Bleibt die deutsche Wirtschaft zurück?

Markus Lehner, Neue Internationale 281, April 2024

Liest man gerade Wirtschaftszeitungen und noch mehr Börsennachrichten, so könnte man meinen, „die Welt“ befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung. Interessant ist dabei sowohl, was unter „Welt“ als auch „Aufschwung“ verstanden wird. Natürlich wird gefeiert, dass wieder einmal die USA auf der Überholspur sind – und dies wird kontrastiert mit der „totalen Ausnahme“ des deutschen wirtschaftlichen Dahinkriechens. Natürlich wird Letzteres der „Politik“ angelastet, die eine ähnliche Dynamik wie in den USA durch Bürokratie, Energie- und Umweltauflagen, Arbeitsgesetze etc. behindere.

Ungleiche Entwicklung: Europa …

An diesem Bild muss einiges korrigiert werden. So wurde Anfang letzten Jahres für die USA eine ähnlich stagnative Erholung nach der Coronarezession wie in Europa erwartet. Tatsächlich wurden dann die vorausgesagten Wachstumsraten von Quartal zu Quartal nach oben korrigiert, bis die im internationalen Vergleich beachtlichen 2,4 % erreicht wurden. Dies kontrastiert mit den Wachstumsraten um die 0 % im EU-Raum und den wirtschaftlichen Einbrüchen in China rund um die Immobilienkrise und den Auswirkungen der späten Aufhebung der Coronalockdowns. Parallel zum sanften US-Aufschwung gab es auch höhere Wachstumsraten in Ländern wie Japan (2 %), Mexiko (3,4 %), Indien (6,5 %) – zum Teil offenbar bedingt durch die Erholung in den USA.

Was Europa betrifft, so ist es bei weitem nicht nur Deutschland, das weit hinter den Wachstumsraten der genannten Länder zurückgefallen ist. Außer ihm (-0,2 %) waren 2023 auch die Niederlande und Schweden in einer leichten Rezession – also neben der nach BIP größten Volkswirtschaft der EU auch Nummer 5 und 8. Alle großen EU-Länder (mit der bemerkenswerten Ausnahme Spaniens) blieben bei Wachstumsraten unter 1 % bzw. schrammten knapp an Rezessionen vorbei.Dies trifft auch auf die krisengeschüttelte Nach-Brexit-Ökonomie Britanniens zu.

Natürlich hat diese Situation viel mit der geopolitischen Entwicklung rund um den Ukrainekrieg zu tun. Die Russlandsanktionen und insbesondere der schlagartige Verzicht auf billigeres russisches Erdgas und -öl haben nicht nur, aber besonders die deutsche Ökonomie getroffen. Der Ersatz durch Flüssiggas und Ausbau erneuerbarer Energien gelang zwar teilweise, führte aber zu stark erhöhten Preisen. Der deutsche Energiepreisindex stieg 2022 um etwa 65 % – fiel allerdings 2023 wieder um 25 %, was in Summe immer noch einen mehr als 20%igen Anstieg gegenüber der Vorsanktionszeit bedeutet. Dazu kommt, dass die vermehrten Rüstungsausgaben in ganz Europa zu Haushaltsbeschränkungen führen, die den Spielraum für große Konjunkturprogramme stark einengen.

… und USA

Beide Faktoren fallen für die USA weg: Dort kam es seit 2022 zu keinen nennenswerten Energiepreiserhöhungen (auch weil dort außer Alibisteuern in einzelnen Bundesstaaten keine CO2-Bepreisung stattfindet). Im Gegenteil – durch die erhöhte Nachfrage nach Flüssiggas konnte der US-Energiesektor wesentlich zum Wirtschaftswachstum beitragen. Ebenso ermöglicht die spezielle Rolle seines Finanzsystems es den USA, unabhängig davon, dass die Neuverschuldung inzwischen pro Jahr 8 % des BIP ausmacht, trotzdem riesige Konjunkturprogramme aufzulegen. Diese umfassten 2023 das Doppelte aller anderen westlichen Industrienationen zusammen genommen. Insbesondere die Coronahilfen führen bis heute zu einem stabilen Anstieg der Konsumausgaben durch den Binnenverbrauch. Die Kehrseite dieser Schulden- und Subventionspolitik zeigt sich darin, dass das Inflationsniveau in den USA trotz steigender Zinsen nicht unter 3 – 4 % (bei der Kerninflation sogar über 5 %) liegt – im Gegensatz zum EU-Raum, wo es (auch stagnationsbedingt) mittlerweise unter die 3 % gesunken ist.

Die US-Konjunktur profitiert auch von einer „Entspannung auf dem Arbeitsmarkt“ durch gestiegene Immigration. Angesichts der seit dem Zinsanstieg steigenden Rate von Firmeninsolvenzen gibt es in den USA einen größeren Spielraum für die Umschichtung von Kapital und Arbeit (Migrant:innen für Billigjobs, Entlassene für neue Investitionsbereiche). Tatsächlich ist der leichte Aufschwung verbunden mit einem enormen Anstieg an Firmenzusammenbrüchen: 2023 hat sich die Zahl der Großinsolvenzen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Beides (Migration und Insolvenzen) wirken in der EU und Deutschland auch aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nur bedingt in Richtung Umschichtung von Kapital und Arbeit.

Gleichzeitig wirkt sich die Umstrukturierung der globalen Märkte und Wertschöpfungsketten in der EU negativer aus als in den USA. Insbesondere Deutschland und die Niederlande sind von „Friendshoring“-Tendenzen und Lieferkettenproblemen stark betroffen, vor allem was die Geschäftsbeziehungen mit China betrifft. Bezeichnenderweise hat das USA-China-Geschäft trotz politischen Getöses im letzten Jahr wieder enorm an Fahrt aufgenommen (7 % Anstieg der Importe in die USA).

Börseneuphorie

Obwohl also die derzeitige Wachstumsphase der USA offenbar durch einige Sonderfaktoren bedingt ist, herrscht gerade an den Börsen eine Euphorie, als sei eine neue Boomära angebrochen. Seit letztem Oktober stiegen die Aktienkurse an den US-Börsen genauso wie auch der DAX fast parallel um 22 %. In den USA sind es insbesondere Technologiewerte, die mit „Künstlicher Intelligenz“ in Verbindung gebracht werden, welche durch die Decke gehen. So beim Chiphersteller Nvidia, dessen Kurswert sich im letzten Quartal 2023 verfünffacht hat. Nvidia, das die Hardware für die gestiegenen Anforderungen von KI-Anwendungen liefert, hat aber im selben Zeitraum seinen Quartalsprofit von 3 Milliarden US-Dollar auf 17 Milliarden gesteigert. Und es ist nur eines von 7 „Großen“, die derzeit vom KI-Hype an den Börsen profitieren. Tatsächlich versprechen die Fortschritte in der Integration von generativer KI in die herkömmlichen IT-Infrastrukturen künftig große Produktivitätssprünge. Doch kann sich deren Realisierung noch mehrere Jahre hinziehen. Die großen Erwartungen könnten also genauso verfrüht sein wie 1999 während der Dotcomblase.

Insgesamt hat sich die Börse wieder einmal stark von den realwirtschaftlichen Werten entfernt, wie sie sich etwa im „Price-Earning“-Index ausdrücken. Dieser vergleicht die Kursbewertung mit den längerfristigen inflationsbereinigten Gewinnen. Als „normal“ gelten dabei Werte um die 20 – beim großen Crash 1929 stand er bei 31,5, vor dem Dotcomcrash bei 44,2 – derzeit steht er bei 34,2. Kein Wunder also, dass sich an den Börsen eine gewisse Nervosität breitmacht. Es reichen wohl ein paar schlechte Daten von Unternehmen oder Konjunkturprognosen für die USA, um Kursstürze auszulösen. Die Unsicherheit an den Finanzmärkten addiert sich zu der Masse an Krisenmomenten, die sich derzeit zusammenballen (Klima, Kriege, Schulden, Inflation, Stockungen im Welthandel und den Wertschöpfungsketten, politische Unsicherheiten …).

Bei den deutschen Aktienwerten sticht vor allem ein Titel hervor: der des Rüstungskonzerns Rheinmetall: Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch bei 90 steht der Kurs aktuell bereits bei 500. Im weltweiten Vergleich ist der Konzern zwar eine kleine Nummer, mit allerdings wichtigen technischen Fähigkeiten (aktuell etwa in der gesteigerten Produktion von Artilleriemunition). Der neue Rüstungswettlauf in Europa erfordert für die EU-Kapitale eine völlig neue Struktur von Rüstungskonzernen. Die vielen kleinen nationalen Monopole können alleine im internationalen Wettlauf nicht Schritt halten. Hier fungiert Rheinmetall als Modell, indem dieser Konzern seit einiger Zeit mehrere kleinere Firmen schluckte (in Spanien, den Niederlanden, Rumänien …). Das andere sind große europäische „Kooperationen“, so die der „Panzerschmiede“ Krauss-Maffei Wegmann mit der französichen Nexter zu KNDS (KMW+Nexter) mit Sitz in Amsterdam. KNDS ist im letzten Jahr in eine Kooperation mit einem der größten europäischen Rüstungskonzerne, der italienischen Leonardo, eingestiegen – insbesondere um den zukünftigen Panzer der europäischen Streitkräfte zu bauen. Es ist zu befürchten, dass die europäischen Rüstungskonzerne zu einem neuen Zentrum der EU-Industriepolitik werden, die Milliarden an Steuergeldern, Investmentkapital und Spekulationsanlagen verschlingen werden.

Perspektiven

Neben den Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs und den Kosten der Aufrüstungspolitik sind die anderen Faktoren schon benannt, die eine Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schwer machen: die weitere Entwicklung der Krise in China, mit ihren Auswirkungen auf die internationalen Wertschöpfungsketten; die Fragmentierung des Welthandels; die wachsenden Kosten von Klimakatastrophen und die Entwicklung der Energiekosten; die Unsicherheiten der Entwicklung in den USA (nicht nur was den Ausgang der Präsidentschaftswahl betrifft, sondern auch die Konjunktur); die Möglichkeit von Turbulenzen auf den Finanzmärkten; die Möglichkeit weiterer Großinsolvenzen nach der Karstadt-Benko-Pleite etc. Auch wenn die Konjunkturklimaindikatoren inzwischen aufwärts zeigen, so können einige dieser Unsicherheitsfaktoren schnell zu einem erneuten Abrutschen in eine verlängerte Rezession führen.

Während die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Probleme mit sinkendem Massenkonsum und Inflation dazu geführt haben, dass seit letztem Jahr bis heute zu einem Aufschwung von Lohnkämpfen gekommen ist, so haben selbst diese nicht einmal in den tarifgebundenen Bereichen Reallohnverluste verhindern können. Im Umfeld von Rezession und Firmenpleiten werden die Lohnkämpfe in nächster Zeit sicher nicht einfacher werden. Insbesondere in der Metallindustrie stehen weitere Auseinandersetzungen darum an, wer die Kosten der Transformation zu CO2-reduzierten Technologien (z. B. in der weniger personalintensiven E-Mobilität) tragen muss. Die Streiks der GDL haben gezeigt, dass sie mit der weniger als bei DGB-Gewerkschaften üblichen Rücksichtnahme durchaus Druck ausüben können. Die Probleme müssen zu Lasten der Profite des Kapitals durch Aufteilung der Arbeit auf alle Hände (Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich) und Angleichung der Lohn- an die Preisentwicklung gelöst werden. Insofern ist das Gegenteil von Lohnzurückhaltung angesichts der gegenwärtigen Rezessionserwartungen angesagt.

Zugleich machen die Resultate der Lohnkämpfe der letzten Jahre nicht nur die fatale Rolle der Gewerkschaftsbürokratie deutlich, die als Bremsklotz fungiert. Sie werfen auch die Frage auf, wie diese durchbrochen werden kann. Das erfordert zum einen den Aufbau einer klassenkämpferischen, organisierten Opposition in den Betrieben und Gewerkschaften. Ihre Aufgabe besteht dabei sowohl in der Radikalisierung der Kämpfe wie auch in der Verbreiterung einer politischen Alternative zur reformistischen und verbürokratisierten Führung.

Doch es wäre zugleich zu kurz gegriffen zu glauben, dass das Problem der politischen Ausrichtung und Führung der Arbeiter:innenklasse auf rein gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene gelöst werden könne. Der Kampf für eine Basisbewegung wird letztlich nur erfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit dem für die Schaffung einer neuen revolutionären Partei und Internationale einhergeht.




Signa und das System René Benko

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das System Benko und mit ihm die Signa-Gruppe stehen vor dem vorläufigen Aus. Die Signa Holding und viele ihrer rund 200 Tochtergesellschaften haben Insolvenz angemeldet. Aber nicht nur der Konzern, sondern letztendlich die gesamte Immobilienwirtschaft ist durch steigende Zinsen und Baukosten ins Stocken geraten. Zugleich drohen die Absicherungen durch überbewertete Immobilien, infrage gestellt zu werden. Doch die Insolvenz kann weit über die Immobilienwirtschaft und den Handel Auswirkungen haben. Denn sie steht sinnbildlich für eine Spekulationsblase des Kapitals, für kurzfristig höhere Renditeerwartungen. Auch wenn die Pleite von Signa nicht vergleichbar ist mit der von Lehman Brothers 2008, so zeigt sie doch die Krisenhaftigkeit der Weltwirtschaft und deren Einfluss in den DACH-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.

Eine kleine Geschichte René Benkos

2021 wurde Benko zum drittreichsten Österreicher mit einem geschätzten Kapitalvolumen von 5,6 Milliaren US-Dollar gekürt. Auch wenn heute weite Teile seiner Unternehmen sich in Insolvenz befinden, so ist nicht davon auszugehen, dass er am Hungertuch nagen wird. Er ist Sinnbild der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Weltwirtschaftskrise von 2007/08, Ausdruck der Finanzialisierung des Immobiliensektors weit über Signa hinaus. Um die Entwicklung nachzuvollziehen, soll kurz ein Blick auf den beruflichen Werdegang geworfen werden. Die Geschichte zeigt, dass es sich beim Kapital nicht um abstrakte Kategorien, sondern wirkliche Entitäten handelt.

Benko stieg Mitte der 1990er Jahre in die Selbstständigkeit ein. Damals plante er Projekte zum Ausbau von Dachböden in hochpreisigen Penthouses gemeinsam mit dem Bauunternehmer Johann Zittera. 2001 gründete er die Firma Immofina Holding, wofür er eine Anschubfinanzierung von 25 Millionen Euro vom ehemaligen Tankstellenbesitzer Karl Kovarik erhielt und ihn beteiligte. Benko selbst kam aus relativ einfachen Verhältnissen. Die Mutter war Erzieherin, der Vater Beamter der Gemeinde. Er wuchs in einer 60 m² Wohnung in Innsbruck auf. Sein Unternehmenskonzept basiert damals wie heute auf zwei grundlegenden Herangehensweisen. Er zielte auf Immobilien mit „Entwicklungspotential“ ab und versuchte, für diese Projekte Fremdkapital einzuwerben oder in vorherigen entwickelte Sicherheiten einzusetzen, um bessere Kreditbedingungen zu erhalten.

