktuell ein große Anteil an Wohnungen über den „freien Markt“ angeboten und vermietet. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes sind die historisch niedrigen Zinsen, mit denen die Zentralbanken (sowohl die amerikanische Federal Reserve als auch die Europäische Zentralbank) billiges Geld bereitstellen.

Diese Ausgangssituation begünstigt den Renditeboom auch auf dem deutschen Immobilien- und Mietmarkt, den wir seit knapp zehn Jahren erleben. Dabei ist bemerkenswert, dass er hierzulande erst einsetzte und richtig Fahrt aufnahm, als die Immobilienpreise in anderen Ländern fast ins Bodenlose fielen. Die globale Wirtschaftskrise ab 2007/2008 ist Folge der Banken- und Finanzkrise, die durch das Platzen der Blase auf dem spekulativ aufgeblähten US-Immobilienmarkt losgetreten wurde. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation von Kapital. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt. In diesem Zusammenhang ist wieder vermehrt die Rede von „Betongold“, also Immobilien als „sicherer“ Investitionsmöglichkeit.

Die oben erwähnte Niedrigzinspolitik der Zentralbanken ist zwar ebenfalls eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise, fördert ihrerseits aber erst die verstärkten Finanzanlagen im hiesigen Immobilienbereich. Die Systemkrise bildet also den spezifischen Hintergrund für die aberwitzig gestiegenen Immobilienpreise und Mieten.

Finanzindustrielle Wohnungskonzerne statt Wohnungsbaugesellschaften

Bei Investitionen in Immobilien geht es also vorrangig um die Konstruktion global konkurrenzfähiger Finanzanlageprodukte. Diese bilden das Kerngeschäft der neuen finanzindustriellen Wohnungskonzerne wie Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien AG. Neben individueller, privater Kleinvermietung, selbst genutztem Wohneigentum sowie staatlichen, genossenschaftlichen und gemeinnützigen WohnungsversorgerInnen bilden die genannten „großen Vier“ („Big 4“) eines der vier Hauptsegmente des deutschen Wohnungsmarkts.

Es handelt sich bei ihnen nicht um klassische Wohnungsbaugesellschaften. Vielmehr bilden diese neu entstandenen finanzindustriellen Konzerne eine Sonderform privater Wohnungsbauunternehmen, weil bei ihnen die Kalküle der Konstruktion und Vermarktung von Finanzanlageprodukten die wohnungswirtschaftlichen Aktivitäten dominieren. Heute gehören ihnen in Deutschland etwa 1,2 Millionen Wohnungen, davon sind rund 750.000 im Besitz der „Big 4“. Sie weisen markante Überschneidungen im Hinblick auf ihre größten AktionärInnen (z. B. BlackRock) auf und sind zudem intern stark verflochten.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der vier Konzerne ist ihre strategische Ausrichtung auf die untere und mittlere Preiskategorie und deren „Modernisierung“, also Investitionen in den Bestand: „Kredite werden nicht mehr aufgenommen und gewährt, um Finanzierungslücken bei der Produktion oder Erneuerung von Wohnungen zu schließen. Vielmehr werden Wohnungen erworben, um diese mit Zinsen und Dividenden ,belasten’ zu können. Ziel ist nicht mehr die Tilgung der auf den Wohnungen lastenden Kredite, sondern die Bedienung einer im Grunde endlosen Reihe von Schulden durch das Immobilienvermögen. Diese Schulden bestehen nur noch zum Teil bei externen Banken, sondern überwiegend aus Anleihen und Verbriefungen, die von dem Immobilienkonzern selbst als Wertpapiere ausgegeben werden.“ (4)

Dieses Vorgehen kann als betrügerische, ja räuberische Formation bezeichnet werden. Die finanzindustrielle Unterwerfung hat die sofortige, teilweise nur kurzfristige Erzielung eines „Cashflow“ zur systemisch zwanghaften Voraussetzung: Mietsteigerungen („Modernisierung“, Verdrängung von AltmieterInnen, Wohnungsaufteilung, Nachverdichtung), Kostensenkung (Auslagerung und Zentralisierung des Gebäudemanagements sowie Aufbau eigener Instandhaltungsflotten zum Minimaltarif), Standardisierung der Wohnungsverwaltung (z. B. über anonyme Callcenter), transnationale Expansion, freilich nicht zu vergessen Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat in Form von Lobbyismus sind ihre dabei angewandten, teils drastischen Mittel.

Spekulation den Boden entziehen

Dass es dementsprechend nicht vorrangig um langfristige Verwertung von Wohnungsbaukapital in Form von Neubau, sondern um schnelle Rendite und Profit geht, lässt sich leicht durch Zahlen belegen. In Deutschland beruhten 2016 nur 32,4 % der Wohnungsbauaktivitäten auf Neubauten, fast doppelt so viele auf sogenannten Bestandsleistungen. Ein Viertel aller Immobilientransaktionen erfolgte in den sieben größten deutschen Städten (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf). Dabei wohnen dort nur 12 % der deutschen Bevölkerung.

Doch nicht nur in den Metropolen, auch in deren „Speckgürteln“ verschärft sich die Situation. Zusätzlich zu den Mieten für Wohnungen in den Vorstädten haben auch die Bodenpreise massiv angezogen. Seit 2009 bleibt der Quotient aus Kauf- zu Bodenpreis weitgehend konstant. Da die Anzahl der Transaktionen nahezu unverändert blieb, steigen die Baulandpreise in derselben Geschwindigkeit wie die der Gesamtimmobilien. Die Preiszuwächse bei Eigenheim- und Mehrfamilienhäuserbauplätzen sind exorbitant.

Um dies zu unterbinden, bedarf es einer offensiven Bodenpolitik, die Bauland in kommunaler Hand belässt und nur zu bestimmten Konditionen verpachtet. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Frage schon 1967 geurteilt, dass das Allgemeinwohl höher zu gewichten ist als das Eigentumsrecht an Grundstücken: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des Einzelnen vollständig zu überlassen. Eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern.“

Kampfperspektive

Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich allenfalls gegen „spekulative Auswüchse“, also nicht gegen das private Grund- und Immobilieneigentum an sich. Unions-Parteien, FDP und AfD springen den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere bei und fordern noch mehr Privatisierung und einen noch „freieren“ Markt. Die SPD „bremst“ mit leeren Worten und halbherzigen Maßnahmen, die wie die unwirksame Mietpreisbremse noch zusätzlich verwässert werden.

Wie aber das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel ebenfalls zeigt, dürfen wir nicht auf eine institutionell bzw. juristisch verordnete Umkehr in all diesen Fragen hoffen. Der Umgang von Verwaltungen und Gerichten mit Volksentscheiden und Bürgerbegehren hat in der Vergangenheit gezeigt, dass die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte und somit das Dogma eines selbstregelnden Marktes nicht auf dem Rechtsweg abgeschafft und zurückgenommen werden können, da dieser Rechtsweg durch den bürgerlichen Staat führt, der dem Privateigentum verpflichtet ist.

Vielmehr brauchen wir eine Bewegung, die den MieterInnenkampf als Klassenkampf versteht. Und das bedeutet nicht nur die entschädigungslose Enteignung großer Immobilienkonzerne. Es bedeutet in letzter Konsequenz, den Kapitalismus überhaupt als Wurzel exzessiver Profite und Spekulation zu überwinden.

Quellenangaben

(1) Vgl. Wohnungsregulierung zwischen Staatsregulierung und Marktwirtschaft, in: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw): Report Nr. 116/117 (2018), S. 13

(2) Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte 1999: Weissbuch. Enteignung der Ostdeutschen. Unfrieden in Deutschland; Dahn, Daniela 1994: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten? Vom Kampf um die Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern.

(3) Vgl. Internationale Investoren und börsennotierte Anleger auf dem Wohnungsmarkt, in: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw): Report Nr. 116/117 (2018), S. 25

(4) Unger, Knut: Mieterhöhungsmaschinen. Zur Finanzialisierung und Industrialisierung der unternehmerischen Wohnungswirtschaft, in: PROKLA 191, 48. Jahrgang, Nr. 2, Juni 2018, S. 211.




Vonovia übernimmt Deutsche Wohnen – Enteignung bleibt alternativlos

Jürgen Roth, Infomail 1151, 28. Mai 2021

Am Dienstag, den 25. Mai 2021, herrschte bei der Pressekonferenz im Berliner Roten Rathaus eitel Freude. „Gemeinsam nach vorne blicken“ wollten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), sein Parteifreund und Finanzsenator, Matthias Kollatz, und die beiden Konzernchefs, Rolf Buch (Vonovia) und Michael Zahn (DW). Einhellig wünschten sich alle Beteiligten ein „Ende der Konfrontation“.

Neuer Anlauf

Zuvor waren Fusionsversuche der beiden Immobilienkonzerne gescheitert. Diesmal anders als bei vorherigen Angeboten waren sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat der DW in die Pläne einbezogen und begrüßten die Übernahme. Eine Grundsatzvereinbarung ist bereits unterzeichnet. Die Kartellbehörden müssen der Fusion vor Ablauf der Annahmefrist des Übernahmeangebots noch zustimmen. Außerdem gibt es den Vorbehalt einer Mindestannahmequote von 50 % aller ausstehenden DW-Aktien. Zuvor waren Vonovias Übernahmeangebote an der mangelnden Bereitschaft der AktionärInnen gescheitert, ihre Aktien anzubieten.

Vonovia, schon jetzt Nummer eins in Europa, will die Nummer zwei auf dem deutschen Wohnungsmarkt schlucken. Dieser Immobilienelefant käme auf einen Börsenwert von 48 Milliarden Euro und verfügte dann über einen Wohnungsbestand von 570.000 Einheiten. Das Angebot von 18 Mrd. Euro spiegele den „inneren Wert“ von DW wider.

Bundesweit käme der gewachsene Superkonzern auf einen Marktanteil von 2,4 %, seine dann rund 150.000 Wohnungen in der Hauptstadt entsprächen 10 %. Die Genehmigung durchs Bundeskartellamt gilt als Formsache.

Versprechen

Die Mieten im Bestand sollen bis 2024 nur um 1 % steigen, anschließend bis 2026 nur um die Inflationsrate. Da versprechen die Konzernchefs mehr, als nach dem Fall des Mietendeckels die landeseigenen Wohnungsgesellschaften halten, deren Bestandsmieten ab Oktober diesen Jahres um bis zu 2 % jährlich angehoben werden dürfen. Allerdings muss dieses Vorhaben nach Einspruch der Grünen und der Linkspartei am 1. Juni wieder im Senat vorgelegt werden.

Zudem plant die Stadt die weitere Übernahme von 20.000 Wohnungen von Vonovia und DW v. a. in sozialen Brennpunkten am Stadtrand (Falkenhagener Feld im Nordwesten, Thermometersiedlung im Süden), aber auch eine vierstellige Zahl in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Bei Letzteren dürfte es sich v. a. um Bestände am Kottbusser Tor handeln, wo die Initiative Kotti & Co aktiv ist, die mit Fug und Recht als Keimzelle des MieterInnenprotests der vergangenen Jahre in Berlin bezeichnet werden kann. Die Rekommunalisierung war ein Wahlkampfversprechen von Linke, SPD und Grünen aus dem Jahr 2016. Damit würden die städtischen Bestände durch Ankauf in 2021 genauso stark zunehmen wie seit Beginn der Legislaturperiode bis Ende 2020. Doch macht dieser den Verlust durch Privatisierungen ab den 1990er Jahren längst nicht wett. Einen Großteil der Verkäufe haben SPD und DIE LINKE/PDS zu verantworten.

Kollatz machte darauf aufmerksam, dass Basis der Käufe der Mietenertragswert sein müsse, nicht der spekulative Verkehrswert. Dann könnten die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften den Erwerb über Kredite finanzieren, die durch Mieteinnahmen getilgt werden könnten. Somit müssten keine Haushaltsgelder fließen. Nimmt man als Preisbasis die 920 Millionen Euro, die 2019 die landeseigene Gewobag für den Erwerb von 6.000 Wohnungen des Immobilienkonzerns Ado aufgewendet hat, käme der geplante Deal auf ca. 3 Mrd. Euro.

Bis Ende 2023 sollen auch betriebsbedingte Kündigungen der Beschäftigten infolge der Übernahme ausgeschlossen werden.

Einwände

Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahlen 2021, will sich mit Vonovia zusammensetzen, um über Mieterhöhungsstopp, bezahlbaren Neubau und stärker gemeinwohlorientierten Wohnungsmarkt zu reden. Kultursenator und Vizesenatschef Klaus Lederer (Linke) begrüßt die Zugeständnisse der Konzerne, doch diese änderten nichts Grundsätzliches am Geschäftsmodell der börsennotierten Immobilienunternehmen.

Rouzbeh Taheri, einer der SprecherInnen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE), führt die Zugeständnisse auf den Druck des Volksbegehrens zurück. Durch einen Namenswechsel würden sich die BerlinerInnen aber nicht täuschen lassen und das Abkommen als Mogelpackung entlarven. Initiativensprecher Michael Prütz kritisierte, Müller habe sich mit der gemeinsamen Pressekonferenz als „Genosse der Bosse“ präsentiert. Die DWE-Aktivistin Jenny Stupka verwies auf die Vermietungspraktiken Vonovias, insbesondere die überhöhten Nebenkostenabrechnungen durch Tochterfirmen ohne prüffähige Rechnungen.

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes (DMB) nannte die Konzernankündigungen zu Mietpreisbegrenzungen eine „verbale Flucht nach vorn“ angesichts wachsender MieterInnenproteste und klagte eine bundesweite, wirksame, lückenlose Mietpreisbremse ein. Das Geschäftsmodell ändere sich schließlich nicht. Nach umfassenden Modernisierungen unterlägen Neuvertragsmieten keiner Preisregulierung. Die Zusagen, über gesetzliche Vorgaben hinaus Modernisierungskosten auf max. 2 Euro/m2 zu begrenzen, seien Augenwischerei. Bei Ausgangsmieten bis zu 7 Euro/m2, die viele Vonovia-Bestandswohnungen nicht überschritten, stünde diese Deckelung im Gesetz. Somit könne von einer freiwilligen sozialen Wohltat keine Rede sein.

Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, merkt an, dass durch die Refinanzierung des Kaufpreises von 18 Mrd. Euro der Druck auf die Mieten zunähme. Hierin erweist er sich als besserer ökonomischer Realist als die beschwichtigenden Aussagen dazu seitens des Finanzsenators. Der versprochene Zukunfts- und Sozialpakt sei weitgehend „heiße Luft“. Laut Vonovia-Geschäftsbericht lägen die jährlich generierten Mietsteigerungen bei unter 1 %. Durch den großen Anteil am Berliner Wohnungsmarkt würde zudem eine für die Stadtentwicklung problematische Marktmacht herauskristallisiert, zumindest in einzelnen Stadtteilen.

Immobilienbranche sattelt auf, SPD hält die Steigbügel

„Bauen, kaufen, deckeln“, so lautet der SPD-Dreiklang. Diesen Akkord stimmen jetzt auch die Chefs der Branchenriesen an und gerieren sich selbstgefällig. Ein gutes Signal an die BerlinerInnen und an „die Politik“ für eine andere Art der Zusammenarbeit sei das.

Doch dieser Musikantenstadel wird von in die Enge gedrängten AkteurInnen inszeniert. Offenbar hat das DWE-Volksbegehren Wirkung gezeigt, so dass DW unter den Rock des Vonovia-Kolosses flüchten und ein politisch günstiges Geschäft abwickeln will. Gleichwohl ist es übertrieben, damit zu prahlen, man habe „einen Dax-Konzern in die Knie gezwungen“ (Taheri). Schließlich stellt die Übernahme von DW durch Vonovia vor allem eine weitere Stärkung des größten Players auf dem Immobilienmarkt dar und eine dementsprechende weitere Konzentration des Kapitals in einer Hand.

Die Schönrednerin des Deals, die gute, alte Tante SPD, dümpelt derweil tief im Umfragekeller. Ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den MieterInnen haben gelitten. Statt den vom Bundesverfassungsgericht abgeschafften Mietendeckel zu verteidigen, kam sie im Einklang mit ihren Koalitionspartnerinnen bisher nicht darüber hinaus, einen Ausgleichsfonds für Mietnachzahlungen infolge des Urteils zu versprechen und auf eine wirksamere Bundesmietpreisbremse zu vertrösten. Als weiterer Trumpf reichen ihr vage soziale Versprechen der Vonovia- und DW-Chefs von Mietpreisstopp, Verkauf von 20.000 Wohneinheiten und, jetzt auch ernsthaft in den Neubau einzusteigen. Dieser als „Sozialpakt“ verkaufte Schmusekurs, das Einläuten eines Endes der bisherigen Konfrontation sollten die MieterInnen nicht täuschen. De facto verbrämt die SPD ihre Zustimmung zur Bildung eines riesigen Betongoldkolosses und damit die Herausbildung eines Megamonopols mit immensem Druck auf den Mietwohnungssektor als Wohltat für die Massen. Das tapfere Sozialschneiderlein ist bei diesem Geschäft aber nur der nützliche Idiot, ein Steigbügelhalter für noch größere Konzernmacht. Sozialwohnungen mit Instandhaltungsrückstand werden an das Land verkauft. Mietzusagen gelten nicht für Neuvermietungen. Dafür soll der Kampf für mehr Gemeinwohlorientierung aufhören? Das ist nicht sozial, sondern Verrat!

  • Kein Vertrauen in die Allianz Vonovia/DW und SPD! Unterschreibt fürs Volksbegehren! Für entschädigungslose Enteignung der Großkonzerne mit über 3.000 Wohnungen beim Volksentscheid! Bildet Mietkontrollkomitees für Mietpreisstopp und Boykott der Mieterhöhungen/-nachzahlungen! Für einen bundesweiten Mietendeckel nach Berliner Vorbild, das es zu verteidigen gilt!



Wohnst du noch oder übersiedelst du schon?

Jürgen Roth/Martin Suchanek, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Programmatische Schlüsselfragen zur Wohnungsfrage

Wohnst Du noch oder übersiedelst Du schon? Für Millionen Menschen wird die Wohnungsfrage zunehmend zu einer des Überlebens.

Durchschnittlich betrugen die Wohnungskosten (Miete, Wasser, Heizung, Versicherungen etc.) Ende 2019 25,9 % der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland. Bei der sog. armutsgefährdeten Bevölkerung betrug ihr Anteil sogar 49 % – und das vor Rezession und Corona! In den städtischen Zentren ist der Anteil, sofern Menschen mit geringen oder mittleren Einkommen dort überhaupt noch wohnen, noch höher. Eine gigantische Verdrängung findet, wie wir in dieser Broschüre dargelegt haben, statt. Private InvestorInnen, Finanzkapital, GrundbesitzerInnen bereichern sich an der Masse der lohnabhängigen MieterInnen, die zugleich angesichts von Kurzarbeit, stagnierenden Löhnen, viel zu geringen Renten und Sozialleistungen noch mehr vor die Alternative Verarmung oder Umzug mit etwas weniger Verarmung gestellt werden.

Als Antwort darauf entwickelt sich seit Jahren eine MieterInnenbewegung, deren größte und zur Zeit wichtigste die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen darstellt.

Damit die Bewegung weiter wächst, an Dynamik und Schlagkraft gewinnt, gilt es die Erfahrungen aus den einzelnen Städten und Regionen auszutauschen und zu bündeln sowie die verschiedenen Bündnisse, Initiativen, Kampagnen zu einer bundesweit koordinierten Bewegung zusammenzuführen. Dazu braucht es eine organisierte, gemeinsame Diskussion und auch einen Aktionsplan.

Zugleich müssen in diesem Zuge aber auch grundlegende, in der Bewegung durchaus umstrittene programmatische und perspektivische Fragen diskutiert und geklärt werden, insbesondere wenn die Wohnungsfrage als Teil des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus begriffen werden soll und nicht nur als Forderung nach einem Ende der „spekulativen Auswüchse“ der Marktwirtschaft.

Daher wollen wir im abschließenden Beitrag dieser Broschüre einige programmatische Grundfragen einer antikapitalistischen und revolutionären Politik in der Wohnungsfrage zur Diskussion stellen.

Ein Aktionsprogramm zur Wohnungsfrage muss dabei in der aktuellen Lage an den unmittelbaren und zentralen Problemen der MieterInnen anknüpfen. Daher werden wir uns im Folgenden mit sechs, miteinander verbundenen Themen beschäftigten.

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt

3. Programm für den Neubau von Sozialwohnungen und günstigen Wohnraum für die Masse der Lohnabhängigen

4. Kampf gegen Armut, für Mindestlohn und Anpassung der Löhne an die Steigerung der Mietpreise und anderer Lebenshaltungskosten

5. Enteignung von Grund und Boden, der privaten Immobilienkonzerne und des Wohnungsbaukapitals

6. Kontrolle durch MieterInnen und die lohnabhängige Bevölkerung

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe

Angesichts der eklatanten Mietpreissteigerungen braucht die Dringlichkeit dieser Frage wohl nicht weiter betont zu werden. Grundsätzlich unterstützen wir jede Maßnahme, die zu einer Beschränkung der Mieten führt, mag sie auch für sich genommen unzulänglich und zu gering sein.

