DWE-Enteignungskonferenz: Mieter:innenbewegung bundesweit koordinieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 265, Juni 2022

Der Kampf von Mieter:innen hat in den letzten Jahren eine neue Qualität angenommen. Angesichts der Verschärfungen, denen sie sich v. a. in den Großstädten gegenübersehen, bricht dieser Trend vermutlich nicht so schnell ein. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE) verfolgt dabei eine politische Perspektive zur Lösung der Wohnungsfrage im Sinne der einfachen Mieter:innen, die Enteignung großer Immobilienkonzerne und die Verstaatlichung des enteigneten Bestandes unter ihrer (Mit-)Kontrolle. Doch die Orientierung darauf, die tagtäglichen Probleme der Mieter:innen durch den Druck auf staatliche Institutionen zu lösen ohne den Aufbau kampffähiger Mieter:innenstrukturen, bringt das Vorhaben ins Stocken. Die Frage, wie wir gegen den Senat und die Gerichte den Mehrheitswillen der Mieter:innen umsetzen können, bleibt unbeantwortet.

Der Volksentscheid DWE gilt über die Berliner Landesgrenze hinaus als nachahmenswertes Beispiel. Für den Mietprotest, der oftmals lokal und vereinzelt abläuft, wird die Perspektive eines überregionalen Protests immer dringlicher und deutlicher, doch wie?

Als Gruppe Arbeiter:innenmacht sind wir aktiv in der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Hiermit möchten wir unsere Einschätzung zur Lage der einfachen Mieter:innen und ein paar Vorschläge für die Perspektive der Bewegung äußern. Wir hoffen, dass die Enteignungskonferenz nicht nur den Charakter eines Wissens- und Erfahrungsaustausches annimmt, sondern Ausgangspunkt für eine bundesweit koordinierte und schlagkräftige Mieter:innenbewegung wird. Dieser Text soll ein Vorschlag dafür sein.

Lage auf dem Wohnungsmarkt in Deutschland

Laut statistischem Bundesamt sind die durchschnittlichen Immobilienpreise in Deutschland zwischen Oktober und Dezember 2021 um 12,2 % im Vorjahresvergleich gestiegen. Der durchschnittliche Kaufpreis für Ein- und Zweifamilienhäuser stieg zwischen 2010 und 2020 um etwa 65 %. Das Preisniveau in den deutschen Städten wird als überbewertet eingeschätzt, zwischen 15 und 40 %. Der EU-Risikorat kalkuliert das Blasenrisiko auf „mittel“. Ein Platzen einer solchen Blase könnte einen hohen Anteil an ausfallenden Renditen mit sich bringen, den Marktwert der Unternehmen senken, die Zinsen auf Kredite erhöhen und auf andere Sektoren der Wirtschaft aufgrund zunehmender Verwobenheit zurückwirken. Und das nicht nur für Deutschland, sondern auch Österreich, Bulgarien, Kroatien und Ungarn. In Deutschland trifft das Problem in besonderer Form zu, da es unter den OECD-Staaten einen hohen Anteil an Mieter:innen hat (ca. 57,9 % im Jahr 2018). Währenddessen verharren die Eigenkapitalanteile beim Ankauf von Immobilien weiterhin im Keller und viele Kredite sind an variable Zinssätze gebunden.

Die systematische Veränderung in der Immobilienwirtschaft wird als Finanzialisierung bezeichnet. Der Begriff beschreibt einerseits den Trend zunehmender privater Finanzanlagen im Immobiliensektor, andererseits auch den verstärkten Einfluss des Finanzsektors und seiner Erwartungen auf die Wohnungswirtschaft. Seit der Finanzkrise von 2007/08 erleben wir eine massive Niedrigzinspolitik der Zentralbanken (Quantitative Easing) – eine Ausgangssituation, die Tür und Tor für ein Jahrzehnt des Renditenbooms u. a. in deutschen Großstädten folgen ließ. Nicht primär, weil Kapitalanlagen in Wohnraum grundlegend hohe Erträge versprechen, sondern mangels besserer Alternativen im produzierenden Gewerbe. Die Renditen in sogenannten Spitzenstandorten wie Berlin und Hamburg liegen auf einem Tief (2,5 und 2,6 %). Das vergangene Jahrzehnt war durch geringe Reinvestitionsraten des Kapitals in den Sektor, in welchem die Profite erzeugt wurden, geprägt. Die großen Akteur:innen des Immobiliensektors sind dementsprechend immer deutlicher mit dem Finanzkapital verwoben.

Immer mehr einfache Mieter:innen müssen einen größer werdenden Teil ihres monatlich zur Verfügung stehenden Geldes somit für Mietzahlungen ausgeben. Die durchschnittliche Mietbelastungsquote privater Haushalte in Deutschland betrug 2018 27,2 . Die Tendenz ist dabei steigend. Diese Kennzahl erscheint geringer, da die Ausprägung der Mietbelastungsquote regional sehr ungleichzeitig ist. In Berlin ist sie bei Neuvermietungen im Bundesdurchschnitt mittlerweile am höchsten. Im August 2021 wird sie auf 37,3 % datiert, bei einer 65 m²-Wohnung (durchschnittlich 930 Euro Warmmiete) und einem durchschnittlichen Einkommen von 2.491 Euro. Die Mietbelastungsquote sagt aus, wie hoch der Anteil der Miete am monatlichen Nettolohn ist.

Gleichzeitig lassen sich angesichts der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine bereits deutlich die Konturen und heftigen Ausmaße der Krise erkennen, die sich kaum noch beziffern lassen. Die Inflation ist dabei bereits jetzt ein relevanter Faktor. Seit Jahresbeginn sind ebenfalls die Bauzinsen massiv angestiegen: für einen Baukredit über 15 Jahre Laufzeit durchschnittlich von 1,2 auf 2,87 %. Parallel dazu erleben wir eine voranschreitende Zentralisation des Immobilienmarktes. Vergangenes Jahr versuchten Vonovia und Deutsche Wohnen zu fusionieren. Akelius hat seine 14.000 Wohnungen im deutschsprachigen Raum an Heimstaden verkauft.

DWE

Gegen die Herrschaft dieses Elends hat die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen einen Vorschlag entwickelt: die Enteignung von Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohneinheiten im Land Berlin. Dafür hat die Initiative über Sammelphasen, Volksentscheid und Vorstufen hinaus mit Mieter:innen diskutiert, verschiedenste Aktionsformen organisiert und gezeigt, welche Dynamik eine Perspektive zur Lösung der Wohnungsfrage entfalten kann. Doch die Initiative setzt ihre Kraft auf die Umsetzung dieser Enteignung durch die Ausnützung des rechtlichen Rahmens des Staates und durch dessen Institutionen. Als taktische Forderung stellt dies eine klare Perspektive zur Vereinheitlichung des Widerstandes dar, als strategische Orientierung führt dies dazu, die Frage offenzuhalten, was folgt, wenn der Staat mitsamt dessen Verfassung, Gewaltorganen und Gerichten nicht willens und fähig ist, dies umzusetzen. Ein Staat, der ansonsten die Verhältnisse erst ermöglicht hat, indem die Erfüllung der Renditeerwartungen mehr Gewicht hat als das Bedürfnis zu wohnen. Kurz gesagt: ein Staat, dem die Vermietungs„verzinsung“ so sehr am Herzen liegt, dass etliche Mieter:innen zwangsgeräumt werden.

Die Perspektive der Enteignung greift viele Schwächen der Mieter:innenbewegung auf, bricht mit dem Anschein des Mietverhältnisses als individuellem Problem. Der Grund für diesen Anschein liegt darin, dass die Wohnungsfrage keine direkte, sondern nur eine indirekte Klassenfrage ist. Arbeiter:innen leiden unter der Anmietung von Wohnraum in Privatbesitz am meisten. Der Mietkampf leidet aber darunter, kein klares Klassensubjekt zu kennen. Ziel sollte daher sein, die Verbindung zu lohnabhängigen Mieter:innen zu schaffen. In diesem Sinne fassen wir die Eigentumsfrage auf, die DWE stellt. Eigentum und Kontrolle über die gesellschaftlich geschaffenen Werte (hier Wohnraum) sind klassische Fragen der Arbeiter:innenbewegung. Folglich ist eine kollektive Widerstandsperspektive notwendig. Das erfolgversprechend und greifbar zu machen, ist der bislang größte Achtungserfolg, den DWE errungen hat.

Doch seit dem Wahlerfolg am 26. September kehrt sich die bislang so vielversprechende Perspektive, das Mittel Volksentscheid, in einen Selbstzweck und eine Fessel um. Bislang war es eine greifbare Möglichkeit für die Mieter:innen und die Mietaktivist:innen. Doch nach dem Achtungserfolg von 59,1 % der Stimmen liegt der Ball nun im Feld des Senats und der spielt auf Verschleppung. Nun folgen wir dem Fahrplan des Senats und seiner Expert:innenkommission in Richtung Sackgasse. Diese Fallstricke waren bereits im Vorfeld erkennbar, doch jetzt ernten wir die Konsequenzen. Eine erfolgreiche Umsetzung des Vorhabens der Initiative erscheint nämlich von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, wenn es keine Neuorientierung gibt.

Wie enteignen?

Durch den Volksentscheid haben wir erreicht, dass sich die verschiedenen Mietinitiativen und Massenorganisationen der Mieter:innen an uns orientiert haben. Doch haben wir es bislang nicht genügend geschafft, die Enteignungsinitiative zum Aktionsschwerpunkt aller politischen Kräfte in der Mieter:innenbewegung oder zu einer lebendigen Diskussion in den Gewerkschaften zu machen. Zwar haben uns der Berliner Mieter:innenverein, die Berliner Mieter:innengemeinschaft oder Gewerkschaften wie ver.di, IG Metall oder GEW aus Berlin unterstützt, doch waren sie nie wirklich Teile der Initiative. Ein ähnliches und damit verbundenes Problem besteht gegenüber den Mieter:innen, mit denen wir tagtäglich in Gesprächen sind und waren.

Wir brauchen eine Kampforganisation, die in der ganzen Stadt einen großen Teil der Mieter:innen umfasst, jedoch gleichzeitig kein Organ des verknöcherten sozialdemokratischen Vereinswesens ist und zu einer Art Mietschutzversicherung verkommt, sondern Mietprotest organisiert und den Kampf gegen Immobilienwirtschaft und Verschleppung des Volksentscheidergebnisses führt – bis zu kollektiven Mietboykotten und Besetzungen der Firmenzentralen. Solche Massenorganisationen wären fähig, die Enteignung und „Vergesellschaftung“ (Kommunalisierung) umzusetzen und zu verteidigen. Die Gewerkschaften stellen mit ihren Mitgliedschaften eine weitere Grundlage für solche Organisationen dar, ist jede Mieterhöhung doch letztendlich ein indirekter Lohnraub und sind die meisten Mieter:innen doch schlussendlich lohnabhängig – weshalb die Wohnungsfrage auch v. a. eine Klassenfrage ist.

Der Protest gegen den Umgang mit dem Volksentscheid, aber auch die tagtägliche Organisierungsarbeit auf der Straße und in den Häusern sollten sich nicht nur auf die Werbung für die Idee der Enteignung fokussieren, sondern müssten die Frage „Wie enteignen?“ ehrlich beantworten. Diese Organisationen existieren bisher nicht, das stimmt, doch vor vier Jahren hielt es kaum jemand für wahrscheinlich, dass wir einen Volksentscheid zur Enteignung mehrheitsfähig machen könnten. Die Gunst der Stunde gilt es, nicht zu verpassen. Und selbst wenn uns der Senat jemals die Enteignung schenken sollte, so lassen wir hierdurch lebendige Organe entstehen, die fähig sind, den Wohnraum in ihrem Interesse zu kontrollieren. Der Vorschlag eines Gesetzesvolksentscheids (GVE) geistert seit Monaten durch die Reihen von DWE. Ein solcher böte einen Rahmen, um gemeinsam eine solche Struktur aufzubauen. Ein inhaltsleeres, zielloses Kiezorganisationsprojekt würde sicherlich eine widerspenstige Mieter:innenschaft erreichen können, jedoch einen Schritt weg vom Ziel der Enteignung und Überführung in städtisches Eigentum darstellen.

Wie bundesweit schlagkräftig werden?

Mieten müssen wir ja nicht nur in Berlin zahlen, auch in anderen Städten regiert der Mietwahnsinn. Die Enteignungskonferenz ist ein richtiger Schritt in Richtung einer Zusammenführung des Mietkampfes aus allen Ecken und Enden Deutschlands. Lasst uns gemeinsam aus der Konferenz heraus konkrete Aktionsperspektiven entwickeln! Regelmäßige Konferenzen, der gemeinsame Plan, kampfkräftige Mieter:innenorganisationen aufzubauen, zentrale Forderungen und damit verbundene Proteste sollten ihr Ergebnis bilden. Initiativen wie Hamburg enteignet, die kollektiven Klageversuche gegen die Nebenkostenabzocke von Vonovia oder die Forderung nach einem bundesweiten Mietendeckel sind Ansätze dafür. Eine reine Fokussierung auf lokale Themen lässt den Mietprotest ein saisonales Phänomen bleiben.

Mieter:innen sind, wie weiter oben bereits benannt, keine soziale Klasse. Für Linke ist daher unerlässlich, in diese Bewegung selbst einen klaren Klassenstandpunkt hineinzutragen. Nur wenn sich die Mieter:innenbewegung als Teil der Arbeiter:innenbewegung versteht, kann sie dauerhaft die Lage der Mietenden verbessern, denn in letzter Instanz bestimmen auch auf dem Wohnungsmarkt Klassenverhältnisse.

Zur Zeit macht sich dies gerade für proletarische Mieter:innen schlagend bemerkbar. Aktuell erleben wir angesichts des Krieges in der Ukraine und der anhaltenden Coronapandemie eine massive Inflation. Nicht nur die Miete stellt eine Belastung für Lohnabhängige und Arme dar. Das Kapital versucht überall, seine Mehrkosten auf uns abzuwälzen. Die Mieter:innenbewegung und allen voran DWE dürfen hier nicht passiv bleiben, sondern wir brauchen eine Diskussion über den Mieter:innenprotest hinaus, wie wir unsere Ziele erreichen können und wollen.

Forderungskatalog und kleines Aktionsprogramm

Die Mieter:innenbewegung braucht ein Programm zur Enteignung und Kontrolle von Wohnraum, für das sie kämpft – ein Aktionsprogramm das unserer Meinung nach folgende Aspekte umfassen sollte:

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe.

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt.

