Der Wahn vom „Gender-Wahn“

Warum sich Rechte aufs Gendern einschießen

Stefan Katzer, Neue Internationale 276, September 2023

Der Aufschwung der Rechten geht einher mit einem Erstarken nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologien und Diskurse.

Doch das ist längst nicht alles. Besonders die Ablehnung der von diesen Akteur:innen so bezeichneten „Gender-Ideologie“ und die Bekämpfung der Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen stiften Zusammenhalt und wirken mobilisierend auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der reaktionären Melange aus konservativen, christlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften.

Der Aufschwung der Antigender-Bewegung

Ursprünglich vor allem von Vertreter:innen der katholischen Kirche und konservativer Parteien ins Visier genommen, ist die „Gender-Ideologie“ heute eines der Hauptangriffsziele fast aller rechten und konservativen Parteien und Gruppierungen. Die ersten eindeutigen Anti-Gender-Kampagnen entstanden Mitte der 2000er Jahre in Ländern wie Spanien, Kroatien, Italien und Slowenien. Sie richteten sich zunächst hauptsächlich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder die Sexualaufklärung an Schulen.

Mit den Massenprotesten in Frankreich im Jahr 2012 zur Verhinderung der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. Im Anschluss daran breitete sie sich auch in Deutschland, Italien, Polen, Russland und der Slowakei aus.

In Bezug auf die USA konnte Joanna Wuest detailliert aufzeigen, wie Teile der herrschenden Klasse bereits seit der Präsidentschaft Ronald Reagans intensiv daran arbeiteten, ein reaktionäres Netzwerk aus religiösen Traditionalist:innen und rechten Gruppierungen aufzubauen. In diesem Zusammenhang kam es zur Gründung zahlreicher Thinktanks und Lobbygruppen, deren politisches Ziel vor allem darin besteht, den Unmut über die wachsende soziale Ungleichheit in eine für das Kapital genehme Bahn zu lenken. In den USA seien Kapitalverbände seit Langem bemüht, sich den Rückhalt für ihren Widerstand gegen jede Umverteilung von oben nach unten dadurch zu sichern, dass sie an konservative Gesellschaftsnormen appellieren.

Als Beispiel nennt Wuest die Heritage Foundation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1973 zusammen mit gleichgesinnten Gruppierungen gegen die Homo-Ehe und gegen Bürger:innenrechte für trans Menschen kämpft und sich ansonsten vor allem für einen „freien Markt“ starkmacht. Milliardenschwere Familienunternehmen und -stiftungen wie die von Charles Koch, Betsy DeVos oder Lynde und Harry Bradley sowie Wirtschaftsverbände wie das American Legislative Exchange Council mischen auf diesem Feld mit und finanzieren transfeindliche Gruppierungen aller Art, bis hin zu transfeindlichen Radikalfeminist:innen wie etwa die Women’s Liberation Front.

Es ist also offensichtlich, dass auf Seiten des Kapitals und seiner politischen Handlanger:innen großes Interesse daran besteht, die Spaltung der Lohnabhängigen weiter zu vertiefen, um sich selbst aus dem Schussfeld zu nehmen. Denn das, was die Kapitalist:innen am meisten fürchten, ist eine geeinte, sich ihrer gesellschaftlichen Lage und Macht bewusst werdende Arbeiter:innenklasse, die die wirklichen Ursachen ihres Elends erkennt und bereit ist, dagegen zu kämpfen.

Angriffe auf die Rechte von LGBTIAQ-Personen, die reproduktiven Rechte von Frauen und die Reproduktionsmedizin sowie die Aufklärung über Sexualität und Geschlechtergleichstellung stehen seither im Fokus dieser kräftig bezuschussten Bewegung. Dabei werden nicht nur die Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen angegriffen, sondern häufig die Personen selbst.

Sowohl der Attentäter von Utøya, der 2011 insgesamt 77 Menschen ermordete, als auch jener von Christchurch, der 51 Menschen tötete, schwadronierten in ihren „Manifesten“ von der Gefahr des Feminismus und des Gender-Mainstreamings. Neben rassistischen waren somit auch antifeministische Ideologeme Bestandteil der irrationalistischen Weltanschauungen dieser rechtsextremen Massenmörder. Frauen- und Transfeindlichkeit sind integraler Bestandteil ihrer Ideologie.