Wie die Aufhebung des Berliner Mietendeckels durch das Verfassungsgericht verdeutlicht hat, können wir uns auf die bürgerliche Justiz und Gesetzgebungsverfahren nicht verlassen. Um solche Reformen durchzusetzen, braucht es den gemeinsamen Druck, die gemeinsame Mobilisierung aller MieterInnenvereinigungen und -initiativen, der Gewerkschaften und aller linken Parteien, die vorgeben, die Interessen der MieterInnen zu vertreten. Schlüsselforderungen sollten dabei sein:

  • Sofortiger Mietstopp und Einführung einer reglementierten und kontrollierten Kostenmiete, wobei Kosten für Neubau, notwendige und sinnvolle Sanierungen auf den gesamten Wohnungsbestand umgelegt werden! Offenlegung der Kostenkalkulation aller VermieterInnen! Deckelung des Mietpreises auf höchsten 30 % des Nettoeinkommens!
  • Feststellung des Leerstandes von Wohnungen! Zweckentfremdungsverbot und  Beschlagnahme des spekulativen Leerstandes, um rasch Wohnraum für Obdachlose, Geflüchtete, Jugendliche, Studierende und Menschen mit geringen Einkommen zu schaffen!
  • Verbot aller Zwangsräumungen von MieterInnen! Legalisierung der Besetzung leerstehender Häuser und Wohnungen! Kein Abriss, keine Modernisierung, keine Stadtsanierung ohne Zustimmung der Betroffenen!
  • Rücknahme aller Verschlechterungen im Mietrecht! Wiederherstellung der Gemeinnützigkeit kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbauunternehmen, langfristiger Sozialbindung! Wiedereinführung des Mietendeckels!
  • Keine Abzocke mit den Nebenkosten! Schluss mit dem Outsourcing des Facility-Managements! Fest angestellte, tariflich bezahlte HausmeisterInnen, Reinigungskräfte, HandwerkerInnen, Verwaltungs- und Servicepersonal in Wohnungsgesellschaften statt Fremd- oder ausgelagerter Tochterfirmen!

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung am Wohnungsmarkt

Die Freiheit des Wohnungsmarkts reproduziert und verstärkt offen oder verdeckt gesellschaftliche Unterdrückung. Von Rassismus, Frauenunterdrückung, Unterdrückung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität Betroffene werden auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt. Das betrifft ebenso Menschen mit Behinderungen und insbesondere alle mit geringen Einkommen. Dass Diskriminierung offiziell verboten ist, ist eine Farce angesichts der Realität des Marktes. Wer sich für eine Wohnung bewirbt, muss seine Einkommensverhältnisse, seine Herkunft, familiäre Situation, ja selbst Lebensplanung offenlegen. Und wer dies verweigert, hat unter dutzenden oder hunderten Bewerbungen schon verloren. Diskriminierungsverbote müssen daher zwar verteidigt werden, angesichts der Konkurrenz unter den MieterInnen findet die Selektion jedoch verdeckt durch die blinde Macht des Marktes statt. Zugleich reproduzieren die verschiedenen Formen der Benachteiligung die Spaltung unter den lohnabhängigen MieterInnen. Auch deshalb ist der Kampf gegen diese für die gesamte Bewegung unerlässlich.

  • Geförderte, kostengünstige Wohnungsvergabe für gesellschaftlich Unterdrückte und sozial Benachteiligte!
  • Ausbau von barrierefreien Wohnungen, Frauenhäusern und anderen Schutzräumen für Opfer von Diskriminierung, häuslicher und sexueller Gewalt!
  • Kontrolle der Vergabe von Wohnraum durch MieterInnenkomitees und Antidiskriminierungsausschüsse, die von den sozialen Unterdrückten selbst gewählt werden!

3. Öffentliches Wohnungsbauprogramm!

Wohnungsmangel und Wohnungsnot resultieren nicht nur aus der spekulativen Bewegung des Anlage suchenden Finanzkapitals und ihrer Verschärfung durch rassistische und geschlechtliche Unterdrückung, Armut und geringe Einkommen. Sie werden ergänzt durch einen Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und generell kostengünstiger Wohnungen. Unter dem Diktat des spekulierenden Großkapitals wird natürlich auch neu gebaut oder umgebaut – aber in erster Linie im Bereich höherpreisiger Marktsegmente oder infolge von Sanierung und Modernisierung, die den Bestand zwar kaum verbessern, aber kräftige Mietpreissteigerungen und infolge dieser höhere Aktionskurse und Renditen erlauben. Deshalb:

  • Der Bund muss den Kommunen ausreichend Finanzmittel für den Bau von mind. 250.000 Wohnungen bereitstellen, bezahlt aus Abgaben und progressiver Steuer auf Gewinn und Vermögen!
  • Schaffung von ausreichend geschützten bzw. betreuten Wohnformen für Menschen in Krisensituationen, Opfer von Gewalt und Geflüchtete! Förderung alternativer Projekte wie von Mehrgenerationenhäusern, zentralisierter Hauswirtschaft (Kantinen, Wäschereien, betriebs- bzw. wohnortnahe Betreuung von Säuglingen, Kleinkindern und SchülerInnen bei Hausaufgaben und Nachhilfe)!
  • Mitspracherecht der BewohnerInnen und MieterInnen bei allen Bau- und Modernisierungsmaßnahmen in den Stadtteilen!

4. Mieten runter – Löhne rauf!

Die Wohnungsnot trifft v. a. prekär Beschäftigte, Erwerbslose, alleinerziehende Frauen und MigrantInnen, weil sie zu den am meisten ausgebeuteten und am schlechtesten bezahlten Teilen der ArbeiterInnenklasse gehören. Selbst wenn alles ohne Diskriminierung durch VermieterInnen abginge, selbst wenn die Mietpreise weniger steigen würden, würden sie aufgrund von sinkenden oder stagnierenden Einkommen immer mehr unter Druck geraten.

Der Kampf gegen die Mietpreissteigerungen ist daher gerade für die Lohnabhängigen eng mit dem um höhere Löhne, einen ausreichende/n/s Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Renten und Mindesteinkommen, die die Reproduktionskosten decken, eng verbunden.

  • Mindestlohn von 15 Euro/Stunde! Arbeitslosengeld, Renten, Mindesteinkommen, und -sicherung in derselben Höhe!
  • Elternunabhängige Grundsicherung für SchülerInnen ab 16 Jahren, Studierende und Mindesttariflohn für Berufsauszubildende!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit unabhängig von Geschlecht, Nationalität, StaatsbürgerInnenschaft, Religion, sexueller Orientierung und Wohnort in Ost- oder Westdeutschland!
  • Anpassung der Löhne und Einkommen an die Mietpreissteigerung und Steigerung der Lebenshaltungskosten!

5. Enteignet die EnteignerInnen!

Um die Eigentumsfrage führt kein Weg herum. Solange Grund und Boden ihren EigentümerInnen horrende Gewinne bringen, solange der Wohnungsbau in privater Hand bleibt und vor allem den Unternehmen Profite bringt und vor allem solange der Wohnungsmarkt von Immobilienunternehmen dominiert wird, die auf rasche, spekulative  Gewinne an den Börsen setzen, werden die Preise weiter steigen und wird die Wohnungsfrage noch brisanter werden.

Die massiven Mieterhöhungen für die Lohnabhängigen gehen Hand in Hand mit  Privatisierungen und horrenden Gewinne der Immobilienhaie einher.

Diese Entwicklung führt übrigens auch zu erhöhten Kaufpreisen für persönlich genutztes Wohnungseigentum und damit zu höheren Schulden privater Haushalte wie auch zu einer extremen zusätzlichen Belastung für kleine Gewerbetreibende, die ebenfalls durch überhöhte Mieten verdrängt werden.

An der Enteignung der großen PlayerInnen am Wohnungsmarkt, von Grund und Boden wie der Baufirmen führt letztlich kein Weg vorbei. Wir treten für die Öffnung von deren Bilanzen, Verträgen sowie der Verstrickung von Tochterunternehmen und Beteiligungen ein, um ihre wirklichen Vermögen und ihre EigentümerInnenstrukturen offenzulegen.

Die Milliarden, die sie sich über Jahre bei den MieterInnen oder bei viel zu günstigen Wohnungsverkäufen angeeignet haben, sind selbst Resultat einer rücksichtslosen, ja räuberischen Geschäftspolitik. Die Gelder müssten für Neubau, ökologische und kostengünstige Erneuerung und Erhaltungskosten verwandt werden.

Daher sollten alle diese Konzerne entschädigungslos enteignet werden. Das betrifft auch ihre GroßaktionärInnen. Nur die kleinen AnlegerInnen sollten so weit entschädigt werden, dass sie ohne Verluste aus dem spekulativen Geschäft aussteigen können. Die entschädigungslose Enteignung bedeutet natürlich eine massive Konfrontation nicht nur mit dem Kapital im Wohnungssektor, sondern in allen Bereichen, weil eine Enteignung der großen Immobilienkonzerne und von Grund und Boden auch eine Beispielwirkung für die gesamte Ökonomie hätte.

Das trifft selbst zu, wenn Kampagnen wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen eine Entschädigung in Aussicht stellen. Als RevolutionärInnen sind wir zwar gegen die Entschädigung, doch wir kämpfen ungeachtet ohne Wenn und Aber an der Seite dieser Initiative. Gerade weil die Eigentumsfrage so grundlegend für den Kapitalismus ist, müssen wir uns zugleich auf eine massive Konfrontation darum, auf eine Kontroverse um die Höhe von Entschädigungen vorbereiten, die nur mit den Mitteln des Klassenkampfes, also einer Massenmobilisierung, zu gewinnen sein wird.

  • Entschädigungslose Enteignung der Großkonzerne und aus spekulativen Gründen brachliegenden Bodens!
  • Wohnungsversorgung (zurück) in öffentliche Hand unter Kontrolle von MieterInnenräten und Organen der ArbeiterInnenbewegung!
  • Sofortige entschädigungslose Enteignung der ImmobilienspekulantInnen wie Vonovia und Deutsche Wohnen sowie der VermieterInnen, die Wuchermieten erheben bzw. ihrer Instandhaltungspflicht nicht nachkommen!
  • Überführung von Banken, Baukonzernen, HerstellerInnen von Baumaterial und -maschinen, Versicherungen und Bausparkassen in Staatseigentum unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle!

6. Kontrolle durch MieterInnen und die lohnabhängige Bevölkerung

Selbst wenn die privaten Unternehmen enteignet würden, stellt sich unwillkürlich die Frage, wem diese gehören und wer die Kontrolle darüber ausübt. Im Kapitalismus bedeutet Enteignung von Unternehmen entweder deren Überführung in genossenschaftliches Eigentum oder Verstaatlichung – egal nun Bund, Länder oder Kommunen als EigentümerInnen fungieren oder es die Form einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) annimmt.

Genossenschaftliches Eigentum stellt im Grunde eine Form des Privateigentums dar, auch wenn sich mehrere Personen den Besitz teilen.

Auch in einer kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaft, ob nun als AöR oder sonst wie organisiert, herrscht immer noch das kapitalistische Wert- und Aneignungsgesetz. Staats- und Wohnungsschulden, Bodenpreise verschaffen sich letztlich immer wieder Geltung und verhindern eine Transformation staatskapitalistischen Eigentums in vergesellschaftetes. Kurzum, der Klassenkampf um die Wohnungsfrage endet nicht mit der Enteignung, er nimmt nur eine andere Form an.

Daher treten wir in allen privaten, staatlichen und auch genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften für die Kontrolle durch gewählte Ausschüsse/Komitees der MieterInnen ein. Die genauen Formen der Kontrolle werden sich logischerweise im Zuge der Entwicklung verändern. Es versteht sich von selbst, dass die VertreterInnen von MieterInnenvereinen, Gewerkschaften, migrantischen und linken Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung darin einbezogen werden müssen.

Aber es gibt keine sozialistischen Inseln im Kapitalismus. Wirkliche Vergesellschaftung kann nur in Form der Assoziation der direkten ProduzentInnen umgesetzt werden, erfordert also letztlich den Sturz des Kapitalismus.




Deutsche Wohnen und Co. enteignen! Auf zur zweiten Runde!

ArbeiterInnenmacht-Flugblatt, Infomail 1144, 27. März 2021

Seit letzten Sommer hat es DWE nicht nur geschafft, eine große SammlerInnenstruktur mit ca. 1600 Personen aufzubauen, was zahlreiche Solidarische Orte, lokale Kiez- und Hochschulgruppen einschließt, sondern auch die Zustimmung großer BündnispartnerInnen wie des Berliner Mietervereins und ver.dis, der GEW, IG Metall , IG-BAU- und DGB-Jugend gewonnen. Es gibt Gespräche mit verschiedenen linken Bezirksverbänden der Grünen und der SPD sowie dem Berliner Landesverband der Jusos. Die Linkspartei unterstützt das Volksbegehren ebenso sowie zahlreiche andere linke Initiativen, Vereine, Interessenvertretungen und politische Gruppierungen.

Zusätzlich wurde die Kampagne geographisch erweitert:

  • Eine bundesweite Enteignungsvernetzung hat begonnen mit UnterstützerInnen in Aachen, Aschaffenburg, Bremen, Darmstadt, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Freiburg, Göttingen, Halle, Hamburg, Hannover, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Mannheim, Marburg, Nürnberg, Potsdam, Stuttgart und Tübingen (bundesweit@dwenteignen.de).
  • Mit der (Unter-)Kampagne „Right to the City“ wurde das Sammeln rechtlich ungültiger, aber politisch unterstützender Unterschriften von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft zusammen mit verschiedenen MigrantInnenorganisationen (wie bspw. DIDF, der kurdischen und arabischen Community) geplant, um auf den Umstand ungleicher Rechte aufmerksam zu machen. Dafür wurden Materialien in englischer, türkischer, arabischer und russischer Sprache produziert. Wir sind der Meinung: Wer Miete zahlt, dessen Unterschrift soll auch gezählt werden.

Damit hat die Kampagne nicht nur eine starke personelle Ausstattung, sondern eine bis dahin nicht bekannte gesellschaftliche Reichweite in stark unterschiedlichen Milieus und in der organisierten ArbeiterInnenklasse entwickelt.

Mobilmachung der Gegenseite

Aber auch die Gegenseite macht mobil: Eine Woche vor Start der zweiten Phase schikanierte die Polizei mehrere SammlerInnen, beschlagnahmte Material, erstattete Anzeigen wegen Plakatierens ohne Erlaubnis und Sachbeschädigung oder wurde in Treptow ertappt, wie sie selbst Plakate (bspw. in der Baumschulenstraße) entfernte. Innensenator Geisel berät weitere Schritte wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Derselbe Innensenator, der 441 Tage für die Freigabe des Volksbegehrens gebraucht hat, beeilt sich anscheinend, jetzt die Kampagne zu stören. Dabei ist politische Werbung zum Zwecke von Volksbegehren nach § 2 Abs. 5, Nr. 2 der Covid-Verordnung ausdrücklich erlaubt. Geisel ist dem rechten und der Immobilienlobby nahen Flügel der SPD zuzurechnen und bereits zuvor mit einer feindlichen Haltung gegenüber Volksbegehren aufgefallen. Die Rate konservativer und neoliberaler Internettrolle steigt an und spammt die Kommentarspalten unter den Artikeln bürgerlicher Zeitungen zu. Und nicht zuletzt will der Immobilienlobbyverband GdW (Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen) 1,6 Millionen Euro für eine öffentliche Gegenkampagne bereitstellen, die durch Spenden der Mitgliedsverbände wie beispielsweise des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) und Sonderbeiträge der von der Vergesellschaftung betroffenen Immobilienkonzerne finanziert wird, und damit mit den Mieten der einfachen BerlinerInnen.

Das alles war zu erwarten und zeigt sehr gut, dass Vergesellschaftung zwar in Form des Volksbegehrens eine demokratische Frage ist, aber im Kern eine soziale mit klaren Klassenlinien und Lagern.

Klassenkampf und Volksbegehren

Bei allen guten Entwicklungen und optimistischen Aussichten ist das Ziel der Vergesellschaftung jedoch nicht sicher. Erstens weil das Volksbegehren letztlich alle Hoffnungen auf einen legalistischen Prozess setzt, der beim Gesetzgebungsverfahren eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus voraussetzt, also von der Unterstützung von Grünen, SPD und Linkspartei abhängt. Zweitens weil es keine anderen Wege zur Vergesellschaftung aufzeigt, die im Falle einer Niederlage die Kampagne auffangen und umorientieren könnten. Dazu bedarf es einer freien politischen Diskussion über zusätzliche und alternative Wege und einer Strategie, die mittels demokratischer Fragen Massen mobilisiert und organisiert (wie das Volksbegehren es auch erfolgreich tut). Sie müsste dabei jedoch versuchen, die Entscheidungsebene weg von Organen des bürgerlichen Staates (wie den Regierungsparteien, dem Abgeordnetenhaus und den Gerichten) auf eine (Klassen-)Ebene oder ein (soziales) Milieu zu verschieben, wo DWE tatsächlich eine größere Hebelwirkung und Verankerung, hat wie Organe der ArbeiterInnenklasse: Betriebsversammlungen, Gewerkschaften, lokale MieterInnenräte und „die Straße“.

Als Motor und als demokratisches Vehikel ist das Volksbegehren sehr gut geeignet und die Unterstützung durch die Gewerkschaften zeigt das. Unabhängig davon, wie der Kampf ausgeht, hat die Strategie ihr Potential verdeutlicht, eine demokratische Frage in eine soziale Massenmobilisierung zu transformieren. Wie der weitere Weg aussehen soll und sich das Volksbegehren in eine Gesamtstrategie in der Wohnungsfrage einbettet, muss offen diskutiert werden. Warum diese Diskussion um Alternativen und mögliche Negativszenarien wichtig ist, zeigt die aktuelle Sammelphase. Diese ist mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die für vorherige Volksbegehren unbekannt war: die Corona-Pandemie und das Sammeln unter Maßnahmen des Infektionsschutzes. Wie stark sich das auf die Unterschriftenzahl letztlich auswirkt, lässt sich aktuell nicht voraussagen. Aber angesichts des starken Starts und der relativ großen Zustimmung unter Lohnabhängigen und WählerInnen von Grünen, SPD und Linkspartei kann man vorsichtig optimistisch sein.

Es kommt aber bis zum Ende auf jede Unterschrift an. Daher:

  • Installiert die DWE-App auf Euer Handy, wo Ihr über Sammelaktionen, Infoveranstaltungen und Kundgebungen sowie Orte informiert werdet, wo Ihr abstimmen könnt sowie Materialien und Unterschriften bekommt!
  • Werdet aktiv bei einem der vielen lokalen Kiezteams, der Hochschulvernetzung oder in der DWE-Gruppe Eurer Hochschule und tretet der entsprechenden Telegram-Gruppe bei (eine Liste findet Ihr unter www.dwenteignen.de/mitmachen/)!
  • Nehmt teil am zweiwöchigem Plenum der Kampagne! Schickt dazu eine Mail an mitmachen@dwenteignen.de!
  • Bringt Euch ein in eine der vielen AGs und Untergruppen: www.dwenteignen.de/mitmachen/!
  • Sprecht mit FreundInnen, KollegInnen und Familie über DWE, holt Euch Unterschriftenlisten von einem der Solidarischen Orte, reicht diese weiter und sammelt selbst! Das zentrale DWE-Büro befindet sich in der Graefestraße 14 in Kreuzberg. Eine Karte, wo Du unterschreiben oder Deine Unterschriftenbögen abgeben kannst, findest Du in der DWE-App.

Denn die erfolgreiche zweite Phase wäre nicht nur ein Sieg für 300.000 MieterInnen. Es gibt Überlegungen, ein größeres Bündnis aufzubauen, was die Frage von Enteignung, Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft, Wirtschaftsdemokratie und demokratische Kontrolle auch in Bezug auf andere gesellschaftliche Bereiche zur Agenda macht. Damit könnten die Linke und die ArbeiterInnenklasse nicht nur nach Jahrzehnten des politischen Rückzugs endlich wieder in die Offensive kommen, sondern auch in Zeiten von Corona, Klimawandel und der kommenden Wirtschaftskrise dringende Sofortmaßnahmen und ein langfristiges Programm auf eine Grundlage stellen, von der die Masse der Menschen profitiert und damit ihr Überleben sichert.

Eckpunkte eines Programms zur Wohnungsfrage

Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative Auswüchse“, nicht gegen das auch der Wohnungsfrage zugrunde liegende Kapitalverhältnis.

Ein Wohnungsprogramm kann nur entwickelt werden durch Teilnahme an den Erfahrungen und Kämpfen der MieterInnenbewegung. Deshalb wollen wir hier  einige Eckpunkte benennen, die solch ein revolutionäres Programm berücksichtigen müsste:

1. Jede Forderung zur Erleichterung und Verbesserung der Lage der MieterInnen und der Einschränkung der privaten Eigentümerverfügungsmacht über Immobilien ist zu unterstützen, auch wenn sie noch so begrenzt erscheint.

2. Dabei ist immer klarzustellen, dass, solange die bürgerliche Staatsmacht besteht, Teilerfolge immer gefährdet sind. Es gibt keine sozialistischen Inseln im Kapitalismus.

3. Der Wohnungssektor ist Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Der Kampf dort muss ausgeweitet werden zu einem Kampf gegen dieses System.

4. Der MieterInnenkampf muss als Klassenkampf geführt werden (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften und anderer Organisationen, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen).

5. Anzustreben ist die Organisation der Betroffenen (MieterInnen und Beschäftigte der Wohnungswirtschaft) in (räteähnlichen) Strukturen der direkten Demokratie.