3. Programm für den Neubau von Sozialwohnungen und günstigem Wohnraum für die Masse der Lohnabhängigen.

4. Kampf gegen Armut: für Mindestlohn und Anpassung der Löhne an die Steigerung der Mietpreise und anderer Lebenshaltungskosten.

5. Enteignung von Grund und Boden, der privaten Immobilienkonzerne und des Wohnungsbaukapitals.

6. Kontrolle durch Mieter:innen und lohnabhängige Bevölkerung.




Strategiekonferenz „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ – Wie weiter?

Diskussionsbeitrag zur Strategie von DWe von Wilhelm Schulz (Kiezteam Reinickending-Weddorf, Taskforce Organizing im KT R-W), Petra Hundert (Kiezteam Reinickending-Weddorf, Taskforce Organizing im KT R-W), Tomasz Jaroslaw (Taskforce Strategiekonferenz, Taskforce Argumente), Infomail 1177, 3. Februar 2022

Am 26. September hat „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen (DWE)“ im Volksentscheid mit 59,1 % der gültigen Stimmen einen großen Sieg errungen. Nach Jahrzehnten unternehmensfreundlicher Politik in Richtung Privatisierung, Mietsteigerung und Profitmaximierung wurde mit der Losung der Enteignung und Vergesellschaftung ein großes Statement dagegengesetzt. Die BerlinerInnen machten eine klare Ansage und sprachen sich für die Enteignung der Deutschen Wohnen, Vonovias und Co. aus. Die Eigentumsfrage und damit verbunden die Frage der demokratischen Kontrolle sind die zentralen Fragen der derzeitigen Situation.

In den letzten 3 Jahren wurde viel erreicht:

  • Ein Beschlusstext wurde erarbeitet, der die programmatische Basis der Kampagne bildet. Dieser wurde immer wieder überarbeitet.
  • Ein Treffen verschiedener AktivistInnen hat sich Anfang 2019 zum offenen Plenum als zentrales Organ der Kampagne entwickelt.
  • Zum Tragen der Kampagne wurde ein weitverzweigtes Netz von Strukturen aufgebaut:  Sieben AGen, diverse Taskforces und Unter-AGen, ein Koordinierungskreis und Kiezteams, die sich von einer Struktur zum Sammeln der Unterschriften zur lokalen Basis der Kampagne weiterentwickelten.
  • Hunderte AktivistInnen und noch mehr GelegenheitsaktivistInnen arbeiteten in den heißen Phasen im Sommer und Herbst 2021 für die Kampagne.
  • Viele kleine Initiativen wie auch größere und Massenorganisationen (z.B. Linkspartei, Berliner MieterInnenverein, Gewerkschaften) wurden als UnterstützerInnen gewonnen.

DWE konnte die Debatte in der Stadt auf diese Weise prägen und die Wohnraumfrage als eine zentrale Frage im Wahlkampf zur Berliner Abgeordnetenhauswahl aufwerfen. Die Stärke der Kampagne ist dabei vor allem, dass sie an den Kernproblemen der breiten Bevölkerung ansetzt und objektiv ein Massenpotenzial anspricht. Sie greift politische Elemente und Ziele aus der ArbeiterInnenbewegung auf, und bringt sie in eine Form, die dem aktuellen Bewusstsein und der aktuellen Diskussionskultur entsprechen und macht sie somit einer Vielzahl von Menschen zugänglich. Erreicht wurde dies auch durch die Verwendung von leicht zugänglichen Kommunikationsstrukturen und einer populären Sprache.

Institutionen des bürgerlichen Rechts (§15 GG Vergesellschaftungsparagraph, Volksbegehren) wurden taktisch geschickt verwendet. Aber hier zeigt sich die Problematik, die Grenzen dieser Mittel nicht ausreichend zu reflektieren. Es ist zwar vollkommen richtig im ‚Gegebenen‘ anzusetzen. Wenn es jedoch keine Strategie gibt, aus diesen gegebenen Institutionen herauszufinden und durch eine demokratische Mobilisierung eine außerparlamentarische Gegenmacht aufzubauen, bleibt die Umsetzung in den engen Grenzen der Institutionen stecken und verbleibt bei den politischen Entscheidungsträgern, die seit Jahrzehnten Politik im Interesse der privaten Immobilienkonzerne betrieben haben.

Taktik = Strategie?

Um langfristig bestehen und weiterhin nachhaltig Einfluss nehmen zu können, ist es zentral, dass DWE eine einheitliche strategische Ausrichtung entwickelt. Die Diskussion dazu wurde in den letzten Jahren vernachlässigt, weshalb der Kampagne nach dem Sieg im Volksentscheid ein weiteres zielgerichtetes Handeln fehlt. Dies führt dazu, dass der politische Gegner faktisch über den weiteren Verlauf entscheiden kann und der neue Senat mit der Verschleppungstaktik „ExpertInnenkommission“ initiativ werden konnte.

Ebenso wurde die Frage des Klassenstandpunkts in der Kampagne vernachlässigt. Die hohen Zustimmungsraten unter den Lohnabhängigen zeigen deutlich, dass sich die Kampagne hauptsächlich auf die ArbeiterInnenklasse stützt. Auf der anderen Seite befinden sich die großen Konzerne und Lobbys, deren Interessen von bürgerlichen Parteien (AfD, CDU, FDP, Grüne), der SPD-Spitze sowie staatlichen Institutionen in Gestalt des Senates oder des Verfassungsgerichtes vertreten werden. Das zeigt relativ klar die Klassenlinien in der Mietdebatte. Diese Klassenlinien wurden leider durch Begriffe wie die der „Stadtgesellschaft“ (was ähnlich zum Volksbegriff die Gesamtheit aller Klassen meint) aus taktischen Gründen bewusst vernebelt, um Attraktivität beim linken KleinbürgerInnentum zu erzeugen. Das ging aber auf Kosten einer strategischen Orientierung auf die Schichten, mit denen die Vergesellschaftung langfristig steht oder fällt: einfache MieterInnen und Lohnabhängige. Die Folgen davon waren bzw. sind, dass es keine oder keine ausreichende Debatte in der gesamten Linken, MieterInnen- und ArbeiterInnenbewegung, aber auch in der Kampagne gibt, wie die Vergesellschaftung mit eigenen Mitteln, aus eigener Kraft umgesetzt werden könnte.

Stattdessen wurde die Debatte hauptsächlich auf taktische Fragen des unmittelbaren Wahlkampfs konzentriert. Zwar wurde teilweise und wird versucht MieterInnen und ArbeiterInnen zu erreichen. Aber im Rahmen einer rein-parlamentarischen Strategie muss sich deren Rolle letztlich auf die des passiven, das Kreuzchen setzenden Objekts reduzieren. Das Potenzial dieser sozialen Milieus, als Subjekt die Enteignung selbst durchzusetzen, wird mit dieser Strategie verschenkt.

Natürlich war die Wahlkampforga notwendig. Aber ohne den gemeinsamen Rahmen (Strategie) und ein Ziel, aus dem sich konkrete Werkzeuge (Taktik) ableiten, bedeutet das nun, dass DWE vom Senat übertölpelt wird. Denn wenn man auf der oberflächlichen Ebene der Taktik und technischen Orga verbleibt, wird die Frage der Strategie von außen beantwortet. Dies geschieht jedoch ohne bewussten, demokratischen und selbstbestimmten Prozess innerhalb der Kampagne mit Wirkung auf die gesamte Linke, sondern unbewusst im Rahmen des Gegebenen, also der bürgerlichen Institutionen, ohne Diskussion und Reflexion bezüglich möglicher Alternativen. Ohne Diskussion und ohne Perspektive außerhalb der bürgerlichen Institutionen wird es dem politischen Gegner wie Giffey-Geisel einfach gemacht, DWE die Ebene der politischen Auseinandersetzung und letztlich unsere Strategie zu diktieren.

Verschärft wurde diese strategische Schwäche der Kampagne dadurch, dass systematisch taktische und organisatorische Fragen als Strategie bezeichnet wurden. Planungen waren meist nur kurz- und mittelfristiger Natur und bedeuteten nach dem 26. September: Planlosigkeit. Die Kampagne beschränkt sich seitdem darauf, die Politik des Senates zu kommentieren und im Rahmen einer „Eskalationsstrategie“ Druck auf den Senat aufzubauen. Giffey und Geisel wurde die politische Initiative für die Frage der Umsetzung überlassen. Somit ist der aktuell einzige skizzierte Weg zur Umsetzung des Volksbegehrens an die „ExpertInnenkommission“ gekoppelt, einem Organ was vom SPD-geführten Senat eingesetzt wird. Die Entscheidung zur Besetzung der Kommission und Umsetzung liegt rechtlich und faktisch beim Senat. Die Umsetzung der Vergesellschaftung in diesem Rahmen ist sehr unwahrscheinlich.

Auseinanderdriften

Darüber hinaus führt die strategische Unschärfe zum Auseinanderdriften der Kampagne. Persönliche, politische Konflikte und Polarisierungen zwischen verschiedenen Strukturen innerhalb der Kampagne entwickelten sich daraus (z.B. Kokreisstrukturreform). Das ist unvermeidlich, wo unterschiedliche politische Kräfte aufeinandertreffen. Problematisch ist jedoch, wenn das nur auf einer oberflächlichen, persönlichen oder rein organisationstechnischen Ebene gesehen wird und entsprechend nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben wird. Die Frage, ob die Kampagne eine gemeinsame Strategie hat, die in verschiedenen Arbeitsbereichen umgesetzt wird, oder ob die Kampagne einfach eine Summe völlig unterschiedlicher Unterkampagnen ist, ist weder geklärt noch der Kampagne ausreichend bewusst. Einerseits gibt es die Teile, die mit dem Senat verhandeln wollen, sich in der Kontakt- und Verhandlungsgruppe engagieren und die ExpertInnenkommission bespielen wollen. Andererseits gibt es diejenigen, die ihren Schwerpunkt auf die Kiezteamarbeit legen wollen. Das Fehlen einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung bedeutet das Fehlen eines zielgerichteten und wirksamen Handelns der Kampagne. Verschiedene Teile ziehen nicht mehr am gleichen Strang, sondern steuern in unterschiedliche Richtungen.

Der Fokus auf die vom Senat zur Verschleppung des Volksentscheids eingesetzte ExpertInnenkommission befördert den oben erläuterten Zersetzungsprozess. Es besteht die Gefahr, dass sich die politische Führung in der Verhandlungsgruppe konzentriert und verselbstständigt, während die Basis ohne essentielle Bedeutung im Rahmen einer gemeinsamen Strategie zur bloßen „Handarbeit“ herangezogen wird. Diese politisch-strategische Abkoppelung der Kampagnenbasis kann zur Lähmung führen (wie beim Volksbegehren 2015) – trotz einer rein strukturellen Aufwertung im Kokreis. Ohne eine aktivistische Basis gibt es allerdings keine Verankerung der Kampagne bei den MieterInnen vor Ort. Es können weniger AktivistInnen und MieterInnen mobilisiert werden und somit kein Druck auf den Senat ausgeübt werden. Ohne eine aktive Basis verliert die Kampagne an Stärke und die Waffen gegen den Senat und die Immobilienhaie werden noch stumpfer. DWE befindet sich mit dem aktuellen Debattenstand in einer strategischen und strukturellen Sackgasse, die aufgebrochen werden muss, wenn wir den Sieg vom 26. September fortführen wollen. Die Strategiekonferenz am kommenden Wochenende muss hier die notwendigen Weichenstellungen liefern.

Bruch mit ExpertInnenkommission

Unmittelbar notwendig ist es, mit der ExpertInnenkommission des Senats zu brechen. Mit Geisels Klarstellung, dass die Kommission ausschließlich ein Gremium des Senats ist und es keine dem Volksentscheid entsprechende Mehrheitsbeteiligung von DWE in der Kommission geben wird, hat der Bau- und Wohnsenator die Fronten mehr als klar gemacht. Er wird mit der Immobilienlobby reden, es wird nicht öffentlich das „Wie enteignen“, sondern hinter verschlossener Tür das „Ob“ rechtlich und wirtschaftlich geprüft. Das ist die Geisel-Haft für den Volksentscheid! Wir tun uns keinen Gefallen mit dem Geisel-Nehmer zu verhandeln, schon gar nicht zu diesen Bedingungen. Es wäre sogar direkt schädlich. Erhebliche Ressourcen DWEs würden im Rahmen der ExpertInnenkommission gebunden, ohne dass dies zur Vergesellschaftung führen würde. Dafür kann sich der Senat mit unserer Teilnahme profilieren und seine Entscheidungen legitimieren. Ungewollt würden wir zum Teil einer Politik, welche die Vergesellschaftung verhindert und massive Subventionen des privaten Sektors auf Kosten der MieterInnen verfolgt.

Unter diesen Bedingungen ist es eine Illusion, dass wir eine Mitarbeit taktisch ausnutzen könnten. Unsere Teilnahme wären vielmehr ein politisches Feigenblatt für die Politik von Geisel/Giffey. Daher müssen wir unsere Forderungen an die Kommission als rote Haltelinien begreifen und so formulieren, dass wir den Bruch öffentlich vermitteln. Es muss also öffentlich klar gemacht werden, was der Zweck der Kommission ist: Das Scheitern der Umsetzung des Volksentscheids. Wir sollten die wahrscheinlich dennoch stattfindenden Treffen der ExpertInnenkommission dazu nutzen, die UnterstützerInnen des Volksentscheides – über eine Million Berliner MieterInnen! – zu einer Großdemo zu mobilisieren und somit die Wiederbelebung der Kampagne zu starten! Motto: „Umsetzung statt ExpertInnenkommission“.

Auch in Hinblick auf die Gewinnung rechtlicher Expertise wird die ExpertInnenkommission keinen Beitrag leisten. Für die Weiterentwicklung unseres Gesetzesentwurfes müssen wir zusammen mit unseren Verbündeten aus SPD, Linkspartei, Gewerkschaften, Mietverein usw. auf eigene Formate setzen, wie der Vergesellschaftungskonferenz und Vergesellschaftungskommission. Nur so kann mit unseren Verbündeten und vergesellschaftungsfreundlichen ExpertInnen rechtlich substanziell über die Umsetzung diskutiert und unserer Entwurf so weiterentwickelt werden, dass er einer formalen und verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten könnte.

Weg vom Senat – hin zum Stadtteil, Straße und Betrieb!