Zwischen 2004 und 2010 hatte er dann sein erstes Großprojekt mit der Neuerrichtung des Kaufhaus Tyrol. Bereits im Zuge dessen wurden in verschiedenen Metropolregionen Österreichs und Deutschlands Immobilien erworben und das Unternehmen in Signa Holding (2006) umbenannt.

Bekannt in Deutschland sind sicherlich sein Erwerb der Karstadt Group 2012 – 2013. Hier versprach Benko die Rettung des seit 2009 insolventen Handelskonzerns. Bereits damals machte er deutlich, dass er auch Galeria Kaufhof kaufen wolle. Mit dem Erwerb Karstadts ergänzte Signa neben den Immobilien seine Handelssparte. Gemeinsam mit der Benny Steinmetz Group kaufte er Teile des Karstadt-Eigentums. Das Verhältnis wurde bald wieder aufgelöst, wobei Steinmetz in der Zeit für seinen Korruptions- und Erpressungsskandal bekannt wurde aufgrund des Erwerbs von Erzschürfrechten im Südosten Guineas. 2014 wurden auch Benko und sein Steuerberater zu 12 Monaten auf Bewährung verurteilt („bedingte Haftstrafe“). Denn Letztere hatte 2009 dem ehemaligen kroatischen Premier Sanader 150.000 Euro angeboten, damit dieser ein Gerichtsverfahren in Italien in Benkos Sinne beeinflusst.

Auch die Schweizer Warenhauskette Globus (2020) und das österreichische Möbelhaus Leiner & kika (heute: kikaLeiner) erwarb Signa. 2018 kaufte die Holding dann die Mehrheitsanteile an Galeria Kaufhof und führte 2019 Galeria Karstadt Kaufhof zum zweitgrößten europäischen Warenhauskonzern zusammen. Benko wurde damit zum größten europäischen Warenhausmogul. Auch im Onlinehandel war er aktiv. Mit der Signa Prime und Development wird der Immobiliensektor abgedeckt und aufgeteilt in teure und zu entwickelnde Immobilien. Die Warenhaussparte mietete zumeist bei anderen Signa-Tochterunternehmen die jeweiligen Immobilien.

2019 stieg die Konzerngruppe auch in die Medienbranche ein, als sie die Anteile der Funke Mediengruppe an den österreichischen Zeitungen Krone und Kurier kaufte. Zu Spitzenzeiten beschäftigte Signa etwa 46.000 Angestellte in Österreich, Italien, der Schweiz und Deutschland.

Doch Benko und seine Signa haben sich hier schlussendlich verspekuliert. Die Handelssparte konnte nicht genug Profit abwerfen, um sich zu halten, während die Inflation die Bauvorhaben ins Stocken brachte. Die massive Überbewertung Signas erforderte eine stetige Ausweitung des Portfolios. In diesem Sinne ist die Signa Holding eine eigene „kleine“ Spekulationsblase für Kapitalist:innen primär in der DACH-Region.

Finanzialisierung des Immobiliensektors

Mit Finanzialisierung wird die Entwicklung seitens des Finanzkapitals zur Fokussierung auf Immobilien als Anlage und Absicherung weiterer Kaufoptionen mittels Bewertung der auf Kredit gekauften Immobilien verstanden. Diese müssen dafür eine gesteigerte Rendite abwerfen.

Gerade angesichts der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken wurden solche Entwicklungen befeuert. Der Prozess war widersprüchlicher Weise auch Konsequenz gesunkener Immobilienpreise nach Platzen der Blase des aufgeblähten US-Immobilienmarktes und ihrer weitreichenden Abwertung zu dieser Zeit. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation des Kapitals. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt, auf „Betongold“, also Immobilien als „sichere“ Investitionsmöglichkeit. Während die Big Four (Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien SE) jahrelang in Deutschland den Wohnbereich dominierten, war Signa im Schatten deren aktiv und konzentrierte sich auf Gewerbegebäude.

Wer investiert in Signa?

Weiterhin ist unklar, welche Anteile Benko an der Benko Familienstiftung und ihrer Signa Holding hält. In der Reportage „Der wundersame Erfolg des René Benko“ von Inside Austria wird deutlich behauptet, dass außerhalb der Person René Benko vermutlich niemand weiß, wie viele Unternehmen und welche Besitzanteile zur Signa-Gruppe gehören. Signa als Holdinggesellschaft versuchte, nicht nur günstige Kredite für ihre Vorhaben bei Banken zu erhalten, sondern stellte für Teile der Bourgeoisie eine hoffnungsvolle Renditeerwartung dar. Nicht alle Investor:innen sind an die Öffentlichkeit gelangt, einige erst im Zuge der Panama Papers. Denn die Holdinggesellschaft besteht aus knapp 200 Subfirmen, strukturiert nach Treuhänder:innen, Investor:innen, teilweise aber auch nach Immobilien, Wirtschaftssektoren oder Staaten. Zugleich hat die Signa Holding zwar die Börse gekauft (das Unternehmen besitzt die Immobilie), ist jedoch nie eine Aktiengesellschaft geworden. Dementsprechend hat der Konzern wenig Verpflichtung zur Transparenz. Diese Undurchsichtigkeit ermöglicht es sowohl Investor:innen, teilweise weniger erkennbar zu sein, als auch die Überbewertung des Unternehmens.

Trotzdem gibt es einige bekannte Investor:innen wie den STRABAG-Chef Klemens Haselsteiner, die Peugeot-Familienholding, Ernst Tanner von Lindt & Sprüngli, der Fressnapf-Gründer Torsten Toeller oder der Logistikmilliardär Kühne. Ex-Porschevorstandschef Wendelin Wiedeking zog sich beispielsweise aus Signa zurück und sprach sich öffentlich gegen Investitionen aus wegen intransparenter Unternehmensführung. Ähnlich wie im Wohnungssektor hat Signa also als Gewerbeflächeninvestorin bereitgestanden und Anlagegewinne weit über den durchschnittlichen Kapitalrenditen versprochen. Von der Firmenpleite sind also bedeutend mehr betroffen, als wir aktuell wissen.

Das heißt nicht, dass René Benko unbedingt gegenüber seinen Investor:innen als Blender aufgetreten ist. Hier gab es auch verschiedene Buyouts und Verkäufe in den letzten Jahren, wie Wiedeking und in Teilen Tanner. Medienberichten zufolge gibt es aktuell 94 Gläubiger:innen, die der Signa-Gruppe Geld geliehen haben in einem Volumen von 14 Milliarden Euro – darunter 74 Banken, 8 Versicherungsunternehmen und 12 Fondgesellschaften.

In seiner Handelssparte kann man das schon eher annehmen, denn für abertausende Beschäftigte hat die in kürzester Zeit zum größten europäischen Handelskonzern augestiegene Signa drohende Arbeitslosigkeit und Lohnverzicht bedeutet. Die Beschäftigten im Einzelhandel und das Argument der angeblich aussterbenden Innenstädte dienten ihm auch als Türöffner:innen, um Einfluss auf die Lokalpolitik zu nehmen.

Einflussnahme auf die Politik

Der Signa-Aufsichtsratsvorsitzende Benko ist auch für sein umfassendes Netzwerk bekannt. Er tritt als politisch überparteilich auf, pflegt Kontakte zu verschiedensten Parteien, Ministerien und Staatssekretär:innen. 2017, als Sebastian Kurz österreichischer Kanzler wurde, unterstützte er alle drei Parteien, die Kanzlerkandidat:innen stellten, also FPÖ, ÖVP und SPÖ. Kurz und seine Amigos spielten ihm damals beim Kauf von des kikaLeiner-Flagshipstores in der Wiener Mariahilfer Straße in die Hände, scheinbar, weil sie Interesse am Aufbau des österreichischen Kapitalisten hatten. Kurz nahm ihn auch zu verschiedenen Staatsbesuchen mit.

Auch auf kommunaler und städtischer Ebene war Benko immer wieder aktiv. In verschiedenen Verhandlungen soll er für den Erhalt von Kaufhäusern gegen etwaige Bauvorschriften die Rechte zum Umbau oder Abriss erhalten haben, teilweise auch trotz Denkmalschutzes. Das Argument Rettung der Innenstädte und Arbeitsplätze ist hier gerade für kommunale Politik äußerst wirkmächtig und das auch ganz ohne offene Korruption. In Berlin beispielsweise, wo eine Reihe von Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen existiert, kam es zu regelrechten Kuhhandeln. Sowohl nahm Signa hunderte von Millionen an staatlichen Subventionen an, wie sie im Gegenzug auch den Erhalt eines Teils der Arbeitsplätze für Baugenehmigungen „garantierte“. Zugleich haftet Signa nicht für Teilinsolvenzen, wodurch die meisten Versprechen fromme Hoffnungen blieben.

Enteignet Benko!

René Benko kommt durch sein Unternehmenskonzept weitgehend unbeschadet aus der Pleite heraus, während sein Geschäft auf dem Auspressen von Immobilien, dem Hochtreiben von Immobilienpreisen in europäischen Innenstädten, aber auch Massenentlassungen von Beschäftigten der Handelsunternehmen basierte. Zahlen müssen also hier die einfachen Mieter:innen, kleinen Ladenbesitzer:innen und Arbeiter:innen.

Diese Kosten müssen jedoch vom Kapital getragen werden, weshalb es eine Reihe von Maßnahmen braucht wie die Öffnung der Geschäftsbücher und das Einfrieren der Kapitalanlagen in und um Signa. Die Immobilien müssen verstaatlicht, ihre Verwendung muss durch die Beschäftigten, die Gewerkschaften und die Mieter:innenbewegung kontrolliert und geplant werden. Dabei darf nicht vor dem Privatvermögen Benkos und seiner Nutznießer:innen haltgemacht werden. Zugleich braucht es einen Plan für die Zukunft des in der Krise befindlichen Einzelhandels und eine eventuelle Überführung der Stellen in andere gesellschaftlich notwendige Arbeiten. Denn die Rettung des städtischen Lebens kann nicht die künstliche Aufrechterhaltung der Konsumpaläste bedeuten.




Enteignet Signa!

Stefan Katzer, Infomail 1238, 9. Dezember 2023

Das Weihnachtsgeschäft wird noch einmal ordentlich Geld in die Kassen spülen, doch wie es mit den Kaufhäusern von Galeria Karstadt Kaufhof und den dort Beschäftigten danach weitergehen wird, ist derzeit ungewiss. Nachdem die derzeitige Eigentümerin, die Signa-Holding GmbH, einen Antrag auf ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung gestellt hat, müssen die Beschäftigten erneut um ihre Jobs bangen. Erst 2019 wurden dutzende Filialen geschlossen, haben hunderte Mitarbeiter:innen ihre Jobs verloren. Dabei hatten sie zuvor noch versucht, durch Lohnverzicht ihre Arbeitsplätze zu erhalten – es hat nichts genützt. Und nun also die Nachricht von der Signa-Pleite,  und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof müssen erneut um ihre Jobs bangen.

Das Geschäftsmodell Signa

Dass die Signa-Holding GmbH jetzt insolvent ist, ist keinesfalls die Schuld der Beschäftigten. Es hängt vielmehr mit der ökonomischen Großwetterlage zusammen, mit steigenden Zinsen und hohen Baukosten. Solange die Zinsen niedrig waren, hat sich das Bauen für die Immobilienhaie noch gelohnt. Darauf war und ist das Geschäft der Signa-Holding GmbH ausgerichtet. Sie ist im Kern kein Handelsunternehmen, sondern verdient ihr Geld vor allem durch ihr Geschäft mit Immobilien. Die Signa-Holding GmbH ist die Dachgesellschaft eines unübersichtlichen Konglomerats unterschiedlichster Unternehmen – darunter auch die Tochter Galeria Karstadt Kaufhof – und  laut Insolvenzantrag an 53 Gesellschaften direkt und an mehreren Hundert Gesellschaften indirekt beteiligt.

Dabei profitierte die Holding in den letzten Jahren vor allem von den stetig steigenden Mieten sowie dem Umstand, dass sich diese positiv auf  die Bewertung von Immobilien und damit auf die Gewinne in einer Unternehmensbilanz auswirken. Aus diesem Grund war es für die Signa-Holding attraktiv, etwa nach der Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof die Mieten für diese neue Tochter deutlich zu erhöhen, ja zu verdoppeln, denn damit stieg zugleich das berechnete Vermögen bzw. der Gewinn der Eigentümer:innen. Dadurch wiederum kamen sie leichter an Kredite, mit deren Hilfe sie ihr Geschäft ausweiteten und neue Immobilien bauen konnten, um noch mehr Mieten zu kassieren, die sie gerne weiter erhöhten, da dadurch ihre Gewinne weiter stiegen, was dazu führte, dass … – das Prinzip sollte nun klar sein.

Dieses Treiben ging recht lange gut aus. Einige Zeit konnte der Unternehmer René Benko, der die Signa-Holding aufgebaut und zwischen 2014 und 2018 auch die heutige Kette Galeria Karstadt Kaufhof übernommen hatte, sich davon ein luxuriöses Leben finanzieren, gerne auch auf Kosten des eigenen Unternehmens. Er ging jagen mit Politiker:innen, flog mit einem eigenen Privatjet durch die Welt und kaufte schöne Villen an schönen Seen. Er zog prestigeträchtige Aufträge an Land, wie etwa den Bau des Elbtowers in Hamburg, und ließ sich gerne mit Politiker:innen ablichten – und diese mit ihm. Geld für seine Geschäfte bekam er dabei auch von zahlreichen Landesbanken, darunter die Hessen-Thüringens, die LBBW in Baden-Württemberg und die Bayern-LB. Wie schon vor der letzten Finanzkrise hofften sie, vom großen Reibach der Immobilienkonzerne selbst profitieren zu können. Es ging mal wieder nach hinten los.

Nach der Pleite von Signa steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Landesbanken einen Teil der von ihnen vergebenen Kredite abschreiben müssen, ihr Geld bzw. das der Steuerzahler:innen somit nicht wiedersehen werden. Denn das Geschäft von Benko und der Signa-Holding lief nur gut, solange die Zinsen niedrig waren. Das hat sich durch Corona, den Ukrainekrieg und die steigende Inflation nun aber geändert. Die Zinsen stiegen rasant an, die Baukosten schossen in die Höhe und auf dem  Immobilienmarkt ging es plötzlich nicht mehr nur aufwärts, sondern sogar etwas bergab. Das alles führte dazu, dass die Signa-Holding einen Teil ihrer Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte. Deshalb nun der Insolvenzantrag in Eigenverwaltung. Die Signa-Holding soll neu strukturiert werden, damit sie ihren Geldgeber:innen möglichst bald wieder Gewinne einbringt.

Enteignet Signa! Entschädigungslos und unter Kontrolle der Beschäftigten!