6. Forderungen sind zentral, die den Kern des heutigen Wohnungsmarktes angreifen (z. B. entschädigungslose Enteignung und Vergesellschaftung von Grund und Boden, Banken, Finanz- und Baukonzernen unter Kontrolle von Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und der NutzerInnen).

Wir schlagen auch ein Programm öffentlicher, nützlicher Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen zu Tariflöhnen und bezahlt aus Unternehmerprofiten vor.

Das bedeutet nicht nur Kommunalisierung des Grund und Bodens, sondern Baubetrieb in Staatshand zwecks Neubau wie Altbausanierung, bezahlt aus dem beschlagnahmten Vermögen des entschädigungslos enteigneten Wohnungs- und Baukapitals bzw. einer progressiven Steuer auf alle Unternehmensprofite. Auch macht die enge Verknüpfung des Wohnungskapitals mit dem Finanzkapital es nötig, ebenso bei den Finanzierungsgesellschaften entschädigungslose Enteignungen durchzuführen.

Erst auf dieser Grundlage kann eine echte Selbstverwaltung bzw. Mitsprache der MieterInnen stattfinden, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen.




Deutsche Wohnen und Co enteignen: Wenn die Immobilienhaie rufen, klopft die Polizei an

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 254, April 2021

Der Housing Action Day am 27.3.2021 kommt gerade rechtzeitig. In die Wohnungsfrage, die immer mehr Menschen v. a. in Großstädten unter den Nägeln brennt, kommt Bewegung. Das Beispiel Berlin zeigt, dass allerdings auch die Gegenseite mobilmacht.

Mit dem Erfolg der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) nimmt auch der Druck seitens VermieterInnen, Immobilienlobby und konservativer Medien zu.

Meinungsfreiheit?

Das hat sich bereits 2019 gezeigt, als ein Vermieter einem Mieter kündigen wollte, da ein DWE-Sticker auf seinem Briefkasten war. Der Vermieter begründete diese Kündigung mit dem Verlust des „Vertrauensverhältnisses“ und drohte zusätzlich mit einer Klage wegen Beleidigung.

Ein ähnlicher Fall der Einschränkung der Meinungsfreiheit ereignete sich im Februar 2021: als 2 WGs und eine Senioren-WG Banner mit der Aufschrift „Lebenslänglich – Bezahlbarer Wohnraum ist ein Grundrecht!“ aus ihren Fenstern hingen, da sie als BewohnerInnen der Kreuzberger Wohnungsgenossenschaft Möckernkiez eG „selbst in gesicherten Wohnverhältnissen [wohnen] und (…) nicht hinnehmen, dass Menschen fürchten müssen, ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen zu können“, so eine gemeinsame Erklärung der 25 BewohnerInnen des Hauses. Der Vorstand der Wohnungsgenossenschaft hat die BewohnerInnen aufgefordert, das Transpi runterzuhängen, da „Die Fassade nicht mit vermietet sei“ und es sich bei „der Anbringung nicht um einen üblichen Mietgebrauch handelt, die Anbringung berechtigte Interessen unserer Genossenschaft verletzt und Belästigungen anderer Hausbewohner und Nachbarn zu erwarten sind“. Die Genossenschaft gilt übrigens als Vorreiterin für eine Energiewende.

MieterInnen an der Warschauer Straße und Kopernikusstraße wurden ebenfalls von ihren VermieterInnen aufgefordert, Fahnen in den Farben lila-gelb (Kampagnen-Farben von DWE) abzuhängen.

Es zeigt eindrücklich, dass die VermieterInnen und selbst die Wohnungsgenossenschaften bereit sind, elementare Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und Meinungsfreiheit zu beschränken.

Neutralität des Staats?

Aber macht es Sinn, hier die Konfrontation vor Gericht zu suchen? Wenn bürgerliche PolitikerInnen, bürgerliche Zeitungen oder VertreterInnen des bürgerlichen Staates davon reden, dass Recht, Ordnung und Gesetz durchgesetzt werden sollen und das unter Verwendung von Justiz und Ordnungsmaßnahmen zu erfolgen hat, ist dies einfach nur am geltenden Recht orientiert, politisch neutral und bezüglich des sozialen Standes der Streitenden unparteiisch? Steht der Staat der Durchsetzung des Mietrechts genauso nahe wie der des Eigentumsrechts?

Zur Beantwortung dieser Frage können wir uns einige prägnante Beispiele angucken, die jedoch keine Einzelfälle, sondern die Spitze des Eisbergs darstellen

Ein Eigentümer wollte in der Emser Straße 2019 eine energetische Sanierung durchführen, obwohl bereits wenige Jahre zuvor eine durchgeführt worden war. Die MieterInnen organisierten sich in einer Initiative, um diese und den Mietanstieg in der Folge vor Gericht abzuwehren. Das Gericht tendierte zunächst dazu, die erneute Sanierung zu stoppen. Noch während des Verfahrens wurde in einer Nacht die Fassade von Unbekannten an mehreren Stellen angebohrt, wodurch die Isisolierung beschädigt worden ist. Die Mietinitiative dokumentierte diese offensichtliche Sachbeschädigung im Interesse des Vermieters. Das Ergebnis: unbekannte TäterInnen, keine Verbindung mit dem Vermieter, beschädigte Bausubstanz und das Urteil: Die Sanierung durfte durchgeführt werden.

Ein Eigentümer will seit Jahren die BewohnerInnen in der Karl-Marx-Straße aus ihren Wohnungen verdrängen, indem im Winter wochenlang Heizung und Warmwasseraufbereitung nicht repariert worden sind. Der Eigentümer will das Objekt sanieren, die aktuell sehr günstigen Mieten damit aushebeln und viel teuerer neu vermieten. Als HandwerkerInnen im Auftrag des Eigentümers mutmaßlich die Gasleitung des Hauses beschädigten, ist es nur dem Umstand, dass der erste Mieter, der die Leckage bemerkt hat, kein Raucher war, zu verdanken, dass keine Explosion zustande kam. Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, da ihrer Aussage nach keine TäterInnen ermittelt werden und dem Eigentümer keine Gelegenheit und kein Motiv unterstellt werden konnten, obwohl die HandwerkerInnen am Tag der Beschädigung im Haus waren (Gelegenheit) und das Motiv des Eigentümers durch die jahrelangen Verdrängungsbemühungen mehr als offensichtlich war.

Mafiamethoden

Das Padovicz-Netzwerk ist ein mafiöses Unternehmensgeflecht um die gleichnamige Familie, das dadurch auffällt, Wohnungen zu kaufen, mit Steuermitteln zu sanieren und dann die MieterInnen durch Sanierungsmaßnahmen, Müll, Ausfall von Heizungen und sogar Bedrohungen zum Verlassen zu nötigen, um die fertig sanierten und öffentlich geförderten Wohnungen viel höher neu zu vermieten. Selbst bei Wohnobjekten, die auf Grund ihrer Rolle in der ultralinken Szene bei seriösen UnternehmerInnen als Risikokapital gelten, hat das Netzwerk seine dreckigen Finger im Spiel. Nudelmann & Friends Immobilien, Teil dessen, tritt als Verhandlungspartner zwischen den unbekannten EigentümerInnen und dem Staat zur Rigaer Straße 94 auf. Auch bei der Planung, Bebauung und Verdrängung in der Rummelsburger Bucht mischt Padovicz mit.

Es gibt Hinweise auf Verflechtung zwischen ihm und diversen Bezirksämtern bezüglich Zuschüssen zur Sanierung, Kooperation bei Räumungen (Immobilienfilz). Welche Position der Staat im Konflikt zwischen MieterInnen und Padovicz einnimmt, sieht man daran, dass bis heute dieser untätig ist, das gesamte Firmengeflecht und die mafiösen Praktiken zu untersuchen und zu verfolgen. Stattdessen werden MieterInnen in den Fokus des Verfassungsschutzes gerückt, nachdem sie Protestaktionen vor Büros der Firma und Klingelstreiche organisiert haben. Während also die Ermittlungen gegen ImmobilienbesitzerInnen eingestellt werden, diese vor Gericht Recht bekommen, genießt Padovicz einen Personenschutz rund um die Uhr durch 4 Einsatzfahrzeuge der Polizei. Gleichzeitig ermittelt der Verfassungsschutz gegen den „Phänomenbereich Anti-Gentrifizierung“ und weist den Blog „Padowatch“ im Verfassungsschutzbericht 2018 aus.

Immobilienkapital und Staat: herzliches Einvernehmen

Beim „Global Residential Cities Index” (Stand 2019) liegt Berlin an 6. Stelle. Der GRCI untersucht Parameter wie u. a. Mietpreiserhöhungen, wirtschaftliche und politische Stabilität und liberale Steuergesetzgebung und berechnet daraus einen Wert, der für ImmobilienanlegerInnen als Kennzahl dient. Berlin ist daher nicht nur ein Anlagefeld für große bekannte finanzindustrielle Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia, Covivio usw., sondern voller unseriöser und mafiöser Unternehmen, die es neben krassen Profiten zusätzlich zur Geldwäsche und Steuervermeidung nutzen. Zwischen 2011 und 2015 wurden Immobilien im Wert von 13 Milliarden Euro gekauft, aber durch die Konstruktion von sog.  „Share Deals“ ist dem Land bzw. der Kommune eine Grunderwerbsteuer von 700 Millionen entgangen.

Von Seiten des Staates passiert nichts, um das vielschichtige Netz von Beteiligungen, Tochter-, Briefkastenfirmen und Steueroasen zu durchleuchten und trockenzulegen. Oft werden MieterInnen aus ihren Wohnungen vertrieben und heraus geklagt, müssen sich gegen unbegründete Mieterhöhungen oder Kostenumlagen wehren und kennen nicht mal den/die BesitzerIn der Immobilie, sondern nur deren AnwältInnen. So 2019 beim Räumungsverfahren gegen die linke Kiezkneipe „Syndikat“. Nachdem das Gericht auf Grund massiver Proteste angeordnet hatte, dass der/die EigentümerIn erscheinen musste, entpuppte sich die Adresse als Briefkastenfirma. Trotzdem siegte diese/r letztlich und die Polizei organisierte Schützenhilfe bei der Räumung, indem sie die Straße unter militärische Belagerung stellte und systematisch AnwohnerInnen schikanierte. In denselben Kontext stellt sich auch die Räumung der „Meuterei“, einer anderen linken Kneipe, die für den 25.3. angesetzt ist, und die Schließung der unabhängigen Jugend- und Kulturzentren „Potse“ und „Drugstore“.

Ein anderer international bekannter Standort ist die „Köpi“, dessen Käufer Siegfried Nehls, Vorstand der SANUS CAPITAL AG und Kopf eines ebenfalls dubiosen Unternehmensgeflechts, mehrfach wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt worden ist und die „Köpi“ als Immobilienpaket durch Strohmänner aus der STARTEZIA GmbH erworben hat. Im Februar wurde den BewohnerInnen ein Räumungsbescheid erteilt und eine Räumungsklage vor Gericht eingereicht. Es ist vorauszuahnen, dass, obwohl Bezirksverordnetenvertretung und Bezirksamt offiziell kundtun, eine Eskalation vermeiden zu wollen, die Polizei diese Räumung durchsetzen wird.  Weitere Standorte sind auch akut von Räumung bedroht: z. B. Liebigstraße 34, Voigstraße 36, Hermannstraße 48, Beermannstraße 6.

Beamtete HandlangerInnen

Das sind alles Beispiele, wo Organe des bürgerlichen Staates im Interesse von Unternehmen aufgetreten sind. Manchmal wird der Staat aber selbst aktiv gegen die MieterInnenbewegung:

  • Gezieltes und bewusstes „Totprüfen“ des Antrages für das Volksbegehren durch den Berliner Innensenat.
  • Abreißen von Plakaten durch die Polizei im Baumschulenweg.
  • Festnahme von PlakatkleberInnen eines legalen und angemeldeten Volksbegehrens wegen angeblicher Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz, obwohl ihm zufolge politische Werbung im Rahmen des Volksbegehrens ausdrücklich gestattet ist.
  • Ermittlungen des Staatsschutzes gegen DWE wegen einer Anzeige durch die Anwaltskanzlei Hartmann, Gallus und Partner, die mit schweren Schadensersatzforderungen den Mietenvolksentscheid e. V. (Trägerverein von DWE) nötigen will, Plakatieren im öffentlichen Raum zu unterlassen.
  • Anmeldungen zu Ständen und Kundgebungen werden von der Polizei nicht genehmigt, obwohl das neue Versammlungsgesetz eine einfache Anmeldung und Ablehnung nur in gut begründeten Ausnahmen vorsieht. Das schließt öffentlich zugängliche Privatgelände (Bahnhöfe, Einkaufshäuser) ein.

Forderungen und Perspektiven

Natürlich muss man diese vielen Beispiele publizieren und skandalisieren, aber man sollte nicht der Illusion verfallen, dass Staat, Gerichte und Polizei neutrale Institutionen seien, die dem privaten Eigentumsrecht genauso nahe stehen wie dem Mietrecht. Zudem verhält es sich selbst in parlamentarischen Demokratien so, dass BeamtInnen und RichterInnen vom Staat eingesetzt werden und die einzigen gewählten Körperschaften (Parlamente, Stadt- und Gemeinderäte) bestehen aus Abgeordneten, die ihrem Gewissen (und ihrem Geldbeutel) verpflichtet sind, nicht den WählerInnen. Diese können sie bei Verletzung ihrer Interessen nicht jederzeit abwählen wie in einer Demokratie der ArbeiterInnenräte. Wir fordern deshalb: Wahl der RichterInnen durch Organe der MieterInnen und ArbeiterInnenbewegung, gerade weil erstere zum größten Teil der ArbeiterInnenklasse angehören!

Um die Ziele von DWE zu erreichen, müssen wir solidarisch mit dem Volksbegehren und ihrer Verteidigung gegen Repression seitens Staat, Gerichten und Immobilienlobby sein. Doch sie muss über ihren Tellerrand schauen. Dazu gehört die Perspektive einer bundesweiten Zusammenführung der MieterInnenbewegung, beginnend mit einer Aktions- und Organisationskonferenz. Dazu gehört aber auch ein Plan B, der über den angestrebten Volksentscheid hinausgeht. Denn selbst im Erfolgsfall bleibt die Umsetzung in den Händen von Parlament, Staat und Gerichten, nicht zuletzt in der Frage der Höhe der Entschädigung.

Eine entschädigungslose Enteignung unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle – unseren Vorschlag also – hat ja DWE mit großer Mehrheit einschließlich der meisten sich als sozialistisch bezeichneten Kräfte abgelehnt! Stattdessen wird die zu gründende Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) leichtfertig zur Form des Gemeineigentums stilisiert. So richtig es wäre, die Arbeit in ihren MieterInnenräten auszunutzen, so wenig kann diese Mitbestimmung mit wirklicher Gegenmacht der ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden (ganz wie die im Betriebsverfassungsgesetz festgeschriebenen Betriebsräte keine Form der Gegenmacht darstellen).

Entscheidend ist der Klassenkampf, ob aus ihnen so etwas entstehen kann. Dazu müssen aber SozialistInnen auf den Aufbau von Gegenmachtorganen zu Kapital und Staat überhaupt erstmal orientieren. Methoden wie Mietboykott, Verhinderung von Zwangsräumungen gerade infolge der Coronakrise, von organisierter Kontrolle des Mietendeckels, Beschlagnahme von Wohnraum für die obligatorische Unterbringung von Geflüchteten, Wohnungs- und Obdachlosen sind ferner zu berücksichtigen. Sie sind allesamt nur mit Klassenkampforganen durchzusetzen. Die Unterstützung der Unterschriftenkampagne von DWE stellt daher nur ein Etappenziel dar, hin zum Aufbau einer breiteren Bewegung für die Enteignung des Wohnungsbaukapitals, des Immobilienbesitz und der Wohnungsspekulation.




US-Imperialismus vor, während und nach Trump

Moritz Sedlak, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

1 US-Imperialismus: Geschichte und Perspektiven

Die USA sind die weltweit wichtigste imperialistische Macht. Das bedeutet, die Dynamik des weltweiten Kapitalismus ist maßgeblich von Entwicklungen bestimmt, die von den Vereinigten Staaten ausgehen oder sich, wie die zunehmende Konkurrenz aus China, auf ihre Rolle beziehen.

Der Fall der Sowjetunion zementierte die vermeintlich unanfechtbare Führungsrolle der USA. Seitdem ist sie aber zunehmend unter Beschuss geraten. Die ökonomische Seite dieser Entwicklung sind der anhaltende Verlust der Kostenvorteile in der Industrie, die Errichtung von Hochtechnologiezentren außerhalb der USA und die relative Abnahme der Bedeutung der US-Finanzindustrie. Politisch sind die Formierung der EU als imperialistischer Block (der aber weiterhin zu instabil für eine Unabhängigkeit vom US-Kapital bleibt), aber vor allem der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht Ausdruck dieser Anfechtbarkeit.

Dementsprechend steht die Außenpolitik der Trump-Regierung für eine bedeutende Veränderung des US-amerikanischen Imperialismus. Der Bruch mit vielen internationalen Handelsbündnissen und eine forschere Intervention in die Militärbündnisse, aber auch der Austritt aus der Weltgesundheitsbehörde WHO oder dem Pariser Klimaabkommen wird von den bürgerlichen Medien gerne als irrational dargestellt. Teilweise versteigen sich die angeblichen ExpertInnen sogar in einen Vergleich der Trump-Politik mit den Forderungen der Linken in der antiimperialistischen und Antiglobalisierungsbewegung besonders gerne unter Bemühung eines sehr vagen Begriff von Populismus.

Marxistische Analyse

Ulrich Küntzel skizziert in seinem Buch „Der nordamerikanische Imperialismus“ eine marxistische Analyse der US-Außenpolitik seiner Zeit. Wie Hilferding und Lenin versteht er die zentrale Rolle des Kapitalexports in der Zuspitzung internationaler Spannungen und damit in der Gestaltung des imperialistischen Weltsystems. Während wir über den zeitlichen Horizont seiner Darstellung hinausgehen, wollen wir uns in diesem Artikel an denselben Leitlinien orientieren:

Es liegt auf der Hand, daß Militarismus und Wettrüsten schon für sich allein die internationalen Spannungen verschärfen können. Das Finanzkapital spitzt jedoch die internationalen Konflikte auch wirtschaftlich zu: durch Kapitalausfuhr. Die Trusts jeder imperialistischen Nation suchen sich Rohstoffquellen und Absatzmärkte außerhalb der eigenen Staatsgrenzen zu sichern und ihre Konkurrenten mittels der eigenen Diplomatie und Wehrmacht – die USA daneben durch ihre Geheimdienste CIA und NSA – von den eigenen Einflußgebieten fernzuhalten.i

Das NAFTA-Freihandelsabkommen der USA mit Kanada und Mexiko war ein Paradebeispiel für imperialistische Machtausübung durch Handelsbündnisse und eines, an dem sich GlobalisierungskritikerInnen jahrelang abarbeiteten. Aus NAFTA sind die USA unter Trump ebenso ausgestiegen wie aus dem fertig verhandelten TPP im Pazifikraum und den TTIP-Verhandlungen mit der EU. Dazu kommen die offene und parteiische Unterstützung amerikanischer Unternehmen durch die außenpolitischen Institutionen und der Handelskrieg. Hier brach die Regierung Trump mit der Außenpolitik der letzten Jahrzehnte – eine wichtige Machtverschiebung zwischen den US-Kapitalfraktionen.

Trump begründete den Handelskrieg mit China mit „unfairen“ Wettbewerbspraktiken und forderte für zeitweise Deeskalationen den Kauf amerikanischer Waren ein. Auch der populäre Boykott von Huawei und das drohende Verbot der Social-Media-Plattform TikTok sind eine offene Ansage, MarktführerInnenschaften von chinesischen Unternehmen nicht zu akzeptieren. An die Stelle der Rhetorik vom freien Wettbewerb ist eine offene Rückendeckung von Firmeninteressen durch Außenpolitik und militärisches Säbelrasseln getreten.

Trumps Versprechen

Zentrale Wahlversprechen von Trump waren der weitgehende Truppenabzug aus Irak und Afghanistan und eine Einstellung der Einmischungen in Syrien und Libyen. Das ist so nicht umgesetzt worden. Auch aus dem „angedrohten“ Rückzug aus den NATO-Militärbasen in Europa ist ein Verschieben von Truppen in Länder mit vermeintlich US-freundlicheren Regierungen geworden. Dennoch haben Trump und seine Verbündeten eine zentrale Änderung der außenpolitischen Doktrin, weg von der „Weltpolizistin USA“, angekündigt. Die Bekanntgabe dieses Vorhabens wird von heftigen, aber kurzen Aggressionen begleitet, zum Beispiel dem angedrohten Krieg gegen den Iran. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den dauerhaft angelegten Besatzungs- und Einschüchterungskampagnen unter Bush und Obama.

Eine noch wichtigere Verschiebung gab es in Bezug auf Freihandelsabkommen, die man als zentrales Werkzeug imperialistischer Staatspolitik verstehen kann. In den 1980er und 1990er Jahren trieben sie und das „regelbasierte Handelssystem“ den Zugriff amerikanischer Kapitale auf die Halbkolonien des globalen Südens voran. Das war auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kampagne der politischen Unterwanderung, geheimdienstlicher Kampagnen und militärischer Aggression gegen Regierungen, die sich dem nicht unterordnen wollten und vor allem in Lateinamerika größtenteils beseitigt wurden. Angesichts der weitgehend verlorengegangenen Wettbewerbsvorteile amerikanischer Unternehmen und des verschärften Wettbewerbs imperialistischer Kapitalexporte um die Überausbeutung des globalen Südens wurde die imperialistische Konkurrenz zunehmend zur Gefahr für die amerikanische Vorherrschaft.