Der Senat wird die Vergesellschaftung nicht umsetzen. Eine Strategie, die über das Kommentieren der Senatspolitik hinausgeht, ist daher dringend notwendig. Die einzige soziale Größe, die ein Interesse an der Umsetzung hat, sind mind. 1,6 Millionen MieterInnen in Berlin und die einfachen Lohnabhängigen. Anstatt sich auf seine Spielchen und Tricks einzulassen, brauchen wir einen Plan darüber, wie die UnterstützerInnen der Vergesellschaftung politisch zusammengefasst, unterstützende Organisationen gebündelt und ein Weg zur Umsetzung aufgezeichnet werden kann, wo nicht Giffey-Geisel entscheiden, sondern die MieterInnen. Entsprechend muss der Fokus auf Organisierung von MieterInnen und Lohnabhängigen liegen und auf die Einbindung der vorhandenen Massenorganisationen in die außerparlamentarischen Kämpfe. Nur so kann sich die Kampagne zur Erreichung des Ziels sinnvoll einsetzen: die Vergesellschaftung großer privater Immobilienkonzerne unter demokratischer Kontrolle der MieterInnen zur Schaffung einer Gemeinwirtschaft im Wohnungswesen. Dafür schlagen wir folgende Werkzeuge vor:

  • Organizing! Zunächst brauchen wir eine Organizing-Kampagne in den Kiezteams, wo MieterInnen für die Kampagne gewonnen werden. Dabei dürfen MieterInnen und Lohnabhängige nicht als bloßes Mittel zum Zweck (Objekt) begriffen werden, mit denen Druck auf die Regierung geübt werden soll, sondern als das eigentliche, handelnde Subjekt zur Umsetzung der Vergesellschaftung. Nicht der Senat soll über die Vergesellschaftung entscheiden, sondern die MieterInnen selbst!
  • Gemeinschaftlicher Mietboykott! Wir müssen ernsthaft eine Debatte darüber beginnen, mit welchen direkten Mitteln wir die Vergesellschaftung erzwingen können. Zur Umsetzung der Vergesellschaftung sind kollektive Mietboykotte und der Aufbau einer MieterInnengewerkschaft als Massenorganisation notwendig. Dafür müssen existierende Massenorganisationen der MieterInnen und ihre Mitglieder für dieses Vorhaben gewonnen werden. Dafür braucht es die gesamte MieterInnenbewegung und Linke.
  • Kämpfe der ArbeiterInnenklasse! Jeder Erfolg bei Tarifkämpfen wird durch steigende Mieten mehr als aufgefressen. Von daher stellt sich die Frage einer politischen Verzahnung des Kampfes für bessere Lebensbedingungen, gegen Mietwucher und für die Vergesellschaftung der großen privaten Wohnkonzern mit dem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen, gleitende Lohnerhöhungen der Inflation entsprechend und für Vergesellschaftung auch anderer, großer privater Konzerne. Politische Proteste entfalten nur einen beschränkten Druck. Wir müssen daher mit den Gewerkschaften in eine Diskussion treten, wie die Frage der Umsetzung der Vergesellschaftung und Preiskontrolle in die Tarifkämpfe integriert werden kann, wie also aus ökonomischen Kämpfen politische Streiks für die Enteignung werden können. Auch hierbei gilt es: Direkt in den Betrieben, mit der Basis sprechen und sie gewinnen! Die Gewerkschaftsführungen sind aufgrund ihrer privilegierten Position oft genug das, was die SPD-Spitze für die Immobilienkonzerne ist – ein Handlanger der Bosse, die Schiss vor politischen Streiks haben und zu dem sich höchstens auf dem Papier bekannt wird. Wir dürfen daher unsere Bündnispolitik nicht auf Absprachen mit den Führungen beschränken, sondern müssen uns mit den Forderungen, gemeinsam in Aktion zu treten, direkt an die Vorstände und Mitglieder der Gewerkschaften wenden.
  • MieterInnenkontrolle von unten! Eine wirkliche MieterInnenkontrolle würde nicht mal dann entstehen, wenn ein Gesetz zur Einrichtung der AöR beschlossen würde, in die die Wohnungen der privaten Konzerne überführt werden sollen. Diese Struktur wäre „von oben“ installiert. Was das bedeutet? Die BVG ist ebenfalls eine AöR, trotzdem haben weder Beschäftigte noch die NutzerInnen der öffentlichen Verkehrsmittel irgendeine Entscheidungsgewalt bei Fahrpreisen oder Fahrplänen. Deshalb müssen wir Strukturen der MieterInnen- und ArbeiterInnenbewegung „von unten“ aufbauen – und zwar unverzüglich! MieterInnenräte können Kämpfe koordinieren und folgende politische Forderungen eigenständig in einem zielgerichteten Kampf artikulieren und überwachen: Umsetzung der Vergesellschaftung, Kontrolle des Gemeineigentums, der Geschäftsbücher und der Mietpreise, einen bundesweiten Mietenstopp, öffentlich geförderten, sozial gebundenen und unbefristeten Neubau und die Legalisierung von Mietstreiks.
  • Gesetzesvolksentscheid! Seit dem 26. September zeigen sich die engen Grenzen des Beschlussvolksentscheids. Jenseits der Haustürgespräche und der Wahlkampfstände liegt das wahre Schicksal des Volksentscheides aktuell in den Händen von Staat und Senat. In der Frage der Gesetzgebung müssen wir auch auf eigene Formate setzen: einen neuen, diesmal verbindlicheren Gesetzesvolksentscheid! Aber auch einem Gesetzesvolksentscheid alleine sind Grenzen gesetzt: Falls ihn der Senat nicht verschleppt, ist es gut möglich, dass er vom Verfassungsgericht kassiert wird. Daher ist der Aufbau einer außerparlamentarischen Gegenmacht zur Regierung notwendig, die die Umsetzung des Gesetzes erzwingen kann.

Ein Gesetzesvolksentscheid kann helfen, das zu mobilisieren und aufzubauen, was wir im letzten Jahr verpasst haben: Eine MieterInnenbewegung, die die Umsetzung der Enteignung erzwingen kann. Für den Gesetzesvolksentscheid als taktisches Mittel in der aktuellen Legislaturperiode im Aufbau einer MieterInnenbewegung spricht, dass

  • er einen Weg darstellt, den wir stärker selbst beeinflussen können, da sein Inhalt für den Senat rechtlich bindend wäre. Die Wahrscheinlichkeit des Inkrafttretens eines Gesetzes im Rahmen eines Gesetzesvolksentscheids ist größer als im Rahmen einer ExpertInnenkommission. Damit wäre die Vergesellschaftung nicht automatisch umgesetzt, würde aber die Bewegung in eine günstigere Lage bringen und gleichzeitig den Spielraum für Sabotage durch die Regierung verringern.
  • wir im Rahmen eines Volksentscheides UnterstützerInnen, verbündete Initiativen und Organisationen integrieren können und die gesamte Kampagne gefragt ist (im Gegensatz zu Verhandlungen mit dem Senat);
  • ein Volksentscheid Menschen massenhaft in die Bewegung bringen und organisieren kann (auch das können Verhandlungen und ExpertInnenkommission nicht).

Die Schaffung einer sozialen Gegenmacht zur Regierung durch die Organisierung der MieterInnen sollte immer im Zentrum der Strategie stehen. Der Aufbau von MieterInnenräten, die mit Hilfe von Massenprotesten und Mietboykotts dem Unwillen der Immobilienkonzerne und der Regierung etwas entgegensetzen können, in Kombination mit einem Gesetzesvolksentscheid, stellt eine Möglichkeit dar, wie die Vergesellschaftung unabhängig vom Willen des Senats umgesetzt werden kann.

Die Organisierung von MieterInnen bietet einen sinnvollen Rahmen für die gesamte Kampagne und bindet alle AktivistInnen mit ein. Alle Arbeitsbereiche der Kampagne sollen sich aus dieser Strategie ableiten. Beispielsweise sollte die Ressourcenverteilung und technische Organisation streng dieser Strategie folgen. Denkbar wäre, dass ein größerer Fokus auf Arbeitsbereiche wie Kiezteams, der Starthilfe, Aktionen und Bündnisarbeit gelegt wird.

Die Kiezteams müssen anstreben, tatsächlich in Stadtteilen und Betrieben verankert zu sein und MieterInneninitiativen, Gewerkschaften und die Kampagne in MieterInnenräten zusammenführen.  Vertrauen auf die eigene Kraft und Misstrauen in den Staatsapparat, Justiz und Parlament sind angebracht.

Das Mietendeckeldebakel hat außerdem gezeigt, dass eine gut vernetzte, bundesweite MieterInnenbewegung entstehen muss. Notwendig ist dafür, alle bundesweit vorhandenen MieterInnenorganisationen, Initiativen und Vereine, zudem die mit der Regierungs- und Senatsbeteiligung Unzufriedenen aus SPD und LINKE sowie kämpferische GewerkschafterInnen auf der Vergesellschaftungskonferenz zusammenzubringen. So können wir es nicht nur mit dem Geisel-Nehmer, sondern auch der Immo-FDP-Ampel aufnehmen!




DWe und der Berliner Senat: Sackgasse ExpertInnenkommission

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 262, Februar 2022

Seit dem durchschlagenden Erfolg am 26. September 2021 ist es in der Berliner Öffentlichkeit einigermaßen still geworden um den Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ (DWe). Wie kommt das? Was ist los mit der Speerspitze der Berliner MieterInnenbewegung? Kurz gesagt hat der neue Berliner Senat aus SPD, Grünen und Linkspartei der Enteignungskampagne die Initiative aus der Hand reißen können.

Falle …

Im Herbst haben 59 % der BerlinerInnen eine klare Ansage getätigt, nämlich: Enteignen! Damit hatte der Volksentscheid mehr Stimmen als alle Koalitionsparteien des Senats zusammen bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus bekommen. Die Entwicklung seitdem beweist, dass die Monate des Unterschriften Sammelns und Wahlkampfes der leichtere Teil im Enteignungskampf waren. Seitdem besteht die Gefahr, dass sich die Kampagne festfahren lässt. Zuerst knickte die Linkspartei ein und ließ die Umsetzung des Volksentscheides als Bedingung ihrer Regierungsbeiteilung fallen – damit ließ sie nicht nur die Kampagne im Stich, sondern vor allem Millionen MieterInnen, die sich mit dem Ja zur Enteignung eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt erhofften. Schließlich wählte das Abgeordnetenhaus den neuen Senat und nun steht mit Andreas Geisel ein bürgerlicher Hardliner im Amt des Stadtentwicklungs-, Bau-, und Wohnungssenators.

Nun heißt es: Volksentscheid in Geisel-Haft!

Wir können nun viel lernen. Es war schon vor dem Volksentscheid klar, dass die Giffey-Geisel-Immobilienlobby-SPD eine Enteignung niemals umsetzen würde. Was kratzt die Sozialdemokratie ein WählerInnenwille denn noch nach der Wahl? Nun sehen wir, wie genau der Senat versucht, den Volksentscheid zu lähmen. Völlig ignorieren kann Geisel den Druck nicht, und so sagt er sich: „Habe ich meine eigene Mission, gründe ich eine ExpertInnenkommission.“ Sie soll nicht etwa schnellstmöglich zur Enteignung der Immobilienhaie voranschreiten, sondern ein Jahr (!) lang prüfen, ob das Ganze rechtlich und wirtschaftlich machbar ist.

DWe hat sich unterdessen mehrheitlich darauf eingelassen und will sich daran beteiligen. Auf gewisse Weise musste es das sogar tun, andernfalls hätte der Senat bequem auf die Kampagne zeigen und sagen können: „Die wollen nicht reden – so gibt das mit der Enteignung nichts.“

Das Ganze ist natürlich nichts anderes als eine geschickt gestellte Falle, die die Umsetzung des Volksentscheids verschleppen und sabotieren und die DWe-Kampagne – den radikaleren und bestorganisierten Teil der MieterInnenbewegung Berlins – durch Einbindung schwächen soll. Nun gilt, es dem Geisel-Nehmer nicht auf den Leim zu gehen.

 … nicht reintappen, DWe!

Wir sollten nichts, gar nichts von einer solchen ExpertInnenkommission erwarten. Es kann nur darum gehen, sie als Verschleppungstaktik des Senats zu entlarven und zu Fall zu bringen, anstatt selbst darauf hereinzufallen.

Geisel selbst hat mehr als deutlich gemacht, dass die ExpertenInnenkommission dem Senat unterstellt ist – und sonst niemand. DWe hatte gefordert, dass dem Abstimmungsergebnis entsprechend 59 % der Kommissionsplätze aus der Kampagne kommen sollen. Abgelehnt! Geisel verhandelt nicht darüber. DWe wird zwar eingeladen werden, aber die Konditionen bestimmt der Senat, der selbstverständlich die Wohnungskonzerne mit an den Tisch holen wird.

Es gilt, die ExpertInnenkommission vor den Augen der BerlinerInnen zu enttarnen: Am 26.9. ist das „Ob Enteignen“ entschieden worden und über das „Wie Enteignen“ liegt ein Gesetzesentwurf vor. Das Votum der BerlinerInnen respektieren heißt nicht nur, es umzusetzen, sondern DWe mindestens auch die Mehrheit der Sitze in der ExpertInnenkommission anzubieten. Die Immobilienlobby hat dort gar nichts verloren!

Die zentralen Bruchpunkte gegenüber der Kommission sollten sein: Definitive und sofortige Umsetzung, öffentliche Tagungen und Transparenz sowie Mehrheit für die MieterInnenbewegung in ihr. Sollten diese Forderungen nicht eingehalten werden, ist die Teilnahme an dem Format schädlich, da sich der Senat mit DWe in der Kommission profilieren kann, aber wir auf der anderen Seite weder ein konstruktives Ergebnis erhalten noch unsere Teilnahme politisch zum Bruch mit ihm und für Alternativen nutzen können. DWe macht sich dann zum linken Feigenblatt einer Politik, die die Enteignung verschleppt und verhindert!

Mit Geisels Absage an eine DWe-Mehrheit in der Kommission ist eigentlich schon Grund genug gegeben, mit dem Senat und seinen Spielchen zu brechen. So oder so sollten wir den ersten Tag der Kommission mit einer Großdemo begleiten.

Klassenkampf statt Geisel-Haft!

Seit dem 26. September zeigen sich die engen Grenzen des Volksentscheids. Jenseits der Haustürgespräche und der Wahlkampfstände liegt das wahre Schicksal des Volksentscheides in den Händen von Staat und Senat!

Trotzdem unterstützen wir den Vorstoß von vielen in DWe, unmittelbar einen Gesetzesvolksentscheid (GVE; für den Senat wäre dieser bindend) vorzubereiten. Wir sollten uns aber auch im Klaren sein, dass die staatlichen Grenzen dafür fast genauso eng sind wie jetzt. Wenn ihn der Senat nicht verschleppt, ist es gut möglich, dass er vom Verfassungsgericht kassiert wird.