Die Gewerkschaften und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof, die zuletzt noch eine Eckpunktevereinbarung hin zu einem neuen Tarifvertrag inklusive Mini-Inflationsausgleichspauschale ausgehandelt hatten, müssen sich nun unverzüglich auf den Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze vorbereiten. Dazu ist es dringend erforderlich, dass die Gewerkschaften endlich damit aufhören, verzweifelte Appelle an die Eigentümer:innen und das Management zu richten, die Interessen der Beschäftigten bei diesem Großreinemachen auch zum eigenen Nutzen der Kapitaleigner:innen bitte zu berücksichtigen. Stattdessen müssen sie selbst einen Kampfplan schmieden, der als letzte Konsequenz auch die Forderung nach einer entschädigungslosen Enteignung beinhaltet. Es muss sichergestellt sein, dass niemand der Beschäftigten bei Galeria Karstadt Kaufhof oder einer sonstigen Tochter der Sigma seine Arbeit verliert, Einkommenseinbußen erleidet oder unter schlechteren Bedingungen weiter arbeiten muss. Wenn dies nur durch Verstaatlichung möglich ist, muss diese Forderung auf den Tisch und unter Kontrolle der Beschäftigten vollzogen werden. Sie müssen es sein, die darüber entscheiden, wie es für sie weitergeht, und nicht diejenigen, deren einziges Interesse darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen. Deren Vermögen sollte stattdessen für die Sanierung konfisziert werden.

Die Tarifrunden im Groß- und Einzelhandel sowie im öffentlichen Dienst müssen mit Protestaktionen bis hin zu Besetzungen und Streiks der Beschäftigten bei Signa verbunden werden. Auf Belegschaftsversammlungen bei Karstadt-Kaufhof und in allen anderen Betrieben der Holding müssen die nächsten Kampfschritte beschlossen werden, um so die Gewerkschaften zum Handeln zu zwingen.




Bundesverfassungsgericht bremst Haushalt aus – Fiskalkrise droht

Jürgen Roth, Infomail 1238, 1. Dezember 2023

Wegen der Notfallsituation in der Coronapandemie hatte der Bund seinen Etat 2021 per Kreditermächtigung um 60 Mrd. Euro aufgestockt. Da das Geld nicht gebraucht wurde, sorgte die Zustimmung des Bundestags ein Jahr später für die Aufstockung des Klimatransformationsfonds (KTF) um diese Summe. 197 Unionsabgeordnete reichten daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie dadurch die Ausnahmeregeln der sog. Schuldenbremse verletzt sahen. Dessen Zweiter Senat gab ihnen am 15. November recht.

Ende aller Schattenhaushalte?

Bis 2027 ist der KTF mit 211,8 Mrd. Euro ausgestattet. Unmittelbar dürfte sich die Lücke von 60 Mrd. nicht auswirken. Aus dem Fonds fließen Subventionen in Elektromobilität, Wasserstoffwirtschaft, Ausbau der Schienenwege, Ansiedlung von Halbleiterchipfabriken, Strompreisbremse und energetische Gebäudesanierung. Unionsfraktionschef Friedrich Merz kündigte aber bereits an, auch die Rechtmäßigkeit des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu prüfen. Allerdings müsste er das dann auch im Fall des 2022 von seiner Fraktion mit verabschiedeten Sondervermögens für die Bundeswehr hinterfragen. Die Staatsräson verbietet es ihm wohl.

Von Einsparungen im kommenden Haushaltsjahr bleibt denn auch lediglich Einzelplan 14 verschont. Im Gegenteil: Der Wehretat wurde um 1,7 Mrd. auf fast 52 Mrd. Euro erhöht, zuzüglich 19,2 Mrd. aus besagtem Sondervermögen, mit dem die Regierung ebenfalls die Schuldenbremse ausgetrickst hatte. Diese Summe von 71 Mrd. Euro ist fast doppelt so hoch wie nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation 2015. Im aktualisierten Haushaltsentwurf wurden die Mittel für die Ukraine-Waffenhilfe auf 8 Mrd. Euro verdoppelt. Vor dem Hintergrund, dass die USA – das mit Abstand größte Geberland – ihre Hilfe reduzieren müssen, weil Israel einen enormen Bedarf geltend macht und die Ukraine-Hilfe im eigenen Land immer unpopulärer wird, stockt auch Frankreich seine Unterstützungszahlungen auf, damit die Ukraine nicht weiterhin mehr Granaten verschießt als nachproduziert werden können.

Dass das BVerfG-Urteil „der gesamten Finanz- und Haushaltsplanung der Bundesregierung die Grundlage“ entziehe, gerät somit mehr zum Wunschdenken der Union. Gesine Lötzsch von der Linksfraktion vermutet denn auch, ihr sei es weniger um die Einhaltung der Schuldenbremse gegangen als um eine bessere Begründung für Sozialkürzungen, z. B. beim Bürgergeld.

Merz’ Einlassungen muten auch deshalb heuchlerisch an, weil er zu erwähnen „vergisst“, dass die vier Merkel-Kabinette über zwanzig Mal in die Trickkiste der Schattenhaushalte gegriffen haben.

Unmittelbare Konsequenzen aus dem Urteil

Das BVerfG hatte die Ampelkoalition gleich dreifach gerügt: Erstens habe die Bundesregierung unzureichend argumentiert, was Coronakrise, mit der die Haushaltsnotlage seinerzeit begründet wurde, und Klimaprogramme miteinander zu tun hätten; zweitens könne man Notlagenkredite nicht einfach für andere Zwecke umwidmen; drittens sei der Beschluss zu spät gekommen und es müsse vor Jahresende ein Nachtragshaushalt beschlossen werden.

In erster Konsequenz wurde die finale, sog. Bereinigungssitzung des Bundestagshaushaltsausschusses vom 1. Dezember 2023 um eine Woche verschoben. Da dem „Klimatopf“ vorerst bis 2027 nur weniger als ein Drittel der zugedachten Mittel fehlen, will das Kabinett Prioritäten setzen: 2024 werden wohl Gelder für den Austausch alter Heizungen ebenso zur Verfügung stehen wie für klimafreundlichen Neubau und die Wohneigentumsförderung für Familien. Klimapolitisch wären natürlich die Sanierung des Wohnbestands und der Wegfall des Neubaus von Einfamilienhäusern weit zweckmäßiger, aber darum geht es ja beim ganzen Zirkus nicht, sondern um die Subventionierung größtmöglichen Profits. Darum Neubau, darum technologische Vorherrschaft mittels Wasserstoffstrategie, darum kleinteilige Einzellösungen (Wärmepumpen, Wasserstoffheizung) statt gesamtgesellschaftlichem Plan (z. B. Ausbau von Fernwärme). Ab 2025 könnten dann einige Programme wegfallen oder gekürzt werden.

Weitreichendere Folgen? Vertagt!

Das Gericht prüft aktuell den Umgang mit Sondervermögen. Dem Prinzip der Jährigkeit zufolge dürfen sie nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Allein der Bund hält aktuell 29 (!) Schattenhaushalte im Volumen von mehreren 100 Mrd. Euro. Auch einige der Länder können diese Kriterien nicht einhalten und gelten somit als ebenfalls gefährdet.

Jüngst hat das Bundesfinanzministerium die sog. Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre gesperrt. Zweifelhaft bleibt, ob unter diesen Umständen die Halbleiterchipfabriken in Dresden und Magdeburg errichtet werden. Es erheben sich bereits mahnende Stimmen, so die von Jens Südekum (Uni Düsseldorf), der die schon vor dem Urteil existierende „Investitionskrise“ angesichts der Alterung der Gesellschaft und der Wirtschaftspolitik der USA, die riesige Investitionen am eigenen Standort fördere (Inflation Reduction Act), ins Blickfeld rückte. Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars P. Feld hält für 2023 die Notlage gerechtfertigt. DIW-Expertin Claudia Kemfert bevorzugt einen „Dreiklang“ der Transformation: „Ausgaben in Nicht-Zukunftsbereichen kürzen. Ausgaben des KTF auf den Prüfstand stellen. Schuldenbremse aussetzen.“

Unter dem Eindruck auch dieser Debatten beschloss die Ampel vor Wochenfrist die Vertagung des Haushalts für 2024. Sie will ihn rechtssicher machen, bevor es zur Verabschiedung kommt – möglicherweise nicht mehr im laufenden Jahr. Liegt zu Jahresbeginn keiner vor, wären nur Ausgaben für die Aufrechterhaltung der Verwaltung und die Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen möglich. Lindners Ressort kann in der Praxis jedoch weitere Mittel bewilligen. Kurzfristig sehen viele bürgerliche Ökonom:innen darin kein Problem. Mittelfristig teilen sich aber die Meinungen zwischen Anhänger:innen einer Reform der Schuldenbremse und Verankerung von Sonderfonds und Sparaposteln wie Merz, der zum Verzicht auf Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz und höheres Bürgergeld auffordert.

Lindner will den Nachtragshaushalt für 2023 bis Ende nächster Woche vorlegen. Um in diesem Jahr bereits benutzte Kredite rechtlich nachträglich abzusichern, wird die Bundesregierung dem Parlament zügig vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu erklären. Darunter fallen ca. 45 Mrd. Euro für die Energiepreisbremse aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (43,2 Mrd.) und Flutopfer aus dem Ahrtal (1,6 Mrd.). Voraussetzung bleibt, dass der Bundestag zum vierten Mal nacheinander die Schuldenbremse aussetzt. Dies wurde in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen der Coronakrise und des Ukrainekrieges auf die deutschen Staatsfinanzen begründet. In diesem Jahr entdeckte das Kabinett die Notlage allerdings erst, als es vom Verfassungsgericht mit der Nase auf seine eigenen Unzulänglichkeiten gestoßen wurde.

Zerrüttete Staatsfinanzen: Was geht uns das an?

Anfang des neuen Jahres werden wir einen fiskalischen Streit erleben, der an US-amerikanische Verhältnisse erinnert. Zur Mehrfachkrise aus Krieg, Rezession, Inflation, Klimawandel und Migrationsabwehr kann sich also eine der Staatsfinanzen hinzugesellen. Dass dies nicht ohne Auswirkung auf den Sozialetat bleiben wird, deutet sich schon an. Ebenfalls wird sich das Gejammer über leere Kassen der Länderhaushalte durch die vom BVerfG ausgelöste Fiskalkrise in der laufenden Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Bundesländer zum Wutgeheul seitens der Herrschenden steigern. Insofern können klassenbewussten Arbeiter:innen Ursachen und Gegenmaßnahmen der Haushaltsmisere nicht egal bleiben. Sie müssen sich dabei aber von Anfang an vom Grundsatz leiten lassen: Wir zahlen nicht für eure Krise!

Doch wie stehen wir zu grundsätzlichen Vorschlägen aus dem bürgerlichen Lager, was die Schuldenbremse betrifft? Ist sie eine selbstgemachte Schranke fürs Florieren der Wirtschaft? Kann sie mit einem parlamentarischen Akt nichtig gemacht werden? Was bedeutet das weltwirtschaftliche Umfeld des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt für die Staatshaushalte und sonstige Verschuldung? Und wie stehen eigentlich die Spitzen der Gewerkschaften, von SPD und DIE LINKE zur Schuldenbremse?

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns mit diesen Fragen befassen und ein Aktionsprogramm zur Gegenwehr skizzieren.




Debatte: Warum Russland eine imperialistische Macht ist

Markus Lehner, Neue Internationale 274, Juni 2023

In der linken Auseinandersetzung um die Positionierung im Ukrainekrieg spielt die Frage des imperialistischen Charakters der Russischen Föderation eine wichtige Rolle. Schon lange vor diesem Krieg hatten wir im Unterschied zu solch unterschiedlichen Strömungen wie der „Fracción Trotskista“ (RIO) bis hin zu den meisten poststalinistischen Gruppierungen Russland als sich neu etablierende imperialistische Großmacht analysiert(1).

Die verschiedenen linken Kritiker:innen unserer Charakterisierung stützen sich dabei meist auf eine behauptet „orthodoxe“ Bezugnahme auf Lenins „Imperialismusdefinition“. Beliebt ist dabei insbesondere das Heranziehen der berühmten „5 Kriterien“ aus Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“(2). Dabei wird dann z. B. gern als „Beweis“ herangezogen, dass Russland eine negative Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aufweise und sehr viel mehr vom Rohstoffexport als von der Stärke seiner finanzkapitalistischen Monopole abhänge.

Lenins Imperialismusbegriff

Zunächst einmal ist hier wichtig, den Verkürzungen von Lenins Imperialismusbegriff entgegenzutreten. Die immer wieder angeführten „5 Kriterien“ werden tatsächlich auf der Ebene einer allgemeinen Analyse des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus eingeführt – also hinsichtlich der Bestimmung des imperialistischen Systems als Ganzem, nicht des imperialistischen Charakters eines besonderen Teiles oder einzelnen Staates.

Darüber hinaus spricht Lenin von „Merkmalen“, die eine korrekte Definition des Imperialismus enthalten müsse, nicht von einer Art endgültiger, mechanisch anwendbarer, unveränderlicher Definition. An anderer Stelle betont er auch, dass die kürzeste Bestimmung sei, dass der Imperialismus das monopolitische Stadium des Kapitalismus als Weltsystem darstelle.

 Dies beinhaltet, dass in dieser Epoche der Kapitalismus zur Totalität der Weltökonomie geworden ist, also keine vor- und nicht-kapitalistischen Nischen mehr bestehen, die nicht letztlich von den übergeordneten Kapitalverwertungsgesetzen bestimmt sind, und das Ausmaß von Konzentration/Zentralisation des Kapitals eine modifizierende Wirkung auf die Tendenzen zur Ausgleichung der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate zeitigt.

Dies bedeutet auch, dass eine bestimmte Verbindung von Finanz- und Industriekapital und staatlichen Akteur:innen in der Lage ist, die eigene Profitabilität bzw. (ökonomische und politische) Stabilität auf Kosten anderer Kapitale und Staaten, trotz aller Krisentendenzen, abzusichern (zumindest zeitweise, da es kein absolutes Monopol gibt und die Monopolprofitraten letztlich nicht von den allgemeinen Verwertungsproblemen des Kapitals abgekoppelt werden können). Diese ökonomische Basis führt dann zu den Lenin’schen Merkmalen: Auch die Wichtigkeit des Kapitalexportes begründet sich letztlich aus der Verschärfung des Problems der Überakkumulation in den imperialistischen Zentren, die diese durch Investition von überschüssigem Kapital in andere Länder überwinden, in denen der mangelnde Ausgleich der internationalen Profitrate günstigere Anlagemöglichkeiten schafft (z. B. durch billigeren Zugang zu Arbeitskräften und Rohstoffen). Kapitalexport ist also nicht „an sich“ ein definierendes Element, sondern ist für diejenigen imperialistischen Kapitale unausweichlich, bei denen fallende Profitraten bereits in verstärkte Überakkumulation umgeschlagen sind (also eigenes Wachstum und Warenexport für das Anlagekapital nicht mehr ausreichende Profitaussichten bieten).

Entscheidend für die Lenin’sche Begriffsbildung ist aber nun vor allem, dass diese monopolistische Totalität des Imperialismus zu einer Aufteilung der Weltwirtschaft unter große Kapitalverbände geführt hat, die Neuaufteilungen bzw. neue Player nur in sehr engen Grenzen zulässt – oder wenn doch in größerem Ausmaß, dann notwendigerweise mit heftigen Erschütterungen, analog einem tektonischen Beben. Dieses System der Aufteilung der Weltökonomie findet auf politischer Ebene kein Pendant in Gestalt ähnlich einem bürgerlichen Nationalstaat wie in den Einzelökonomien, sondern kann auf Weltebene aufgrund dieser monopolistischen Basis nur stabilisiert werden durch ein System von imperialistischen Großmächten.