Die militärischen Interventionen der USA waren ab den 1990er Jahre vor allem auf die Sicherstellung der Energieversorgung, direkt durch Erdölimporte und indirekt durch geostrategische Absicherung, motiviert. Die Blutbäder in den beiden Golfkriegen, die Invasion Afghanistans und die Besatzung des Irak waren die konkreten Ergebnisse, außerdem die stetige Einflussnahme auf afrikanische Länder und die Drohungen gegen Libyen und Iran. Hier veränderten der technologische Wandel und der Aufstieg der USA zur Energieexporteurin die Bedingungen. Die Interessen, zumindest aus der Energieindustrie, sind sogar umgedreht, weil sich die teure Förderung aus Schiefergas und Teersand nur bei hohen Weltmarktpreisen überhaupt lohnt.

Der imperialistische Staat

Die Rolle des kapitalistischen Staates ist die des „ideellen Gesamtkapitalisten“ii. Das bedeutet drei Dinge: Zuerst einmal muss der Staat das Gesamtinteresse, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, durchsetzen mit Repression und Befriedung gegen aufbegehrende ArbeiterInnen und Unterdrückung, mit Regulierung und Gesetzen gegen die kurzfristigen Profitinteressen der EinzelkapitalistInnen. Historisch bedeutete das auch und vor allem das (teilweise gewaltsame) Durchsetzen von Märkten, Eigentumsrechten und dem System der Lohnarbeit, die von Konservativen fälschlich als „natürliche Ordnung“ des Kapitalismus dargestellt werden.iii

Zweitens muss der Staat die Interessen der EinzelkapitalistInnen gegeneinander abwägen, im Großen den aufstrebenden Fraktionen den Vortritt erlauben, aber auch eine Art „fair play“ zwischen diesen sicherstellen. Aber zuletzt tritt der Staat auch selbst als Kapitalist in Erscheinung, ist also nicht nur Werkzeug der KapitalistInnen, sondern entwickelt eigene unternehmerische Interessen.

Diese Rolle wird noch einmal auf die Spitze getrieben vom imperialistischen Staat. Der hat wiederum zwei zentrale Aufgaben: (1) Das Erweitern der Absatzmärkte für die Warenproduktion des inländischen Kapitals und für den Kapitalexport, (2) das Abwägen der Interessenswidersprüche zwischen Kapitalfraktionen im eigenen Land. Für die USA als weltweite Führungsmacht kommt, wie für andere imperialistische Länder auch, noch das Abwägen der Interessen von verbündeten Staaten und ausländischen Kapitalfraktionen dazu.

Wo der Kapitalismus an die Grenzen der inländischen Kapitalakkumulation stößt, erweitern die stärksten Kapitale ihren Einflussbereich über die Staatsgrenzen hinweg. Beim Erschließen von Absatzmärkten, aber auch günstigen Ressourcen und Arbeitskraft werden sie in der Regel vom militärischen und diplomatischen Staatsapparat unterstützt. Mit anderen Worten orientiert sich die Aufgabenstellung des ideellen Gesamtkapitalisten Staat am Expansionsdrang der Einzelkapitale.

Sie orientiert sich nur oberflächlich am Warenverkauf. Tatsächlich ist die zentrale Aufgabe jeden Kapitals die Akkumulation, also die Verwertung durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Die imperialistische Wirtschaftspolitik orientiert sich deshalb auch zentral am Kapitalexport. Für die USA bedeutet das, die Profite aus US-amerikanischen Unternehmen entweder direkt oder durch Kredite in die Ausbeutung außerhalb der USA zu investieren, wobei die Profite in der Regel wieder an das Ursprungskapital zurückfließen. Buchhalterisch ist das angesichts der heute weit verbreiteten multinationalen Steuerkonstruktionen nicht ganz so einfach nachzuzeichnen, Konzernstrukturen und die Nationalität der BesitzerInnen der weltweit größten Unternehmen geben hier aber deutliche Hinweise.

Auf dieser Grundlage werden wir in diesem Artikel die Interessen der US-Kapitalfraktionen in verschiedenen Perioden und die Auswirkungen auf die Außenpolitik nachzeichnen. Nach einer kurzen Aufzählung der Veränderungen aus den letzten Jahren in Abschnitt 2 zeichnen wir die Entwicklung des US-Kapitalismus skizzenhaft nach. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Kolonisierung der USA, dem Aufbau des US-amerikanischen Kapitalismus und erster imperialistischer Bestrebungen sowie den qualitativen Brüchen im Ersten Weltkrieg und der Großen Depression. Abschnitt 4 behandelt die Ablösung der europäischen Kolonialreiche und der alten Koloniallogik durch den modernen Imperialismus, die Rolle des US-Finanzkapitals und die Konsolidierung der USA als imperialistische Führungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Abschnitt 5 beschreibt die geostrategischen Herausforderungen des Kalten Krieges, während Abschnitt 6 die Interventionen in Lateinamerika untersucht, auch um den Zusammenhang von Kapital- und Warenexport der USA mit Beispielen zu illustrieren. In Abschnitt 7 widmen wir uns schließlich der Periode des Freihandels und der „regelbasierten Weltordnung“ und besonders der Frage, welche Kapitalfraktionen diesen Kurs gegen andere, und zu deren Nachteil, durchsetzen wollten. Das erlaubt uns, im Abschnitt 8 die Bruchpunkte der US-Außen- und Wirtschaftspolitik in die Konflikte innerhalb des US-Kapitals einzuordnen. Die Vorstöße, aber auch Niederlagen der Trump-Regierung lassen sich dann ganz ohne Psychologisierung erklären. In Abschnitt 9 beschreiben wir schließlich die neue globale Situation, den grundlegenden Widerspruch zwischen den Interessen an protektionistischer Durchsetzung von kapitalistischen Einzelvorhaben und teurer geostrategischer Eingrenzung Chinas.

Das Ergebnis des Artikels ist eine historische Definition des US-Imperialismus, die eng an ein Verständnis der Kapitalexportdynamiken gebunden ist. Dieses auf die Situation besonders seit 2008 anzuwenden, und der Abgleich mit den Veränderungen der Trump-Außenpolitik im Vergleich zu den Regierungen Bush und Obama erlaubt uns schließlich, den Grundkonflikt im US-Imperialismus des 21. Jahrhunderts herauszuarbeiten.

2 Außenpolitik vor, während und nach Trump

Die Außenpolitik der USA steht auf drei stabilen Füßen militärischer, diplomatisch-geheimdienstlicher und wirtschaftlicher Herrschaft. Die Rolle als weltweite imperialistische Führungsmacht ist mehr als nur ein Regime des Kapitalexports (aber auch Kapitalimport über die amerikanischen Finanzmärkte), aber untrennbar damit verbunden.

Wie in jedem kapitalistischen Land ist ein stabiler politischer Herrschaftsanspruch, zum Beispiel des US-Präsidenten, an die Interessen wichtiger Teile des Kapitals und die weitgehende Duldung durch den Rest geknüpft. Das bedeutet in der Regel, dass scharfe Wendungen in der Regierungspolitik auch einen Wandel der Kapitalinteressen oder der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen widerspiegeln. Umgekehrt sind Logik und Stoßrichtung politischer Veränderungen nur mit einer vernünftigen Analyse der Kapitalinteressen verständlich.

Aus zwei Gründen sind es in den USA vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf widerspiegeln. Zum weltweiten Führungsanspruch als wichtigste imperialistische Macht kommt noch die weitgehende Dezentralisierung der Wirtschaftsgesetzgebung auf die Bundesstaaten (also Steuern, Mindestlöhne und Regulierungen) und ein komplexes System von „checks and balances“ (Gewaltenteilung) auf Bundesebene hinzu. Aus diesen beiden Gründen sind es vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf oft zuerst widerspiegeln. Gleichzeitig hat die internationale Konkurrenz, zum Beispiel der Führungsanspruch Chinas oder die Formierung der EU als imperialistischer Block, mehr Auswirkungen auf die führenden Kapitalfraktionen in den USA als in anderen Ländern.

In den 1980er Jahren fügte das Kapital in den imperialistischen Ländern, ausgehend von den USA und Britannien, der ArbeiterInnenbewegung mit der erfolgreichen neoliberalen Wende entscheidende Niederlagen zu. Der historische Burgfrieden SozialpartnerInnenschaft, der die Stabilität in den Zentren gesichert und eine stabile Überausbeutung der Halbkolonien ermöglicht hatte, wurde abgelöst durch eine gezielte Absenkung der Lohn- und Steuerkosten.

Gleichzeitig veränderte sich auch der außenpolitische Fokus der USA, von regelbasierten Absprachen in der Wirtschaftspolitik (beispielsweise das Bretton-Woods-Abkommen zur Währungsstabilität) hin zu immer wichtiger werdenden Freihandelsabkommen. Diese sicherten freie Wege für den imperialistischen Kapitalexport, Zugang zu Absatzmärkten für (vor allem technologieintensive) Konsumwaren und nicht zuletzt eine Kontrolle der ölfördernden Staaten, die mit der Ölpreiskrise ab 1973 für die imperialistische Herrschaft zu einem Unsicherheitsfaktor geworden waren. Die Freihandelsabkommen sollten Protektionismus verhindern und den Wettbewerbsvorteil der Industriekapitale in den imperialistischen Staaten auch auf Absatzmärkten fern der Produktionsstätte verwertbar machen. Gleichzeitig hängt die internationale Arbeitsteilung in Form von globalen Produktionsketten von ungehindertem Transport ab. Und zuletzt ermöglichten die InvestorInnenschutz-Paragraphen der multilateralen Abkommen wie GATT und WTO den finanziellen Kapitalexport, der zum Hauptgeschäft der US-amerikanischen Finanzindustrie wurde.

In dieser Zeit wurde auch die Eskalation von Schuldenkrisen in den Halbkolonien zu einer regelmäßigen Erscheinung. In der neoliberalen Neuordnung der internationalen Beziehungen wurde diese Verschuldung zum zentralen Hebel. IMF und Weltbank forderten im Gegenzug für „Rettung“ vor der Staatspleite den Ausverkauf verstaatlichter Infrastruktur, aber auch massive Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse ein. Davon profitierte das US-Kapital, das Investitionsmöglichkeiten in den privatisierten Industrien und fast unbegrenzte Ausbeutung von Rohstoffen und günstiger Arbeit erschloss.

Die Militärpolitik in dieser Zeit verband drei Hauptmotive: den geostrategischen Kampf gegen die Ausbreitung des Stalinismus (Vietnamkrieg), die Absicherung gegen erstarkende Ölrentenstaaten und das Eindämmen demokratischer und sozialer Bestrebungen in Lateinamerika und Afrika.

Vor allem seit dem Zusammenbruch der stalinistischen „Ostblock“staaten und ihrer Einflusssphäre sind die Interessen des US-Kapitals im Wandel. Der Wettbewerbsvorteil bei Lohnkosten und Profitabilität in der Industrieproduktion ist seit den 1990er Jahren weitgehend verschwunden, die Auslagerung von Produktion deutlich wichtiger. Danach war es vor allem die Vorherrschaft in der Hochtechnologie- und Finanzindustrie, die eine weitere Orientierung auf Freihandelsabkommen und die so genannte „regelbasierte Ordnung“ legitimierten. Dem Hochtechnologiesektor kommt der überproportionale Fokus auf geistiges Eigentum (TRIPS-Klauseln), dem Finanzsektor die Öffnung für Auslandsinvestitionen zugute, die in diesen Verträgen wichtige Rollen spielen.

Andere US-Kapitalfraktionen, die höhere Lohnkosten haben als die internationale Konkurrenz, wurden von diesen Abkommen aber teilweise schlechtergestellt. Und außerdem bedeuteten die europäische Integration durch das Zusammenwachsen der EU sowie der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht, dass zunehmend Produktionsketten ohne Endmontage in den USA aufgebaut wurden.

Gleichzeitig erschloss die Energiebranche in den USA neue Methoden der Ölförderung (vor allem Schiefergas und Teersand), deren Profitabilität aber an einen möglichst hohen Weltmarktpreis für Öl und Gas gekoppelt ist. Ihre Erwartungen an die US-Außenpolitik sind weniger, niedrige Öl- und Gaspreise sicherzustellen, sondern direkte Unterstützung gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das ist mitverantwortlich für die Debatten um russische Pipelineneubauten (zum Beispiel der Nordstream 2), zu denen die amerikanischen Unternehmen auch auf Schiffen transportiertes Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) als Alternative anbieten. Folgerichtig stand im „Friedensvertrag“ am Ende der Strafzölle gegen die EU auch eine Selbstverpflichtung, die LNG-Einfuhr bis 2023 zu verdoppeln. Für den Ausbau der Terminals sind 650 Millionen Euro an Subventionen geplant.iv

Das hat die Interessen des US-Kapitalexports deutlich verschoben. Statt im Freihandel eigene Vorteile auszuspielen (die es so auch nicht mehr gibt), rufen wichtige Kapitalfraktionen nach einer direkten Subvention ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch militärische und diplomatische Aggressionen. Dafür steht der Schwenk unter Trump, vor allem der Rückzug und die Neuverhandlung von Abkommen wie NAFTA, TTIP und TPP nach kurzen, aber heftigen Handelskriegen und das direkte Embargo gegen chinesische Hochtechnologie und russische Öl- und Gasprodukte.

Auch die Verschiebung in der Militärpolitik spiegelt diese neuen Interessen wider (auch wenn Trump sie bisher nicht gegen die entscheidenden Fraktionen im militärisch-industriellen Komplex der USA durchsetzen konnte). Der versprochene Rückzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzzeitig angestrebte Entspannung mit Iran und Russland sind möglich, weil das US-Kapital als Ganzes weniger von niedrigen Ölpreisen abhängig ist, teilweise sogar von hohen Kursen profitiert.

Die Außenpolitik der Trump-Regierung steht für den Anfang einer möglichen Verschiebung der US-Kapitalinteressen auf dem Weltmarkt. Sie ist nicht abgeschlossen und steht im Kampf mit anderen Kapitalfraktionen (vor allem in der Finanzindustrie), die den deregulierten Handel und Kapitalexport höher schätzen.

Gleichzeitig versucht sie aber den Spagat zwischen höherer Überausbeutung der Halbkolonien durch US-Kapitale und kostspieliger geostrategischer Absicherung gegen den imperialistischen Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht einfach auflösbar und wird durch die Wirtschaftskrise seit 2019 weiter zugespitzt. Bei gleichzeitigem Aufstieg Chinas wird er auf eine weltweite Eskalation hinauslaufen.

3 Der Aufstieg der USA von der Kolonie zur Militärmacht

Die USA begannen ihren aufhaltbaren Aufstieg zur Weltmacht als Ansammlung englischer, französischer und spanischer Kolonien. Die spätere herrschende Klasse ebenso wie die amerikanischen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen gingen aus den KolonisatorInnen des nordamerikanischen Kontinents hervor. Die Besiedelung erfolgte nach bekanntem kolonialem Muster – Befestigung strategischer Landepunkte, schrittweise Eroberung oder Aneignung von Siedlungsgebieten auf Kosten der lokalen Bevölkerung und schließlich Zerstörung der bestehenden politischen Strukturen bis hin zur genozidalen Vernichtung aller indigenen Ethnien, die den Widerstand wagten.

Siedlerkolonialismus und Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise

Die besondere Form des Siedlerkolonialismus bedeutete gewisse Herausforderungen für die Durchsetzung des globalen Kapitalismus. Nachdem die britische Vorherrschaft über die amerikanischen Kolonien mehr oder weniger feststand, wurde das zunehmend zum Problem. In Britannien war der Prozess (oder die erste Runde) der „ursprünglichen Akkumulation“ weitgehend abgeschlossen und alle wesentlichen Teile des Wirtschaftskreislaufs waren der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen. Die Subsistenzwirtschaft der Kleinbauern/-bäuerInnen war mit dem „enclosure movement“ zerstört und die ehemaligen SelbstversogerInnen waren entweder zu LandarbeiterInnen ohne Besitz an Grund und Boden als Produktionsmitteln degradiert oder als Proletariat in die Städte gezwungen worden.

In den amerikanischen Kolonien hatte diese Trennung von ProduzentInnen und Produktionsprozess, die berühmte Expropriation der ProduzentInnen, noch nicht stattgefunden. Ganz im Gegenteil drängte der Kolonisationsgedanke die KolonisatorInnen aus der Alten Welt zur Landnahme auf Kosten der lokalen Bevölkerung, aber damit auch zum Landbesitz und zur Selbstausbeutung als unabhängige ProduzentInnen. Marx macht im 25. Kapitel der Ersten Bandes des „Kapital“ auf den diametralen Widerspruch zwischen Mutterland und Kolonie aufmerksam:

Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten. Der Widerspruch dieser zwei diametral entgegengesetzten ökonomischen Systeme betätigt sich hier praktisch in ihrem Kampf.v

Folgerichtig beriefen sich die emigrierten KapitalistInnen auf ihre Macht und die Unterstützung „ihrer“ Regierung, um dieser Unausbeutbarkeit zu begegnen. Und das englische Parlament folgte mit Erlässen, die die Lohnarbeit vorschrieben, allerdings mit begrenztem Erfolg. Einen Kolonisator in Westaustralien, Peel, beschreibt Marx wie folgt: „Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, ‚blieb Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen’. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!.vi

Die englischen Produktionsverhältnisse waren durch große landwirtschaftliche Betriebe und Industriekapital geprägt, an die die Masse der ehemaligen Kleinbauern/-bäuerInnen ihre Arbeitskraft verkaufte. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft war erzwungen durch die systematische Enteignung und die Gesetze gegen Arbeitslosigkeit inklusive der Arbeitslager ähnlichen „poor houses“ (Arbeitshäuser für Arme).

Die systematische Enteignung war im sich noch ausbreitenden amerikanischen Kolonialismus schwer möglich. Um die Kolonien zu vergrößern, musste das Land den indigenen „first nations“ gewaltsam abgenommen, aber auch bestellt werden. Familiäre bäuerliche und forstwirtschaftliche Betriebe an der „frontier“ waren das politökonomische Werkzeug der Wahl, was den Besitz der ProduzentInnen an ihren eigenen Produktionsmitteln ausdehnte, statt ihn einzuschränken.

Zentralisierte Produktionsverhältnisse herrschten vor allem in der Plantagenbewirtschaftung vor. Diese war vor allem für größere zusammenhängende Betriebe profitabel. Statt auf enteignete Kleinbauern/-bäuerinnen griffen die KolonistInnen, vor allem in den südlichen Kolonien, auf Sklavenarbeit und Schuldknechtschaften von AuswanderInnen zurück.

Schuldknechtschaft

In den amerikanischen Städten wurden die industriellen Produktionsverhältnisse, vor allem aber die bürgerliche Hauswirtschaft, auch gewaltsam mit Zwangsarbeitskraft bestückt. Vor allem die ärmsten EinwanderInnen tauschten für die Überfahrt eine jahrelange Arbeitsverpflichtung ein, die an die europäische Leibeigenschaft erinnert. Wie die Sklaverei hatten diese Arbeitsverhältnisse ihren Ausgang in den südlichen Kolonien, beginnend mit Virginia. Diese ArbeiterInnen leisteten ihre Schulden auch auf Plantagen ab.

Dieses Modell funktionierte vor allem im 17. Jahrhundert, als entlassene Haus- und FabrikarbeiterInnen quasi nahtlos durch die massenhaft nachkommenden EmigrantInnen ersetzt werden konnten. Ab dem 18. Jahrhundert nahm die Zahl der „indentured serfs“ (KontraktsklavInnen, -leibeigene) langsam ab. Der zentrale Unterschied zur Sklaverei bestand darin, dass kein gewaltsamer Menschenraub, sondern ökonomische Not den Ausgangspunkt bildete. Gleichzeitig waren die Leibeigenschaftsverhältnisse in der Regel zeitlich begrenzt, und die Betroffenen gingen danach als freie ArbeiterInnen, HandwerkerInnen oder SiedlerInnen in das Wirtschaftsgefüge über.vii

Sklaverei

Die großräumige Plantagenwirtschaft breitete sich ab dem 17. Jahrhundert von Virginia ausgehend vor allem in den südlichen Kolonien aus. Wie die Wollproduktion in England nahmen der zentralisierte Anbau und die industrielle Verarbeitung von Tabak, Reis, Baumwolle und Zuckerrohr die zentrale Rolle in der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den amerikanischen Kolonien ein. Die ursprüngliche Akkumulation ist entscheidend, weil sie nicht nur die notwendige Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen der KapitalistInnen, sondern das Schaffen eines auszubeutenden Proletariats bedeutet. Die ursprüngliche Akkumulation schafft die wirtschaftlichen Voraussetzungen und die politischen Institutionen von Kapital und Lohnarbeit.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Akkumulation auf Kapitalseite vor allem durch die Ausbeutung von SklavInnen, die aus afrikanischen Ländern und Gesellschaften verschleppt wurden, erreicht. Die terroristische Zerstörung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika durch SklavenhändlerInnen wurde auf dem amerikanischen Festland durch den Terror von Folter, Unterversorgung und riesigen Arbeitspensen fortgesetzt. Vor allem in den ersten Jahrzehnten der Sklaverei waren SklavInnen unglaublich günstig und wurden rasend schnell zum Tod durch Arbeit gezwungen. Entsprechend wurden von Virginia Gesetze erlassen, die die Entrechtung der SklavInnen (beziehungsweise die rechtliche Verfügung der SklavenbesitzerInnen) bis zur vollkommenen Entmenschlichung der AfroamerikanerInnen ausdehnten.