Ein Gesetzesvolksentscheid kann nur dazu dienen, das zu mobilisieren und aufzubauen, was wir im letzten Jahr verpasst haben: Eine MieterInnenbewegung, die aus sich heraus die Enteignung erzwingen kann. Sie muss weit über das hinauskommen, was heute die Kiezteams repräsentieren. Sie muss tatsächlich in Stadtteilen und Betrieben verankert sein und MieterInneninitiativen, Gewerkschaften und die Kampagne in MieterInnenkomitees zusammenführen, die Ernst machen können – mit kollektivem Mietboykott und politischem Streik für die Enteignung. Im Unterschied zum bisherigen Volksentscheid darf DWe seine Blauäugigkeit diesmal nicht wiederholen: Es muss davor warnen, das Schicksal seiner Umsetzung (im Erfolgsfall) wieder letztendlich dem bürgerlichen Staat und seiner Justiz zu überlassen. Vielmehr müssen wir betonen, dass eine erneute Volksentscheidskampagne den Schwerpunkt auf Mobilisierung und Organisierung der MieterInnen und ArbeiterInnenbewegung mittels o. a. Klassenkampfmethoden hin zu ihrer Transformation in eine wirksame Gegen- und Kontrollmacht über den Wohnungssektor legen muss. Vertrauen auf die eigene Kraft, Misstrauen in Staatsapparat, Justiz und Parlament sind diesmal angesagt!

Das Mietendeckeldebakel hat außerdem gezeigt, dass eine vereinheitliche, bundesweite MieterInnenbewegung entstehen muss. Notwendig ist dafür, alle bundesweit vorhandenen MieterInnenorganisationen, Initiativen und Vereine, zudem die mit der Regierungs- und Senatsbeteiligung Unzufriedenen aus SPD und LINKE sowie kämpferische GewerkschafterInnen auf einer Aktionskonferenz zusammenzubringen. So können wir es nicht nur mit dem Geisel-Nehmer, sondern auch der Immo-FDP-Ampel aufnehmen!




Die türkische Wirtschaft am Abgrund

Dilara Lorin, Neue Internationale 262, Februar 2022

Das Jahr 2021 war für die Bevölkerung in der Türkei eines, in welchem sie am eigenen Leib erfuhr, wie wertlos ihr Geldbeutel ist im Gegensatz zu dem der FabrikbesitzerInnen, der Herrschenden, derjenigen, die ganz oben an der Seite Erdogans stehen. Nach Angaben des türkischen Statistikamts betrug die Inflationsrate 36 %. Unabhängige ExpertInnen schätzen, dass der reale Fall der Währung gar 60 – 80 % betrug.

Dabei steht das Schlimmste wohl noch bevor. Im Gegenteil, die türkische Wirtschaft scheint sich nicht, auch wenn es zu Weinachten kurzzeitig so wirkte, zu erholen. Der Wechselkurs der türkischen Lira beträgt (Stand 26. Januar) 15,23 TL für 1 Euro. Die ArbeiterInnenklasse, aber auch die unteren Schichten des KleinbürgerInnentums und selbst die Mittelschichten treibt die wirtschaftliche Lage um. Dabei sind es vor allem die Lohnabhängigen, auf deren Schultern die Krise lastet. Millionen stehen jeden Morgen auf und wissen nicht, wie sie ihre Familie die kommenden Tage ernähren können oder wo sie sich noch für einen Hungerlohn verkaufen sollten, um sich einigermaßen über Wasser zu halten. Waren es 2021 vor allem die Preise für Lebensmittel, die noch mehr als die Inflation anstiegen, so treffen nun auch die Energiepreise und das Ausbleiben von Gaslieferungen die Massen. Innerhalb der ArbeiterInnenklasse leidet auch die Jugend besonders unter der aktuellen Krise von Corona und Wirtschaft, denn für sie gibt es kaum Perspektiven. Viele wollen auswandern und mit ihren Qualifikationen anderswo Arbeit finden. Als „Antwort“ werden sie von „ihrem“ Präsidenten dafür kollektiv als „undankbar und wurzellos“ beschimpft.

Wie konnte die Wirtschaft überhaupt so schnell abstürzen?

Zweifellos tragen die Regierung Erdogan sowie die Profitgier jener UnternehmerInnen und StaatsdienerInnen, die er vertritt, selbst zur Verschlimmerung der Lage bei. Doch um die Tiefe und die Ursachen der aktuellen Krise zu verstehen, müssen wir die globale Lage betrachten. Die Türkei versucht zwar durchaus mit Erfolg, eine geostrategische Machtposition in der Region einzunehmen, und hat im letzten Jahrzehnt ihre Positionen in Syrien, im Irak, in Aserbaidschan oder Libyen ausgebaut. Aber dies ändert nichts daran, dass sie in der imperialistischen Weltordnung noch immer eine Halbkolonie darstellt, ihr Platz hier letztlich von anderen bestimmt wird. Und hier sind zuerst die globalen Kapitalströme zu betrachten.

Ähnlich wie viele weitere Staaten ist die Türkei abhängig von externer Finanzierung. Der Anteil des jährlichen Devisenbedarfs am Volkseinkommen ist über die Jahre kontinuierlich gestiegen und erreichte aktuell bis zu 30 % des Volkseinkommens. In Zahlen einfacher ausgedrückt: Die Außenfinanzierung der Türkei belief sich 2021 auf rund 220 Milliarden US-Dollar. Dabei hat sie es zunehmend schwerer, Kapital anzuziehen. Das hängt zwar auch mit der immer aggressiver werdenden Politik Erdogans und der politischen Instabilität zusammen. Vor allem aber ist das Folge davon, dass aufgrund der Krisenpolitik der USA und der EU das Anlagekapital in die Metropolen gezogen wird und aus den Halbkolonien, insbesondere aus den Schwellenländern, abfließt. Das trifft nicht nur die Türkei, sondern auch Ökonomien wie Argentinien oder Südafrika, die alle vor einer massiven Finanzkrise, einem Verfall ihre nationalen Währung, massiver Inflation (bis hin zur Drohung einer Hyperinflation) stehen.

InvestorInnen und PolitikerInnen aus den USA oder Deutschland betrachten diese Entwicklung mit großer Sorge – und tun so, als wäre alles nur von unfähigen, d. h. zu wenig willfährigen PolitikerInnen wie Erdogan verursacht, und blenden dabei die systemischen Ursachen der Krise aus. Nicht am kapitalistischen Imperialismus liegt es, sondern an der „Inkompetenz“ der türkischen Regierung! Dabei will das deutsche Kapital natürlich nicht grundsätzlich Investitionen abziehen. Es will aber, dass auch zukünftig gigantische Profite fließen, ja die Investitionsbedingungen noch einmal verbessert werden. Es will seinen Geldhahn nutzen, ihn vor allem für die eigenen Interessen in der Türkei einsetzen. GroßinvestorInnen entscheiden sich schließlich, in diesem Land zu produzieren, vor allem aufgrund der niedrigen Löhne für die ArbeiterInnen und der nicht so strengen Regularien – nicht, weil sie dem Land etwas „Gutes“ tun, sondern die Ausbeutungsverhältnisse für sich nutzen möchten. Wobei hier deutsche Konzerne an vorderster Front stehen. Doch die instabile Lage und die Währungskrise führen dazu, dass einige GroßinvestorInnen wie zum Beispiel VW Pläne für weitere Fabriken zurückgezogen haben.

Aufgrund der Schwankungen auf dem Weltmarkt und der Abschwächung der Kapitalzuflüsse sucht das türkische Regime nach Ersatz für knappe Devisen.

Erdogans Geldpolitik, den Leitzins niedrig zu lassen, zielt darauf ab, Exporte, Kredite und damit das Wachstum anzukurbeln, vor allem in Anbetracht der kommenden Wahlen, die 2023 stattfinden sollen, eventuell aber vorgezogen werden. Mit dieser Politik wird zwar Inflation in Kauf genommen, längerfristig, so das Versprechen des Bonaparten Erdogan, soll so aber die Wirtschaft angekurbelt werden. Das mag zwar die Taschen einiger ExporteurInnen und SpekulantInnen füllen, das Land treibt ein solches Strohfeuer wohl aber noch mehr in den Ruin. Erdogan verhinderte also eine Erhöhung des Leitzinses. Er wurde im vergangenen Jahr vielmehr bis zu vier Mal gesenkt, was wiederum Importe teurer machte, weil sie in Devisen wie Dollar oder Euro bezahlt werden müssen.

Inflation und die Talfahrt der Lira

Ein Jahr lang befand sich die Lira immer wieder auf Talfahrt. Am 20.12.21 befand sie sich auf einem historischen Tiefstand und „erholte“ sich danach, weil Erdogan Maßnahmen ankündigte. Zu diesen gehörte: Einlagen in Lira sollen gegen Verluste aus Wechselkursschwankungen geschützt werden. Sollten die Verluste größer ausfallen als die von Banken versprochenen Zinsen auf die jeweiligen Einlagen, würden sie ersetzt.

Außerdem erließ die Regierung Anfang Januar ein Gesetz, demzufolge in der Türkei ansässige Firmen 25 Prozent ihrer Exporterlöse in Euro, US-Dollar oder Pfund an eine Privatbank verkaufen müssen und dafür türkische Lira zum tagesaktuellen Wechselkurs erhalten. Diese Maßnahme rief die imperialistischen Länder auf den Plan, die mit Investitionsstopp und weiteren Rückflüssen von Kapital drohen.

Außerdem soll aber auch die Bevölkerung ermutigt werden, ihr Geld in Lira anzulegen oder gar bestehende US-Dollar- und Euro-Reserven aufzulösen und in Lira umzutauschen. Dieses vollkommen utopische Projekt soll die sog. Dollarisierung in der Türkei stoppen, also die Flucht in den US-Dollar als Ersatz für die nationale Währung. Schon 2013 wurden rund 25 % aller Transaktionen zwischen Unternehmen in dieser Währung vollzogen. 2021 stieg der Anteil auf 69 %!

Die für die ArbeiterInnenklasse wohl verlockendste Maßnahme war die Erhöhung des Mindestlohns um bis zu 50 % auf 4250 Lira (rund 275,51 Euro). Doch angesichts der weiter grassierenden Inflation dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die nominelle Lohnerhöhung von der realen Preissteigerung wieder aufgefressen sein wird.

Kurzfristig vermochte sich zwar zum Jahreswechsel, die Lira zu stabilisieren. Doch das Strohfeuer ist mittlerweile erloschen. Im Gegenteil, aufgrund der Versorgungsengpässe mit Gas, fehlender Energiereserven und auch von Zahlungsschwierigkeiten mussten ganze Branchen in der Türkei in den letzten Tagen des Januar ihre Produktion einstellen.

Die Wirtschaft am Boden – wie kann sich die ArbeiterInnenklasse erheben?

In der aktuellen Lage drohen den Lohnabhängigen gleich mehrere Gefahren. Vor allem zwei stehen unmittelbar an. Erstens die massive Preissteigerung, die sich bis zu einer Hyperinflation entwickeln kann, was faktisch dazu führen würde, dass die Lira nicht mehr als Zahlungsmittel fungieren könnte und die Einlagen praktisch entwertet wären (während die Privatschulden weiter drücken würden). Zweitens eine Schließungs- und Entlassungswelle aufgrund von Überschuldung, Zahlungsausfällen, Bankrotten wie auch einer Rezession in jenen Branchen, die lange die türkische Ökonomie getragen haben (z. B. Bauwirtschaft).

Ein ermutigendes Zeichen besteht darin, dass es in den letzten Wochen auch wichtige Kämpfe der ArbeiterInnenklasse gab, um reale Lohnsteigerungen durchzusetzen, die der Preissteigerung entsprechen. So traten Beschäftigte bei Trendyol Express, dem größten Online-Shopping-Unternehmen der Türkei, in den Streik. Das Unternehmen bot ursprünglich eine Inflationsanpassung von 11 % an, obwohl sich diese offiziell bei 36 % bewegte. Am 24. Januar traten zuerst hunderte FahrerInnen bei diesem Unternehmen in den Ausstand, hielten Massenversammlungen ab und verlangten 50 % Lohnerhöhung. Nach drei Tagen stimmten die EigentümerInnen einer Erhöhung von 38 % zu. Diesem Beispiel folgten Beschäftigte im Kurierdienst bei HepsiJET, Aras Kargo und Sürat Kargo.

Vielleicht noch wichtiger sind die Kämpfe in der Autoindustrie. Dort hatten die Gewerkschaften Türk Metal, Birleşik Metal-İş und Özçelik-İş eine Lohnerhöhung für das Jahr 2021 ausverhandelt, die unter der realen Preissteigerung blieb. Das wurde jedoch von den Beschäftigten der Çimsataş-Werke in Mersin nicht akzeptiert. Sie kritisierten den Ausverkauf der Bürokratie, setzten den Arbeitskampf fort, besetzten den Betrieb und wurden am 13. Januar gewaltsam von der Polizei geräumt. Während sich die Gewerkschaftsführungen ausschweigen, verdeutlicht dieses Beispiel wie auch jenes der AutokurierInnen, dass die Krise die ArbeiterInnenklasse zu kämpfen geradezu zwingt.

Angesichts der akuten Einkommensverluste und drohenden Massenarmut braucht es ein Kampfprogramm gegen die Inflation wie auch gegen drohende Schließungen um Forderungen wie:

  • Automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Preissteigerung – und zwar um die Erhöhung der realen Lebenshaltungskosten, wie sie von betrieblichen Streik- und Aktionskomitees in den Wohnvierteln festgelegt werden.
  • Einführung eines Mindestlohns und Renten und Arbeitslosenunterstützung in dieser Höhe, um die Armut zu bekämpfen.
  • Preiskontrollkomitees, um sicherzustellen, dass die Preise für Lebensmittel, Wohnungen, Strom und Heizung nicht aufgrund des Mangels künstlich in die Höhe getrieben werden. Direkte Verbindung mit Ausschüssen von Bauern/BäuerInnen und LandarbeiterInnen, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und Preise zu kontrollieren.
  • Entschädigungslose Verstaatlichung aller Unternehmen, die schließen oder mit Entlassungen drohen, unter Kontrolle der Lohnabhängigen; Enteignung aller Unternehmen, die für die Grundversorgung der Bevölkerung zentral sind und Erstellen eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung unter ArbeiterInnenkontrolle.