Russland damals und heute

Der Aufteilung der Welt unter Kapitalverbände geht somit einher – allerdings nicht eins zu eins – mit ihrer politischen Aufteilung in Einflusssphären von Großmächten. Hier finden wir auch den Grund, warum Lenin das zaristische Russland als imperialistische Macht analysierte, obwohl es zu seiner Zeit den „5 Kriterien“ nicht entsprach, denn es war in Bezug auf Kapitalkonzentration, die Bedeutung seines Industrie- und Finanzkapitals, das Übergewicht an Zufluss von Kapital gegenüber eigenen Direktinvestitionen etc. weit von den anderen imperialistischen Mächten entfernt. Dies wurde zwar ausgeglichen durch eine dynamische Entwicklung bestimmter industrieller Sektoren und einer beginnenden Expansion russischen Kapitals auch nach außen. Entscheidend war aber die starke Stellung Russlands seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als expansive Großmacht, die mit dieser noch untergeordneten ökonomischen Dynamik verbunden war. Dies führte in Zentralasien und Teilen Europas zu einer dem Kolonialismus der anderen europäischen Großmächte vergleichbaren Rolle im imperialistischen Gesamtsystem vor dem Ersten Weltkrieg.

Auch das gegenwärtige Russland ist von solchen widersprüchlichen Tendenzen geprägt. In den Turbulenzen der Restauration des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurden in der „wilden Privatisierungsperiode“ der 1990er-Jahre zum Teil viele Produktionskapazitäten zerstört, andere rasch aufgebaut – jedenfalls unter enormer Bereicherung einer kleinen Schicht von Manager:innen und Finanzkapitalist:innen. In dieser Phase hätte durchaus ein Ausverkauf Russlands an westliches Kapital geschehen können, was aber aufgrund der hohen Risiken insbesondere nach dem ökonomischen Zusammenbruch 1998 („Russlandkrise“) vereitelt werden konnte.

Rohstoffe und industrielles Kapital

Unter Putin wurden in den 2000er-Jahren teilweise eine Renationalisierung und Wiederverstaatlichung (zumindest Absicherung staatlicher Sperrminoritäten) durchgeführt – ohne das System der Oligarch:innen grundlegend zu überwinden. Dadurch geriet insbesondere der Rohstoff- und Energiesektor zu einem stabilisierenden Faktor des russischen Kapitalismus, jenseits der Einflussnahme von westlichem Kapital. Seitdem weist die russische Handelsbilanz kontinuierlich nicht einfach nur positive Überschüsse auf, sondern die Exporte übersteigen die Importe im Durchschnitt systematisch um ein Drittel. Dies betrifft nicht nur Öl, Kohle und Gas oder Getreide, sondern Russland wurde inzwischen zu einem der größten Exporteure bei strategisch wichtigen Rohstoffen. Dazu gehören Kupfer, Nickel, Uran (mit dem von Russland abhängigen Kasachstan), Palladium, Aluminium, Gold, Diamanten, Holz, …(3). Russland konnte durch diesen Rohstoffreichtum unter eigener Kontrolle (d.h. unabhängig von jeglichen ausländischen Monopolen) nicht nur beträchtliche Reichtümer ansammeln, sondern auch ein starkes Maß an wirtschaftlicher Autarkie gewinnen.

Angesichts des Staatsschatzes und der Beteiligungen ist auch nicht verwunderlich, dass der russische Staat zu den am wenigsten verschuldeten der Welt zählt. So lag der Anteil der Staatschuld am BIP 2020 bei 19 %, im Vergleich dazu jener der USA bei 133 %.

Im Windschatten dieser Stabilisierung konnten sich auch strategische Industrien im IT-Sektor, Maschinenbau und Hochtechnik mit starker Dynamik aufbauen. Dies hat auch mit der großen Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Russland zu tun. Nicht nur, dass auch vor dem Ukrainekonflikt schon regelmäßig über 4 % des BIP für Rüstungsausgaben verausgabt wurden – Russland zählt zu den größten Waffenexporteuren der Welt, was sich auch insgesamt auf die Wachstumsraten der russischen Wirtschaft ausgewirkt hat. Die größten Waffenexporteure der Welt sind in dieser Reichenfolge: USA, Russland, Frankreich, China, Deutschland. Nach den USA ist die Russische Föderation die zweitgrößte Militärmacht auf der Welt. Auch wenn ihr Abschneiden im Ukrainekrieg Zweifel aufkommen lässt, so muss auch bedacht werden, dass die dabei von ukrainischer Seite zum Einsatz kommenden westlichen Waffen- und Informationstechniksysteme eben auch eine weiterhin bestehende qualitative Überlegenheit insbesondere von US-Rüstungstechnik zum Ausdruck bringen.

Finanzkapital

Auch das Finanzkapital in der Russischen Föderation weist eine beachtliche Größe auf. Banken wie die Sberbank oder VTB sind ausreichend groß für die Bedürfnisse des russischen Kapitals für In- und Auslandsgeschäfte. Dazu kommen Fondsgesellschaften, die ursprünglich aus dem Energie- und Rohstoffbereich stammten und inzwischen mit gewaltigen Summen operieren können wie der „National Wealth Fund“ oder der „Russian Direct Investment Fund“. Inzwischen gibt es mit China, Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und einigen anderen Ländern gemeinsame Investitionsfonds, die dem russischen Finanzkapital (auch nach den westlichen Sanktionen) immer größere Spielräume schaffen.

Hinzuzurechnen ist auch, dass sich die Russische Föderation ein breites Band an Weltregionen geschaffen hat, in die ihre Direktinvestitionen fließen können. Wie schon dargestellt, ist der Druck auf die russische Ökonomie in Bezug auf nötige Auslandsinvestitionen nicht so groß wie bei anderen imperialistischen Ländern, da sie einerseits über einen eigenen billigen Arbeitskräftemarkt für eine weiterhin wachsende Wirtschaft verfügt, andererseits durch Energie-/Rohstoff-/Rüstungsexporte genügend Ausgleich findet. Andererseits verkörpern die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien ein großes Areal für abgesicherte Investitionen als auch für leicht ausbeutbares „Arbeitskräftematerial“. Russland ist weiterhin eine postkoloniale Macht, in der eine riesige rassistisch und national unterdrückte „nicht-russische“ Bevölkerung (aus Migrant:innen oder kolonialisierten Ethnien) einen großen Teil der unteren Ränge der Beschäftigung ausführt. So war der brutale Krieg in Tschetschenien ein wesentlicher Faktor für die autoritäre Befestigung der inneren Kolonien in der Russischen „Föderation“ – und spielte durch die Herausbildung entsprechender Sicherheitsstrukturen im Zusammenhang mit dieser russischen Variante des „Kampfes gegen den Terror“ die Vorbereitungsrolle bei der allgemeinen Wende zum Autoritarismus in Russland.

Neben den Direktinvestitionen in Zentralasien und dem Nahen Osten sind in den letzten Jahren auch die Direktinvestitionen in Afrika und Lateinamerika aus Russland (oft in Verbindung mit der Rüstungsindustrie) stark gestiegen. Seit 2016 (und den schon seit damals stark sinkenden Kapitalflüssen aus „dem Westen“) weist Russland demnach auch eine positive Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aus. Exemplarisch für diese Tendenz war 2018, als die ausländischen (neuen) Direktinvestitionen auf 8,9 Mrd. US-Dollar sanken, gegenüber einer Steigerung der russischen Direktinvestitionen im Umfang von 28 Mrd. im Ausland. Dabei muss auch noch Folgendes festgehalten werden: Der größte westliche Direktinvestor in der Russischen Föderation war bis vor wenigen Jahren die Republik Zypern (2020: 147 Milliarden US-Dollar Bestandsinvestitionen). Genauere Untersuchungen darüber, wie aus einem Pleitestaat plötzlich seit 2008 ein Milliardeninvestor in Russland werden konnte, zeigen jedoch, dass der Ursprung dieses Kapitals zumeist bis nach Russland selbst verfolgt werden kann (2020: FDIs in Höhe von 193 Milliarden US-Dollar aus Russland). Dies hängt wohl damit zusammen, dass viele russische Kapitalist:innen ihrem eigenen Staat nur bedingt vertrauen und so von den Steuervorteilen und der Bankenpolitik in Zypern mehr überzeugt waren – und von dort aus die eher riskanteren Investitionen in Russland getätigt haben. Zypern hat zugleich großzügige Regelungen für Doppelstaatsbürgerschaften bei entsprechenden Investitionen gewährt. Rechnet man die zyprischen Milliarden ab, war Russland bereits in den 2010er Jahren eher Nettokapitalexporteur als -importeur. Die Fähigkeit des russischen Kapitals, den massiven Stopp von Kapitalzufluss aufgrund der westlichen Sanktionen nach dem Angriff auf die Ukraine zu kompensieren, zeigt, wie wenig Russland mit einer Halbkolonie zu tun hat, die nach solchen Sanktionen nicht mal einen Monat ökonomisch überleben würde.

Klassenstruktur

Russland als größtes Land mit der zweitgrößten Armee der Welt, als einer der größten globalen Rohstoff- und Energielieferanten, mit sehr großen darauf aufbauenden Monopolen und Finanzkapitalen ist sicherlich niemandes „Halbkolonie“, obwohl die relativ große Rolle des Staates im Finanz- und Monopolkapital sowie die im Vergleich höhere kriminelle Ader des einheimischen Großkapitals sicherlich ein Zeichen seiner Schwäche darstellen.

Im Rahmen der nachholenden Entwicklung und aufgrund seines Ursprungs aus einem ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaat weist der russische Kapitalismus noch in vielen Bereichen Merkmale der „ursprünglichen Akkumulation“, in der Staat und mafiaartige Ausbeutungsverhältnisse eine relativ große Bedeutung einnehmen, auf. Dies führt auch dazu, dass eine unabhängige Mittelschicht in größerem Ausmaß bis jetzt nicht entstanden ist und eine relativ große Kluft zwischen Superreichen und der Masse der Bevölkerung besteht.

Für ein stabiles parlamentarisches Regime fehlt dem russischen Imperialismus daher die soziale Basis mit einer entsprechend großen Arbeiter:innenaristokratie und lohnabhängigen Mittelschichten (wie im Westen). Er ist daher auf das bonapartistische Putinregime angewiesen, das jegliche Form einer konsequenten Interessenvertretung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen unterdrückt oder durch nationalistischen Populismus einfängt. Anders als der westliche Imperialismus kann er sich nicht als „Hort der Demokratie und Menschenrechte“ verkaufen, sondern muss in seinem weltweiten Agieren statt auf „Softpower“ und „Scheckkarten“ immer wieder auch auf unmittelbare militärische Drohung oder Gewalt zurückgreifen. Der russische Imperialismus ist daher ein noch um seine Anerkennung und globale Rolle ringender Kapitalismus, der in vielen Feldern gegenüber den etablierten imperialistischen Mächten in einer schwächeren Position verbleibt – die er umso stärker durch seine militärisch-politischen Mittel überspielen muss.

Rolle als Großmacht

Die entscheidende Frage für den imperialistischen Charakter Russlands ist also die Rolle, die es im Konzert der Großmächte und im Kampf um die gegenwärtige Neuaufteilung der Welt spielt. In der Konsolidierung des russischen Kapitalismus in den 2000er-Jahren hat es sich vor allem durch eine Art Deal mit den europäischen Führungsmächten eine Rückkehr auf die globale Bühne ermöglicht: Als wesentlicher Energie- und Rohstofflieferant für die europäischen Produktionsketten (insbesondere für Deutschland und Frankreich) wurde auch seine besondere Rolle als militärisch-politische Großmacht in Konkurrenz zu den USA akzeptiert. Letztere betraf zunächst vor allem Zentralasien, später aber auch Afrika und insbesondere den Nahen Osten (z. B. Syrien).

In der EU gab es Tendenzen, mit Russland zusammen ein Gegengewicht in der sich abzeichnenden Konfrontation USA versus China zu bilden. Die Stabilisierung der europäischen Kernwirtschaften in der Globalisierungsperiode ist bis etwa 2014 eng mit dem ökonomischen und politischen Wiederaufstieg Russlands verbunden. Doch zeichnete sich schon relativ bald ab, dass diese „Partnerschaft“ mit wachsenden Interessenkonflikten verbunden war.

Während einige osteuropäische EU-Länder sowieso eine „atlantische Partnerschaft“ vehement bevorzugten bzw. die „NATO-Osterweiterung“ propagierten, stießen in Georgien, Moldawien, Belarus und vor allem in der Ukraine die jeweiligen Einflussnahmen und Interessenvertretungen auf immer mehr gegenseitigen Widerspruch. Letztlich setzten auch die USA alles daran, in ihrer Hauptkonfrontation mit China die EU-Imperialismen eindeutig auf ihre Seite zu ziehen und eine lavierende EU aus ihren Verbindungen mit Russland zu lösen. Während Russland in Georgien und Syrien noch militärisch-politische Erfolge erzielen konnte und sich durch kleinere Interventionen in zentralasiatischen Krisen (im Rahmen des OVKS-„Sicherheitsbündnisses“)  dort als „Gendarm“ etablierte, konnte die EU in Belarus, Moldawien und vor allem der Ukraine Russland und seine örtlichen Verbündeten nicht einfach gewähren lassen, ohne ihre Glaubwürdigkeit in Osteuropa zu verspielen.

Bedeutung der Ukraine

Der Ukrainekrieg zeigt wieder einmal den grundlegend verrotteten Charakter des Imperialismus auf: Anders als hierzulande dargestellt, geht es auch bei diesem nicht um „Demokratie“ gegen „unrechtmäßigen Annexionsüberfall“, sondern um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte. Auch wenn das westliche Narrativ „Einflusssphären“ für ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert erklärt wird, stellt natürlich auch für die USA und der EU eine langfristige Schwächung eines imperialistischen Rivalen in Osteuropa und eine Absicherung ihrer Einflusssphären bis an seine Grenzen ein Herzensanliegen dar.

Der russische Imperialismus versucht, seine „traditionelle Einflusssphäre“ zu sichern, da die Ukraine sowohl industriell, agrarisch als auch von den Rohstoffen her ein wichtiger Bestandteil des russischen Monopolkapitals war und wieder sein könnte. Russischsprachige Minderheiten bzw. historische Verbindungen wurden bzw. werden ausgenutzt, um entsprechenden Druck aufzubauen und Vorwände zu finden. Nachdem Russland nicht über die ökonomischen und ideologischen („Demokratie!“) Mittel des Westens verfügt, bleibt ihm nur seine militärische Stärke, um im Konzert der Großmächte mitzuspielen und seine Einflusssphäre zu sichern.