Unabhängigkeitskrieg

Bis zum Unabhängigkeitskrieg dehnte sich die Sklaverei so weit aus, dass in manchen Bundesstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten. Gleichzeitig nahm die Bedeutung der Schuldknechtschaft bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg ab, sowohl im Vergleich mit der Sklaverei als auch mit Lohnarbeitsverhältnissen in den nördlichen Kolonien. Mit den schweren wirtschaftlichen Krisen des späten 18. Jahrhunderts wurden langfristige Arbeitsverträge für die unter Druck stehenden amerikanischen KapitalistInnen auch mehr zur Belastung. Die massive Beschränkung der Einwanderung nach der Unabhängigkeit und die etablierten sozialen Strukturen der freien Lohnarbeit lösten die Schuldknechtschaft als ökonomischen Motor der kapitalistischen Akkumulation schließlich ab.

1776 riefen 13 ehemals britische Kolonien die amerikanische Republik aus. Der Unabhängigkeitskrieg war gleichzeitig kolonialer Aufstand und eine vollwertige bürgerlich-demokratische Revolution. Er wälzte die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die immer mehr zum Hindernis der Produktivkraftentwicklung geworden waren, grundlegend um.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Nachbau der feudalen englischen Verhältnisse noch schwieriger war als die der kapitalistischen Produktionsbeziehungen. Bis auf das Hudson-Tal im heutigen Bundesstaat New York war es der britischen Krone nie gelungen, tatsächlich feudale Beziehungen in Amerika durchzusetzen (die feudale Enklave hielt dafür bis lange nach der Unabhängigkeitserklärung, nämlich bis 1839, durchviii). Trotzdem trug zum Beispiel die Beschwirtschaftung der Wälder in den westlichen Kolonialgebieten, die der Krone und der Marine vorbehalten war, durchaus feudale Züge. Auch der Landbesitz in den amerikanischen Kolonien war zunächst nach britischem feudalen Recht organisiert gewesen. Das bedeutete, die Krone (beziehungsweise ihre VertreterInnen vor Ort) vergab/en Landrechte und kassierte/n den Lehnszins (englisch: „quit rent“). Auch die Verdrängung der kolonialen Konkurrenz aus den Niederlanden, Spanien, Frankreich und sogar Deutschland hatte die Macht der britischen Krone gefestigt.

Gleichzeitig war es die Plantagenwirtschaft, in der neue Formen der Landwirtschaft (Monokultur) mit einer „neuen“ Form der Klassenausbeutung (Sklaverei) kombiniert wurden (Moore 2020)ix. Rechtlich war auch die Plantagenwirtschaft im Feudalismus verankert, die moderne Sklaverei war aber mit dem aufkommenden Kapitalismus ebenso vereinbar. Tatsächlich spielten die PlantagenbesitzerInnen der südlichen Kolonien eine wichtige Rolle in der Unabhängigkeit von der britischen Krone – ein klassisches Beispiel für die marxistische Überzeugung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grenzen der Produktionsverhältnisse sprengt.x

Dem Aufstand gegen die Monarchie gingen wichtige Rebellionen gegen lokale FeudalherrInen und SklavInnenhalterInnen voraus. Aufstände von SklavInnen und Schuldknechten/-mägden waren seit dem 17. Jahrhundert Teil der amerikanischen Geschichte und wurden nicht immer problemlos niedergeschlagenxi. Die Rebellion in Virginia 1676 („Bacon’s Rebellion“) brannte zum Beispiel die Hauptstadt der Kolonie, Jamestown, nieder.

Bei der Unterdrückung von ArbeiterInnen und SklavInnen standen KapitalistInnen und Kolonialbehörden auf derselben Seite. Aber die feudalen Landrechte standen der explosiven Produktivkraftentwicklung der amerikanischen KapitalistInnen im Weg. Steuern und Einfuhrbeschränkungen, aber auch die künstliche Verknappung der Geldmenge in den Kolonien, sollten verhindern, dass englische KapitalistInnen von ihren Landsleuten in den Kolonien ernsthafte Konkurrenz bekamen.

Gleichzeitig hatte sich im Krieg gegen indigene Nationen und die französische Kolonialkonkurrenz durch die ideologische Spaltungsrolle des Rassismus und die enorme Bedeutung, die den Kleinbauern/-bäuerinnen an der „frontier“ zukam, ein amerikanisches Nationalbewusstsein entwickelt. Dem stand die tyrannische Arroganz der britischen Krone als Feindbild gegenüber. Ein klassenübergreifendes Zweckbündnis wurde zum ersten Mal im Widerstand gegen die Stamp-Act-Steuern 1765 aktiv und begab sich vor allem im Streit um Steuern und Zölle in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1776 gewonnen wurde.xii

Der amerikanische Kapitalismus nach der Unabhängigkeit

Zu diesem Zeitpunkt waren die ehemaligen Kolonien keine Außenstellen des britischen Empires mehr. Plantagenwirtschaft, Bodenschätze und die enthemmte Ausbeutung der SklavInnen bildeten eine ernstzunehmende wirtschaftliche Grundlage, die Zusammenarbeit auf dieser Basis stellte eine eigenständige politische Kraft dar.

Die Schutzzollpolitik der ersten amerikanischen Regierungen schaffte es schließlich auch, eine eigene Schwerindustrie vor allem in den nördlichen Bundesstaaten aufzubauen. Die protektionistische Politik war bereits ein Streitpunkt unter der Kolonialherrschaft gewesen. Die britische Krone hatte schließlich aktiv versucht, den Aufbau einer eigenständigen amerikanischen Industrie zu verhindern. Es dauerte allerdings bis 1789, bis der amerikanische Kongress überhaupt das Recht bekam, bundesweite Zölle einzuführen, und bis nach dem Krieg gegen England 1812, bis diese hoch genug angesetzt waren, um als Schutzzölle bezeichnet zu werden.xiii Die Frage der Schutzzölle wurde auch zu einem zentralen Streitpunkt zwischen den späteren nördlichen und südlichen FeindInnen im BürgerInnenkrieg 1861 – 1865: Die Industriellen im Norden bauten sich ihre Produktion hinter den Zollmauern auf, während die landwirtschaftlichen GroßbesitzerInnen im Süden von günstig importierten Industrieprodukten weitgehend abhängig waren.

Nach dem Sieg der Nordstaaten im BürgerInnenkrieg setzten sich die Industrieproduktion und die doppelte Freiheit der ArbeiterInnen durch. Gleichzeitig wurde die systematische Entrechtung der schwarzen Bevölkerung weitgehend in anderer Form fortgesetzt. Das diente einerseits der enthemmten Ausbeutung von landlosen schwarzen Schuldknechten/-mägden als „sharecroppers“ (PächterInnen) in den großen landwirtschaftlichen Betrieben, andererseits dem Bündnis mit dem finanzstarken und enorm rassistischen Kapital in den Südstaaten.

Wendepunkt im Weltkrieg

In den ca. 50 Jahren zwischen BürgerInnenkrieg und Erstem Weltkrieg entwickelten sich die USA zu einer führenden Industrienation. Die Entwicklung zur imperialistischen Macht erfolgte jedoch bis zum Ersten Weltkrieg auf besondere Weise. Von einer dominanten Rolle des Kapitalexports, vor allem außerhalb des amerikanischen Kontinents, kann erst nach 1918 gesprochen werden.

Bis 1914 ähnelten die Kapitaleinfuhr und die Handelsbilanz der USA derjenigen eines unterentwickelten Landes, obwohl sie bereits die erste Industrienation der Welt waren. […] Wie ein unterentwickeltes Land führten sie [die USA; d. Red.] Agrar- und Montanerzeugnisse aus, und wie ein solches waren sie per saldo Schuldnerland, das heißt: das in den USA angelegte europäische, hauptsächlich britische Kapital betrug etwa 7,2 Milliarden US-Dollar, war also etwa doppelt so umfangreich wie das eigene Auslandskapital der USA, das etwa 3,5 Milliarden US-Dollar ausmachte.”xiv

Das war aber kein „Zurückbleiben“ des sich entwickelnden amerikanischen Imperialismus, sondern eher eine Besonderheit, eine Form von ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung, die wir auch bei anderen Großmächten vor dem Ersten Weltkrieg (z. B. dem ökonomisch rückständigen Russland) finden. Durch den fortschreitenden Landraub an den indigenen „first nations“ richtete sich die Expansion des US-Kapitals über weite Strecken nach innen. Die Staaten verfügten außerdem über eine breite Palette an natürlichen und seltenen Rohstoffen. Die Expansion auf der Suche nach Ressourcen war also nicht so drängend wie für kleinere imperialistische Staaten. Und zuletzt entwickelten sich die USA zu spät, um einen klassischen Kolonialismus anzustreben. Aus diesen Gründen stieß das US-Kapital in dieser Periode noch nicht an die nationalen Grenzen der Akkumulation.

In anderer Hinsicht beteiligte sich das Land aber sehr wohl an der imperialistischen Konkurrenz. Der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898 und die folgende Besatzung von Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen bedeuteten die Durchsetzung der eigenen Vormachtsansprüche auf beiden amerikanischen Halbkontinenten. Auch der gewonnene Krieg gegen Mexiko 1846 – 1848 war getrieben vom Anspruch, den potentiellen Konkurrenten klein zu halten. Mexiko war den USA als unabhängig gewordene Kolonie, geprägt von Plantagenwirtschaft, Genozid an der indigenen Bevölkerung und rascher kapitalistischer Entwicklung, recht ähnlich und durchaus ein natürlicher Konkurrent um die regionale Vorherrschaft – wobei der Begriff der Region auf die 12 Millionen Quadratkilometer Mexikos und der USA schwer anwendbar ist. Zu verhindern, dass sich andere ImperialistInnen in der eigenen Einflusssphäre entwickeln oder festsetzen konnten, war mehr als nur eine Vorbereitung des eigenen Aufstiegs, es war die Vorwegnahme der eigenen imperialistischen Kapitalexportpolitik.

Bereits vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg war das amerikanische Kapital tief in die Kampfhandlungen auf dem Kontinent verstrickt. Milliardenkredite an die kriegführenden Länder bedeuteten widersprüchliche Loyalitäten der amerikanischen Banken. Diese waren gleichzeitig groß genug und mit dem Industriekapital verwachsen, um die Voraussetzungen für den imperialistischen Kapitalexport darzustellen. Mit Kriegseintritt übernahm die Bundesregierung die Ausfallrisiken für die umfassenden Kriegskredite und gab selbst Kriegsanleihen an ihre europäischen Verbündeten von ungefähr 9 Milliarden US-Dollar aus. Die deutschen Reparationen aus dem Vertrag von Versailles gingen großteils direkt an die amerikanischen GläubigerInnen, ab 1924 auch sogar ohne den Umweg über französische oder britische Konten.xv

Durch diese Kredite wurden die USA während des Ersten Weltkriegs schlagartig zum weltweit führenden Kapitalexporteur. Gleichzeitig brachen sie mit dem System der britischen Vorherrschaft, das immer eine passive Waren- bei aktiver Kapitalbilanz aufrechterhalten hatte (also mehr Waren importierte als ins Ausland verkaufte). Die Schutzzollpolitik und die weitgehende Selbstversorgung mit Rohstoffen aus den sehr großen eigenen Gebieten ließen die USA zur ersten weltwirtschaftlichen Vorreiterin mit doppelt aktiver Außenbilanz werden.

Der Kapitalexport über Kredite und Auslandsinvestitionen führte über die Erträge zu einem stetigen Zahlungsfluss in die USA. Dasselbe galt für die Waren, die ins Ausland verkauft und aus dem Ausland bezahlt wurden. Strukturell waren die Importe durch geringen Arbeitseinsatz (und daher Arbeitswert), die großteils industriellen Exporte durch hohen Arbeitswert geprägt. „Kurz: als weltwirtschaftliches Führungsland sprengen die USA die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung.xvi

Hier zeigt sich auch, dass in der politisch-ökonomischen Analyse Imperialismus- und Krisentheorie nicht voneinander trennbar sind. Die hohe Abhängigkeit der amerikanischen Profite von inländischer Arbeit und die geringen Einsparpotentiale auf Kosten von Lohnsenkungen vertieften die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren ungemein.

Geschichte: Veränderte Lage durch Depression und Weltkrieg

Die Regierung unter Roosevelt versuchte zwischen 1933 und 1939, die strukturelle Krisenanfälligkeit und die soziale Instabilität durch Fiskalpolitik und einen garantierten Lebensstandard für die amerikanische ArbeiterInnenklasse zu lösen. Die durch die imperialistischen Extraprofite finanzierte höhere Absicherung der ArbeiterInnenaristokratie im Speziellen und der Klasse im Allgemeinen ist eine wichtige Voraussetzung für Stabilität in den imperialistischen Zentren. Dabei stützten sich die Vorschläge des „New Deal“ auf eine Koalition aus Teilen des Finanz- und Industriekapitals und versprachen die Befriedung der verarmten ArbeiterInnen und KleinBauern/-bäuerinnen. Die wichtigsten Elemente waren ein institutionalisiertes gewerkschaftliches Koalitionsrecht, eine Fixpreisgarantie für größere FarmerInnen, die Entflechtung der Industrie und die Trennung von Anlage- und Geschäftsbanken (Glass-Steagle-Act).

Das zweite große Versprechen des New Deals war eine frühkeynesianische Krisenstrategie, die zusammengebrochene Binnennachfrage durch Fiskalpolitik, also erhöhte und teilweise schuldenfinanzierte Staatsausgaben, wieder aufzurichten. Das scheiterte weitgehend. Erst der Zweite Weltkrieg, der über Rüstungspolitik und Preiskontrollen sowohl Beschäftigung als auch Profite stabilisierte, führte die USA aus der Krise. Aber auch die Schaffung staatlicher und genossenschaftlicher Energieträger wirkte sich stabilisierend auf Preise und Inflation aus.

4 Die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonialherrschaft

In Folge des Zweiten Weltkriegs standen sich zwei Modelle in der amerikanischen Außenpolitik gegenüber. Eine wirtschaftliche Vernichtung der europäischen KriegsgegnerInnen wurde, zum Beispiel durch den Morgenthau-Plan symbolisiert, vorgeschlagen, der die Binnennachfrage in Europa nachhaltig zerstört hätte. Dem gegenüber stand die großzügige Aufbauhilfe unter antikommunistischem Banner des Marshall-Plans, der schließlich zum Modell der amerikanischen Außenpolitik werden sollte.

Imperialistische Abhängigkeit der Halbkolonien

Die internationale Vorherrschaft durch Entwicklungspolitik und geopolitische Abhängigkeiten wurde für die USA umso wichtiger, als nach dem Zweiten Weltkrieg die verbliebenen europäischen Kolonialreiche zusammenbrachen. Anstelle der direkten Besatzung, die vor allem Britannien und Frankreich eine Vormachtstellung in der imperialistischen Aufteilung der Welt sicherte, trat die Dominanz durch Kapitalexport, Handelsabkommen, militärische Bedrohung und Geheimdienstapparate. Hier konnten die USA sich sowohl mit ihren besonders großen Ressourcen hervortun als auch vom weggefallenen Wettbewerbsnachteil gegenüber den ehemaligen Kolonialreichen profitieren.

Seit dem zweiten Weltkrieg ist das Imperium der Vereinigten Staaten an die Stelle der europäischen Kolonialreiche getreten. Es besteht aus völkerrechtlich unabhängigen Staaten, nicht Kolonien. Organisiert ist es durch nordamerikanische Kapitalausfuhr, und zwar durch direkte Investitionen (Bestand Ende 1972 25,2 Milliarden in den unterentwickelten Ländern, 94 Milliarden insgesamt), subsidiär durch die ,Auslandshilfe’. Die nordamerikanische Kontrolle variiert zwischen einerseits indirektem, elastischem Einfluß, dem nicht nur unterentwickelte Länder unterliegen, sondern auch die bis zum zweiten Weltkrieg selbständigen imperialistischen Mächte Europas sowie Japan, andererseits unverhüllter Waffengewalt, womit Marionettenregierungen wie die südvietnamesische, südkoreanische, guatemaltekische gegen ihre eigene Bevölkerung verteidigt werden.xvii

Das drückte sich auch in der Politik des „Cordon sanitaire“ (Sicherheitsgürtel) aus, mit dem sich die USA gegen ihre neuen Hauptfeinde Sowjetunion und China umgaben. Die USA bauten ihre geostrategische Absicherung auf der Abhängigkeit neokolonialer Staaten in Asien und Afrika auf. In einige dieser Länder gab es kaum Kapitalexport, und die „Entwicklungshilfe“ beruhte fast ausschließlich auf geostrategischen Interessen (Taiwan, Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Pakistan, Türkei, Israel und Griechenland). In Afrika mischten sich militärische mit wirtschaftlichen Interessen, wo es amerikanischen KapitalistInnen gelingen sollte, Profite mit Rohstoffausbeutung zu machen, zum Beispiel in Libyen (Erdöl), im späteren Kongo (Kobalt, Kupfer, Uran) und in Ägypten. In Südafrika profitierten AnlegerInnen von der höheren Profitrate aufgrund der Apartheiddiktatur und der systematischen Überausbeutung der schwarzen ArbeiterInnenklasse.

Umkehr in die Verschuldung

Die 1960er Jahre führten zum ersten entscheidenden Bruch in der Rolle des amerikanischen Imperialismus. Während in den 1920er Jahren die Zahlungsunfähigkeit der europäischen KreditnehmerInnen, die Schwierigkeiten hatten, ausreichend Dollars für Rückzahlungen zusammenzukratzen, das Bankensystem unter Druck gesetzt hatte, begannen die USA spätestens ab 1965, sich massiv in europäischen Währungen und Yen zu verschulden. Die Schulden überstiegen die Deviseneinnahmen um ein Vielfaches und dienten nicht zuletzt dazu, den extrem teuren Vietnamkrieg zu finanzieren.

Diese Verschuldung bewerkstelligten die USA vermittels der damaligen Stellung des Dollar als Weltwährung: die ausländischen Notenbanken mit Ausnahme der Banque de France hielten ihre Notendeckung überwiegend nicht in Gold, sondern in Devisen, hauptsächlich Dollardevisen.xviii

In dieser Periode drückte sich die imperialistische Vormachtstellung nicht mehr durch die internationale Dominanz der US-Kredite, sondern durch die militärische und politische Vormachtstellung innerhalb des westlichen Blocks aus. Diese militärisch-geheimdienstliche Überlegenheit wurde ab den 1960er Jahren wiederum zur Grundlage des Aufbaus weiterer ökonomischer Abhängigkeiten, auch und vor allem in Südamerika.

Amerikanischer Kapitalexport und der Krieg in den Hinterhöfen

Neben den genannten Interventionen in Asien und Afrika konzentrierte sich die US-Außenpolitik in den 1960er Jahren auch auf Lateinamerika. Das war eine direkte Fortführung der Marionettenregierungen und direkten Eroberungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Vor allem die engen Verflechtungen der fast monopolartig agierenden United Fruit Company mit dem Militär- und Geheimdienstkomplex der USA, inklusive Putschen, Diktaturen und Mordschwadronen gegen GewerkschafterInnen sind auch weltweit skandalisiert worden.

Eine zentralisierte Strategie in Lateinamerika wurde über die Entwicklungshilfe organisiert. Zur effizienten Verteilung und Erzwingung von politischen Reformen wurde 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ gegründet, die Hilfszahlungen an konkrete politische Projekte und vor allem Landreformen knüpfen sollte.xix Das gleichzeitige Entwicklungsversprechen, in der Abhängigkeit massives Wirtschaftswachstum in den betroffenen Staaten zu ermöglichen, blieb selbstverständlich unerfüllt.

Die Dependenztheorie erkennt richtig, dass die Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Wirtschaften in dieser Periode fast ausschließlich vom Investitionsverhalten des US-Kapitals und den importierten Technologien abhängt.xx Der Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern baut und festigt so die Grundlagen der internationalen Arbeitsteilung. Diese war bereits in der kolonialen Unterentwicklung durch den Kolonialismus festgelegt, wo die Rohstoff- und Arbeitsressourcen der Kolonien das Wachstum der Zentren finanzierten und das eigene dadurch gehemmt wurde. Die Übersetzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit in entsprechende politische Strukturen sollte zum Beispiel durch die „Allianz für den Fortschritt“ institutionalisiert werden.

Die imperialistische Rolle der USA in Süd- und Mittelamerika beginnt knapp vor dem Ersten Weltkrieg, fällt also mit ihrem Aufstieg zur imperialistischen Macht zusammen. Zwischen 1897 und 1914 verfünffachten sich die US-Investitionen von 308 Millionen US-Dollar auf 1,6 Milliarden US-Dollar.xxi

Ab den 1960er Jahren nahmen die Direktinvestitionen erneut massiv zu und stiegen bis 1980 um das Dreifache, bis 1990 sogar um das Fünffache an.xxii In den meisten Ländern sank das Verhältnis ausländischer Direktinvestitionen zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1914 und 1960 recht massiv, stieg jedoch bis 1990 wieder leicht an. Sowohl von den Interessen des US-Kapitals als auch von der Abhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Halbkolonien ausgehend, blieb der verächtlich „Hinterhof Amerikas“ genannte Halbkontinent also immer zentral für den US-Imperialismus.