Dies geht einher mit der Überhöhung einer Form heroisch-soldatischer Männlichkeit, die sich durch Härte und Durchsetzungsvermögen auszeichnet, und deren angeblicher Verlust in den durch Feminismus und Gender-Mainstreaming weichgespülten westlichen Gesellschaften beklagt wird. Bedroht seien nicht nur „echte Männer“, sondern ebenso die traditionelle Familie, die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung sowie die spezifischen Rollenzuweisungen, die damit einhergehen.

Weiblichkeit wird dabei vor allem mit Nähe, Emotionalität und Fürsorglichkeit assoziiert, während Männlichkeit mit Durchsetzungsvermögen, Tatkraft und Autonomie in Zusammenhang gebracht wird. Die Rolle des Mannes wird darin gesehen, die Familie mit dem notwendigen Einkommen zu versorgen, während Frauen die Aufgabe zufällt, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern.

Sexistische Unterdrückung und Weiblichkeitsabwehr

Dieses tradierte Rollenverständnis korrespondiert mit der vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ihr zugrundeliegenden Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion. Diese bildet die materielle Grundlage der Unterdrückung von Frauen und LGBTQIA+-Personen und der binären Unterscheidung der Geschlechter.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung zwar durchaus mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden. Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann aber nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt, sondern muss vielmehr aus der historischen Entwicklung begriffen werden.

Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit

Die gesellschaftlich notwendige, meist von Frauen geleistete Hausarbeit ist unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vom Produktionsprozess real ausgeklammert und findet „privat“ statt. Obwohl sie als notwendige Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft unerlässlich ist, ist sie keine produktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert für das Kapital produziert. Die Frauen erhalten für diese Tätigkeiten auch keinen Lohn. Falls sie einer Lohnarbeit nachgehen, leiden sie häufig unter einer Doppelbelastung. Im Beruf werden sie für die gleiche Arbeit zudem im Durchschnitt schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Ihr Lohn gilt häufig als Zuverdienst, während der Mann als „Ernährer“ der Familie gilt. Damit einhergehend werden die meist von Männern ausgeführten Tätigkeiten höher bewertet als jene meist von Frauen übernommenen und der Sphäre der „Weiblichkeit“ zugeschriebenen Tätigkeiten und Werte.

Die Frauenunterdrückung ist dabei keine „Erfindung“ des Kapitalismus. Dieser hat vielmehr die bereits zuvor bestehenden Formen der Ungleichheit aufgenommen und den Bedürfnissen der kapitalistischen Verwertung entsprechend transformiert. Aufgrund der langen Geschichte der Frauenunterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass vielen diese Form der sexistischen Unterdrückung als „natürlich“ erscheint. Dabei werden geschlechtliche Merkmale aber letztlich nur herangezogen, um ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis mit Verweis auf vermeintlich naturgemäße Eigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten zu legitimieren.

Krise der bürgerlichen Familie

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Für Konservative und rechte Kräfte ist die bürgerliche (Kern-)Familie heilig. Sie gilt ihnen als vermeintlich überhistorische – wahlweise von Gott oder der Natur vorgesehene – Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist ihr Bestehen aufs Engste mit dem Aufkommen des Kapitalismus verbunden. Wie die derzeitige Krise der bürgerlichen Familie zudem deutlich macht, ist ihr Bestehen für den größten Teil der Lohnabhängigen und Unterdrückten in Wirklichkeit abhängig von einem bestimmten Stand der kapitalistischen Akkumulation.

Während es nach dem Zweiten Weltkrieg für große Teile der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren möglich wurde, das bürgerliche Familienideal zu realisieren, unterhöhlte die kapitalistische Expansion diese Form des Zusammenlebens, da nun auch Frauen zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht wurden.