Diese und weitere wirtschaftliche und soziale Forderungen können jedoch nur durchgesetzt werden durch Massenaktionen – durch Demonstrationen, Besetzungen und einen politischen Massenstreik, der die Lohnabhängigen verschiedener Branchen einbezieht. Dazu braucht es die Bildung von Aktionsausschüssen in den Betrieben und den Kampf für die Erneuerung und Vereinigung der Gewerkschaften auf einer demokratischen, antibürokratischen und klassenkämpferischen Grundlage sowie die Organisation von Selbstverteidigungskomitees gegen Übergriffe von Rechten oder der Polizei. Um rassistischer und nationalistischer Spaltung entgegenzuwirken, muss eine solche Streikbewegung zugleich den Schulterschluss mit allen Unterdrückten, insbesondere den MigrantInnen und dem kurdischen Volk suchen.

Um eine solche Perspektive in die Bewegung zu tragen, braucht es freilich auch eine politische Kraft – eine neue, revolutionäre ArbeiterInnenpartei!




China: Was heißt „Lehman“ auf Chinesisch?

Peter Main, Infomail 1167, 19. Oktober 2021

Nun, eine genaue Übersetzung gibt es nicht, aber vielleicht wäre „Evergrande“ eine gute Entsprechung. So wie Lehman Brothers einst als Unternehmenssymbol für den nicht enden wollenden Boom der Globalisierung galt, so stand Evergrande, ein Immobilienentwickler und keine Bank, einst als Unternehmenssymbol für den ständig wachsenden Reichtum Chinas seit der Restauration des Kapitalismus.

Und wie bei Lehman Brothers hat sich gezeigt, dass die Symbolik auf Bergen von Schulden beruht, die nicht zurückgezahlt werden können. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte Evergrande Auslandsanleihen im Wert von rund 11,9 Mrd. US-Dollar rückerstatten. Am 23. September sollte das Unternehmen 83,5 Mio. US-Dollar an Zinsen für eine Anleihe zahlen, was jedoch nicht geschah. Am 29. September waren weitere 45,2 Mio. US-Dollar für eine andere Anleihe fällig, die ebenfalls nicht beglichen wurden. Infolgedessen obliegt Evergrande nun eine 30-tägige „Gnadenfrist“, bevor das Unternehmen für zahlungsunfähig erklärt wird.

Noch schlimmer sind die Schulden bei chinesischen GläubigerInnen, die auf 310 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Früher sagte man, wenn man einer Bank 1 Million US-Dollar schuldet, hat man ein großes Problem, aber wenn man bei einer Bank mit 100 Millionen US-Dollar im Soll steht, hat die Bank ein großes Problem – und 350 Milliarden US-Dollar … ?

Implikationen

Die Bedeutung von Evergrande liegt nicht nur darin, dass es sich um ein riesiges Unternehmen handelt, das wahrscheinlich in Konkurs gehen wird. Es ist bei weitem nicht der einzige Immobilienentwickler, der mit demselben Problem konfrontiert ist. Im vergangenen Jahr hatte Country Garden Holdings den höchsten Umsatz in der Branche, sein Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten liegt bei 78,5 Prozent und damit weit über dem von der Regierung festgelegten Grenzwert. Nach Angaben von Morgan Stanley hat der Immobiliensektor insgesamt Schulden in Höhe von 2,8 Billionen US-Dollar und macht etwa 30 Prozent des BIP aus. Die Auswirkungen des möglichen Zusammenbruchs von Evergrande gehen jedoch tiefer, als selbst diese Zahlen vermuten lassen.

In vielerlei Hinsicht ist das Unternehmen ein Produkt des gesamten Wirtschaftsmodells Chinas seit der Wiederherstellung des Kapitalismus. Es wurde 1996 von Hui Ka Yan (Xu Jiayin), einem Metallarbeiter, gegründet, um die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die sich durch die Abschaffung der Planwirtschaft eröffneten. Zuvor basierten die Ausgaben der Kommunalverwaltungen auf zentral zugewiesenen Zuschüssen. Als diese abgeschafft wurden, begannen die Kommunalverwaltungen, durch den Verkauf von Grundstücken an Bauträger Geld zu beschaffen.

Angesichts des Ausmaßes der Verstädterung, als Hunderte von Millionen Menschen in die schnell wachsenden Städte strömten, war die Aufnahme von Krediten zum Kauf von Grundstücken, auf denen sowohl Industrie als auch Wohnungen gebaut werden sollten, nicht nur lukrativ, sondern auch politisch vorteilhaft. Die Beziehungen zwischen der lokalen Regierung, den Bauträgern und den örtlichen, staatseigenen Banken blühten auf, und die Verträge wurden natürlich von den lokalen FunktionärInnen der Kommunistischen Partei beaufsichtigt. Was konnte da schon schiefgehen?

Zwanzig Jahre lang lief aus Sicht von Hui nichts schief. Nach der Finanzkrise von 2008/9, als China sein riesiges Ausgabenprogramm startete, hätte es kaum besser laufen können. Im Jahr 2015 wurde sein Vermögen auf 45 Milliarden US-Dollar geschätzt und er wurde von den Großen und Mächtigen gefeiert. In jenem Jahr begleitete er Xi Jinping selbst auf seiner Reise nach London, wo er von Prinz Andrew im Buckingham Palace empfangen wurde – auch wenn er jetzt vielleicht nicht mehr auf diese besondere Liaison hinweisen würde.

Ironischer Weise wurde auch 2015 zum ersten Mal deutlich, was alles schiefgehen kann. Ein Zusammenbruch der Börse in Shanghai offenbarte die Kluft zwischen der Bewertung vieler Unternehmen und ihrem tatsächlichen Vermögen. (Mehr dazu unter: https://fifthinternational.org/content/china-free-market-not-going-according-plan) Die unmittelbare Reaktion der Regierung, nämlich das Einfrieren aller Aktivitäten auf den Märkten, stellte die Stabilität recht schnell wieder her, aber danach wurden Regeln eingeführt, um das Wachstum der Schulden zu begrenzen, insbesondere durch die staatlichen Banken.

Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Bauträger, die sich nicht mehr auf die leichten Kredite der staatlichen Banken verlassen konnten, die das „Wachstum“ ungeachtet der finanziellen Tragfähigkeit finanzieren wollten. Stattdessen begannen Hui und andere wie er, getreu ihrem optimistischen Motto „Baut es und sie werden kommen“, Kapital für ihre Bauprojekte zu beschaffen, indem sie „außerhalb des Plans“ verkauften, d. h. Immobilien veräußerten, bevor sie gebaut wurden. Einem Bericht der französischen Investmentbank der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis, zufolge machen solche Finanzierungen inzwischen 54 Prozent der Immobilienentwicklung aus.

Rote Linien

Im Juli letzten Jahres führte die Regierung noch strengere Vorschriften ein, die als „drei rote Linien“ bezeichnet werden, um die Immobilienspekulation einzudämmen. Die „Linien“ beziehen sich auf die Begrenzung dreier Schlüsselkennzahlen, nämlich des Verhältnisses von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten, von Nettoverschuldung zu Eigenkapital und von Liquiditätsmitteln zu kurzfristigen Krediten. 14 der 30 größten Bauträger Chinas haben in den letzten Monaten mindestens eine dieser roten Linien überschritten.

Solche Verstöße haben gezeigt, dass der gesamte Sektor am Rande einer Krise steht. Zum einen kamen sie trotz des optimistischen Mottos jedoch nicht, und nun stehen in einigen Regionen derzeit rund 30 Millionen Wohnungen in China leer. Andererseits hat der Mangel an Finanzmitteln dazu geführt, dass die im Voraus bezahlten Wohnungen nicht gebaut wurden. Schätzungen zufolge hat Evergrande 1,6 Millionen Wohnungen nicht ausgeliefert.

In einem Interview mit der Financial Times bemerkte Jim Chanos, der dafür bekannt ist, den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron vorhergesagt zu haben: „In vielerlei Hinsicht muss man sich keine Sorgen machen, dass es sich um eine Situation wie bei Lehman handelt, aber in vielerlei Hinsicht ist es viel schlimmer, weil es symptomatisch für das gesamte Wirtschaftsmodell und die Schulden ist, die dahinter stehen. Alle Bauträger sehen so aus. Der gesamte chinesische Immobilienmarkt steht auf Stelzen.“

Hier liegt das Dilemma für die Regierung in Peking: Fast ein Drittel der heimischen Wirtschaft ist finanziell nicht lebensfähig. Hier geht es nicht darum, ob Hui Ka Yan zum Sündenbock gestempelt werden soll, sondern um ganze Industrien, um Vermögenswerte im Wert von Billionen von US-Dollar und um 1,6 Millionen Familien, die dachten, sie hätten ein Haus gekauft.

Wie die chinesische Regierung damit umgeht, bleibt abzuwarten. Die „Gnadenfrist“ endet am 23. Oktober. Wenn die Zinszahlungen nicht geleistet werden und Evergrande für zahlungsunfähig erklärt wird, sind die GläubigerInnen berechtigt, Vermögenswerte zu beschlagnahmen. Zuvor wird der Staat wahrscheinlich Maßnahmen zum Verkauf von Vermögenswerten, zur Umstrukturierung der Schulden und möglicherweise zur Aufteilung des Konglomerats in getrennte Geschäftsbereiche ergreifen, um lebensfähige Teile zu ermitteln. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Staat die Fertigstellung bereits verkaufter Projekte garantieren, um die soziale Stabilität zu gewährleisten. Er hat nunmehr branchenweite Regeln eingeführt, die vorschreiben, dass alle Einnahmen aus „Vorverkäufen“ separat unter lokaler Bankenaufsicht zu verbuchen sind.

Ansteckung

Auch wenn solche Notmaßnahmen die unmittelbaren Auswirkungen des Zusammenbruchs von Evergrande begrenzen mögen, so kann dies jedoch nicht ohne dramatische Folgen für den gesamten Immobilienentwicklungssektor bleiben, denn wie wir gesehen haben, sind auch andere Unternehmen von einem Ausfall bedroht. Da ihre Anleihen von anderen Unternehmen gehalten werden, die sie als Sicherheiten für ihre eigene Kreditaufnahme verwenden können, besteht die ernste Gefahr einer „Ansteckung“ über die säumigen SchuldnerInnen hinaus. Sicherlich werden viele GläubigerInnen einen Schnitt hinnehmen müssen, indem sie nur einen Prozentsatz ihrer fälligen Rückzahlungen akzeptieren. Vor allem ausländische InvestorInnen werden wahrscheinlich keine weiteren Kredite an Bauunternehmen in China vergeben.

Selbst wenn diese Maßnahmen ausreichen, um einen weitreichenden Zusammenbruch des gesamten Sektors zu verhindern, was nicht garantiert ist, wird die Schuldenkrise zweifellos starke Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen haben. Abgesehen von den unmittelbaren Folgen unvollendeter Projekte stellt dies die Politik in Frage, die für Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere seit der Krise von 2008/9 von zentraler Bedeutung war: Investitionen in Infrastruktur und Bauwesen.

Viele ÖkonomInnen haben argumentiert, dass eine solche Änderung notwendig ist, und gefordert, den Schwerpunkt auf den Binnenkonsum zu verlagern, um die Wirtschaft „wieder ins Gleichgewicht“ zu bringen. Doch selbst wenn Xi und die Parteiführung dem zustimmen, wird es viele Interessengruppen geben, die sich dem widersetzen. Das stellt ein grundlegendes Problem für das gesamte politische Regime dar.

Xi selbst wurde erst nach einem langwierigen Fraktionskampf innerhalb der KP Chinas Präsident (siehe unsere Untersuchung dazu) und festigte in seiner ersten Amtszeit die Position seiner Fraktion durch eine Säuberung von GegnerInnen, wobei er den „Linken“ in der Partei den Vorzug gab, die sich gegen eine weitere Aushöhlung der staatlichen Kontrolle und Zugeständnisse an den Privatsektor aussprachen.

In seiner zweiten Amtszeit, seit 2017 und im Zuge der Finanzkrise von 2015, gab es dagegen mehrere hochkarätige Maßnahmen gegen einige der reichsten KapitalistInnen in China. So wurde beispielsweise nur wenige Tage vor dem Börsengang (öffentliches Gründungsangebot; IPO) von Jack Ma’s Ant Group an der Shenzhener Börse, bei dem die höchste IPO-Bewertung aller Zeiten erwartet wurde, die Börsennotierung staatlicherseits gestoppt. Ma, selbst Mitglied der KP Chinas und Milliardär, wurde monatelang nicht gesehen, hat die Entscheidung aber inzwischen akzeptiert.

Die Parteidisziplin ist zweifellos ein starker Faktor, und auch Repression kann sehr wirksam sein, aber die Nachwirkungen des Immobiliencrashs und die Aussicht auf eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik müssen innerhalb der Partei Konsequenzen tragen. Alte Fraktionen werden sich bestätigt fühlen, neue werden sich bilden. Es kann gar nicht anders sein, denn die Partei selbst hat „Geschäftsleute“ zum Beitritt ermutigt, und nach 30 Jahren des Aufbaus des Kapitalismus sind viele StaatsbeamtInnen, das Rückgrat der Partei, selbst in eine weitere kapitalistische Entwicklung verstrickt.

Es sind diese Spannungen und Widersprüche, die hinter dem zunehmend autoritären Regime in China stehen: die verstärkte Bevölkerungskontrolle durch Überwachungsprogramme, die mörderische Unterdrückung der UigurInnen in Xinjiang, das Vorgehen gegen demokratische Rechte in Hongkong, die kriegerische Behauptung, dass Taiwan unter chinesische Souveränität zurückkehren muss. Dies alles ist nicht mit der persönlichen Psychologie von Xi Jinping zu erklären, wie es oft dargestellt wird, sondern eine Vorbereitung auf stürmische Zeiten.




Berliner Immobilienkegeln: Vonovia und Heimstaden – die neuen großen Player

Jürgen Roth, Infomail 1165, 3. Oktober 2021

Ene, mene, muh – und raus bist du!

Die Konzentration auf dem Berliner Wohnungsmarkt nimmt Fahrt auf. Diesmal dürfen Deutsche Wohnen (DW) und Akelius ihre Plätze räumen. Ende Mai berichteten wir über die geplante Übernahme von DWs Berliner Wohnungsbestand durch Vonovia. Der Deal sollte mit einem Verkauf von 15.000 Wohneinheiten an landeseigene Immobiliengesellschaften verkettet werden und wurde in stolzer Eintracht mit dem Regierenden Bürgermeister Müller und Finanzsenator Kollatz vor der Presse verkündet.