Warenexporte

Wie zuvor ausgeführt, war der Aufstieg der USA zur imperialistischen Weltmacht nach dem Ersten Weltkrieg aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens war für den Durchbruch die amerikanische Kolonialgeschichte deutlich weniger relevant als die Kreditabhängigkeit anderer imperialistischer Staaten; die Bedeutung direkt-kolonialer Überausbeutung blieb für den amerikanischen Imperialismus weitgehend marginal. Zweitens waren die USA gleichzeitig Waren- und Kapital-Nettoexporteurinnen.

Mit dem Umdrehen der Kreditabhängigkeit nahm in den 1970er Jahren die Bedeutung des Warenexports wieder deutlich zu. Zwischen 1970 und 1974 stieg der Anteil der Exporte am US-Bruttoinlandsprodukt von 6 auf 10 %. Auf eine kurze Dämpfung des Exportwachstums 1981 – 1987 (wegen des gestiegenen Dollarkurses) folgte ein weiterer Anstieg bis in die 1990er Jahre.xxiii

5 Kalter Krieg und das „Ende der Geschichte“

Der Kalte Krieg war die prägende geopolitische Ordnung nach dem Sieg über den Nazifaschismus. Er war Ausdruck der Teilung der Welt in zwei Hauptblöcke, in denen die USA und die UdSSR jeweils wirtschaftlich vorherrschend waren. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass kapitalistische Produktionsformen vorherrschend sind und andere Produktionsverhältnisse dem untergeordnet werden. Genauso funktioniert das auch mit dem Imperialismus, der durch das kapitalistische Herrschaftsverhältnis zwischen Nationen „definiert“ ist, deren ökonomische und politische Dynamik die Grundlage einer Imperialismusanalyse sein muss. Eine „Checkliste“, mittels derer Kriterien abgehakt werden, um festzustellen, ob ein Land nun imperialistisch wäre oder nicht, gibt es nicht.

Imperialismus stellt vielmehr eine internationale, ökonomische und politische Ordnung dar. Es ist diese Totalität, nicht einzelne Eigenschaften, die einem Land und dessen Gesamtkapital eine bestimmte Stellung zuweist/zuweisen. Darüber bestimmt sich, ob ein Land imperialistisch ist oder nicht.

Der Sieg über den Faschismus erlaubte der Sowjetunion die umfassende Ausbreitung der bürokratischen Planwirtschaft und die endgültige Durchsetzung der Theorie von den geopolitischen „Einflusssphären“. Diese war gleichzeitig eine vorgeblich zeitweise Anerkennung der kapitalistischen Vorherrschaft außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre. Auf der anderen Seite wurde durch den Sieg im Krieg ohne große wirtschaftliche Zerstörung im eigenen Land die Vorherrschaft der USA in den kapitalistischen Ländern abgesichert. Das US-amerikanische Kapital war in der Lage, durch Kriegsproduktion und Aufbau die Weltwirtschaftskrise zu überwinden.

Die antisowjetische Haltung wurde in den Nachkriegsjahren zu den Leitlinien der US-imperialistischen Politik. Militärbündnisse, Wirtschaftsverträge und „Entwicklungshilfe“ waren neben dem profitablen Kapitalexport auf die geostrategische Absicherung ausgerichtet. Die gemeinsame „Bedrohung“ erlaubte auch eine relative Einheit der konkurrierenden nationalen Kapitale unter amerikanischer Führung, zumindest in den imperialistischen Ländern.

Ein wichtiges strategisches Element des kalten Kriegs bildete der Rüstungswettlauf. Nachdem die sowjetischen Einflusszonen zu groß waren, um sie mit Embargos oder Boykotts erfolgreich in die Knie zu zwingen, stellten das Wettrüsten und kostspielige Kriege (Afghanistan, Kambodscha, Angola, Mosambik, Äthiopien und Nicaragua) einen Versuch dar, die bereits stagnierende bürokratische Planwirtschaft in die Krise zu treiben. Gleichzeitig war die Aufrüstung aber auch in den imperialistischen Ländern kostspielig, was diese durch Überausbeutung der Halbkolonien nicht immer ausgleichen konnten. Außerdem beförderte sie den Aufbau der Friedensbewegung und damit politischer Opposition in den imperialistischen Zentren – ein riskanter Widerspruch für ein System, das die Kontrolle über die Peripherie mit Privilegien für die heimischen ArbeiterInnen absichert. Die Unterdrückung des US-Proletariats in diesen Jahrzehnten war vor allem durch die rassistische Spaltung und weitgehende demokratische Entrechtung, aber auch das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei und weitgehende Bindung der Gewerkschaften an die bürgerliche Ddemokratische Partei, abgesichert.

In der voranschreitenden Krise der sowjetischen Wirtschaft und damit der Herrschaft der Parteibürokratie waren vor allem die niedrige Arbeitsproduktivität und die Überproduktion nicht nachgefragter oder qualitativ minderwertiger Waren (in anderen Worten ein Versagen in der Gebrauchswertproduktion) bestimmend. Als Antwort fand die Fraktion unter Gorbatschow die Wiedereinführung kapitalistischer Marktmechanismen in der Perestroika-Politik (russisch: „Umstrukturierung“), während der zunehmenden Opposition aus der ArbeiterInnenklasse (zum Beispiel in Polen) mit einer Lockerung der politischen Repression im Rahmen der Glasnost (russisch: „Öffnung“) geantwortet wurde.

Dadurch kam es zum rapiden Aufstieg von neuen KapitalistInnen, die sich im Außenhandel eng an InvestorInnen aus den imperialistischen Ländern banden. Die planwirtschaftliche Bürokratie in ihrer Stagnation war nicht in der Lage, dieser explosiven Kraft zu widerstehen, und binnen weniger Jahre wurde die kapitalistische Wiederaneignung in der gesamten sowjetischen „Einflusssphäre“ zum großen Nachteil der ArbeiterInnen durchgesetzt.

Zu Beginn des Kalten Kriegs hatten sich die USA als unbestrittene Führungsmacht in der imperialistischen Welt durchgesetzt, wozu der gemeinsame Außenfeind aller KapitalistInnen mindestens ebenso bedeutend war wie der Kriegsgewinn. Dafür hatte sich eine andere „Supermacht“ als direkte Konkurrentin zum US-Imperialismus aufgestellt. Mit deren Untergang schien die Vorherrschaft des US-Kapitals besiegelt, einbetoniert, was sich im berühmten Buchtitel von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ als Sieg der neoliberal-militaristischen Politik ausdrückte. Nur 30 Jahre später steht diese Vorherrschaft aber wieder auf dem Spiel. Es scheint fast, als würde die Geschichte der Klassengesellschaften kein kapitalistisches Ende kennen.

6 Freihandelsabkommen und regelbasierte Weltordnung, Krieg gegen die „islamische Welt“

Der Rückzug der Trump-Regierung aus zahlreichen multilateralen (also zwischen mehr als zwei Ländern abgeschlossenen) Verträgen von Pariser Klimaabkommen bis NAFTA wurde als potentielles Ende der „regelbasierten Weltordnung“ diskutiert. Diese wird auch als Gegenentwurf zum Chaos der imperialistischen Konkurrenz zwischen Handelskrieg und StellvertreterInnenkonflikten verhandelt. So schreibt zum Beispiel das deutsche Außenministerium in seiner Bewerbung um einen Platz im UN-Sicherheitsrat: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.xxiv

Die Ideologie von der regelbasierten, multinationalen und kapitalistischen Weltordnung findet ihren ersten Ausdruck in internationalen Organisationen wie dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen (UNO). Die liberal-demokratische Kritik an deren politischer Zahnlosigkeit wird vor allem deutlich, als im Gegensatz dazu weltweite Wirtschaftsabkommen ihre Durchsetzungsfähigkeit beweisen. Das Währungsabkommen von Bretton Woods und der Aufbau der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg sind erste Beispiele für diese vertragliche Institutionalisierung.

Für die US-Vorherrschaft besonders bedeutend sind aber die Verhandlungsrunden um das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT 1947 (die 1995 in der Welthandelsorganisation WTO aufging) und die Gründung der G7 (Gruppe der sieben „wichtigsten“ kapitalistischen Nationen) nach der Ölpreiskrise 1973. Die Zahl der Freihandels- und Präferenzabkommen liegt mittlerweile in den Hunderten.xxv

Vorgeblich dienen diese Abkommen dem Zweck, gleichberechtigte oder sogar für unterentwickelte Länder vorteilhafte Bedingungen im Kapital- und Warenexport zu schaffen. Das baut auch auf den neoricardianischen oder neoklassischen Ideologien auf, dass ungehinderter (also zoll- und quotierungsfreier) Handel immer und für alle Beteiligten vorteilhafter ist.

Tatsächlich zeigt aber genau der wirtschaftliche Aufstieg der USA, wie „freier“ Handel die globalen Ungleichheiten und Abhängigkeiten noch verstärkt. Im kapitalistischen Wettbewerb setzen sich in der Regel die stärkeren Kapitale durch, und wo es Ungleichheiten im Warenfluss gibt werden diese nicht durch Gegengeschäfte, sondern durch Schuldenfallen ausgeglichen. Die Illusion von einer globalen Arbeitsteilung zum gegenseitigen Vorteil präsentiert sich in der Realität als Dystopie der imperialistischen Überausbeutung, organisiert von exportiertem Kapital.

7 Bruchpunkte: Wo machen die Trump-Maßnahmen einen Unterschied?

Rückzug aus multilateralen Abkommen

Die öffentlichkeitswirksamste Veränderung der US-Außenpolitik unter Trump war der Rückzug aus mehreren internationalen Abkommen, die zur Handschrift der Obama-Regierung gehört hatten. Neben dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zog sich Trump aus der „Transpazifischen Partnerschaft“ TPP der transatlantischen Handels- und Investmentpartnerschaft TTIP und dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zurück.

NAFTA war ein Modellbeispiel für den ausbeuterischen Charakter von Freihandelsabkommen, ein Symbol, gegen das linke AntiimperialistInnen und GlobalisierungskritikerInnen seit Jahrzehnten Sturm liefen. Während sich Ängste der Gewerkschaften nach einem Lohnverfall bei amerikanischen ArbeiterInnen durch vereinfachte Abwanderung nicht belegbar bewahrheitetenxxvi, zementierte NAFTA mit seinen Verkaufsquoten und Zollverboten die Abhängigkeit Mexikos von den USA. Die berüchtigten „InvestorInnenschutz“paragraphen, die es Unternehmen erlaubten, Staaten für unliebsame und profitgefährdende Gesetze zu verklagen, sowie Eingriffsrechte der USA in den Außenhandel Mexikos (zum Beispiel mit Kuba, Bolivien oder Venezuela) unterstrichen den offenen Herrschaftscharakter von scheinbar gleichberechtigten Freihandelsabkommen. Selbst konservative (neoklassische) ÖkonomInnen schätzen, dass die direkten wirtschaftlichen Vorteile, die NAFTA den US-KapitalistInnen brachte, nicht auf „ungehinderten“ Handel zurückzuführen sind, sondern auf Kosten der halbkolonialen VertragspartnerInnen gingen.xxvii NAFTA wurde 2018 von Trump aufgekündigt und durch das USMCA-Abkommen ersetzt, das außer einer schrittweisen Verbesserung der US-Position (Zugang zum kanadischen Markt für Landwirtschaftsprodukte, vorteilhafter Protektionismus in der Autoproduktion) keinen Bruch mit NAFTA darstellt. (USMCA = United States-Mexico-Canada-Agreement)

Auch TTIP war in Europa Gegenstand linker und linksliberaler Kritik, ebenfalls wegen des InvestorInnenschutzes und der Angleichung (also in Europa überwiegend der Verschlechterung) von Umweltschutz- und KonsumentInnenschutzregeln. Auch der offene Versuch, einen westlichen Wirtschaftsblock mit militärischer Hintergrundmusik gegen imperialistische Rivalinnen in China und Russland aufzubauen, drückte zwar nur die zunehmenden imperialistischen Zuspitzungen aus, weckte aber durchaus Widerstand. Die Verhandlungen um TTIP wurden 2016 von Trump abgebrochen. Nach dem vorläufigen Abschluss des Handelskriegs gegen die EU wurden 2019 Verhandlungen um ein neues Abkommen wieder aufgenommen.

Die transpazifische Partnerschaft TPP wurde als Bündnis von Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam unter Führung der USA 2016 unterschrieben. Es war das Kernstück von Obamas Asienstrategie zur Eindämmung des chinesischen Einflusses und wäre mit einer Abdeckung von 40 % der globalen Wirtschaft das größte Freihandelsabkommen der Welt gewesen. Die gegenseitige Bevorteilung in Handel, Zoll und vor allem Wertschöpfungsketten wäre nicht bloß auf den amerikanischen Kapitalexport, sondern auch auf die geopolitische Eindämmung Chinas ausgelegt gewesen. Die Trump-Regierung zog sich nur wenige Monate nach der Regierungsübernahme aus TPP zurück, das damit eigentlich hinfällig ist.

Ihr Rückzug ist generell nicht als Absage an den Freihandel und erst recht nicht als ideologische Ablehnung von Globalisierung oder weltweiten Produktions- und Ausbeutungsketten zu verstehen. Die von Trump als Feindbild bemühten „GlobalistInnen“ sind Elemente einer antisemitische Verschwörungstheorie und haben mit Globalisierung nichts zu tun. Vor allem die rasche Neuverhandlung nach dem Säbelrasseln von Handelskrieg und Embargodrohungen (die vor allem 2017 und 2018 das Verhältnis von USA, China und EU prägten) zeigt, dass kein Ende des „freien“ Handels ansteht. Vielmehr geht es darum, die implizite ökonomische Wahrheit, dass freierer Wettbewerb zugunsten der stärkeren Kapitale geht, noch einmal mit der militärischen, diplomatischen und geheimdienstlichen Stärke des US-„Gesamtkapitalisten“ zu unterstreichen.

Das amerikanische Kapital zeichnete sich zu Beginn seines ökonomischen Aufstiegs durch Wettbewerbsvorteile sowohl in der Industrieproduktivität als auch der Finanzinstitutionen aus. Nach der umfassenden Kapitalzerstörung in Europa und Ostasien durch den Zweiten Weltkrieg waren freierer Handel und Investititionsfluss die Schlüsselstrategie zur weltweiten amerikanischen Machtausübung.

Der Vorteil in der Produktivität ist dank partiellem Technologieexport, niedrigeren auwärtigen Lohnkosten und der teilweise maroden US-Infrastruktur ein abnehmender für den US-Imperialismus. Die zunehmende Bedeutung von „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ (TRIPS), die konservativen ÖkonomInnen ein theoretischer Graus sindxxviii waren ein Versuch, diesen Prozess zu verlangsamen. Gleichzeitig konnten Ende des 20. Jahrhunderts solche Positionsverluste durch die unangefochtene MarktführerInnenschaft in den Bereichen Hochtechnologie und Finanzwirtschaft ausgeglichen werden. Folgerichtig waren es diese Kapitalfraktionen, die den Freihandelskurs und besonders die steigende Bedeutung der Klauseln zum geistigen Eigentum und seine VertreterInnen stützten.

Auch der systematische Aufbau einer US-amerikanischen Energieunabhängigkeit war ein zentrales Ziel der Regierungen Bush und Obama, die spätestens 2019 die USA zu Nettoölexporteurinnen machten. Diese Unabhängigkeit wird mit vergleichsweise hohen Ölpreisen (zu denen sich nur die sehr schmutzige und teure Schieferöl- und Teersandausbeutung lohnt) erkauft, die andere Seite der Medaille der Kriege um Öl, die die US-Außenpolitik seit den 1990er Jahren prägt.

Die US-Vorherrschaft im Bereich der Hochtechnologie ist nicht mehr unangefochten. Vor allem im ostasiatischen Raum werden heute ähnlich leistungsfähige Halbleiterprodukte hergestellt und die entsprechende Software entwickelt wie um das Silicon Valley. Die Bedeutung der US-Finanzwirtschaft ist deutlich weniger bedroht, auch wenn die Abwicklung von Teilen des Welthandels mit chinesischen Renmibi und teilweise sogar Euros die Bedeutung anderer Börsen steigert. In der Folge der Finanzkrise 2008 sank jedoch die Bedeutung der Finanzindustrie im Vergleich zu anderen Kapitalfraktionen, die vom „regelbasierten“ Freihandel weniger hielten.

Der Kurs der Trump-Regierung widerspiegelt in erster Linie das Bedürfnis, diese stärksten Kapitalfraktionen im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die gezielten Angriffe auf chinesische Technologieunternehmen (Huawei, TikTok) sprechen hier ebenso dafür wie die offene Forderung, mehr amerikanische Landwirtschafts- und Industrieprodukte zu kaufen.

Kriegspolitik

Die Präsidentschaften von Bush und Obama waren außenpolitisch vor allem von den Überfällen auf Afghanistan und Irak geprägt. Wie schon die ersten Golfkriege waren diese ökonomisch von einem Bedarf nach günstigem und preisstabilem Erdöl getrieben. Unter dem ideologischen Deckmantel des Kriegs gegen den Terror (und als institutionalisierter Hintergrund des modernen antimuslimischen Rassismus) stationierten die US-Truppen Hunderttausende SoldatInnen in und rund um die ölfördernden Länder Westasiens und im kleineren Ausmaß auch Afrikas.

In den letzten Jahren der Obama-Regierung wurde der direkte Konflikt mit Russland als potentiellem imperialistischen Konkurrenten wichtiger Treiber der Kriegspolitik. Die Unterstützung der rechtsextrem-neoliberalen Koalition in der Ukraine durch US-Truppen sowie die Interventionen in Libyen und Syrien hatten mehr mit diesem geopolitischen Konflikt als der Sicherung von Öl- und Gasversorgung zu tun. Tatsächlich bewegten sich die USA schon seit 2014 auf einen Energie-Nettoexport (bei ausreichend hohen Weltmarktpreisen, die die Förderungsmethoden profitabel machten) zu.

Das führte zu einer Verschiebung der Interventionen, weg vom Ziel, einen niedrigen Weltmarktpreis für Öl und Gas sicherzustellen. Es schuf aber neue Konflikte, die die Abnahme von amerikanischen Energieprodukten sicherstellen sollten. So muss man auch die zeitweise US-Forderung verstehen, keine neue Pipeline für russisches Gas zu bauen (Nordstream-2-Konflikt). Dasselbe gilt dafür, dass die EU sich im Auslaufen des Handelskrieges verpflichtet, ihre Einfuhr an amerikanischem LNG-Flüssiggas zu verdoppeln.

In diesem Lichte müssen auch der von Trump versprochene Truppenabzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzfristig angekündigte Entspannung mit Iran und Nordkorea gesehen werden. Hinter seinem Versprechen steht die Kosten-Nutzen-Rechnung der Kapitalfraktionen, die den Präsidenten offen gefördert haben. Vor allem für die Energieindustrie ist der Nutzen gering, der den enormen finanziellen und moralischen Kosten des Dauerkrieges gegenübersteht. Auch die versuchte Entspannung mit Russland hatte sich deutlich von Obamas Politik abgehoben, der in der Ukraine und in Syrien eigentlich StellvertreterInnenkriege eskaliert hatte.

In diesen Fällen überwiegt aber die Kontinuität und die Durchsetzungsfähigkeit des für die Außenpolitik relevanten industriell-militärischen Komplexes, also die Rüstungsindustrie und Teile von Armee und BeamtInnenapparat. Tatsächlich konnte sich Trump hier aber auch nicht gegen die „Falken“, die dortigen kriegsbegeisterten IrangegnerInnen durchsetzen. Folgerichtig deshalb wurde der Abzug nicht organisiert, und die USA intervenieren auch rund um die Ölvorkommen in Nordsyrien, zwischen Rojava und Südkurdistan (Nordirak). Es ist dennoch wichtig zu verstehen, dass es politökonomische Hintergründe für diese Wahlversprechen gibt.

In anderen Bereichen ist diese außenpolitische Verschiebung aber durchgesetzt worden. Die Bündnispolitik im arabischen Raum zielt auf Einzelabkommen, ideologische und militärische Zugeständnisse (Botschaftsverlegung in Israel, möglicher Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien) ab. Unter Obama orientierte die Strategie noch klarer darauf, die lokalen Mächte gegeneinander auszubalancieren, und war auch weniger auf direkte Loyalität zu den USA zugeschnitten. Der offene Unilateralismus, also das US-Diktat der Bedingungen, hat aber auch nicht nur zum Ziel, Einzelstaaten unter Druck zu setzen, sondern auch die Beziehungen zu anderen Verbündeten der USA zu verändern.

Auch an den reaktionären Entwicklungen in Lateinamerika waren die USA führend beteiligt. Das bedeuten zum Beispiel das Zurückdrängen von progressiven und linken Regierungen in Brasilien, Chile, Bolivien, der Abbruch der Entspannung mit Kuba und die Putschversuche in Venezuela. Diese Entwicklungen haben aber unter den Regierungen Bush und Obama begonnen und wurden unter Trump recht konsequent weiter vorangetrieben. Dahinter steht aber nicht nur die chauvinistische „Hinterhof“ideologie der 1970er Jahre, sondern der Versuch, chinesischen Einfluss in der Region zu beschränken. Das bezieht sich zum Beispiel darauf, dass sich Brasiliens Bergbau (vor allem die Kupferproduktion) als Zulieferer für Chinas Industrie zum weltwirtschaftlichen Motor in der Krise ab 2008 entwickelte, oder auch auf den chinesisch-nicaraguanischen Vertrag zum Bau eines Atlantik-Pazifik-Kanals (als direkte Konkurrenz zum amerikanisch kontrollierten Panama-Kanal).