In den letzten Jahrzehnten verschlechterten sich die Lebensbedingungen für viele Familien dramatisch. Die kapitalistische Verwertungskrise und die ihr von politischer Seite entgegengesetzten Maßnahmen in Form von Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme unterhöhlen objektiv die bürgerliche Familie als Form des Zusammenlebens. Damit einhergehend werden auch die Geschlechterrollen der Familienmitglieder unterminiert.

Vor diesem Hintergrund bilden der seit den frühen 2010er Jahren erstarkende Antifeminismus und Antigenderismus eine Form der projektiven, reaktionären Verarbeitung persönlicher und gesellschaftlicher Krisenerfahrungen, deren zentraler Mechanismus darin besteht, verstärkte soziale Ängste speziell von Männern aufzugreifen und sie umzuformen. Die Infragestellung der herrschenden Rollenbilder und des diesen zugrundeliegenden Systems der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird tabuisiert. Mehr noch, sie wird mit eine angeblich „besseren“ Zeit ideologisch verknüpft. Wer Familie und reaktionäre Geschlechterrollen angreift, attackiert in dieser Weltanschauung auch die soziale „Sicherheit“.

In die allgemeine ängstigende Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen ist somit eine spezifische Form männlicher Furcht verwoben. Um dies besser nachvollziehen zu können, ist es notwendig, auf die grundlegenden Momente männlicher Subjektkonstitution näher einzugehen.

Männlichkeit als soziales Konstrukt

Zentral ist dabei die Einsicht, dass „Männlichkeit“ keine überhistorische Eigenschaft von Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen darstellt, sondern ein äußerst wandelbares kulturelles und psychosoziales Konstrukt, das im Laufe der Sozialisation hergestellt und mittels Identifizierung mit bestimmten Personen und/oder (von diesen verkörperten) Idealen aktiv angeeignet wird. Die Ausbildung einer Geschlechtsidentität erfolgt somit in der Interaktion des Kindes mit den primären Bezugspersonen in der von Normen der „Männlichkeit“ geprägten Gesellschaft.

Diese Interaktion ist gekennzeichnet durch die einseitige Abhängigkeit des Kindes von den Eltern (oder anderen primären Bezugspersonen). Da der Säugling seine grundlegenden physiologischen Bedürfnisse nicht eigenständig befriedigen kann, ist er darauf angewiesen, von anderen mit Nahrung, Wärme und emotionaler Zuwendung versorgt zu werden. In dieser körperlichen Interaktion zwischen primärer Bezugsperson und Säugling werden zugleich die Triebe des Säuglings geweckt, geformt und mit bestimmten (phantasmatischen) Objekten verknüpft.

Die primären Bezugspersonen sind für das Kind so zum einen „Objekte“, mit denen es positive Erfahrungen verbindet, da es von diesen genährt und versorgt wird. Zugleich kommt es selbst dann, wenn die primären Bezugspersonen sich bei der Versorgung des Kindes größte Mühe geben, unweigerlich zu Situationen, in denen die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht unmittelbar erfolgen kann und der Säugling frustrierende Erfahrungen macht.

Das „Objekt“ ist somit ambivalent besetzt. Ein früher Modus des Umgangs mit dieser Ambivalenz – und als etablierte Form der Abwehr zugleich Grundlage für spätere Projektionen – ist die phantasmatische Spaltung des zugleich befriedigenden wie Unlust bereitenden Objektes. Dabei wird das „böse“, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse versagende Objekt außen verortet. Es ist für das Kind mit der Erfahrung existenzieller Not verbunden und wird deshalb von diesem gehasst. Umgekehrt wird das „gute“, befriedigende Objekt innen verortet, d. h. dem eigenen Ich zugerechnet. Diese Phase der narzisstischen Selbstidealisierung ist mit der Konstitution des Ich aufs Engste verknüpft, da der Säugling erst in dieser Interaktion mit der Außenwelt allmählich eine Vorstellung von innen und außen, von Ich und Objekt entwickelt.