Die Herrschenden in der Ukraine versuchten seit der Unabhängigkeit zwischen den beiden imperialistischen Lagern zu lavieren, einmal mehr in Richtung EU/NATO, einmal mehr Richtung Moskau. Mit dem Maidan-Umsturz 2014 war diese Phase vorbei. Während eine Mehrheit der Ukrainer:innen sicherlich tatsächlich Illusionen in eine demokratische und unabhängige Ukraine hat, haben sich in der ukrainischen Politik diejenigen Kräfte durchgesetzt, die das Land letztlich objektiv zu einer Halbkolonie des westlichen Imperialismus machen. Das wird ökonomisch, ganz simpel, durch die IWF-Programme seither und die daraus folgenden „Liberalisierungen“, Ausverkaufspläne und „Reformvorhaben“ (insbesondere im Arbeitsrechtsbereich) überaus deutlich. Aber auch die völlige Abhängigkeit der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine von westlichen Waffen- und Munitionslieferungen, sowie von Ausbildung-, Aufklärungs- und IT-Infrastrukturleistungen (insbesondere durch die USA) zeigen den sich herausbildenden Charakter einer militärisch hochgerüsteten Halbkolonie. Die Ukrainer:innen wurden so also zum Spielball des Kampfes um Einflusssphären der imperialistischen Mächte. Auch wenn ihr Kampf um Selbstbestimmung und die Verteidigung gegen die russische Aggression mehr als berechtigt ist, kann ihr Kampf um eine wirklich unabhängige Ukraine nicht mit der Zurückschlagung der russischen Invasion zu Ende sein – für die Masse der Ukrainer:innen wird die folgende, als „Aufbauhilfe“ verkleidete, Invasion der westlichen „Freiheitsfreunde“ die nächste Etappe in ihrem Überlebenskampf (dann auf der ökonomischen Ebene) sein.

Eine neue russische Revolution ist notwendig! 

Mit dem Eingriff in den Ukrainekonflikt, der Annexion der Krim und letztlich der Invasion 2022 hat Russland seinen Charakter als schwächstes Glied im Chor der imperialistischen Großmächte offengelegt – alles andere würde nur das westliche Narrativ von der Invasion als Werk des „wahnsinnig gewordenen Putins“ bestärken. Auch die Entwicklung des Krieges seither bestätigt diesen: Einerseits war die russische Armee schwach genug, um gegen eine vom Westen hochgerüstete und in ihrem berechtigten Selbstverteidigungswillen hochmotivierte ukrainische Armee keinen entscheidenden Sieg zu erringen. Andererseits war Russland trotz massiver Wirtschaftssanktionen in der Lage, auf Kriegswirtschaft umzustellen, und ist wahrscheinlich fähig, auf längere Dauer einen Abnutzungskrieg durchzuhalten, der letztlich auch den westlichen Ökonomien als Lieferantinnen der Ukraine zu kostspielig werden wird.

Der weitere Verlauf des Ukrainekrieges wird natürlich entscheidend auch für die weitere Entwicklung in Russland werden. Die ökonomischen und menschlichen Folgen des Krieges sind auch dort immer schwerer zu ertragen. Auch wenn die russische Ökonomie bisher den Zusammenbruch verhindern konnte, wird sie immer mehr abhängig von der Unterstützung durch „befreundete“ Mächte. Bisher setzt insbesondere China weiterhin auf ein Ende, das Russland gewisse Gewinne gewährleistet und jedenfalls nicht zum Zusammenbruch des jetzigen Regimes führt. Ein Zusammenbruch könnte nämlich zu einer Radikalisierung der herrschenden nationalistischen Politik zur Rettung der Interessen des russischen Monopolkapitalismus führen. Angesichts der Schwäche der liberalen, aber vor allem auch der linken Opposition und des Mangels an kämpferischen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ist dies durchaus wahrscheinlich. Während jetzt viele in Verkennung des tatsächlichen Wesens des Faschismus das gegenwärtige Regime bereits als faschistisch bezeichnen, könnte die Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf tatsächlich zu einer grausamen Form eines revanchistischen russischen Faschismus führen, der zu einer neuen Stufe von Militarismus und militärischer Aggression dieser Atommacht führt!

Insofern ist es für Linke in Russland und ihre Unterstützer:innen im Westen unbedingt notwendig, sowohl den imperialistischen Charakter der russischen Politik und Ökonomie klar aufzuzeigen als auch dieses Übel an seiner Wurzel zu packen, nämlich mittels der Zerschlagung des russischen Kapitalismus und seines Staatsapparates – durch eine „neue Oktoberrevolution“!

Endnoten

(1) Siehe z.B.: schon in den FT-Resolutionen zum Ukraine-Konflikt seit 2014 (https://www.leftvoice.org/ukraine-political-crisis-and-disputes-between-the-imperialist-powers-and-russia/) war zu lesen, dass Russland nur eine „regionale Macht“ ist, die eine Herausforderung für „den Imperialismus“ ist. Während damals noch die Rede davon ist, dass es dem US-Imperialismus nicht gelungen sei, Russland in eine Halbkolonie zu degradieren, wird in einer im Februar 2022 veröffentlichten Resolution immer noch von der Konfrontation zwischen „dem Imperialismus“ und der autoritären Regionalmacht Russland geredet, aber zusätzlich noch behauptet, das Zweck des Krieges für den Imperialismus sei eben die „Halbkolonialisierung Russlands“ (https://www.leftvoice.org/crisis-in-ukraine-between-the-threat-of-war-and-negotiations-under-fire/)

(2) LW 22, Berlin/DDR 1972, S. 270 f. Die fünf Kriterien sind kurzgefasst: (1) Herausbildung bedeutender Monopolkapitale (Großkonzerne), (2) Dominanz des Finanzkapitals in Verflechtung mit den Monopolen, (3) gestiegene Bedeutung der Kapitalströme gegenüber dem Welthandel (Dominanz des Kapitalexports), (4) Beherrschung der Welt durch konkurrierende internationale Kapitalverbände, (5) Aufteilung der Welt durch mit den Monopolen verbundene Großmächte.

(3) Beispielhafte Zahlen zum Weltmarktanteil Russlands in den Warenmärkten: Öl (12 %), Getreide (17 %), Kupfer (4 %), Nickel (7 %), Uran (48 % mit Kasachstan), Palladium (38 %), Aluminium (6 %).




Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Pakistan: Im Würgegriff von Wirtschaftskrise und IWF

Shahzad Arshad, Infomail 1217, 21. März 2023

Pakistan befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Trotz der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Umsetzung vieler seiner Bedingungen droht dem Land die reale Gefahr eines Staatsbankrotts. Die Inflation ist in die Höhe geschnellt und macht den ohnehin schon armen Menschen das Leben noch schwerer als je zuvor. Der pakistanische Verbraucher:innenpreisindex ist auf 31,5 % gestiegen, die höchste Jahresrate seit 50 Jahren – und selbst das spiegelt bei weitem nicht den tatsächlichen Preisanstieg  für die breite Masse der Bevölkerung wider.

In dieser Situation bildet den einzigen Ausweg, den die herrschende Klasse und alle ihre sich bekriegenden Fraktionen sehen, ein weiteres Abkommen mit dem IWF. Aber selbst die erste Vereinbarung auf „Stabsebene“ ist noch nicht abgeschlossen, obwohl dies seit der ersten Februarwoche, als ein IWF-Team Pakistan besuchte, wiederholt angekündigt wurde.

In der Tat hat die Regierung bereits eine Reihe von IWF-Bedingungen akzeptiert. So hat sie beispielsweise der Forderung zugestimmt, dauerhaft einen Schuldzuschlag von 3,82 Rupien pro Einheit zu erheben, um 284 Milliarden Rupien mehr von den Stromverbraucher:innen einzutreiben. Ganz allgemein berichtet die Presse, dass die Regierung bei Steuererhöhungen, höheren Energiepreisen und der Anhebung der Zinssätze auf den höchsten Stand seit 25 Jahren eingewilligt hat.

Die Vereinbarung ist noch immer nicht unterzeichnet, nicht zuletzt, weil nicht nur der IWF, sondern auch andere Staaten die benötigten Kredite bereitstellen müssen. Während der IWF die Finanzlücke des Landes auf insgesamt 7 Mrd. US-Dollar beziffert, behauptet das Finanzministerium, dass diese weniger als 5 Mrd. US-Dollar betragen wird und durch die Aufnahme neuer kommerzieller Kredite aus China und den Golfstaaten gedeckt werden soll. Der IWF steht bereits mit diesen Ländern in Verbindung, um neue Kredite und Pläne für die Verlängerung der Kredite für Pakistan zu erörtern, und verlangt nun schriftliche Zusicherungen.

Er verlangt nicht nur, dass die Regierung die zu erfüllenden Bedingungen unterschreibt, sondern auch den „Nachweis“, dass sie bereit ist, diese zu erfüllen. Ein Test dafür ist, die IWF-Einschätzung der Finanzlücke selbst zu akzeptieren. Da der IWF die interne Spaltung der herrschenden Klasse und den Machtkampf zwischen der Regierungskoalition und der oppositionellen PTI-Partei von Imran Khan kennt, verlangt er nicht nur von der Regierung, sondern auch von der wichtigsten Oppositionspartei Zusicherungen für die Umsetzung. Die Regierung befürchtet, dass eine öffentliche Vereinbarung zwischen dem PTI-Führer und dem IWF das politische Ansehen der Oppositionspartei weiter stärken könnte.

Die Wirtschaftspolitik von Finanzminister Ishaq Dar und der Dollar

Dies zeigt, dass der wahre Grund für die anhaltenden Verzögerungen nichts mit den Bedingungen zu tun hat, die den Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen in Pakistan auferlegt werden sollen, sondern mit dem Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen dem IWF und der Regierung.

In dieser Situation wird sich die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter hinziehen, ja sie wird sich sogar noch verschärfen. Die pakistanischen Devisenreserven sind dank eines weiteren Kredits aus China um 487 Mio. US-Dollar gestiegen und beliefen sich am 3. März auf 4,3 Mrd. US-Dollar. Dies ist der vierte wöchentliche Anstieg der von der Zentralbank gehaltenen Reserven in Folge, liegt aber immer noch unter dem kritischen Wert, der die Importe eines Monats decken könnte. Die Regierung hat sich zwar bereit erklärt, mehr lebenswichtige Güter zu kaufen, um Engpässe zu überbrücken, doch wird dieses „Versprechen“ nicht eingelöst werden, solange diese Bedingungen vorherrschen.

Seit Monaten sind wir mit dem Gegenteil konfrontiert, nämlich mit einem massiven Rückgang oder sogar der völligen Einstellung der Einfuhren wichtiger Güter. Derzeit stehen Tausende von Containern im Hafen von Karatschi, die nicht abgefertigt werden. Infolgedessen mangelt es an Medikamenten, chirurgischen Geräten und Krankenhausnahrung. Die verbleibenden medizinischen Leistungen werden immer teurer und sind für die einfache Arbeiter:innenklasse unerschwinglich.

Als Ishaq Dar das Finanzministerium übernahm, behauptete er, er werde den Wechselkurs der Rupie stabilisieren und ihn auf 200 Rupien pro Dollar oder noch weniger senken. Er erklärte, er werde keine Kompromisse bei der „nationalen Souveränität“ eingehen oder sich den Forderungen des IWF beugen. Bis Ende 2022 hielt er den Wechselkurs durch staatliche Interventionen unter Kontrolle, aber das änderte sich, als die Forderungen des IWF bekannt wurden. Die Rupie fiel rasch auf 275 zum Dollar und erreichte am 2. März 290. Jetzt zahlt die Bevölkerung den Preis, und es ist klar, dass sich eine Halbkolonie den Herr:innen des Kapitals beugen muss. Die offiziellen Dollarreserven wurden auch dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass pakistanische Arbeiter:innen im Ausland über „inoffizielle“ Kanäle Überweisungen nach Hause schicken, um einen etwas besseren Wechselkurs zu erhalten.

Rezession

Pakistan befindet sich nicht nur in einer Haushaltskrise. Das Land steckt auch in einer tiefen Rezession. Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in großem Maßstab ist drastisch zurückgegangen. Die letzten veröffentlichten nationalen Daten des Quantum-Index des verarbeitenden Gewerbes für November 2022 zeigen ein deutliches Bild. In den fünf Monaten von Juli bis November 2022 gab es im verarbeitenden Gewerbe einen Rückgang um 3,5 % und im November um 5,5 %. Die Erträge der wichtigsten Industriezweige Textilien, Erdölprodukte, Chemikalien, Düngemittel, Pharmazeutika, Zement, Eisen- und Stahlerzeugnisse fielen,  in einigen Fällen bis zu 25 %.

Ein wichtiger Grund für den Niedergang vieler dieser Industrien ist der Mangel an importierten Rohstoffen. Für die Einfuhren ist ein Akkreditiv erforderlich, aber die Kreditwürdigkeit der Importeur:innen oder die Zahlungsgarantien der Banken wurden in großem Umfang in Frage gestellt. Dies hat zu einer Blockade der Importe und in der Folge zu einem Rückgang des Verbrauchs um 20 % und der Stromerzeugung um 5 % geführt. Die Einlagen im Bankensektor sind um mehr als 8 % gesunken. Die rückläufige Produktion der Zement-, Eisen- und Stahlindustrie verdeutlicht die Stagnation der Bautätigkeit. Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 wahrscheinlich um 4 bis 5 Prozent schrumpfen. Dieser Rückgang stellt eine große Katastrophe dar.

Der Zinssatz sprang von 11 % zu Beginn des IWF-Programms im Jahr 2019 auf 17 % im November 2022 hoch, was zu einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang führte. Am 2. März wurde er unter dem Druck des IWF erneut erhöht und liegt nun bei 20 %. Diese weitere Erhöhung um 3 % bedeutete für den Staat einen Verlust von etwa 600 Milliarden, der durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeglichen werden muss. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf die arbeitende und arme Bevölkerung.

Die Kreditvergabe der Banken an den privaten Sektor ist mit 4 % nur geringfügig gestiegen. Die Maschineneinfuhren gingen um 45 % zurück, 44 % bei Textilmaschinen. Dies wird voraussichtlich zu einem weiteren Rückgang der Textilexporte führen, die sich bereits auf einem niedrigeren Niveau als in den Vorjahren befinden. Die Höhe der gesamtstaatlichen Entwicklungsausgaben im ersten Quartal 2022 – 2023 wurde entsprechend den Forderungen des IWF um etwa 48 Prozent gesenkt. Weitere Kürzungen sind jedoch geplant.

Die höchste Inflation der Geschichte

Die Folgen der Überschwemmungen von 2022, der anhaltende Anstieg der Rohstoffpreise seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, die Abwertung der Rupie und die negativen Auswirkungen der Einfuhrbeschränkungen haben zusammen zu einer Stagflation geführt. Die Inflationsraten, insbesondere die Lebensmittelpreise, haben Rekordhöhen erreicht, und das Bruttoinlandsprodukt war in den ersten sechs Monaten des laufenden Haushaltsjahres negativ. Die Überschwemmungen haben sich am stärksten auf die Produktion des Agrarsektors ausgewirkt. Der größte Rückgang ist bei der Baumwollernte zu verzeichnen, die um 40 Prozent gesunken ist, und bei der Reisproduktion um mehr als 15 Prozent. Auch bei anderen Feldfrüchten, vor allem bei Gemüse, ist das Angebot knapp. Der vierfache Preisanstieg bei Zwiebeln ist ein Beweis dafür. Insgesamt dürfte der Ertragsverlust in der Kharif-Saison, d. h. in der Monsunzeit, etwa 10 % betragen.