Zusammengefasst scheint die Trump-Regierung in der Durchsetzung ihres außenpolitischen Programms schwach, hat aber in entscheidenden Punkten eine andere Stoßrichtung als die vorhergegangenen Regierungen. Die außenpolitischen Interessen des US-Kapitals verschieben sich, hin- und hergerissen zwischen einem zunehmenden Bedürfnis nach militärischer Schützenhilfe auf dem Weltmarkt und geostrategischer Bündnispolitik gegen den aufstrebenden Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht ohne weiteres auflösbar und wird zuerst in den USA eskalieren, um sich dann weltweit in offenen militärischen Konflikten zu entladen.

8 Ausblick: Die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist, sich zuspitzende Widersprüche nach der Krise und die Konfrontation mit China

Der US-Imperialismus steht vor einer grundlegenden Neuordnung. Weil die USA die weltweit führende imperialistische Macht sind, gilt dasselbe für die globale Ordnung, und umgekehrt sind die Veränderungen in den USA auch Produkt der globalen Machtverschiebungen. Für die Analyse der US-Rolle sind drei Punkte entscheidend (1) die Machtverschiebung zwischen den Kapitalfraktionen im Inland, (2) der Aufstieg von China und Russland sowie die Formierung der EU zu imperialistischen Blöcken und (3) die widersprüchlichen Interessen, die sich in der amerikanischen Außenpolitik niederschlagen.

Der grundlegende Widerspruch zieht sich zwischen den Gründen für den und den Auswirkungen des Aufstieg/s von China zur imperialistischen Macht und direkten Konkurrenten der USA. Die direkten Gründe sind, dass US-amerikanische Kapitale schon im 20. Jahrhunderts den Kostenvorteil in der Industrieproduktion an andere aufstrebende Staaten abgeben mussten. Das ist eine direkte Folge der Tatsache, dass Wert nur aus menschlicher Arbeit entsteht und der zeitweise Kostenvorteil durch Produktivitätssteigerungen langfristig zu einer niedrigeren Profitrate tendiert.

Diese Entwicklung führte in den USA zu starkem Druck auf Lohnsenkungen. Ein Erhalt des Lebensstandards vieler ArbeiterInnen wurde durch den Import günstiger chinesischer Konsumprodukte ermöglicht. Das löste wiederum für China das Nachfrageproblem, wo KapitalistInnen ihre ArbeiterInnen sehr schlecht bezahlen konnten, ohne sich gesamtkapitalistisch Sorge um die Konsumnachfrage machen zu müssen. Diese Rolle übernahmen die amerikanischen ArbeiterInnen.

Durch die Dominanz der Finanzindustrie und des Hochtechnologiesektors der USA bedeutete der zunehmende Verlust der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ noch nicht, dass deren Stellung als imperialistische Führungsmacht gefährdet war. Der Aufbau von globalen Produktionsketten, die von amerikanischen Kapitalen dominiert wurden, erlaubte gleichzeitig den Kapitalexport über die Finanzindustrie und das Abschöpfen der Profite am Ende der „Wertschöpfungskette“ durch amerikanische IndustriekapitalistInnen. Der Aufbau von profitableren Hochtechnologiefirmen in Japan, Korea und China, der relative Bedeutungsverlust der US-Finanzindustrie im Laufe der Krise ab 2008 und der erfolgreiche Aufbau von Produktionsketten ohne amerikanische Beteiligung setzt aber dieser Periode ein Ende.

Das bedeutet eine Verschiebung der Interessen innerhalb des US-Kapitals. Weniger KapitalistInnen können erwarten, auf dem Weltmarkt der Freihandelsabkommen zukünftig bestehen zu können, und die das bewältigen, sind im inneramerikanischen Vergleich schwächer geworden. Dafür fordern mehr Kapitalfraktionen die direkte Unterstützung ihrer Wettbewerbsteilnahme auf dem Weltmarkt durch die militärische, diplomatische und geheimdienstliche Überlegenheit ein. Typische Beispiele sind vertragliche Abnahmequoten zum Beispiel für Agraprodukte oder Flüssiggas, Sanktionen gegen KonkurrentInnen, und Schutzzölle gegen ausländische Konsumgüter.

Gleichzeitig erfordert die Eindämmung Chinas aber breite geopolitische Bündnisse mit kleineren imperialistischen Staaten ebenso wie mit Halbkolonien. Denen muss dafür aber ein ökonomisch besseres Angebot gemacht werden als die klassischen chinesischen Infrastrukturinvestitionen im Billionenbereich. Neben direkten Kapitalanlagen zählt dazu auch das Angebot, gemeinsame Märkte zu konsolidieren, die im TPP-Abkommen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Beides ist aber teuer und läuft den Einzelinteressen bedeutender US-KapitalistInnen ziemlich direkt zuwider.

Diesen Widerspruch zu lösen, wäre die Aufgabe des Staates als imperialistischem Gesamtkapitalisten. Das geht sich nur aus, wenn die eigene Führungsrolle weiter abgesichert wird, eine weitgehend unrealistische Aussicht. Wir stehen am Ende der Periode der klaren US-Dominanz über die globale imperialistische Ordnung, die mittelfristig durch eine multipolare Herrschaft abgelöst werden wird.

Das spitzt aber auch die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten zu. Die vergangenen zwei Krisen ab 2008 und ab 2019 haben schon gezeigt, dass die Kapitalakkumulation in den imperialistischen Zentren an ihre Grenzen stößt. Es ist kein Zufall, dass diese Grenzen in den USA und der EU schneller erreicht sind als zum Beispiel in China oder Russland. Aber auch diese Länder haben definitiv krisenhafte Entwicklungen durchgemacht.

Die einzige Perspektive der kapitalistischen Krisenlösung ist für die imperialistischen Blöcke die Ausweitung der eigenen Absatz-, Rohstoff- und Arbeitsmärkte. Der Imperialismus ergibt sich aus den Krisentendenzen des Kapitalismus und ein Verständnis der imperialistischen Dynamiken macht eine tiefgehende Kenntnis der Krisendynamiken notwendig.

Weil die Halbkolonien und Einflusssphären weitgehend aufgeteilt sind, läuft das auf einen Konflikt um die Neuaufteilung der Welt hinaus. In kleinerem Ausmaß sehen wir das bereits am internationalen Auftreten Chinas, das geschickt die Spielräume aus der Freihandelslogik und in von den USA aufgegebenen Gebiete nutzt, um sich eine bessere Ausgangsbasis zu verschaffen. Ein anderes Beispiel ist der Zusammenprall russischer und amerikanischer Interessen in Bezug auf die EU. Dieser Widerspruch ist in der Ukraine eskaliert. Die daraus entstehende Kriegsgefahr ist nicht unmittelbar, aber unausweichlich.

Endnoten

i Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus. Zur Geschichte der US-Kapitalausfuhr. Sammlung Luchterhand 161. Neuwied und Darmstadt: 1974, S. 24

ii Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke (MEW) Band 19, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 222

iii Wood, Ellen Meiksins. The Origin of Capitalism: A Longer View. New ed. London: Verso, 2002. Deutsche Ausgabe: Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Ausgewählte Werke Band I, LAIKA Verlag, LAIKAtheorie Band 55, Hamburg 2015

iv https://www.dw.com/de/eu-strebt-massive-steigerung-der-fl%C3%BCssiggas-importe-aus-usa-an/a-48572023

v Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW Band 23 (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 792

vi Ebenda, S. 794

vii Galenson, David W.: „The Rise and Fall of Indentured Servitude in the Americas: An Economic Analysis,“ 2020, S. 27

viii https://jacobinmag.com/2017/10/anti-rent-war-movement-feudalism-new-york

ix Moore, Jason W.: „Nature and the Transition from Feudalism to Capitalism,“ 2020, S. 77

x Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Das Manifest der Kommunistischen Partei“, in: MEW Band 4, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost 1959, S. 467

xi Kilson, Marion D. de B.: „Towards Freedom: An Analysis of Slave Revolts in the United States“, Phylon (1960-) Vol. 25, no. 2 (2nd Otr.. 1964), S. 175 – 187, https://doi.org/10.2307/273653

xii Aptheker, Herbert: „The American Revolution, 1763-1783: A History of the American People: An Interpretation“ Vol. 2, International Publishers Co, New York 1960

xiii Chang, 2007, 79f., in: Aptheker, Herbert, a. a. O.

xiv Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus …, a. a. O., S. 53

xv Ebenda, S. 83

xvi Ebenda, S. 90

xvii Ebenda, S. 148

xviii Ebenda, S. 132

xix Bodenheimer, Susanne: „Dependency and Imperialism: The Roots of Latin American Underdevelopment.“ Politics & Society 1, no. 3 (1971), https://doi.org/10.1177/003232927100100303

xx Dos Santos, 1968, 2. 28

xxi Taylor, Alan M.: „Foreign Capital in Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, March 2003, S. 13, https://doi.org/10.3386/w9580

xxii Ebenda, S. 29

xxiii Schmidt, Timothy J.: „The Rise of U.S. Exports to East Asia and Latin America“, 1994, S. 68, <https://duckduckgo.com/?q=Schmidt%2C+Timothy+J.%3A+%E2%80%9EThe+Rise+of+U.S.+Exports+to+East+Asia+and+Latin+America%E2%80%9C%2C+1994&t=ffab&atb=v1-1&ia=web>

xxiv https://verfassungsblog.de/voelkerrecht-klar-benennen-deutschland-im-sicherheitsrat-und-der-einsatz-fuer-die-regelbasierte-internationale-ordnung/

xxv Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System: How Preferential Agreements Undermine Free Trade“, Oxford University Press, Oxford/New York 2008, S. 12

xxvi Caliendo, Lorenzo/Parro, Fernando: „Estimates of the Trade and Welfare Effects of NAFTA“, The Review of Economic Studies 82, no. 1 (January 1, 2015), S. 1 – 44, https://doi.org/10.1093/restud/rdu035.

xxvii Rodrik, Dani: „What Do Trade Agreements Really Do?“, Journal of Economic Perspectives 23, no. 2 (May 1, 2018, S. 73 – 90), S. 74, https://doi.org/10.1257/jep.32.2.73, https://j.mp/2EsEOPk

xxviii Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System … “, a. a. O.




Konflikt um EU-Budget: Haus ohne Halt

Jürgen Roth, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Nach wochenlangem Streit mit Polen und Ungarn konnte die deutsche Ratspräsidentschaft die nächste drohende Katastrophe der EU gerade noch einmal vermeiden. Am Donnerstag, den 10. Dezember 2020, einigte sich der Europäischer-Rats-Gipfel, das Treffen der europäischen Staats- und Regierungsspitzen, auf einen Kompromiss.

Der Haushalt mit mehrjährigem Finanzrahmen für die Jahre 2021 – 2027 steht. Sein Volumen beträgt ca. 1,1 Billionen Euro. Zusätzlich wurden ca. 750 Milliarden Euro für Corona-Hilfen bewilligt, die besser als Umstrukturierungsfonds für erhöhte „grüne und digitale“ Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bezeichnet werden sollten. In der Frage des Rechtsstaatsmechanismus‘ hatte die deutsche Präsidentschaft des EU-MinisterInnenrats einen für die beiden Visegrád-Staaten akzeptablen Kompromiss durchgesetzt.

Rechtsstaatlichkeit

Polen und Ungarn wird bekanntlich seit langem vorgeworfen, Einfluss auf Justiz und Medien auszuüben und Minderheiten zu wenig Schutz zu gewähren. Der Kompromiss sieht vor, das neue Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch eine Zusatzerklärung zu ergänzen. Darin sind die Möglichkeiten festgelegt, sich gegen die Anwendung der Regelung zu wehren, z. B. durch eine Überprüfung seitens des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Außerdem soll die Feststellung eines Verstoßes erst dann zur Kürzung von Finanzhilfen führen können, wenn klar nachgewiesen wird, dass die Verletzung negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Überdies müssen sich bei Streitfragen die Staats- und RegierungschefInnen, also der Europäische Rat (ER), mit dem Thema beschäftigen.

Bei einer Ablehnung des Kompromisses hätte der EU ab Januar nur ein Nothaushalt zur Verfügung gestanden und das Corona-Konjunkturprogramm ohne die beiden „Außenseiter“ organisiert werden müssen, auf das wirtschaftlich stark leidende Länder, die gleichzeitig ein Schuldenproblem haben, wie z. B. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Belgien, angewiesen sind.

Bezüglich des von Polen und Ungarn als „Sieg“ gefeierten Kompromisses entbrannte vor dem Gipfelbeschluss ein Zwist quer durch alle EU-Parteien und -Länder. Die KompromisslerInnen argumentierten teils auf der Linie des deutschen Ratspräsidialvorschlags, teils schlugen sie ein Ausklammern und eine Verlegung auf zwischenstaatliche Abkommen vor, die sich außerhalb des EU-Verfassungsrahmen bilden sollten. Vorbilder dafür sind die Eurogruppe und die Finanzmarktrettungsschirme.

Das gegnerische Lager setzte auf Härte gegenüber den beiden osteuropäischen Ländern. Für die Annahme der Rechtsstaatsklauseln im Europäischen Rat hätte eine qualifizierte Mehrheit genügt, die als sicher galt. Für Haushalt und Corona-Paket war allerdings Einstimmigkeit erforderlich und Polen und Ungarn hätten deren Beschluss durch ihr Veto verhindern können.

Die dramatische Einschränkung bürgerlich bürgerlich-demokratischer Rechte in den beiden osteuropäischen Ländern darf freilich nicht über die doppelte Heuchelei der restlichen EU hinwegtäuschen. Lediglich das EU-Parlament (EP) ist vom Volk gewählt, doch ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung marginal. Alle übrigen Institutionen sind Bestandteile eines supranationalen Apparatgebildes, das zudem noch vom Wohlwollen der Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängt -und zwar vor allem von jenen der dominierenden imperialistischen Mächte in der EU. Zudem bewegen sich nicht nur Ungarn und Polen, sondern faktisch alle Staaten und Institutionen auf eine Stärkung autoritärer polizeilicher Verfolgungs- und Überwachungsorgane zu oder führen, wie Frankreich, rassistische, anti-muslimische Gesetze ein. Von Menschenrechten ist an den Außengrenzen erst recht nichts zu spüren.

Zweitens geht es beim Konflikt um etwas ganz anderes als die bürgerliche Demokratie, nämlich um ein Aufbrechen des inneren Zusammenhalts, wie es sich schon im Brexit äußerte. Auf diesen widersprüchlichen Integrations- und Auseinanderentwicklungsprozess gehen wir weiter unten ein, indem wir seine Ursachen im Lichte der Entwicklung seit der Großen Krise 2007/2008 skizzieren. Zuvor wollen wir aber knapp die aktuelle ökonomische Lage skizzieren, die ihrerseits die Situation der EU vor dem Hindergrund der globalen Wirtschaftskrise verschärft.

COVID-19: Stress für die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Herbstprognose der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erwartet für die EU bis Ende 2021 ein Schrumpfen des BIP von 3 – 5 % im Vergleich zu Ende 2019, für Großbritannien sogar 6,4 % – unter der Voraussetzung wirksamen Impfschutzes! Angesichts der infolge von SARS-CoV-2 galoppierenden Staats-, Haushalts- und Firmenverschuldung steigt die Gefahr eines Finanzkollapses historischen Ausmaßes.

Nach einer Erholung im 3. Quartal 2020 aufgrund von Lockerungsmaßnahmen erwartet die EU-Kommission jetzt für die Eurozone einen Wirtschaftseinbruch von 7,8 % für das Gesamtjahr 2020, für 2021 ein Wachstum von 4,2 % und für 2022 von 3 % (EU-Wirtschaft insgesamt: -7,4 %, + 4,1 %, + 3 %). Sowohl die Eurozone wie das Gebiet der Gemeinschaft werden Ende 2022 den Stand vor Pandemieausbruch nicht erreicht haben.

Zwar konnte der Anstieg der Arbeitslosenquote insbes. durch Kurzarbeitsregelungen gedämpft werden, doch rechnet die Kommission mit weiterem Anstieg nach Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen ab 2021: Für die Eurozone bzw. die EU lauten die Zahlen und Prognosen für 2019 7,5 % bzw. 6,7 %, 2020: 8,3 % bzw. 7,7 %, 2021: 9,4 % bzw. 8,6 %, 2022 8,9 % bzw. 8,0 %. Das gesamtstaatliche Defizit wird in der Eurozone aufgrund von steigenden Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen gegenüber 2019 massiv steigen. Damals betrug der Anteil an der Neuverschuldung am addierten Bruttoinlandsprodukt nur 0,6 %. 2020 soll die Neuverschuldung 8,8 % des BIP betragen, 2021 6,4 % und 2022 4,7 %. Die Gesamtschuldenquote im Eurogebiet soll gegenüber 85,9 % im Jahr 2019, 2020 auf 101,7 %, 2021 auf 102,3 % und 2022 auf 102,6 % steigen.

Das „Corona-Hilfspaket“ …

390 des 750 Mrd. Euro schweren Hilfspaketes sind als nicht rückzahlbare zusätzliche Finanzmittel in einem Programm geplant, das sich Next Generation EU (NGEU) nennt. Dafür soll sich die EU erstmals langfristig bis 2058 verschulden. Vorher bestand ihr Haushalt allein aus Zuweisungen der Mitgliedsstaaten. Neben Kreditaufnahme ist auch die Einführung eigener europäischer Steuern gedacht (auf Plastik und CO2).

Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen jedoch kaum in der direkten Krisenbekämpfung liegen kann, sondern in erster Linie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem zunehmend umkämpften Weltmarkt mittelfristig stärken soll. 2021 und 2022 dürfte gerade einmal ein Fünftel der Mittel fließen. 218,75 Mrd. Euro, das sind 70 % der insgesamt für diesen Zweck eingeplanten Gelder von 312,5 Mrd., sollen für die beiden Jahre nicht für die Bewältigung der Krisenfolgen, sondern zur Milderung der strukturellen Probleme der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden und bemessen sich an deren Arbeitslosenquoten zwischen 2015 und 2019, also Jahre vor der Corona-Krise. Die zeitliche Verteilung zwischen 2021 und 2026 ist intransparent. Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel schätzt, dass 2021 10 % und 2022 13 % ausgezahlt werden sollen.

Der Bedarf für direkte krisenbezogene Maßnahmen ist offensichtlich auch begrenzt. So haben 17 EU-Staaten im Rahmen des SURE-Programms 90 Mrd. Euro für die Unterstützung von Kurzarbeitsregelungen beantragt. Gleichzeitig blieben 240 Mrd. zinsgünstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für solche Maßregeln insbes. im Gesundheitswesen bislang unangetastet, obwohl der Verzicht auf umfassende „Reform“auflagen bei deren Inanspruchnahme beteuert wurde. Angesichts der Erfahrungen in der Eurokrise vor 6 Jahren finanzieren sich viele EU-Länder lieber zu Niedrigzinsen auf dem Kapitalmarkt, als diesen womöglich doch vergifteten Köder zu schlucken.

… und die Zukunft der Währungsunion

In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB deutlich verändert. Die Grenzen zwischen Notenbank und Geschäftsbank, die sie ursprünglich strikt befolgen sollte, muss sie immer weniger einhalten. So kann sie faule Staats- und Bankenpapiere kaufen und gleichzeitig die Leitzinsen niedrig halten. Diese Politik des lockeren Geldes (Quantitative Easing; QE) wird zudem flankiert von der Tatsache, dass der Euro zum ersten Mal seit Februar 2013 im Oktober 2020 den US-Dollar als internationales Zahlungsmittel wieder überholt hat. Im Finanzierungsgeschäft bleibt dessen Rolle allerdings ungebrochen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) entfielen bis Juli 2020 mehr als die Hälfte aller internationalen grenzübergreifenden Kreditgeschäfte auf den Dollar.

Aber was passiert, wenn die Gesundheits-Krise und deren ökonomische Folgen länger als geschätzt andauern, sei es weil zu spät, zu wenig und zu unwirksam geimpft wird? Was geschieht, wenn die nicht durch die Pandemie bedingten wirtschaftlichen, strukturellen Ursachen mit Firmen- und Bankenzusammenbrüchen durchschlagen? Wird die EZB QE durchhalten können, wenn der privatkapitalistische Wirtschaftssektor nicht wieder auf eigenen Füßen steht, nachdem die Regierungssubventionen wegfallen? Schon jetzt steht das Ausmaß der Gesamtverschuldung, darunter auch die der Unternehmen, laut Institute of International Finance (IIF) im Vergleich zum BIP weltweit auf einem nie dagewesenen Hoch und machte in diesem Jahr einen Rekordsprung von 320 (2019) auf 365 %. Die OECD rechnet damit, dass 30 % der Unternehmen diese Stunde der Wahrheit nicht überleben werden. Banken werden mit Verweigerung des Kredits untereinander reagieren sowie auf eine Erhöhung ihrer Einkommensquelle, der Zinsen, drängen müssen, wollen sie nicht in diesen Strudel geraten. Deren Erhöhung verteuert auch die Staatsanleihen und damit die Gefahr staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Dieses weltwirtschaftliche Damoklesschwert schwebt natürlich auch über der EU.

Robuster oder krisenanfälliger?