Doch wir waren in puncto Übernahme zu voreilig, jedenfalls etwas. Vonovia, Europas größter Wohnungskonzern, scheiterte im Frühjahr noch überraschend am 2. Anlauf zur Erlangung der Aktien- und Stimmenmehrheit bei der Nr. 2 auf dem deutschen Immobilienmarkt. Am 24.9.2021 gelang jetzt aber im 3. Versuch die DW-Übernahme, teilte der Bochumer Branchenriese mit. Er übernimmt die 115.000 DW-Wohnungen in der Hauptstadt, damit den dortigen größten in Privathand befindlichen Bestand. Als zuvor zweitgrößter Eigentümer mit 43.000 Wohnungen verfügt er jetzt über 143.000 Mietobjekte.

Bezüglich des Deals mit den beiden Senatsgranden waren wir nicht zu voreilig: 15.000 Wohnungen des DW-Portfolios wurden für 2,46 Mrd. Euro an Landesunternehmen verhökert, macht pro Einheit 164.000 Euro. Damit liegt der Kaufpreis auf Höhe der vom scheidenden Senat ehedem kalkulierten Entschädigungssumme für den Fall der Enteignung infolge des Volksentscheidergebnisses, die rein zufällig dem Marktwert entspricht. Für 143.000 Einheiten würde das ca. 22,5 Mrd. Euro ausmachen. Vorauseilenden Gehorsam nennt man das.

Die neue Nr. 2 in der Hauptstadt

In der Wahlnacht drehte sich das Roulette ein zweites Mal. Der skandinavische Konzern Akelius zieht sich komplett aus der Spreemetropole zurück und vertickt bis Ende diesen Jahres seinen Bestand von 14.000 Wohnungen an Heimstaden, das bisher rund 5.500 hält, die erst vergangenes Jahr in einem Megadeal erworben wurden. Akelius war durch aggressive Luxussanierungen berüchtigt, die zu Mietpreisen bis zu 40 Euro pro m² führten. Zudem hat der Konzern einen erheblichen Teil seiner Bestände aufgeteilt und letztes Jahr als Eigentum zu Preisen bis über 10.000 Euro/m2 zum Verkauf angeboten. Angesichts der befürchteten zunehmenden Regulierung waren der Abschied des Konzerns aus Berlin und die Umstrukturierung seiner deutschen Bestände von InsiderInnen schon länger vermutet worden, was seine ChefInnen bis Juni 2021 aber bestritten.

Die gemeinsame Erklärung der MieterInnenvernetzung beider Konzerne aus Berlin und Hamburg, wo Heimstaden von Akelius 3.600 Wohnungen übernimmt und erstmals Fuß fasst, mutmaßt, der Zeitpunkt der Übernahme sei geschickt gewählt. Die politisch Verantwortlichen seien schließlich auf mehreren Ebenen mit Regierungsneubildung befasst – und die kann sich lange hinziehen.

Der international agierende Finanzkonzern Heimstaden rückt damit zum Immobilienhai Nr. 2 in der Hauptstadt auf mit knapp 20.000 Einheiten.

Schöne Grüße aus Norwegen!

Der skandinavische Hai gibt sich betont mieterInnenfreundlich. Deutschlandchefin Caroline Oelmann textet in einem „Offenen Brief“ an die BewohnerInnen der Akeliushäuser, Servicequalität, Erreichbarkeit und Kundenzufriedenheit stünden bei ihnen an erster Stelle. Hinter diesem wie bei der Zahnpastareklame verbreiteten strahlend weißen Lächeln verbirgt sich das gar nicht so freundliche Konzerntreiben in seiner Heimat.

In Oslo wurde das Vorkaufsrecht der Kommune zu umgehen versucht. Der Polizei in Norwegens Metropole bot man Häuser als Übungsgelände für Drogenspürhunde an. In Berlin mussten Senat, Bezirke und MieterInnenbewgung große Anstrengungen unternehmen, um den Konzern zur Unterzeichnung von Abwendungsvereinbarungen für das 2020 erworbene Paket zu zwingen. Die Vernetzung der MieterInnen aus Berlin und Hamburg fordert im Falle Heimstadens die sofortige Umsetzung des Auftrags aus dem Volksentscheid und fürchtet in den bereits aufgeteilten Gebäuden den Weiterverkauf von Wohnungen an einzelne AnlegerInnen.

Das Beispiel zeigt uns, wie berechtigt das „& Co.“ im Namen der Kampagne für das jüngste Mietenreferendum platziert war. Mag sich nach der Übernahme von DW auch der Name vor dem Kürzel ändern müssen, so bleibt das Ziel – die Enteignung sämtlicher Immobilienhaie genauso aktuell. Verdrängung ist manchmal nicht nur Schicksal vieler MieterInnen. Lassen wir die Kugel aus der erfolgreichen Kampagne mit Schwung weiter rollen – bis alle Kegel – möglichst entschädigungslos – gepurzelt sind! Gut Holz!




DWE, der Umgang mit sexuellen Übergriffen und die bürgerliche Presse

Tomasz Jaroslaw, Infomail 1162, 13. September 2021

Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren – jedenfalls jener der Kampagne Deutsche Wohnen und Co.  enteignen (DWE). Kiezteams konzentrieren sich auf einen Häuserkampf, vor allem in den Außenbezirken, um die Menschen auch zur Abstimmung zu bringen und eine Mehrheit zu erringen.

Die Chancen am 26. September stehen trotz Millionen, die die Immobilienlobby in Gegenkampagnen steckt, nicht schlecht. Nach aktuellen Umfragen stehen 47 % der BerlinerInnen hinter der Forderung nach Enteignung, 43 % lehnen sie ab. Die jüngsten Erhebungen zeigen außerdem, dass mittlerweile auch eine Mehrheit der SPD-AnhängerInnen beim Volksentscheid mit Ja stimmen will.

Wie mit Vorwürfen sexueller Übergriffe umgehen?

Zugleich durchzog und durchzieht die Kampagne seit Ende Juni ein heftiger innerer Konflikt. Zu diesem Zeitpunkt wurde von einer Aktiven gegen einen Sprecher der Kampagne der Vorwurf der sexuellen Nötigung erhoben.

Dieser Vorwurf und der Umgang damit zogen weite Kreise, nicht nur in der Kampagne und deren Umfeld selbst, sondern erreichten auch die Medien. Neben dem Neuen Deutschland berichteten auch Tagesspiegel und Die Welt. Weitere werden wahrscheinlich folgen. Letzteren beiden – das wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre deutlich – geht es natürlich nicht um die Sache. Vielmehr versuchen sie, den Vorwurf und den Umgang damit zu nutzen, um die gesamte Kampagne und die Vergesellschaftung an sich politisch zu delegitimieren. Doch bevor wir darauf näher eingehen, kurz zum Hergang der Auseinandersetzung in DWE selbst.

Der mutmaßliche Übergriff soll am 21. Juni am Rande einer öffentlichen Kundgebung der Linkspartei auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stattgefunden haben, wo diese etwa 30.000 Unterschriften zum Volksbegehren an DWE übergeben hatte. Es gibt die Aussagen der beschuldigenden Person, was vorgefallen war. Der Beschuldigte dementiert diese Vorwürfe. Bis heute gibt es viele Gerüchte, die sicherlich keiner Aufklärung dienlich sind.

Richtigerweise nahm die Kampagne die Vorwürfe von Beginn an sehr ernst, der Umgang damit erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als schwierig.

Erstens hatte DWE selbst zu diesem Zeitpunkt kein gemeinsames, anerkanntes Verfahren, wie mit einem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs umzugehen ist. Das kann der Kampagne sicher nur bedingt vorgeworfen werden, zumal es ja auch keine allgemein anerkannte Sicht in der ArbeiterInnenbewegung oder der Linken gibt.

Zweitens und damit verbunden prallten von Beginn zwei miteinander unvereinbare Vorstellungen aufeinander.

Ein Teil der Kampagne, der sich letztlich durchsetzte, vertrat die Konzepte von „Definitionsmacht“ und „absoluter Parteilichkeit“. Diese besagen, dass nicht nur der Vorwurf ernst zu nehmen und der Betroffenen möglichst große Unterstützung zu geben sei, sondern auch, dass die Behauptung  der beschuldigenden Person selbst als Beweis für die Tat gilt. Dem Konzept der Definitionsmacht zufolge steht es nämlich nur der betroffenen Person zu, zu definieren, ob ein sexueller Übergriff oder eine Grenzüberschreitung vorlag. Alles andere gilt als Täterschutz. Letztlich ist dabei nur die subjektive Empfindung der beschuldigenden Person ausschlaggebend. Selbst die Frage danach, was „tatsächlich“ vorgefallen ist, gilt schon als Relativierung des Vorwurf und der Tat.

Diese Position wurde vor allem von Menschen aus postautonomen und kleinbürgerlich-akademischen Milieus vertreten. Insbesondere die stärkste politische Organisation in der Kampagne, die Interventionistische Linke (IL), die vor allem in diesen Milieus verankert ist und eine dominante Rolle im Ko-Kreis spielt, machte von Anfang an diese Ideologie zum Referenzpunkt des Umgangs innerhalb der Kampagne und versuchte, dieser zu Beginn einfach ihre Methode aufzuzwingen.

Probleme der Defintionsmacht

Das wurde richtigerweise kritisiert. Nachdem Transparenz und ein geregeltes demokratisch-legitimiertes Verfahren eingefordert worden waren, legte der Koordinierungskreis einen Verfahrensvorschlag zur Abstimmung vor, der weiterhin deutlich von Definitionsmacht und Parteilichkeit geprägt war.

Der Strömung um die IL trat eine durchaus heterogene Reihe von GenossInnen entgegen, die die Definitionsmacht zu Recht und grundsätzlich ablehnten, da diese Ideologie dem Beschuldigten kategorisch jedes Recht auf Verteidigung und Beibringen von Beweisen oder Indizien für seine Unschuld abspricht. Ein solcher Umgang in einer breiten Massenkampagne würde somit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts (v. a. das auf Verteidigung) zurückfallen.

GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht brachten wie auch andere KritikerInnen des Konzepts der Definitionsmacht Änderungsvorschläge zum Entwurf des Ko-Kreises ein, die in der Substanz alle von der Mehrheit um die IL abgelehnt wurden. Wir und andere KritikerInnen traten dafür ein, dass eine Untersuchungskommission gebildet werden solle, die, so weit dies möglich ist, den Vorwürfen auf den Grund geht und eine Empfehlung für das weitere Vorgehen der Kampagne ausarbeitet. Darüber hinaus war es Konsens, dass der Beschuldigte für die Zeit der Untersuchung nicht öffentlich für die Kampagne in Erscheinung treten sollte und sein Ämter ruhen würden.

Während am Beginn versucht wurde, das Konzept der Definitionsmacht einfach durchzusetzen, so müssen  wir – wenn auch in der Abstimmung unterlegen – festhalten, dass die Entscheidung nach mehreren Diskussionen demokratisch zustande kam.

Selbst wenn wir das Konzept der Definitionsmacht und seine identitätspolitischen Grundlagen grundsätzlich ablehnen, so müssen wir festhalten, dass sich auch die Gegenseite mit einigen Argumenten keinen Gefallen erwiesen, sondern durch Ton und Inhalt ihrer Argumente schwankende Personen eher verprellt hat. Als Argument gegen die Vorverurteilung wurde oft vorgebracht, dass der Beschuldigte ein verdienter Genosse und tragendes Mitglied der Kampagne sei und über Fähigkeiten und Kontakte verfüge, die wir weiterhin dringend bräuchten. Auch wenn alle positiven Beschreibungen zutreffen, kann das kein Freispruch sein und muss gerade angesichts einer Korrelation zwischen Machtposition und Missbrauchsmöglichkeit die Beschuldigung genau untersucht werden. In gewisser Weise haben damit leider die GegnerInnen der Definitionsmacht die Gegenposition bekräftigt. Auch Vorwürfe der Manipulation oder des Machtmissbrauchs gegen IL und Ko-Kreis wurden gegen Ende zu scharf und zu lange erhoben. Am Anfang haben Ko-Kreis bzw. IL in der Tat Entscheidungen getroffen, die nicht legitimiert waren, wie den Ausschluss des Beschuldigten und die Verlegung des DWE-Büros. Im weiteren Verfahren wurde sich aber um ein formal korrektes und demokratisches Vorgehen bemüht, auch wenn das Ergebnis am Ende inhaltlich falsch war.

Mit der Definitionsmacht und Parteilichkeit fällt DWE nicht nur hinter die Errungenschaften der Aufklärung und bürgerlichen Gesellschaft zurück, sondern bietet keine Perspektive für einen Umgang mit sexuellen Übergriffen für eine linke, proletarische Bewegung. Diese Ideologie bildet auch politisch keineswegs die Breite und Heterogenität ab, die DWE ausmachen und auch für den Erfolg verantwortlich sind. Durch die Entscheidung wurde diese Stärke aufs Spiel gesetzt.

Es ist grundsätzlich legitim von IL & Co., ihre programmatischen und ideologischen Vorstellungen in die Kampagne einzubringen und ihre Position dahingehend auszunutzen. Das heißt jedoch keineswegs, dass dies strategisch gesehen für sie selbst oder die Kampagne klug war. Viele AktivistInnen haben ihr Engagement sofort runtergefahren oder sind nicht mehr für DWE tätig. Damit gehen nicht nur personelle Ressourcen in Zeiten schwerer Wahlkämpfe und nach dem Volksbegehren verloren, sondern auch Netzwerke in Richtung MieterInneninitiativen, -verein und Gewerkschaften. Die VertreterIn der IG Metall Berlin hatte ein Statement vorgelesen, das eindeutig das Missfallen der IGM kundtat, wie DWE mit dem Vorfall umgegangen ist. Reiner Wild, Vorsitzender des MieterInnenvereins hat DWE ebenfalls dafür kritisiert. Alles wichtige BündnispartnerInnen! Wie die anderen Gewerkschaften und die SPD-Linke damit umgehen, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch kein Zufall, dass Organisationen und AktivistInnen, die strukturell oder politisch der ArbeiterInnenklasse nahestehen, dieses Ergebnis kritisiert haben. Fakt ist, dass man sie und alle BündnispartnerInnen für den Sieg an der Urne, aber auch für den tatsächlichen Kampf für die Vergesellschaftung danach braucht. Der Umgang mit dem Verfahren schwächte aber dieses gemeinsame Ringen, nicht nur weil es dem/r GegnerIn „Futter“ gibt, sondern die eigene Kampagne schwächt. Dieser politischen Verantwortung müssen sich die IL  und ihre UnterstützerInnen stellen. Zugleich müssen wir aber auch sagen: Ein Rückzug aus DWE, ein Fallenlassen der Kampagne ist der falsche Schritt. Er nützt letztlich nur jenen, die immer schon gegen die Enteignung der Immobilienhaie eintraten.