Die Verbraucher:innenpreise für Zwiebeln, Hühnerfleisch, Eier, Reis, Zigaretten und Treibstoff stiegen in letzter Zeit stark an, wobei die Inflation in diesem Sektor offiziellen Angaben zufolge zum ersten Mal seit fünf Monaten über 40 Prozent lag. Die kurzfristige Inflation, gemessen am wöchentlichen Inflationsfeingradmesser SPI, stieg in der Woche zum 23. Februar im Jahresvergleich auf 41,54 Prozent, gegenüber 38,42 Prozent in der Vorwoche.

Eine defizitäre Wirtschaft

Die gesamte Zahlungsbilanz weist für den Zeitraum Juli bis Dezember 2022 ein Defizit von 4,3 Mrd. US-Dollar auf. Dies ist trotz eines starken Rückgangs des Handelsbilanzdefizits auf 3,7 Mrd. US-Dollar gegenüber 9,1 Mrd. US-Dollar im gleichen Zeitraum 2021 – 2022 der Fall. Diese Verbesserung wurde durch eine starke Verschlechterung der Kapitalbilanz ausgeglichen. Hier ist ein Defizit von 1,2 Mrd. US-Dollar entstanden, gegenüber einem hohen Überschuss von 10,1 Mrd. US-Dollar im Zeitraum Juli-Dezember 2021. Die Haushaltsbilanz ist zum ersten Mal seit vielen Jahren negativ ausgefallen. Dies ist vor allem auf stark gesunkene  Einnahmen aus Einfuhrsteuern zurückzuführen. Die Schrumpfung betrug im ersten Quartal 6 % und im zweiten Quartal etwa 30 %. Letzteres ist eindeutig auf die von der Staatsbank ausgeübte Verwaltungskontrolle über Importkreditgarantien (Letters of Credit; LCs) zurückzuführen.

Ein stabiler Wechselkurs wurde nach Oktober durch die Intervention der Regierung aufrechterhalten, was die Nachfrage nach Importen steigerte, während die Staatsbank diese durch die Kontrolle der LCs drückte. Ziel war es, die Inflation einzudämmen, aber die Angebotskürzungen heizten die Inflation an, indem sie Importe im Wert von 4,5 Milliarden einschränkten. Die Staatsbank schränkte auch die Zahlungen für importierte Dienstleistungen wie Informationstechnologie, Fluggesellschaften und Banken ein. Die Gewinnausschüttungen der in Pakistan tätigen multinationalen Unternehmen sind ebenfalls zurückgegangen.

Das ehrgeizige Ziel besteht darin, das Haushaltsdefizit von 7,9 Prozent des BIP im Jahr 2021 – 2022 auf nur 4,9 Prozent des BIP im laufenden Haushaltsjahr zu senken. Doch das Gesamtdefizit ist in den ersten sechs Monaten des Rechnungsjahres 2022 – 2023 auf 2,4 % des BIP angestiegen. Da die Zahlungen in der zweiten Jahreshälfte viel höher ausfallen werden als in der ersten, ist das Ziel von 4,9 % nicht zu erreichen.0

Für die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen gibt es viele Gründe. Erstens werden zusätzliche Ausgaben in Höhe von über 500 Mrd. Rupien für die Fluthilfe und den Wiederaufbau nach der Flut aufgewendet. Zweitens liegt die Wachstumsrate der FBR (Bundesfinanzamtseinnahmen) bei 13 Prozent und damit unter der angestrebten Rate von 22 Prozent, was vor allem auf den Rückgang der Importsteuerbasis und das negative Wachstum im verarbeitenden Großgewerbe zurückzuführen ist.

Drittens hat die Staatsbank den Leitzins erhöht, wodurch die inländischen Kreditkosten der Bundesregierung angehoben werden. Es besteht die Möglichkeit, dass die Zinszahlungen für das Darlehen bis zu 1 Billion Rupien betragen könnten. Auf Anweisung des IWF wurde der Leitzins auf 20 Prozent erhöht, was bedeutet, dass die Zahlungen an die Banken weiter steigen werden. Um diese Kosten zu decken, müsste der Umfang des föderalen öffentlichen Entwicklungsprogramms erheblich gekürzt werden. Ein letzter Risikofaktor ist, dass die Provinzregierungen den angestrebten Kassenüberschuss von 750 Mrd. Rupien weit verfehlen könnten. Insgesamt dürfte das Haushaltsdefizit bei den derzeitigen Trends im Haushaltsjahr 2022 – 2023 nahe bei 6,5 % des Bruttoinlandsprodukts liegen.

Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut

Aufgrund der Rezession in der Wirtschaft nimmt die Arbeitslosigkeit ständig zu. Schon jetzt sind Millionen von Arbeiter:innen arbeitslos. In den verbleibenden Monaten dieses Haushaltsjahres werden mindestens 2 Millionen weitere hinzukommen. Aufgrund von Inflation und Arbeitslosigkeit werden in diesem Haushaltsjahr weitere 20 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fallen, so dass sich die Gesamtzahl auf mehr als 80 Millionen erhöht. Außerdem wird es für die Hälfte der Bevölkerung schwierig werden, den Grundnahrungsmittelbedarf zu decken. Diese Situation kann zur Grundlage einer großen sozialen Umwälzung werden, und die Angst davor ist in der herrschenden Klasse offensichtlich.

Schuldenfalle

Die herrschende Klasse und ihre Intellektuellen räumen ein, dass die Wirtschaftskrise trotz aller Maßnahmen nicht enden wird und sie ein weiteres Programm des IWF annehmen müssen.

Das Land benötigt eine beträchtliche Summe von 75 Mrd. US-Dollar, um die Auslandsschulden und Zinszahlungen in den nächsten drei Haushaltsjahren zu bedienen. Der Umfang der internen Verschuldung nimmt ebenfalls zu. Ein Beispiel dafür sind die zirkulären Schulden des Elektrizitätssektors, die sich auf 2,3 Billionen Rupien belaufen, obwohl der Preis pro Stromeinheit stark gestiegen ist. Die Situation ist nun so, dass die Regierung die Kreditraten und Zinsen nicht jedes Jahr selbst zahlen kann und dafür neue Kredite aufgenommen werden müssen. Das heißt, man muss einen neuen Kredit aufnehmen, um die alten Kredite zurückzuzahlen.

Vergleicht man die Darlehen und Zuschüsse, die in den letzten zwei Jahrzehnten eingegangen sind, mit den Geldern, die abgeflossen sind, so wird deutlich, dass die Zahlungen die Einnahmen überstiegen haben. Das bedeutet, dass Pakistan in einer Schuldenfalle steckt. Internationale Geldverleiher:innen verdienen an Pakistan durch die Vergabe von Krediten. Das heißt: Die Verschuldung ist zu einem Mechanismus für die Ausplünderung der Ressourcen geworden. Aufgrund der Position Pakistans im globalen Kapitalismus ist eine Rückzahlung nicht möglich. Diese Situation hat das Risiko eines Zahlungsausfalls erhöht, worauf die Regierung mit einem Programm brutaler Kürzungen reagiert.

Die IWF-Lösung

Alle bisherigen IWF-Rettungspakete und ihre neoliberalen Lösungen haben keine langfristige oder dauerhafte Verbesserung der Wirtschaft gebracht. Das aktuelle Rettungspaket wird sich nicht von den anderen unterscheiden und zu weiteren Massenprivatisierungen, steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und Inflation führen. Der IWF besteht darauf, dass seine Maßnahmen zwar unmittelbare Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben, aber zu Verbesserungen führen werden, wenn die Kapitalist:innen wieder Vertrauen in die Wirtschaft gewinnen.

Was ist zu tun?

Die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verschlechtert und die Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse nehmen zu. Dies kommt in den Spaltungen zwischen den und innerhalb der staatlichen Institutionen deutlich zum Ausdruck. Jede Schicht der herrschenden Klasse strebt nach ihren eigenen Interessen. Die Inflation hat enorm zugenommen, und die Gesellschaft leidet unter Desintegration. Die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse bedeutet zunehmend mehr Brutalität, um die Stimme des Protests auf jede Weise zu unterdrücken.

Unter diesen Umständen müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern, Bäuerinnen und die unterdrückten Teile der Gesellschaft im Kampf gegen den tyrannischen Staat und seine Wirtschaft zusammenschließen. Es besteht die reale Gefahr, dass die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf verschiedene Sektoren und Regionen genutzt werden, um Spaltungen zu verstärken, Proteste abzulenken und einen einheitlichen Kampf gegen die wirklichen gemeinsamen Feind:innen zu verhindern. Es gibt Proteste gegen Inflation, Lohnerhöhungen und Privatisierung, aber diese Proteste müssen sich darauf konzentrieren, eine Alternative der Arbeiter:innenklasse zum IWF anzubieten. In der heutigen Zeit kann nur die Einheit der Arbeiter:innenklasse das IWF-Programm besiegen und die Regierung von Shehbaz Sharif absetzen.

Forderungen

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Arbeiter:innen ausreicht. Die Löhne der Arbeiter:innenschaft sollten an die Inflation der Preise für wichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Anstelle der Privatisierung sollten die staatlichen Einrichtungen unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden. Alle Einrichtungen, die nach der Privatisierung geschlossen wurden, sollten unter Kontrolle der Beschäftigten wieder verstaatlicht werden. Einrichtungen, die an den privaten Sektor übergeben wurden, sollten unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt und somit alle Formen der Privatisierung abgeschafft werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollten die Arbeitszeiten verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung des Bildungs- und Gesundheitshaushalts durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft. Daraufhin sollten neue Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen gebaut werden.

  • Ein Ende aller Privilegien und Steuervergünstigungen für die Großgrundbesitzer:innen und Kapitalist:innenklasse.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen übergeben werden.

  • Die Haushaltsmittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse sowie für die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Die Stromerzeugungsunternehmen sollten vom Staat übernommen und unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden.

  • Die Ablehnung des IWF-Programms, einschließlich der Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen, ist eine Vorbedingung für eine geplante und ausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, aber eine dem Kapitalismus verpflichtete Regierung kann dies niemals tun. Wir brauchen eine Regierung, die sich auf die Organisationen der Arbeiter:innenklasse stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen.

Die Unterstützung für eine solche Strategie wird nicht spontan erfolgen, sie muss durch eine entschlossene Kampagne gewonnen werden. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Strategie erkennen, ob in linken Parteien oder Gewerkschaften, müssen sich organisieren, um in allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie unter den unterdrückten Schichten der Gesellschaft, den Frauen, der Jugend und den unterdrückten Nationalitäten dafür zu kämpfen.

Sie müssen sich zusammenschließen, um die politische Grundlage für eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu diskutieren und ein Aktionsprogramm auszuarbeiten, das den Kampf gegen den IWF mit dem für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan und der gesamten Region verbindet. Auf diese Weise können wir uns gegen die Krise der herrschenden Klasse und ihre Angriffe auf das Proletariat und die Armen in Pakistan wehren.




Debt for Climate – keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit!

Gastbeitrag von Louise Wagner, Debt for Climate, Infomail 1206, 11. Dezember 2022

Die hiesige Klimabewegung ist geprägt von ihrer mehrheitlich mittelständischen Zusammensetzung, was darin resultiert, dass die Forderungen, die eine Bewegung mit einer derartigen Ausrichtung hervorbringt, der Ideologie der Mittelklasse entspricht: Forderungen nach individueller Konsummäßigung, Veränderungen der Lebensumstände, der Urlaubsplanung, des Ernährungsverhaltens etc. Forderungen, die in sich ihre Legitimität haben, jedoch zum einen zu kurz in ihrer Problemanalyse greifen und zum anderen die Entfremdung derjenigen Klassen zur Folge haben, für die Konsumverhalten keine Frage der Wahl, sondern der ökonomischen Notwendigkeit ist.

Es ist insbesondere diese Kluft zwischen der Arbeiter:innenklasse und der Klimagerechtigkeitsbewegung, die die Rechte für ihre eigenen Zwecke zu kapitalisieren weiß und dementsprechend nährt. Denn diese weiß genau, dass eine vereinte Bewegung in dem Augenblick nicht mehr aufzuhalten wäre, an dem die Arbeiter:innenklasse erkennt, dass sie der fehlende Funke in der Bewegung für eine soziale und wahrhaftig transformative Umwelt- und Klimagerechtigkeit ist. Sie kann dringend benötigte Veränderungen herbeiführen, indem sie sich auf ihre standhafte Tradition der Organisierung von Streiks besinnt und der Kapitalseite ihre „Mitwirkung“ entzieht. Und das wäre alles andere als im Interesse der menschenverachtenden Politik der Rechten.

Schuldenstreichung als verbindende Lösung

Die globale Graswurzelbewegung Debt for Climate bietet diese Verbindung an, nicht durch ein künstliches Herbeiwünschen von vereinten Kräften, sondern indem sich Gewerkschaften, indigene Widerstands-, feministische und Klimagerechtigkeitsbewegungen unter einem gemeinsamen Nenner vereinen können, der Kämpfe für soziale Gerechtigkeit wie für den Zugang zu guter Bildung und Gesundheitsversorgung, gesunden Arbeitsbedingungen und einer gesunden Umwelt für alle Menschen zusammenbringt. Und das ist die Streichung der Schulden des globalen Südens.

Schulden, als mächtiges Instrument der Enteignung der Armen und des ungleichen Vermögenstransfers von unten nach oben, sind eine existenzielle treibende Kraft hinter dem Abbau des öffentlichen Sektors, aber sie sind vor allem die Peitsche von Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, um Länder des globalen Südens zu zwingen, fossile Brennstoffe zu fördern, damit sie die Zinsen für Kredite zurückzahlen können, die sie nach Jahrhunderten kolonialer Plünderung und systematischer Ausbeutung aufnehmen mussten oder die teilweise sogar illegal aus der ehemaligen Kolonie vom Kolonisator transferiert wurden. Die Entschuldung ist eine Bedingung dafür, einen systemischen Wandel, wirkliche Veränderung zu ermöglichen.

Arbeiter:innen im globalen Norden werden die am ehesten und stärksten Betroffenen sein, wenn Umweltkatastrophen auch hier heftiger und häufiger vorkommen werden. Und sie sind es, die sich eine sogenannte Anpassung nicht leisten werden können. Dass wird niemanden von „oben“ kümmern, denn sie sind die „Entbehrlichen des Nordens“, obwohl auf ihren Schultern die gesamte Weltwirtschaft lastet. Der Kampf für eine vielfältige und lebenswürdige Umwelt ist auch der der Arbeiter:innen, denn sie haben letztendlich die Fähigkeiten und das Wissen, sowohl technisch als auch organisatorisch, um eine gerechte Energiewende tatsächlich umsetzen zu können. Allerdings kann eine globale gerechte Energiewende de facto nicht passieren, solange Länder im Süden dazu gezwungen werden, weiterhin ein Entwicklungs- und Wirtschaftsmodell zu verfolgen, was auf der Ausbeutung von Arbeiter:innen und fossilen Rohstoffen aufbaut und durch die systematische Verschuldung dieser Länder aufrechterhalten wird.