Covid-19 treibt auch Europa auseinander. Vielerorts sind die gemessenen Infektionszahlen, allerdings auf Basis breiterer Tests, höher als im April. Die aussagekräftigere Zahl der Toten ist sogar in der BRD mittlerweile deutlich höher. Wirtschaftlich betroffen ist insbesondere die für die Süd- und Südostländer so wichtige Tourismusbranche. Und insbesondere Frankreich, Italien und Spanien leiden unter einem viel schlimmeren Wirtschaftseinbruch als z. B. Deutschland. Zudem belaufen sich die Staatsschulden dieser 3 Länder auf mehr als zusammengerechnet 6 Bio. Euro bei einer Wirtschaftsleistung, die gerade anderthalbmal so groß wie die der BRD ausfällt.

Um die Frage der Krisenanfälligkeit beantworten zu können, betrachten wir die Entwicklung der EU seit der letzten Krise. Anders als herkömmliche Interpretationen der Eurokrise gehen wir nicht davon aus, dass die Zahlungsbilanzungleichgewichte in erster Linie durch zu hohe Löhne in den Defizitländern (neoliberale Lesart) bzw. zu niedrige in den Gläubigerstaaten (die neokeynesianische) verursacht wurden.

Dahinter steht vielmehr eine nur zum Teil durch die Lohnentwicklung bestimmte ungleiche internationale Arbeitsteilung. Eine übergeordnete bzw. dominante Position in dieser ergibt sich aus der Kapazität einiger weniger Produktionssysteme, komplexer Produktionsmittel, insbes. solche zur eigenständigen Herstellung anderer Produktionsmittel (Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische Industrie). Als Ergebnis musste die südeuropäische Peripherie einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen, während sich zentrale imperialistische Ökonomien wie Deutschland gerade auf eine entwickeltere und produktivere Leistung in diesen zentralen Sektoren stützen.

Strukturreformen

Seit 2008 kam es neben dem Fokus auf Haushaltskonsolidierung, die mittlerweile eine Art Verfassungsrang einnimmt zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu einer merklichen Erweiterung der EU-Kompetenzen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik. Kern ist das Europäische Semester (ES), welches die Koordination und Überwachung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitiken gewährleisten soll. Damit sollen übrigens auch in die Lohnentwicklung mit Sanktionen eingegriffen werden, falls dass ein Referenzwert von 9 % Steigerung in 3 Jahren überschritten wird. Das ES ist neben der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission sowie dem ESM ein dritter Krisenbewältigungsmechanismus.

Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt führten schon bisher zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften, Abnahme der Tarifbindung, Verbetrieblichung der Lohnentwicklung, Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Trotz des Aufschwungs in den meisten EU-Ländern nach der letzten Krise und steigender Beschäftigung kam es zu einer Verlangsamung des Lohnwachstums. Hierbei stieg die Zahl atypischer Beschäftigung und Leiharbeit ab 2010 bzw. 2014 wieder an.

Die verheerenden Auswirkungen waren in den Ländern am größten, die Kredite aus dem Rettungsschirm ziehen mussten. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte der südeuropäischen Länder sanken infolge des austeritätspolitisch induzierten Rückgangs der Importe, der selbst aus dem Rückgang der effektiven Kaufkraft resultierte. Dies hat offenkundig nichts mit einer Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsposition zu tun. Die wachsenden Exporte aus der Peripherie dürfen nicht als Abbau tiefer Ungleichgewichte interpretiert werden. Vielmehr spricht der Einbruch der Industrieproduktion für eine weitere Erosion ihrer Produktionsstrukturen. Ganz anders dagegen die Entwicklung z. B. in Deutschland und Österreich. Diese Polarisierung innerhalb der europäischen Arbeitsteilung führte zu einer Abnahme der Bedeutung Südeuropas als Absatzmarkt für deutsche Exporte. Die BRD fährt seit 2012 einen größeren Außenhandelsüberschuss gegenüber dem Rest der Welt, v. a. den sog. Schwellenländern, als gegenüber der Eurozone ein.

Ökonomische Verschiebung

Der zweite Faktor, der die aktuelle Position Merkels und der Bundesrepublik im Haushaltskonflikt erklärt, ist die gegenläufige Entwicklung in den Visegrád-Ländern (Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Industrieproduktion entwickelte sich dort noch geschwinder als in Deutschland und Österreich und stieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorkrisenniveau. Auch der Anteil der Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie nahm zu von 57 auf 59,6 %, am deutlichsten in der Slowakei. Mit Ausnahme Polens wurden diese Volkswirtschaften allerdings immer tiefer in das deutsche Produktionssystem integriert, zu verlängerten Werkbänken.

Politisch bedeutet dies eine relative Schwächung Südeuropas und folglich eine wachsende Asymmetrie in der für den bisherigen Integrationsprozess konstitutiven Achse Berlin – Paris und eine Gewichtsverlagerung von Süden nach Osten. Zugleich erleben wir in Osteuropa einen widersprüchlichen Prozess. Die wachsende ökonomische Dominanz des deutschen Kapitals geht mit politischen Konflikten Deutschlands (und der EU) mit den Regierungen dieser Staaten einher, die sich aus verschiedenen Quellen – nicht zuletzt auch – dem Agieren imperialistischer Konkurrenz speist. Andererseits setzt die wachsende ökonomische Abhängigkeit der Region der Zuspitzung des Konflikts Grenzen und erklärt auch das größere Interesse Deutschlands an Kompromissen selbst mit den polnischen und ungarischen Regierungen.

Italien: neues Zentrum der Widersprüche?

Italien nimmt in der Hierarchie der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Zwischenposition zwischen Deutschland und der Peripherie in Süd- und Osteuropa ein. Seit den Umbrüchen der 1990er Jahre und dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht haben sich die Konkurrenzbedingungen gravierend geändert. Mit Wegfall der Abwertungsmöglichkeiten durch die Einführung des Euro geriet die italienische Industrie aufgrund ihres Spezialisierungsprofils unter verstärkten Kostensenkungsdruck. Hatte das Land einst ein außergewöhnlich hohes Niveau industrieller Beschäftigung ähnlich der BRD aufrechterhalten können, scheint sich ein Trend zur teilweisen Deindustrialisierung durchzusetzen.

Es ist also zu erwarten, dass Italien zum Herd eines künftigen Schwelbrands in der EU werden wird. Die aktuelle EU-Haushaltspolitik der Großen Koalition in der BRD und ihre vergleichsweise versöhnlerische Haltung gegenüber Polen und Ungarn reflektieren auch eine Veränderung der Ökonomie des Kontinents. Die explosive Vertiefung der Krise in Italien würden die EU und ihre Führungsmacht vor noch größere Herausforderungen stellen.

Düstere Aussichten

Obwohl die Haushaltskrise letztlich in einem vom deutschen Imperialismus vermittelten Kompromiss endete, verdeutlichte das Gezerre, das innerhalb der führenden Kreise der EU und innerhalb ihrer dominierenden Mächte, allen von in Deutschland, auch ein Konflikt über die zukünftige Europa-Strategie stattfindet. Sollen „abweichende“ kleinere Staaten oder Staatengruppen weiter taktisch eingebunden werden oder sollen die EU und die Eurozone zu einem zentralisierten, ökonomisch und politische einheitlicheren Staatenblock unter deutscher bzw. deutsch-französischer Führung geschmiedet werden.

Zugleich droht das größer gewordene wirtschaftliche Gefälle zwischen Norden und Süden in der EU den Zusammenhalt der Union weiter zu unterminieren. In Anbetracht einer herannahenden Krise in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Länder wie Österreich, die Niederlande, Finnland und Schweden, aber auch Teile des BRD-Kapitals solidarisch die Krisenlasten mit den kränkelnden Volkswirtschaften teilen. Der deutsche und der französische Imperialismus stehen somit vor schwer unlösbaren Herausforderungen angesichts der globalen Krise und der Konkurrenz durch China und die USA.

Der französische Imperialismus unter Macron versucht sich als als Vorreiter europäischer „Eigenständigkeit“ zu präsentieren. Angesichts der Schwächen der französischen Wirtschaft und der inneren politischen Krisen Frankreichs verbrauchen sich die meisten seiner Initiativen fast so schnell, wie sie in die Welt gesetzt wurden. Der deutsche Imperialismus setzt mit Merkel und von der Leyen zumindest der Form nach auf Ausgleich und Kompromiss – doch die Zeit läuft ihnen angesichts einer krisengeschüttelten Europäischen Union und  immer tieferer Widersprüche davon.

Härtere Gangart

Die Drohungen gegenüber Ungarn und Polen im Haushaltsstreit signalisierten, dass auch die Führung der EU-Kommission und Teile des deutschen Imperialismus erwägen, eine härtere Gangart gegenüber „abweichenden“ Mitgliedern der EU einzuschlagen. Im Haushaltsstreit hätte er mit einer „kompromisslosen“ Haltung letztlich aber mehr verloren und gewonnen. Die Dauer und Härte des Konflikts zeigen freilich, welche weit größeren uns noch bevorstehen, wenn die gegenwärtige Krise entscheidende Volkswirtschaften der EU – wie z. B. Italien – an den Rand des Bankrotts treiben sollte.




Der Angriff auf die Pakistanische Börse in Karatschi

Liga für die Fünfte Internationale, 2. Juli 2020, Infomail 1109, 3. Juli 2020

Am 29. Juni wurden 10 Menschen bei einem Anschlag auf die Börse (Pakistan Stock Exchange) in Karatschi getötet, darunter die 4 Angreifer, die einen Bombenanschlag verübten und dann mit Schusswaffen das Feuer eröffneten. Bei einer Schießerei töteten reguläre und Spezialkräfte der Polizei alle vier. Sechs Wachen und PassantInnen kamen ebenfalls ums Leben.

Die „Baloch Liberation Army“ (BLA; Belutschische Befreiungsarmee), eine nationalistische, guerillaistische Untergrundorganisation, bekannte sich zu dem Angriff. In einer Erklärung rechtfertigte sie den Überfall als Antwort auf die fortgesetzte Unterdrückung und Ausplünderung Belutschistans durch die pakistanische herrschende Klasse und ihre imperialistischen Verbündeten, die Operationen der Armee, die im letzten Jahrzehnt zur Tötung und zum „Verschwinden“ von Zehntausenden von Menschen geführt haben, und die Plünderung der Region durch den chinesischen Imperialismus in jüngster Zeit.

Allah Nazar, der Anführer einer anderen Guerillaorganisation, der „Baloch Liberation Front“ (BLF; Belutschischen Befreiungsfront), rechtfertigte den Angriff ebenfalls als eine Botschaft an Pakistan und China, ähnlich dem Angriff auf das chinesische Konsulat in Karatschi durch BLA-KämpferInnen im Jahr 2018.

Reaktion der Herrschenden

Die pakistanischen Staatsorgane und die Polizei brandmarkten die Attacke sofort als eine Operation von „Terroristen“. Sie beabsichtigen eindeutig, den Ansturm der BLA als Vorwand für Vergeltung, Einschüchterung und Unterdrückung der gesamten Befreiungsbewegung in Belutschistan zu benutzen, deren Massenkämpfe in den letzten Wochen sowohl gegen die gewaltsame Unterdrückung durch die Polizei und andere staatliche Kräfte als auch auf soziale und politische Fragen ausgerichtet waren.

Auf einer Pressekonferenz beglückwünschte sich der Leiter der Einheiten der Sindh Rangers, General Omer Ahmed Bukhari, zu der „erfolgreichen Operation“ und „starken Reaktion“ und behauptete, dass die vier AngreiferInnen innerhalb von 8 Minuten getötet worden seien. Natürlich vergaß er auch nicht, darauf hinzuweisen, dass eine Beteiligung „ausländischer Kräfte“, wie z. B. der indischen Dienste, „nicht ausgeschlossen“ werden könne. Der Vorsitzende der pakistanischen Börse, Sulaiman S. Mehdi, wies stolz darauf hin, dass sich der Markt von kurzfristigen Verlusten schnell erholt habe und dass „der Handel nicht einmal für eine Minute ausgesetzt wurde“.

Das gesamte Establishment des Landes schloss sich in ähnlicher Weise an. Der Außenminister, Shah Mahmood Qureshi, würdigte die getöteten Sicherheitskräfte und deutete an, dass Indien hinter dem Angriff steckte, indem es „SchläferInnen“ aktivierte, ein „Narrativ“, das von mehreren MinisterInnen und führenden Sicherheitskräften wiederholt wurde. Darüber hinaus haben die staatlichen Behörden in der Provinz Sindh und in ganz Pakistan deutlich gemacht, dass sie den Anschlag als Vorwand für umfangreiche Operationen nutzen werden.

Der Ministerpräsident der Provinz Sindh, Shah, wies die Strafverfolgungsbehörden an, gezielte Operationen zu „intensivieren“ und die Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen weiter zu verstärken, „damit die aufkommende Bedrohung durch TerroristInnen in ganz Sindh zerschlagen werden kann“. Führende Polizeibeamte und Ranger-Offiziere erklärten, dass innerhalb von 24 Stunden eine gezielte Aktion gegen Militante in Karatschi und anderen Distrikten der Provinz gestartet werden soll.

In Belutschistan wird mit ziemlicher Sicherheit eine weitere Runde von verstärkten Repressions-, Militär- und Polizeioperationen beginnen. Das Schweigen zu diesem Thema in den bürgerlichen Medien ist in einem Staat wie Pakistan kein Grund zur Beruhigung, sondern eher ein Anlass zur Besorgnis. Bisher haben die Sicherheitskräfte die Häuser der an der Karatschi-Börse getöteten Personen durchsucht und einige Familienmitglieder entführt, während andere gewaltsam „verschwunden“ sind.

Zusätzlich zu den Bedrohungen durch „Sicherheits“-Operationen startet eine öffentliche Hasskampagne gegen all jene, die sich mit Vermissten solidarisiert oder sich gegen die Verletzung der Menschenrechte und die Repression in Belutschistan gewehrt haben. Selbst der bekannte Journalist Hamid Mir, der die Erschießung der BLA-KämpferInnen durch die Polizei eigentlich begrüßte, ist dennoch des „Landesverrats“ beschuldigt worden, weil er in der Vergangenheit Reformen in Belutschistan gefordert hatte.

Ursache der Anschläge

RevolutionärInnen und die ArbeiterInnenklasse in Pakistan dürfen sich nicht von den geschichtsverfälschenden Erzählungen der Sicherheitskräfte und der Bundes- und Provinzregierungen blenden lassen, in denen der Staat als Verteidiger der „Demokratie“ und des „Fortschritts“ in einem Kampf gegen „TerroristInnen“ oder gar ausländische Kräfte dargestellt wird. Dies dient nur dazu, jene Realität zu vertuschen, die einen Befreiungskampf sowie nationalistische und guerillaistische Bewegungen und Organisationen überhaupt erst hervorgebracht hat: die systematische nationale Unterdrückung des Volkes der BelutschInnen seit Gründung Pakistans.

Belutschistan ist mit seinen 13 Millionen EinwohnerInnen (von 220 Millionen in Pakistan) nicht nur geographisch die größte Provinz des Landes, die etwa 44 Prozent des gesamten Territoriums umfasst, sondern auch eine Region, die reich an Ressourcen wie Kohle, Gas, Gold, Kupfer und vielen anderen natürlichen und mineralischen Rohstoffen ist. Der größte Teil der Einnahmen daraus wird jedoch direkt vom Zentralstaat Pakistan und imperialistischen InvestorInnen vereinnahmt. Darüber hinaus ist sie von zentraler Bedeutung für die Interessen des chinesischen Imperialismus und sein Projekt des Wirtschaftskorridors China-Pakistan, CPEC.

Es war die Unterdrückung und Verarmung der belutschischen ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen sowie sogar großer Teile des KleinbürgerInnentums, die zu einem Widerstandskampf führten. Dem wurde mit massiver Repression begegnet, bei der Zehntausende von der Armee und den Sicherheitsdiensten getötet wurden oder „verschwanden“. Es sind diese Kräfte, die die wahren TerroristInnen sind. Der pakistanische Staat verteidigt nicht die Freiheit oder die Demokratie in Belutschistan, sondern nur seine sozialen, wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen und die der imperialistischen Mächte, denen er selbst untergeordnet ist.

Wenn er droht, die „TerroristInnen“ zu jagen, meint er nicht nur oder nicht einmal in erster Linie die KämpferInnen der BLA, sondern alle demokratischen, nationalistischen oder sozialistischen Kräfte in Belutschistan, die gesamte Massenbewegung, die sich in den letzten Jahren gegen die Ausplünderung, Ausbeutung und Unterdrückung entwickelt hat. Mehr noch, er will auch eine Warnung an all jene ArbeiterInnen und Jugendlichen in anderen Teilen Pakistans aussprechen, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen oder sich in Solidarität mit den BelutschInnen und anderen unterdrückten Minderheiten mobilisieren.

Deshalb müssen sich RevolutionärInnen und die ArbeiterInnenbewegung den Operationen gegen alle belutschischen Organisationen widersetzen. Obwohl wir und viele andere mit der Politik und Strategie der BLA nicht einverstanden sind, müssen wir uns weigern, das Recht der staatlichen Streitkräfte anzuerkennen, belutschische KämpferInnen zu unterdrücken, zu verhaften oder zu töten. Die ArbeiterInnenbewegung und ihre Organisationen müssen sich gegen alle repressiven Operationen gegen das Volk und die AktivistInnen in Belutschistan unter dem Vorwand eines „Kampfes gegen den Terrorismus“ wenden. Sie müssen sich solidarisch zeigen, nicht nur in Pakistan, sondern weltweit.

Es steht außer Frage, dass der Kampf gegen die nationale Unterdrückung gerechtfertigt ist und die Unterstützung der gesamten ArbeiterInnenklasse, der Linken und aller fortschrittlichen Kräfte in Pakistan und weltweit verdient und braucht. Deshalb müssen wir alle Kräfte in Belutschistan verteidigen, die diese Unterdrückung bekämpfen, unabhängig davon, ob wir ihre politische Strategie teilen oder ablehnen. Jede andere Position würde bedeuten, die Kräfte der Unterdrückung mit denen der Unterdrückten gleichzusetzen.

Welche Strategie?

Das bedeutet nicht, dass RevolutionärInnen die Strategie und Taktik der BLA oder anderer nationalistischer Guerillaorganisationen unkritisch beurteilen sollten. Vielmehr sollten sie die Strategie und den kleinbürgerlichen Charakter ihrer Politik ablehnen und offen kritisieren.

Aber als MarxistInnen kritisieren wir sie von einem rein revolutionären Blickwinkel aus. RevolutionärInnen wie Lenin oder Trotzki lehnten die Methoden des individuellen Terrorismus ab, aber nicht von einem heuchlerischen oder bürgerlich-moralistischen Standpunkt aus. Mit ihnen erkennen wir an, dass eine Massenrevolution und damit revolutionäre Gewalt notwendig sind, wenn man die bestehende kapitalistische und imperialistische Ordnung stürzen will. Wir stimmen voll und ganz zu, dass die nationale Unterdrückung der BelutschInnen, PaschtunInnen und anderer unterdrückter Völkerschaften nicht durch eine schrittweise Reform von oben gewährt wird, sondern nur als Ergebnis eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kampfes.

Aber die Strategien des Guerillakampfes und des individuellen Terrorismus fördern oder stärken diesen Kampf nicht, im Gegenteil, sie desorganisieren ihn. Sie geben dem Staat einen Vorwand, um bestehende Bewegungen zu zerschlagen. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie die ArbeiterInnenklasse und die unterdrückten Massen nicht als das Subjekt revolutionärer Veränderungen sehen, sondern sie durch eine nicht rechenschaftspflichtige, selbsternannte kleine Gruppe von Menschen ersetzen.

Revolutionäre KommunistInnen in der Tradition von Lenin und Trotzki treten für eine radikal andere revolutionäre Strategie, ein anderes Programm und eine andere Organisationsform ein. Wir setzen uns für die Schaffung einer revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse ein, die den Massenkampf anführen kann, die aber den kämpfenden Organen der ArbeiterInnenklasse, den demokratisch organisierten Gewerkschaften, den Komitees und Aktionsräten und schließlich den demokratischen ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenräten gegenüber rechenschaftspflichtig ist und bleibt.

In den vergangenen Monaten sind in Belutschistan und vielen anderen Teilen Pakistans neue Massenbewegungen, Bewegungen des politischen Kampfes, entstanden, seien es die Solidaritätsbewegung mit Bramsh Baloch, die StudentInnenbewegung oder Aktionen und Streiks der ArbeiterInnenklasse gegen die Krise. Unsere Aufgabe ist es, auf diesen ersten, wichtigen Schritten aufzubauen, die begonnen haben, die Kampfmoral, das Selbstvertrauen und die Selbstorganisation der Massen zu stärken. Wir müssen den Weg zum Aufbau, zur Vereinigung und Verallgemeinerung solcher Bewegungen gehen, zum Aufbau einer Massenvereinigungsfront aller Kräfte der ArbeiterInnenklasse, aller Organisationen der Unterdrückten, aller kampfbereiten Sektoren der Linken.

Die Solidarität mit allen Angegriffenen und mit den national Unterdrückten ist eine Voraussetzung dafür, dass eine solche Verbindung wirksam und dauerhaft sein kann. Nur auf einer solchen Grundlage kann eine wirkliche Einheit zwischen den ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und revolutionären Jugendlichen der verschiedenen Nationen und eine Partei der ArbeiterInnenklasse und Internationale aufgebaut werden!