Bürgerliche Hetze

Die Artikel in Der Tagesspiegel und Die Welt belegen das. Sie haben den Konflikt und das Rechtsverständnis der Definitionsmacht aufgegriffen – nicht weil es ihnen um die Sache geht, sondern um die Kampagne selbst madig zu machen.

So wird eine anonyme Gewerkschafterin bemüht, die die „Interventionistische Linke“ als „wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe“ und deren Aktivisten und Aktivistinnen als „eitle Berufsquatscher“ denunziert. In Wirklichkeit soll mit solcher Rhetorik die gesamte Initiative diskreditier werden – frei nach dem Motto, nur Verrückte Linksradikale und „Sekten“ wollen Unternehmen enteignen. So weiß der Tagesspiegel auch von rechtschaffenen Leuten zu berichten, die es bereuen, an der Kampagne teilgenommen zu haben: „Zumindest in ver.di sagen einzelne nun, man hätte sich auf die in der Kampagne aktiven ‚Sekten’ nie einlassen sollen.“

Die Stimmungsmache verfolgt einen Zweck. „Noch ist es Zeit zur Umkehr!“, legen Tagesspiegel und Die Welt im Subtext nahe. Die MieterInnenvereine, die Gewerkschaften, DIE LINKE, die allesamt DWE unterstützen, sollen sich am besten laut und vor dem 26. September zurückziehen. Bisher hat ihnen noch niemand den Gefallen getan.

So erklärt die ver.di-Sekretärin Jana Seppelt gegenüber dem Neuen Deutschland vom 1. September richtigerweise, dass dem Vorwurf des sexuellen Übergriffs natürlich nachgegangen werden müsse. Vor allem aber stellt sie klar: „Gleichzeitig gibt es für mich keinen Anlass, die Ziele der Initiative nicht zu unterstützen. Wir haben dazu klare Beschlüsse in der Organisation: Die Mieten fressen die Löhne auf und die Kampagne hat überzeugende Konzepte.“

Das ist die richtige Antwort auf alle jene Bürgerlichen, die jetzt versuchen, politisches Kleingeld aus einem politischen Fehler der Kampagne zu schlagen und die Kampagne und ihre UnterstützerInnen zu spalten. Der gemeinsame Kampf gegen Mietwucher, für Enteignung und für niedrige Mieten kann und muss trotz ideologischer Differenzen weiter gemeinsam geführt werden. Daher: Gewerkschaften, MieterInnenvereine, Linkspartei, linke SPD-lerInnen – tretet weiter für ein Ja beim Volksentscheid ein! Es geht letztlich um eine klassenpolitische Konfrontation, nicht um durchaus schwere, aufzuarbeitende und zu korrigierende Fehler der Kampagne. Daher noch einmal: Unterstützung die Kampagne! JA zur Enteignung, stimmt JA beim Volksentscheid!




Deutsche Wohnen und Co. Enteignen: Ja zum Volksentscheid, Ja zur Enteignung!

Tomasz Jaroslaw/Veronika Schulz, Neue Internationale 258, September 2021

Mit ca. 250.000 gültigen Unterschriften hat die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) im Juni das historisch beste Ergebnis für ein Berliner Volksbegehren eingefahren. Dieses wäre ohne Tausende Aktive und die großen BündnispartnerInnen wie die Linkspartei, die Gewerkschaften und den Mieterverein nicht möglich gewesen. Umfragen deuten darauf hin, dass die Zustimmung zur Vergesellschaftung großer privater und gewinnorientierter Wohnkonzerne nicht nur mit linken politischen Meinungen korreliert, sondern auch mit niedrigen Einkommen. Das alles zeigt einen enormen Zuspruch und auch eine gewisse Verankerung in der ArbeiterInnenklasse.

Damit wird am 26. September nicht nur über die Zusammensetzung von Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksvertretungen entschieden, sondern auch über den Volksentscheid zur Vergesellschaftung. Auch wenn ein Sieg an der Wahlurne rechtlich nicht bindend wäre, würde dieser nach Jahrzehnten der Privatisierung und des Generalangriffs auf soziale Standards ein starkes Signal in die richtige Richtung senden und einen gewissen Druck auf den nächsten Senat (Berliner Landesregierung) ausüben, insbesondere auf Grüne, SPD und Linkspartei, deren Parteibasis und WählerInnen gewisse Sympathien für das Mittel der Vergesellschaftung hegen.

DIE LINKE, Grüne und SPD: Versprechen und Taten

Jedoch wäre mit einem erfolgreichen Volksentscheid der Kampf keineswegs vorbei: Ungeachtet der positiven Verlautbarungen bei den Grünen sind diese eine offen bürgerliche Partei, die Vergesellschaftung offiziell nur als „letztes Mittel“ anwenden will, es praktisch jedoch eher vermeiden möchte. So favorisieren sie Sanktionen für „schlechte“ VermieterInnen bei Beibehaltung des privaten Eigentums und markwirtschaftlicher Dogmen. Die SPD wiederum hat sich auf ihrem Berliner Landesparteitag 2019 für Gespräche mit DWE, aber gegen eine praktische Umsetzung der Vergesellschaftung ausgesprochen. Entsprechend versuchte sie es stattdessen mit anderen Optionen wie „Bauen, Kaufen, Deckeln“. Dass diese Konzepte zu teuer waren oder allesamt gescheitert sind, sei nur am Rande erwähnt. SPD und Grüne orientieren ingesamt auf zeitlich begrenzte, „gemeinwohlorientierte“, freiwillige Abmachungen mit privaten Immobilienkonzernen, beispielsweise den kurzlebigen und bereits gegenstandslosen „Zukunfts- und Sozialpakt“ mit dem Vonovia-Konzern oder einen bundesweiten Mietendeckel.

SPD und Grüne vertreten freilich eine sehr verwässerte Vorstellung von einem Mietendeckel, der eher einem Mietensieb entspricht. Außerdem sind sie allzeit bereit, in möglichen Koalitionsverhandlungen mit der konservativen CDU und/oder der marktliberalen FDP diese ohnehin unzureichenden Forderungen weiter aufzuweichen oder ganz über Bord zu werfen. Zu guter Letzt kann bezweifelt werden, wie energisch SPD und Grüne trotz aller Versprechungen derartige Projekte bundesweit durchsetzen werden, ohne dass eine starke, bundesweit agierende mietenpolitische Bewegung beide Parteien politisch herausfordert und derart unter Druck setzt, wie es DWE in Berlin getan hat.

Dass die SPD-Führung um Müller und Giffey gegen Vergesellschaftung eintritt, hat diese mehrfach betont. Zuspruch erhalten solche Aussagen nicht nur von der Immobilienlobby, sondern auch von CDU, FDP und AfD. Damit plagiiert Giffey neben Teilen ihrer Abschlussarbeit auch neoliberale Mietenpolitik. Wenn man bedenkt, dass die meisten SPD-WählerInnen und ihre Mitgliederbasis für Vergesellschaftung votieren und das Ziel von DWE politisch nichts weiter als klassischer Reformismus ist, dann stellen sich Giffey und Müller damit nicht nur den Interessen der Berliner MieterInnen und Lohnabhängigen entgegen, sondern auch der Mehrheit ihrer eigenen Partei.

Die SPD-Linke und die Linkspartei müssen in der nächsten Koalitionsverhandlung ein Vergesellschaftungs- und AöR-Gesetz (AöR: Anstalt des öffentlichen Rechts als Verwaltung des Gemeineigentums), das sich nach den Vorgaben von DWE richtet, als Bedingung definieren. Wenn Müller und Giffey sagen, das ginge nicht mit ihnen, müssen die WählerInnen und MieterInnen sagen: Sehr gerne!

Die Linkspartei ist hier zu zaghaft. Sie muss klarstellen, dass sie sich voll und ganz hinter die Vergesellschaftung stellt. Die Gewerkschaften unterstützen DWE zwar politisch, aber bis jetzt war das nicht verbunden mit der Aktivierung und Mobilisierung ihrer Basis, um weiter Druck auszuüben. Hoffnung machen hingegen beispielhafte Kooperationen mit der Krankenhausbewegung. Denn eines ist klar: Nicht nur Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Viele mittlerweile privatisierte Bereiche der Daseinsvorsorge, wie z. B. auch der Gesundheitsbereich, müssen rekommunalisiert und von NutzerInnen und Beschäftigten demokratisch kontrolliert, verwaltet und so ansatzweise der Markt- und Profitlogik entzogen werden.

Nach dem Volksentscheid ist vor dem Kampf

Wird das Volksbegehren erfolgreich sein, ist der Kampf für Vergesellschaftung nicht beendet, sondern fängt gerade erst an. Es ist zu erwarten, dass die Hetzkampagne gegen Vergesellschaftung weiter Fahrt aufnehmen wird. Seit Beginn der Kampagne arbeitet die Gegenseite bereits mit Falschbehauptungen (siehe Infokasten).

Und auch jeder Senat wird versuchen, sich der Verantwortung und dem Wählerwillen je nach Parteikonstellation in unterschiedlichen Ausprägungen zu entziehen. Daher wird es in erster Linie wichtig sein, nicht (nur) mit dem Senat über ein entsprechendes Gesetz zu verhandeln, sondern vor allem durch eine Vielzahl von Maßnahmen Druck auf diesen zu erzeugen. Dazu gehört die Forderung, dass Vergesellschaftung für die Linkspartei Koalitionsbedingung sein muss. Dazu gehört, die Parteilinke von Grünen und SPD gegen ihre Parteiführung und ihre VertreterInnen im Senat zu stärken und entsprechende Bezirks- und Landesparteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Dazu gehört, die MieterInnenbewegung und den Mieterverein für eine Massenmobilisierung und Mietboykotte aufzubauen und zu stärken. Dazu gehört, die Gewerkschaften für politische Streiks zu gewinnen.

Denn ein Erfolg der Kampagne hätte nicht nur praktische Vorteile für etwa 300.000 MieterInnen in Berlin. Das politische Signal selbst wäre in Berlin und weit darüber hinaus von weitaus größerer Relevanz. Er wäre nicht nur ein Schlag gegen das Finanzkapital, sondern stellte eine Ermutigung für Enteignungen und Wiederverstaatlichung z. B. im Gesundheits- und Transportwesen und in der Energiewirtschaft dar.

Der Ausschluss von Menschen ohne deutschen Pass von der Abstimmung und die Medienhoheit des Kapitals mit dementsprechend wirksamer Demagogie verfälschen zudem das wahre Kräfteverhältnis, das in einem bürgerlich-demokratischem Verfahren wie dem Volksentscheid nicht zum Ausdruck kommen kann.

Wie weiter?

Allein, aber nicht nur aus diesem Grund muss der Kampf auch nach einer gewonnenen Volksabstimmung weitergeführt werden. Er braucht eine Umwandlung der Kampagne, deren Aufbau in den Wohnvierteln, Betrieben, an Schulen und Unis und den Kampf um ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle über den Wohnraum. Dabei müssen wir für die vollständige Enteignung der großen privaten Immobilienkonzerne eintreten, um eine so gering wie mögliche Entschädigungszahlung herauszuholen und die Kontrolle über Sanierungen, Neubau und Mietpreise diesen Komitees und den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung wie den Gewerkschaften anzuvertrauen. Mietboykotts, Mietendeckel und politische Solidaritätsstreiks durch die Gewerkschaften können im ersten Schritt Druck auf die zukünftige Landesregierung ausüben, ein entsprechendes Enteignungs- und Mietengesetz umzusetzen. Schließlich brauchen wir eine Ausweitung, eine bundesweite MieterInnenbewegung für die Lösung der Probleme im Wohnungssektor und Enteignung.

Für eine bundesweite MieterInnenbewegung, gestützt auf die Massenorganisationen der ArbeiterInnenbewegung! Treten wir im ersten Schritt für eine bundesweite mietenpolitische Aktionskonferenz ein, die Vorschläge zur Behebung der Wohnungskrise diskutiert und einen Aktionsplan zu deren Bekämpfung und ihrem eigenen Aufbau, ihrer eigenen Organisationsstruktur beschließt!

Dafür schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Entschädigungslose Enteignung der großen Immobilienkonzerne unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle! Offenlegung ihrer Bilanzen unter Hinzuziehung von ExpertInnen, die das Vertrauen der MieterInnen- und ArbeiterInnenbewegung besitzen!
  • Mietpreisbindung/Mietendeckel, kontrolliert durch MieterInnen und Gewerkschaften!
  • Weg mit Rassismus und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt: Kontrolle und Offenlegung der Wohnungsvergabe!
  • Soziales Wohnungsbau- und -sanierungsprogramm unter Berücksichtigung ökologischer Aspekte (Baumaterial, Nutzung von Solarenergie, vernünftige Wärmedämmung statt Styroporplatten, Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, Infrastruktur) unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle im Zusammenhang mit einer Transformation von Enteignung (Verstaatlichung) in eine wirkliche, umfassende Vergesellschaftung, in der Gesellschaftseigentum keine Insel inmitten eines Wohnungsmarktmeeres bleibt!

Holen wir uns ehemaliges Gemeineigentum zurück, um es kostendeckend und gemeinnützig zu bewirtschaften! Am 26. September für die Enteignung großer Immobilienkonzerne stimmen!




Gegen Mietenwahnsinn und Immobilienspekulation! Enteignung – was sonst?!

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1154, 27. Juni 2021

343.000 Unterschriften in der 2. Sammelphase sind ein riesiger politischer Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen (DWE), tausender UnterstützerInnen und der gesamten Protestbewegung gegen Mietenwahnsinn, Immobilienspekulation und Zwangsräumungen. Grund zum Feiern!

Der Erfolg ist aber auch Anlass zur Diskussion über die weiteren Perspektiven der Bewegung. Da wir Euch nicht allzu viel von der wohlverdienten Erholung rauben wollen, stellen wir unsere Einschätzung und Perspektive der Bewegung thesenhaft vor. Wir freuen uns auf Rückmeldungen und einen weiteren erfolgreichen Kampf!

1. An der Enteignung von Deutsche Wohnen/Vonovia und zahlreicher anderer Konzerne führt kein Weg vorbei. Das hat die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt. Mietpreisbremse und Mietendeckel erwiesen sich zwar als begrenzte Verbesserungen. Die grundsätzlichen Ursachen für steigende Mieten und Verdrängung hätten sie aber auch nur abmildern, nicht aufheben können, selbst wenn der Deckel nicht gekippt worden wäre. Die notwendigen Neubauten von sozialem Wohnraum werden allein auch keine Abhilfe gegen die Spekulation mit ebendiesem schaffen.