Arbeiter:innen als Protagonist:innen

Diese Forderung ist nicht nur eine, die die tatsächlichen systemischen Ursachen globaler sozialer und klimatischer Ungerechtigkeiten priorisiert statt des individuellen Verhaltens derjenigen, die es sich nicht anders leisten können. Sie nimmt nichts denjenigen weg, die eh schon nicht viel haben, sondern durchschneidet einen zukünftigen Profitstrom derjenigen, die von dem Wenigen anderer profitieren. Sie ist auch eine, die von einer Bewegung getragen wird, die Arbeiter:innen als Protagonist:innen und nicht als Antagonist:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung anerkennt und ihre Organisationen weltweit miteinander verbindet, um die Macht einer internationalen Arbeiter:innenbewegung von unten aufzubauen, um der momentan sehr viel besser organisierten herrschenden Klasse vereint und entschlossen entgegentreten zu können. Es geht dabei nicht darum, lokale Bemühungen und Forderungen aufzugeben, sondern es geht darum, die Kämpfe, die in der Sache bereits sowieso miteinander verbunden sind, auch in ihrer Organisation miteinander zu verbinden.

Am 27. Februar 2023 wird es genau 70 Jahre her sein, dass die Schulden von Nazideutschland etwa zur Hälfte gestrichen wurden. Schuldenstreichung ist also absolut möglich, wenn sie den Interessen der Herrschenden entspricht, im Falle Deutschlands ein Instrument gegen die Verlockung des Kommunismus. Wenn die Schulden von Nazideutschland gestrichen werden konnten, um die US-Hegemonie aufrechtzuerhalten, dann können sie es für globale Gerechtigkeit allemal. Dafür müssen wir uns gemeinsam organisieren, um öffentlich das Mögliche zu fordern, auch wenn es als politisch unmöglich abgestritten wird. Organisiert euch mit uns!

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Flut in Pakistan: kein natürliches, sondern ein kapitalistisches Desaster

Revolutionäre Sozialistische Bewegung, Infomail 1120, 5. Oktober 2022

Seit Monaten leidet die Bevölkerung Pakistans unter einer der schwersten Überschwemmungen, die je verzeichnet wurden. Die durch den Klimawandel verursachte Katastrophe hat zur Überflutung eines Drittels seiner gesamten Landmasse geführt. Schätzungsweise 33 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Offizielle Zahlen sprechen von 1.500 Toten, ein Drittel der Opfer sind Kinder. Angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der Infrastruktur, der Telekommunikation und der medizinischen Versorgung bleibt die tatsächliche Zahl unbekannt und liegt sicherlich weit höher.

Die verursachte Zerstörung wird auf mindestens 30 Milliarden US-Dollar geschätzt. Eine astronomische Summe, wenn man die schwache pakistanische Rupie (Währung) bedenkt.

Insgesamt belaufen sich die Schäden auf mehr als 11 % des pakistanischen Bruttoinlandsprodukts. Selbst die verheerende Flut von 2010, bei der damals mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen und die bis dahin die schlimmste aller Zeiten war, lässt sich nicht mit der aktuellen Situation vergleichen.

Bisher wurden Ernteflächen von 3,6 Millionen Hektar zerstört. Drei Millionen Nutztiere starben. So ist ein großer Teil der Ernte vernichtet. Für die nächste kann möglicherweise nicht ausgesät werden, da viele Gebiete noch monatelang überflutet sein werden. Nun naht der Winter. In jüngster Zeit kam es bereits aufgrund des weltweiten Sanktionskriegs zu Preissteigerungen. Jetzt droht eine noch nie dagewesene Hungerkrise.

Keine „natürliche“ Katastrophe

Seit dem Ausbruch der Krise im Juni wurde Pakistan zu wenig und zu spät unterstützt. Das Land wird unter seinen Auslandsschulden bei privaten und staatlichen Akteur:innen in den imperialistischen Ländern erdrückt. In ihrem Namen hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine weitere Runde von Preiserhöhungen, Subventionskürzungen und Privatisierungen gefordert. Unterdessen sind die verschiedenen politischen Fraktionen der herrschenden Klasse im Lande damit beschäftigt, sich untereinander zu bekämpfen, anstatt die Krise zu bewältigen.

In Belutschistan begann das Leiden bereits Mitte Juni. Das Hauptaugenmerk der von Shehbaz Sharif geführten Regierung und der von Imran Khan gelenkten Opposition sowie jenes der Medien drehte sich um die Machtspiele dieser verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie. Obwohl es beschämend ist, überrascht es nicht, dass das Leiden der einfachen Menschen in Belutschistan die geringste Sorge der herrschenden Klassen ist.

„Wir bereiteten uns gerade auf die bevorstehende Hochzeit meines Bruders vor, als die verheerenden Überschwemmungen meine Familie obdachlos machten und uns die wenigen verbliebenen Ressourcen entrissen“, so ein 30-jähriger Bergarbeiter aus Belutschistan gegenüber der Deutschen Welle. Er fügte hinzu, dass seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes und Sohnes unter Schock stehe. Dies geschah im Juli. Trotz der weitreichenden Zerstörung in seiner Stadt sei keine Hilfe geleistet worden, sagte er weiter.

Erst als die Regionalhauptstadt Quetta betroffen war und die Autobahnen, auf denen Waren aus Sindh, Punjab (Pandschab) und Khyber Pakhtunkhwa transportiert wurden, blockiert waren, wurde das Problem relevant genug, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zerstörung in der Region Swat war der Wendepunkt. Als Brücken und Straßen weggerissen wurden, kam die Aufmerksamkeit, die international bereits wieder abgeklungen ist.

Hätte man dem Problem die nötige Bedeutung beigemessen, hätten viele Menschenleben gerettet werden können. Die einfache Bevölkerung beginnt dies zu spüren. Berichten aus Süd-Punjab zufolge hat die Empörung über die Untätigkeit der Regierung zu Protesten der Anwohner:innen geführt. In einem Fall wurde ein Provinzminister umzingelt und floh schließlich in aller Eile. Ähnliche Vorfälle passierten in Sindh, einer der am stärksten von der Flut und Untätigkeit der Regierung betroffenen Provinzen. Einige Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft haben sogar behauptet, dass die Überschwemmungen bewusst in kleinere Dörfer umgeleitet wurden, um die Industrie und den Großgrundbesitz zu schützen, anstatt Menschenleben zu retten, insbesondere in Sindh und Süd-Punjab, wo Großgrundbesitzer:innen immer noch großen Einfluss auf die Politik haben. In Sukkur (Sindh) wagte es die Polizei, 100 Flutopfer unter dem Vorwurf des Terrors anzuklagen, weil sie gegen den Mangel an Nahrungsmitteln und Hilfsgütern protestiert hatten, als Premier- und Außenminister zu Besuch kamen, um „ihr Mitgefühl zu zeigen“.

Dies zeigt, dass es sich nicht einfach um eine Naturkatastrophe handelt. Sowohl das grauenhafte Management der Krise als auch ihre Ursache, der Klimawandel, sind von Menschen gemacht. Aber nicht alle Menschen haben gleichermaßen dazu beigetragen. Die ökologische Krise ist das Ergebnis eines fossil betriebenen Kapitalismus, in dem wenige Reiche, darüber hinaus noch global ungleich verteilt, von der unkontrollierten Ausbeutung von Natur und Mensch profitieren. Die Verantwortung für das Leid der betroffenen Bewohner:innen Pakistans liegt nicht einfach bei einer mystischen „Naturgewalt“. Sie liegt bei einem sehr realen gesellschaftlichen System. Schuld daran ist die kapitalistische Wirtschaft im Allgemeinen und sind im Besonderen die wenigen bürgerlichen Politiker:innen in Pakistan und im Ausland, die bewusst Entscheidungen gegen die Interessen der Vielen treffen.

Die Prioritäten der herrschenden Klassen sind klar. Premierminister Sharif kündigte ein Hilfspaket im Wert von 14 Milliarden Rupien an, nachdem Millionen von Menschen im Sindh vertrieben worden waren. Dies ist derselbe Mann, der vor einigen Tagen ein Hilfspaket für eine Handvoll exportierender Kapitalist:innen im Wert von 70 Milliarden Rupien verkündet hatte.

Gleichzeitig leiden die Arbeiter:innen in ihren Industrien weiter. Die an den Webstühlen und in der Textilindustrie litten bereits unter der Last der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die zuvor in Pakistan herrschte. Jetzt, da fast die Hälfte der Baumwollernte des Landes weggeschwemmt wurde, ist ein großer Teil der Industrie in Faisalabad und Gujranwala stillgelegt worden, was zu einer noch höheren Arbeitslosigkeit führt.

Eine drohende Hungerkrise

Nach den Überschwemmungen sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschnellt. Allein die für Zwiebeln sind um das Fünffache gestiegen. Acht Prozent der Tomatenernte wurden vernichtet und die Preise sind ebenfalls gestiegen. Beide Gemüse sind wichtige Bestandteile der pakistanischen Küche. Da unzählige Gemüse-, Obst-, Weizen- und Reisfelder beschädigt wurden, ist eine Lebensmittelkrise sicher. Die Landwirt:innen haben die Befürchtung geäußert, dass sie nicht in der Lage sein werden, für die Wintersaison zu pflanzen, wenn die Anbauflächen nicht sofort trockengelegt werden, wobei die Weizenernte die wichtigste ist. Nun müssen Lebensmittel aus Afghanistan und dem Iran importiert werden, was zu einem weiteren Preisanstieg führt. Die Lage ist so miserabel, dass sich die Menschen bei den Hilfsaktionen um die Lebensmittelpakete streiten.

Die Verwüstung der Landwirtschaft wird sich auch langfristig auf die gesamte Nationalökonomie auswirken. Allein in Sindh drohen bei drei wichtigen Kulturen, Tomaten, Zwiebeln und Chili, Verluste in Höhe von 374 Millionen US-Dollar. Das Land ist weltweit der viertgrößte Exporteur von Reis. In der von den Überschwemmungen heimgesuchten Provinz Sindh wurden 42 % der Reisproduktion angebaut, wovon schätzungsweise 1,9 Millionen Tonnen verlorengegangen sind, was einem Verlust von 80 % der erwarteten Produktion entspricht. Zusammen mit einem Verlust von 88 % bei Zuckerrohr und 61 % bei Baumwolle belaufen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen allein in Sindh auf 1,3 Milliarden US-Dollar, berichtet die Deutsche Welle.

Die öffentliche Infrastruktur in vielen Teilen Pakistans war bereits zuvor in einem schlechten Zustand. Nach den Überschwemmungen sind sogar diese grundlegenden Annehmlichkeiten verlorengegangen. Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Tausende von Vertriebenen sind gezwungen, das schmutzige Wasser zu trinken, das zuvor ihre Häuser weggespülte. So breitet sich die Cholera im ganzen Land aus. Auch andere durch Wasser übertragene Krankheiten wie Durchfall, Denguefieber und Malaria sowie zahlreiche Hautinfektionen grassieren.

Doch die kapitalistische Gier diktiert, dass auch in einer solchen Situation mit dem Elend der Menschen Profit gemacht werden muss – weil er sich machen lässt. Die Transportunternehmen, die Hilfsgüter transportieren, haben ihre Gebühren erhöht, so dass es schwieriger geworden ist, lebenswichtige Güter zu versenden.

Nieder mit Inflation und Verschuldung!

Die Inflation war jedoch bereits zuvor auf dem Vormarsch. Hiervon waren bis vor kurzem vor allem die Öl- und Gaspreise betroffen. Der Preisanstieg im Gefolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine war bereits schrecklich. Deutschland und andere europäische Staaten suchen sich neue, wenn auch teurere und unökologischere Lieferant:innen für Gas und Öl. Aber arme Länder wie Pakistan können das nicht so kompensieren wie die imperialistischen. Letztere subventionieren jetzt fossile Brennstoffe mit Hilfe von Extraprofiten, die sie durch wirtschaftliche Ausbeutung im eigenen Land und in der halbkolonialen Welt erzielen. Gleichzeitig zwingen dieselben Länder Pakistan über den IWF, die Subventionierung von Gas und anderen wichtigen Gütern einzustellen.

Nach Angaben der Tageszeitung Dawn befindet sich die pakistanische Industrie in einer Rezession. Das verarbeitende Gewerbe schrumpfte im Juli um 1,4 Prozent, was auf die Kombination von Überschwemmungen und den höchsten Energie- und Rohstoffkosten in der Geschichte der Industrie zurückzuführen ist. Die Textilindustrie sank im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 %.

Die Regierung hat an internationale Geber:innen, humanitäre Einrichtungen, Organisationen und verbündete Länder appelliert, Hilfe zu leisten. Planungsminister Ahsan Iqbal sagte, das Land könne bis zu 10 Milliarden US-Dollar für Reparaturen benötigen. Der IWF hat 1,7 Milliarden US-Dollar aus einem Rettungsfonds freigegeben, der eingefroren worden war, weil die vorherige Regierung der Forderung nach einer weiteren Kürzung der Energiesubventionen nicht nachgekommen war.

Die UNO hat zu einer Soforthilfe in Höhe von 160 Millionen US-Dollar aufgerufen und 3 Millionen US-Dollar bereitgestellt. Das Vereinigte Königreich hatte die Bereitstellung von 1,8 Millionen US-Dollar für die Fluthilfe angekündigt. Aber das ist nichts! Vergleichen wir dies allein mit den Gewinnen, die  britische Gaskonzerne in diesem Jahr generierten, eine Industrie, die direkt mit dem Klimawandel verbunden ist, erröten wir vor Zorn. Und denkt nur an die Militärausgaben der Großmächte, von China über Russland bis hin zu Deutschland oder den USA. Sie beliefen sich im letzten Jahr auf mehr als eine Billion US-Dollar (1.000.000.000.000)!

Die Verbindung von Krieg und Klimawandel

Kurz gesagt, nicht nur der Klimawandel, sondern auch der Krieg sowie die Aktionen und Prioritäten der imperialistischen Mächte und des kapitalistischen Systems als Ganzes betreffen Länder wie Pakistan besonders.

Wir möchten klar sagen, dass wir Putin und der russischen Armee eine Niederlage in der Ukraine wünschen. Das ukrainische Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Aber zugleich wird immer deutlicher, dass die Regierung in Kiew einen Stellvertreter:innenkrieg für die NATO und den westlichen Imperialismus führt, dass die Ukraine konkreter Austragungsort für den Kampf um die Neuteilung der Welt geworden ist.

Ein Blick auf Pakistan offenbart die Scheinheiligkeit der Gespräche westlicher imperialistischer Mächte (wie auch unseres vermeintlichen „Bruders“ China, der inzwischen Pakistans größter Einzelgläubiger ist). Pakistan leidet noch immer unter dem 20 Jahre andauernden Krieg im benachbarten Afghanistan. Währenddessen präsentieren sich die westlichen Nationen als Beschützerinnen der „globalen Freiheit“. Aber es sind die westlichen Imperialist:innen, die arme Länder wie Pakistan gemeinsam und in Konkurrenz vor allem mit China ausrauben und ihnen diktieren (wobei die pakistanische Bourgeoisie ihren Teil dazu beiträgt).

Während sie „Freiheit und Demokratie“ predigen, bestimmen ihre Institutionen wie der IWF die Innenpolitik Pakistans. Während sie von der Sicherung einer freien Zukunft sprechen, zerstören imperialistische Banken und Monopolkonzerne die ohnedies miserablen Lebensgrundlagen in Pakistan.

Sicher, der Unterschied ist, dass diese so genannten „westlichen Mächte“ ihre Herrschaft mit einem (mehr oder weniger) demokratischen Regime im eigenen Land in Verbindung bringen, anders als China oder Russland dies tun. Aber es ist ein demokratisches Regime, von dem arme Pakistaner:innen und die Welt, die diese Nationen anzuführen vorgeben, weitestgehend ausgeschlossen sind. Das simpelste Beispiel sind laufende Abschiebungen von deutschen Flughäfen zurück nach Pakistan, während das Land unter der Krise zusammenbricht.

Die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen können ihr Vertrauen nicht in eine dieser Mächte setzen. Sie müssen die nötige Kraft in sich selbst finden. Die aktuelle Situation zeigt mehr denn je, dass Pakistan eine sozialistische Partei braucht, die wirklich die Interessen der um ihr Überleben kämpfenden Massen vertritt. Aber die Situation in Pakistan muss auch ein moralischer Weckruf an die Arbeiter:innenbewegungen in Ländern wie Europa, den USA, Russland oder China sein.

Auch Ihr habt eine Verantwortung! Ihr müsst erkennen, dass der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht. Anstatt „Euren“ politischen und wirtschaftlichen Eliten zu folgen, die letztlich nur versuchen, ihre Machtambitionen zu erhalten und dies mit einem neuen Militarismus zu verbinden, solltet Ihr Euch unserem Kampf gegen den Klimawandel und das kapitalistische System, das ihn befeuert, anschließen.

Erhebt Eure Stimme in den Metropolen jener Länder, die Pakistan mit Schulden belasten. Erhebt Eure Stimme in den Ländern, die uns an den Rand des ökologischen Kollapses bringen. Fordert in unserem Namen:

  • Die Streichung aller Schulden Pakistans!
  • Die Bereitstellung von Klimareparationen, damit wir uns auf den Klimawandel vorbereiten und eine ökologische Transformation durchführen können, ohne Bedingungen!
  • Die sofortige Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten!

Aber wir trauen unseren eigenen kapitalistischen Herrscher:innen nicht. Zu Hause kämpfen wir für dieses Notprogramm:

  • Die Regierung muss die Zahlungen der Auslandsschulden sofort einstellen. Die Reichen müssen endlich progressiv besteuert werden, um die Kosten der Krise zu bezahlen.
  • Bildung von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenausschüssen, die die Verteilung der Reparationen und Hilfen überwachen!
  • Kontrolle der Lebensmittelpreise durch Preisausschüsse der Arbeiter:innen! Die Regierung muss Subventionen für alle lebensnotwendigen Güter gewähren!
  • Gleichmäßige Erhöhung aller Löhne mit jedem Prozent Inflationsanstieg! Kontrolle der Geschäftsbücher der pakistanischen Kapitalist:innen, um zu überprüfen, ob sie die Krise auf dem Rücken der Armen ausnutzen, um Extraprofite zu machen.
  • Entsendung von Gesundheitspersonal in die von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen, um dort eine kostenlose medizinische Versorgung zu gewährleisten! Die Regierung soll eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle Flutopfer sicherstellen!
  • Wo Fabriken geschlossen werden, kämpfen wir für ihre entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung unter Arbeiter:innenkontrolle.
  • Wir sagen, wenn die Bourgeoisie die Krise nicht lösen kann, müssen die Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Armen bereit sein, die Regierung selbst zu übernehmen.



Buchbesprechung: Wohnen im Kapitalismus als Objekt der Rendite

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 267, September 2022

Im Folgenden wollen wir eine kurze Zusammenfassung des Buchs von Andrej Holm: Objekt der Rendite. Zur Wohnungsfrage und was Engels noch nicht wissen konnte, Dietz Verlag, Berlin 2021, präsentieren. Wir beschränken uns auf die Geschichte des kapitalistischen Wohnungsbaus und seine sich verändernde Ökonomie.

Kapitalistischer Wohnungsbau im 19. Jahrhundert

Die einschneidendsten Änderungen verursachte die industrielle Revolution. Massen von Bauern/Bäuerinnen wurden in die Kohleabbauregionen, Stahlproduktionszentren und die verarbeitende Industrie gezogen. Große Anlagen und neue Städte entstanden und manch alte erlebten eine nie gekannte Bevölkerungsexplosion. Mitte und Ende des 19. Jh. wurden in den europäischen Zentren Wohnraum massenweise (vor allem armer Schichten) vernichtet, Straßen verbreitert und neue Gebäude für bürgerliche oder adlige Schichten gebaut.

Diese vernichtende bourgeoise Wohnraumpolitik nennt Andrej Holm „revanchistisch“. Dagegen gab es mit Proudhon und mittelständischen Wohnvereinen eine kleinbürgerliche Wohnraumpolitik, die den Kleinbesitz eines Reihen- oder Einzelhauses mit Gärten für alle als Lösung propagierte. Der Sozialreformer Gustav Schmoller wies 1890 die deutsche Bourgeoisie darauf hin, dass zwangsweise soziale Revolutionen ausbrechen werden und schlug bessere Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen vor. Engels wies jedoch darauf hin, dass unter kapitalistischen Umständen die Bourgeoisie selten oder gar nicht angemessenen Wohnraum zur Verfügung stellt, da dieser als Spekulationsobjekt weit attraktiver ist.

Interessanterweise kann man konstatieren, dass je stärker die Arbeiter:innenbewegung war, sich die katastrophale Wohnsituation leicht abmilderte und die Infrastruktur (Wasserversorgung, Kanalisation) durch Staatsinvestitionen verbesserte, was sich durch die Zahl der Obdachlosen und Schlafgänger zwischen 1850 – 1920 erhärten lässt.

Das 20. Jahrhundert

Die Novemberrevolution belebte die Debatte neu. Es wurde über die Sozialisierung auch von Wohnraum nachgedacht und es gab Mietstreiks 1919. Zwar wurde das nicht erreicht, aber es gab Impulse zur Finanzierung kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungen auf Basis der Besteuerung Privater, die zu ersten massenhaften Wohnungsbauprogrammen führten, die heute den Kernbestand der städtischen Wohnungen ausmachen.

1945 – 1990 wurde die massenhafte Versorgung der Bevölkerung in den Zentren ebenfalls durch kommunale Wohnungsgesellschaften und Baugenossenschaften durchgeführt. Im Rahmen von privatem Wohnungsneubau unter dem Label des Sozialbaus erfolgte hauptsächlich eine doppelte Subventionierung des privaten Sektors: erstens, da die Sozialbindung nach einer gewissen Frist entfiel (damals: 30 Jahre, heute in Berlin: 10 Jahre) und die Mieten zu einem Zeitpunkt, wo die Baukosten der Gebäude bereits refinanziert waren, nicht mehr preisgebunden waren und zweitens, weil die Zuschüsse und Steuererleichterungen einen erheblichen Anteil einnahmen und teilweise größer als die Gesamtkosten waren.

Nach der deutschen Einheit: Berliner Mietenmonopoly

Nach Wegfall der Systemkonkurrenz im Osten wurde die Privatisierung der kommunalen Gesellschaften 1990 durch dem Wegfall der Wohnraumgemeinnützigkeit vorbereitet. Kommunale Träger und Genossenschaften verloren ihre Steuervorteile. Die steuerlichen Mehrkosten wurden auf die Mieter:innen umgelegt. Eine Welle der Mietpreiserhöhung folgte. Bis dahin war der Mietpreisanstieg sehr schwach, halbwegs linear und entsprang aus den leicht steigenden Realkosten inkl. Inflation.

In den 2000er Jahren wurden in Berlin die Wohnraumförderung eingestellt, etwa 250.000 kommunale Wohnungen durch den „rot-roten“ Senat privatisiert und für sehr geringe Beträge an Private verkauft.

2007 platzte eine Immobilienblase auf dem US-Finanzmarkt. Aus dieser nationalen Immobilien-entwickelte sich die globale Finanzkrise. Da die normale Warenproduktion auf Grund des tendenziellen Falls der Profitrate nicht mehr ausreichend Gewinne realisierte, drängte anlagesuchendes Kapital auf andere Märkte. Im Gegensatz zu Investitionen in hochriskante Finanzprodukte wurden langfristige mit gesicherten Gewinnen attraktiver. Die größten Gewinne versprach man sich, wo der Rent-Gap am größten war: zum Kauf stehende ehemalige Werks- und kommunale Wohnungen. Niedrigzinspolitik so wie Deregulierung unter Schröder verstärkten den Trend.

Holm spricht hier ebenfalls von einer revanchistischen Raumvorstellung, die nicht nur in Privatisierung, Auswertung und Gentrifizierung mündete, sondern Zerstörung sozialer Leben, brutale Vertreibung, die marginalisierte Gruppen wie prekäre Arbeiter:innen, Migrant:innen, Wohnungslose am härteten trafen und mit Polizeigewalt durchgesetzt worden sind. Der Prozess, der London in den 1980er und New York in den 1980er und 1990er Jahren heimsuchte, erreichte ab 2000 Berlin und intensivierte sich in der Folgezeit.

In den letzten Jahren gab es ganze Wellen von Zwangsräumungen von Arbeiter:innen, Migrant:innen, linken Hausprojekten und Kneipen, wo ganze Straßenabschnitte unter polizeilichen Belagerungszustand gestellt, Anwohner:innen systematisch schikaniert worden sind.

Finanzorientierte und industrielle Wohnkonzerne

Bis in die 2000er Jahre war der Wohnungs- vom Finanzsektor relativ abgeschlossen. Natürlich wurden Kredite von Banken aufgenommen, um Wohnungen zu kaufen oder zu bauen, und diese mit der Zeit durch die Mieter:innen abgezahlt. Aber weitere Verflechtungen waren selten.

Anfang dieses Jahrtausends begannen Banken und Finanzdienstleister in Deutschland damit, nicht nur Geld für Wohnungsunternehmen zur Verfügung zu stellen, sondern mit diesem Kapital selbst Firmen zu gründen und in eigener Regie zu investieren (z. B. die Gründung von Deutsche Wohnen durch die Deutsche Bank 1998). Diese finanzmarktorientierten Wohnungskonzerne begannen, Kapital in Form von Private Equity Fonds zu sammeln, Wohnungen zu erwerben und diese wie ihre Unternehmensanteile wie moderne Finanzprodukte zu handeln. Diese absorbierten auch, begünstigt durch die Liberalisierung unter Schröder, Kapitale aus Rentenfonds, Versicherungen, mittelgroße Anleger:innen. Vor allem zogen Wohnungen mit einem hohen Rent-Gap dieses private Kapital an.

In den 2000er Jahren kauften diese Unternehmen etwa 230.000 ehemals kommunale Wohnungen auf. Damit wurden sie, die bis dahin einer zumindest geringen öffentlichen Kontrolle unterlagen und ein Gut mit öffentlich-sozialer Zweckbestimmung darstellten und nur geringe Renditen erzielten, systematisch in Finanzprodukte umgewandelt, wo größte Renditen durch große Mietsteigerungen möglich waren und der Finanzmarkt herrschte.

Nach der Finanzkrise 2007 strömte verstärkt auch internationales Kapital auf den deutschen Wohnungsmarkt. Ab 2010 haben finanzorientierte Wohnungskonzerne ihre Interaktion mit Banken und Investor:innen geändert. Wo anfangs Kapital für Unternehmungen zur Verfügung gestellt worden ist und diese Schulden mit den Mieten sukzessive abbezahlt worden sind und in Folge dessen ebenso wie Zinsen sanken, werden diese nicht mehr abbezahlt, sondern stattdessen Geschäftsanteile des Unternehmens an Investor:innen ausgegeben. Dadurch, dass die Schulden nicht bedient werden, steigen diese zusammen mit den Zinsen. Zinsen sind umlagefähig. So steigen die Mieten zusätzlich. Gleichzeitig wird die Bauindustrie für Projekte finanziert, um durch Wertsteigerungen der unmittelbaren Umgebung dortige Mieten anzukurbeln. Diese Bauindustrie verkaufte die Gebäude, erwarb aber gleichzeitig Anteile am kaufenden Unternehmen. Dadurch verschmolzen das in den Gebäuden gebundene Kapital der Wohnungsunternehmen, das Finanzkapital und die Bauindustrie zu dem, was Holm und Unger finanzindustrielles Kapital nennen.

Diese finanzindustriellen Wohnkonzerne zeichnet neben den o. g. Merkmalen weiter aus: Hoher Grad der Automatisierung bei ihren Geschäftsabläufen, aktuelle Werte und Mietsteigerungspotenziale werden ermittelt, damit potenzielle Investitionen, Abrechnungen oft absichtlich fehlerhaft erstellt.

Gleichzeitig werden die Strukturen dezentralisiert und verschachtelt. Wo damals dem/r Mieter:in ein/e Vermieter:in oder eine Firma gegenüberstanden, existiert ein Geflecht von Firmen. Der Vorteil dieser Struktur liegt darin, dass diese Firmen sich für ihre Dienstleistungen hohe Rechnungen ausstellen, diese einerseits auf die Mieter:innen umgelegt werden können und andererseits als hohe Betriebsausgaben in geringere Steuern münden. So ist das sog. „Insourcing“ eine übliche Praxis, die Betriebskosten künstlich in die Höhe zu treiben. Es beschreibt das Ausgliedern ehemals firmeneigener Handwerker:innen und Reinigungskräfte bzw. Gründen von Handwerks- und Reinigungsunternehmen, Beauftragung dieser durch die Hausverwaltung, Ausstellen hoher Rechnungen und deren Umlage auf die Mieter:innen.

Eine Firma tritt auf der untersten vertikalen Ebene als Eigentümerin auf. Auf der mittleren Ebene fallen diese Firmen mit Geschäftsanteilen anderer Eigentümer- oder Holdinggesellschaften zusammen und auf höheren Ebenen ist der Konzern international und branchenübergreifend aufgestellt. Die Gewinne zentralisieren sich früher oder später nach oben in der Eigentümervertikalen und laufen bei Aktionär:innen, Banken oder internationalen Investmentgruppen wie BlackRock zusammen.

Die Mieter:innen zahlen alle Ausgaben inkl. Instandhaltung. Ein weiterer Trick ist hier, nicht instand zu halten und Beschwerden wie erforderliche Mietsenkungen schlicht und ergreifend zu ignorieren, sie stattdessen mit Forderungen, Inkasso- und Gerichtsverfahren zu überziehen. Es wird dadurch gleichzeitig auch versucht, das Gebäude so in der Bausubstanz verkommen zu lassen, bis eine Sanierung notwendig wird. Deren Kosten sind umlagefähig. Sind sie amortisiert, also durch die Miete abbezahlt, wird sie jedoch nicht auf den vorherigen Zustand gesenkt.