Die Enteignung der großen Wohnungskapitale und andere Maßnahmen im Interesse der MieterInnen dürfen nicht alternativ, sondern müssen als Gesamtpaket gedacht werden.

2. Wenn wir die Misere am Wohnungsmarkt bekämpfen wollen, braucht es ein Maßnahmenpaket, das der Profitmacherei den Boden entzieht. Ansonsten drohen praktisch alle anderen zeitweiligen Verbesserungen nur Flickwerk zu bleiben. An der Enteignung von Grund und Boden und der großen Wohnungskonzerne führt kein Weg vorbei.

Unabhängig vom Ausgang des Volksentscheides besteht das große Verdienst von DWE darin, die Eigentumsfrage ins Zentrum politischer Auseinandersetzung, des Klassenkampfes gestellt zu haben.

3. Bei der Frage der Enteignung zeichnen sich soziale Lager ab: MieterInneninitiativen, MieterInnenverein, Gewerkschaften, AnhängerInnen der Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse berufen, auf der einen Seite und bürgerliche Parteien, Mietlobby und Boulevardblätter auf der anderen. Die Frage besteht, ob man diesen Gegensatz nicht als den bezeichnet, der er ist: ein Klassenkampf. Daher sollten wir den Wahlkampf, die Mobilisierung der kommenden Monate auch als solchen begreifen. Wir müssen mit einer Hetzkampagne der Immobilienlobby, der rechten und bürgerlichen Parteien, von AfD, FPD und CDU, aber auch von den KapitalfreundInnen des rechten Parteiflügels von SPD und Grünen rechnen. Gleichzeitig müssen wir Druck auf die UnterstützerInnen in SPD und Grünen sowie auf die Linkspartei aufbauen, den Vorschlag von DWE zur Vergesellschaftung zu unterstützen.

Die Mobilisierung zum Volksentscheid muss daher vor allem als Klassenkampfmobilisierung geführt werden, auf der Straße, aber auch in den Betrieben, an Schulen und Unis.

4. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Kampf am 26. September nicht aufhört, auch wenn wir eine deutliche Mehrheit beim Volksentscheid erreichen. Das Kapital wird wie schon beim Mietendeckel seine Gerichte in Stellung bringen; es wird um die Rechtmäßigkeit der Enteignung und um jeden Cent bei der Höhe der Entscheidung kämpfen. Wie auch immer der Senat zusammengesetzt sein wird: eine Umsetzung im Interesse der MieterInnen ist nicht zu erwarten. Vielmehr wird er versuchen, eine Enteignung zu umgehen, zu verschleppen, zu verzögern, zu verwässern.

Wir müssen daher eine Bewegung aufbauen, die den Kampf nach dem 26. September mit anderen Mitteln in Berlin und bundesweit fortsetzen kann!

5. Die riesige Zustimmung für DWE, die Gewinnung vieler Massenorganisationen wie der Gewerkschaften, die breite Unterstützung durch die Linkspartei, durch MieterInnenvereinigungen, der Aufbau von Sammel- und Kiezteams verdeutlichen, dass wir eine Bewegung aufbauen können, die in den Stadtteilen, aber auch in den Betrieben verankert ist. Diese Basis müssen wir stärken und ausbauen. Wir müssen in den Gewerkschaften und Betrieben dafür eintreten, dass die Kampagne nicht nur durch Beschlüsse der Vorstände formal unterstützt wird, sondern auch wirklich betriebliche Strukturen aufgebaut werden, die als Kampforgane agieren können.

Die Kiez- und Sammelteams, aber auch Strukturen in Betrieben, im öffentlichen Dienst, an Schulen und Unis sollen zu Aktionskomitees der Kampagne und darüber hinaus werden!

6. Im Herbst 2021 stehen nicht nur Wahlen, sondern auch wichtige Tarifrunden im öffentlichen Dienst sowie Auseinandersetzungen an den Krankenhäusern und Klinken an. Ohne Kampf, ohne Streikbewegung wird den KollegInnen dort nichts geschenkt werden – weder von der zukünftigen Bundesregierung noch vom zukünftigen Senat und erst recht nicht in den privaten Unternehmen. Das gilt natürlich auch für den Kampf um die Enteignung bzw. deren Durchsetzung, wenn wir den Volksentscheid gewinnen.

Wir müssen von den Gewerkschaften, in den Betrieben politische Streiks einfordern, um die Umsetzung der Enteignung zu erzwingen. Wir müssen uns bei den zu enteignenden Wohnungsunternehmen auf einen organisierten Mietboykott und ähnliche Kampfmaßnahmen vorbereiten, um eine zügige Enteignung von unten zu erzwingen!

7. Wir müssen davon ausgehen, dass sich der Kampf vor und nach dem 26. September weiter zuspitzt. Das heißt auch, dass wir ihn ausweiten, politisieren und radikalisieren müssen. Das betrifft zum einen die bundesweite Ebene wie überhaupt den Kampf um Enteignung und die Verbindung mit dem Kampf gegen die Kosten der Krise und Pandemie.

Wir treten daher dafür ein, nach den Wahlen eine bundesweite Aktionskonferenz zu organisieren, bei der der Kampf gegen überhöhte Mieten und Wohnungsnot eine zentrale Rolle spielen sollte, um so eine massenhafte Antikrisenbewegung aufzubauen.

8. Die Auseinandersetzungen der letzten Monate zeigen, welche Bedeutung der Wohnungsfrage zukommt. Dass Millionen die Enteignung der Konzerne unterstützen, zeigt aber auch, dass sie die kapitalistische Profitmacherei nicht einfach dulden wollen. Die Enteignung wird daher auch in anderen Bereichen von grundlegender Bedeutung werden. Dies bedeutet aber auch, dass wir an die Grenzen des Kampfes stoßen werden, wenn er im Rahmen des Grundgesetzes und der Entschädigung des Privateigentums bleibt. Wir müssen daher auch die Frage aufwerfen, wie, durch welche Mittel perspektivisch eine entschädigungslose Enteignung durchgesetzt werden kann. Welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse kann das erreichen und wie kann sie kontrollieren, dass enteignete, verstaatlichte oder kommunalisierte Betriebe oder Genossenschaften unter ihrer Kontrolle stehen und nicht nur der einer den MieterInnen nicht verantwortlichen Bürokratie?

Wir sollten daher die aktuelle Kampagne als Sprungbrett zu einer größeren Bewegung für die  bundesweite Enteignung der Immobilienkonzerne, von Grund und Boden und die Kontrolle des Wohnungsbaus durch die MieterInnen begreifen.

9. Doch keine Perspektive ohne Mühen der Ebene. Die beste strategische Diskussion reicht nicht, wenn wir unsere Kräfte nicht für den Volksentscheid im September bündeln. Ein Sieg beim Entscheid wäre einer von uns allen und ein enormer Schub für jeden zukünftigen Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals, der nächsten Bundesregierung und des nächsten Senats.

Die von DWE anvisierte Verbreiterung der Kiezteams und Aktionsgruppen durch regelmäßige Versammlungen in den Kiezen und Stadtteilen ist dazu ein wichtiger Schritt. Diese sollten nicht nur dazu dienen, die Menschen zur Abstimmung zu bringen, sondern auch neue AktivistInnen zu gewinnen und integrieren.

In diesem Sinn sollten auch Aktionsgruppen und Komitees in Betrieben, im öffentlichen Dienst und an den Schulen aufgebaut werden.

Außerdem schlagen wir das Erstellen einer kostenlosen Massenzeitung für die Kampagne neben anderen Werbematerialien vor und die Verbindung der Mobilisierung mit anderen sozialen Kämpfen wie der Krankenhausbewegung und dem gegen die Räumung besetzter Häuser!

  • Bereiten wir Deutsche Wohnen/Vonovia und Co. einen heißen Herbst!
  • Enteignet die EnteignerInnen!



Schweden: Regierung doch noch gestürzt

Arbetarmakt, schwedische Sektion der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1153, 21. Juni 2021

Schwedens sozialdemokratisch-grüne Minderheitsregierung ist endgültig gestürzt, nachdem Ministerpräsident Stefan Löfven eine Vertrauensabstimmung im Parlament verloren hat. Nach der Wahl von 2018, die keine klare Mehrheit eines „Lagers“ mit sich brachte, trat die Koalition ihr Amt nur an, nachdem sie die neoliberalen Forderungen der Zentrumspartei und der Liberalen im „Januarabkommen“ akzeptiert hatte. Selbst mit deren Unterstützung war die Regierung immer noch von der Linkspartei, der Nachfolgerin der Kommunistischen Partei, abhängig, die sich bereit erklärte, nicht gegen sie zu opponieren, wenn sie zwei Schlüsselelemente des Abkommens nicht umsetzt: die Verwässerung des Rechte der Beschäftigten und die Preisgabe der Mieten für den freien Markt.

Die Angriffe auf die Arbeitsplatzsicherheit kamen, wie versprochen, aber die Vorsitzende der Linkspartei, Nooshi Dadgostar, sagte, dass sie nicht für ein Misstrauensvotum stimmen würde, falls die Gewerkschaften und die UnternehmerInnen von sich aus zu einer Einigung über das Arbeitsrecht kommen würden. Die SozialdemokratInnen übten daraufhin schnell Druck auf ihre Verbündeten in der Gewerkschaftsbürokratie aus, um genau solch eine Vereinbarung auszuarbeiten, und die Regierung blieb im Amt.

Mieten

Das war im Oktober des vergangenen Jahres. Das zweite Thema, die Freigabe der Mietpreise im öffentlichen Wohnungsbau, war nicht so leicht zu umgehen. Der Vorschlag lautete, dass das „schwedische Modell“, bei dem die Mieten durch Verhandlungen zwischen der MieterInnengewerkschaft Hyresgästföreningen und den VermieterInnen festgelegt werden, durch freie Hand für die VermieterInnenseite ersetzt werden sollte, damit diese die Mieten nach „Marktpreisen“ beliebig festlegen können. Um die Pille zu versüßen, würde dies zunächst nur für Neubauten gelten.

Wie wir bereits berichtet haben, würde eine Freigabe der Mietpreise in Schweden laut dem Bericht einer Beratungsfirma etwa 50 Prozent höhere Mieten in Stockholm und 30–50 Prozent landesweit bedeuten.

Letzte Woche gab Nooshi Dadgostar unter dem Druck ihrer eigenen Parteimitglieder und der massiven Kampagne im ganzen Land gegen diesen extremen Vorschlag zur Liberalisierung des Wohnungsmarktes, der laut Umfragen nicht einmal unter den rechten WählerInnen eine Mehrheit hat, der Regierung eine Frist von 48 Stunden, um entweder den Vorschlag zurückzuziehen oder neue Verhandlungen mit der MieterInnengewerkschaft einzuleiten.

Seine Chance sehend, kündigte Löfven an, dass der MieterInnenbund zwar verhandeln dürfe. Sollte es aber zu keiner Einigung mit den ImmobilieneigentümerInnen kommen, würde wie im Arbeitsrechtskonflikt der ursprüngliche Vorschlag der Freigabe der Mietpreise trotzdem verabschiedet werden.

Dieses Mal sind Dadgostar und die Linkspartei nicht umgefallen. Sie kündigten an, dass sie diese „Lösung“ nicht akzeptieren können, und dann initiierten die rassistischen SchwedendemokratInnen ein Misstrauensvotum. Die konservativen Parteien der Moderaten und der ChristdemokratInnen stimmten aus eigenen Motiven für den Antrag, und gestern, am 21. Juni um 11 Uhr, wurde Premierminister Löfven mit den Stimmen der Linkspartei, der SchwedendemokratInnen, der ChristdemokratInnen und der Moderaten zu Fall gebracht. Er hat nun sieben Tage Zeit, entweder zurückzutreten oder Neuwahlen auszurufen.

Wie Arbetarmakt am Sonntag vor der Abstimmung schrieb, müssen alle AktivistInnen der Wohnungs- und ArbeiterInnenbewegung, die gegen die drohende Freigabe der Mietpreise gekämpft haben, den Sturz der Regierung und des Januarabkommens begrüßen. Von Anfang an war es die Pflicht aller SozialistInnen, alles in unserer Macht stehende zu tun, um das Januarabkommen zu Fall zu bringen, gegen jeden Teil davon zu kämpfen, den Druck zu erhöhen und schließlich die Regierung zu stürzen.

Was nun?

Die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich nun den politischen Ränkespielen zu, da eine neue Regierung oder möglicherweise eine vorgezogene Neuwahl diskutiert wird. Wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Linkspartei erneut ihre vermeintlich „roten Linien“ verrät und Verhandlungen unter dem Druck entweder eines Gesetzes oder des Schreckgespenstes einer reaktionären schwedendemokratisch-moderat-christdemokratischen Regierung akzeptiert. Es war zweifellos der Druck der Bewegung gegen die Preisgabe der Mieten auf der Straße, der die Führung der Linkspartei dazu gezwungen hat, das Misstrauensvotum, anders als beim letzten Mal über das Beschäftigungsgesetz, zu unterstützen.

Egal, was als Nächstes kommt, die Aufgabe der SozialistInnen besteht jetzt darin, die Kampagne gegen die Vermarktung der Mieten auf der Straße zu verstärken. Die politische Krise wird nicht durch weitere Intrigen, Verhandlungen hinter verschlossenen Türen oder eine weitere Pressekonferenz gelöst werden. AktivistInnen in der MieterInnengewerkschaft, der Kampagne gegen die Kommerzialisierung der Mieten, GewerkschafterInnen und organisierte SozialistInnen müssen kristallklar machen, dass, egal welche Regierung als Nächstes kommt, die Kommerzialisierung der Mieten für uns eine rote Linie darstellt. Wie die Kampagne, die von Arbetarmakt unterstützt wird, am Sonntagabend schrieb: „Wir wollen keine Scheinverhandlungen oder verräterische Deals auf dem Rücken der MieterInnen sehen. Wir wissen, dass sieben von zehn SchwedInnen, aus allen politischen Richtungen, gegen die Freigabe der Mietpreise sind. Hört auf das Volk!“

Der Protest vor dem Parlament, zu dem die Kampagne aufgerufen hatte, war ein guter Auftakt für einen heißen Sommer im Kampf gegen jegliche Angriffe auf den Wohnungsbau. Während die politische Situation in Schweden derzeit ungewiss ist, können wir uns einer Sache sicher sein: Die Intensivierung des Kampfes ist unsere einzige Garantie, um die Angriffe der kapitalistischen Rechten zurückzuschlagen, egal welche Regierung an der Macht ist.