„Das Subjekt entsteht so in der Spannung zwischen Narzissmus und Objektliebe, zwischen Trennungsbestreben gegenüber den primären Beziehungspersonen und zugleich der ständigen Angewiesenheit auf sie. […] Auch wenn das Subjekt später lernt, die beiden Teile mehr zusammenzubringen […], das dargestellte Dilemma, das auch als Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt beschrieben werden kann, bleibt für immer bestehen. Das Begehren hat einen Riss, einen Mangel im werdenden Subjekt produziert, der nicht mehr zu kitten ist.“ (Brunner 2019: S. 24f.)

Das Entscheidende für das Verständnis der den Antigender-Diskurs prägenden affektiven Dynamik besteht nun darin, die Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität als einen Abwehrmechanismus zu begreifen, der auf die mit dem beschriebenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt auftretenden innerpsychischen Spannungen mit der Ausbildung einer „männlichen Identität“ antwortet, welcher die Abwertung des mit Abhängigkeit assoziierten „Weiblichen“ und die Privilegierung des mit Autonomiewünschen verknüpften „Männlichen“ von Beginn an eingeschrieben ist.

Durch die Internalisierung der symbolischen Geschlechterdifferenz und der damit zusammenhängenden Ausbildung einer Geschlechtsidentität kommt es nun zu einer nachträglichen Umschreibung aller bisheriger Erfahrungen des Kindes entlang des gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechtergegensatzes. Im Zuge dieser Umschreibung werden narzisstische Autonomiewünsche „männlich“, Wünsche nach Verschmelzung mit dem Objekt „weiblich“ codiert.

Überlagerung von kapitalistischer und persönlicher Krise

Wie bereits dargelegt, bedeutet die kapitalistische Krise und die politische Form ihrer Verarbeitung für große Teile der Lohnabhängigen und auch des Kleinbürger:innentums eine enorme Verunsicherung und eine Verschlechterung ihrer Reproduktionsbedingungen. Was lange Zeit als „normal“ galt, gerät plötzlich ins Wanken. Dem Ernährermodell mit seinen spezifischen Rollenerwartungen wird das Wasser abgegraben. Viele Männer können den gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr gerecht werden, da die gesellschaftlichen Grundlagen sich gewandelt haben. Die Ideale, mit denen sie sich identifizieren, sind unerreichbar geworden. Anstatt autonom über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können, bricht eine gesellschaftliche Krise über sie herein, der sie in ohnmächtiger Passivität gegenüberstehen. Es sind genau solche Verhältnisse, die als schwächend, als Verlust der mit dem eigenen Geschlecht verbundenen Integrität und Unabhängigkeit empfunden werden.

Um aus dieser spannungsvollen und für die eigene Psyche beinahe unerträglichen Zwangslage herauszukommen, bieten sich nun allerdings verschiedene Möglichkeiten.

Sofern es nicht zu einer Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen der persönlichen Krisenerfahrungen kommt, die Betroffenen also nicht zu der Einsicht gelangen, dass es weder ihre eigene noch die Schuld von irgendjemand anderem/r ist, dass sie die an sie gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen können, sondern die kapitalistische Krise ihnen die Erfüllung ihrer Rollenerwartungen verunmöglicht, bereitet der Antigenderismus ein politisches Angebot, das es erlaubt, die unerträglichen Schuldgefühle und die damit verbundenen Affekte wie Angst und narzisstische Wut in eine bis zum Hass reichende Feindseligkeit gegen andere Gruppen (Feminist:innen, Frauen, LGBTQIA+-Personen) umzuwandeln. Die strafenden Überichanteile werden somit projektiv ausgelagert und die Ängste vor dem Verlust der eigenen Autonomie „[in] einen berechtigt erscheinenden Kampf gegen einen im Außen (wieder-)gefundenen Gegner als vermeintlichen Verursacher des eigenen und des kollektiven Leids transformiert.“ (Pohl 2010: S. 11)

Im Antifeminismus und Antigenderismus wird somit „die in die ,Normalmännlichkeit’ unserer Gesellschaft eingelagerte paranoide Abwehr von Weiblichkeit und allem, was die männliche Autonomievorstellung und das daran geknüpfte Machtversprechen ankratzt, in einen politischen Diskurs überführt.“ (Brunner 2019: S. 29)

Die kapitalistische Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen ist, befördert somit die Zunahme reaktionärer Diskurse und sexistischer Gewalt.

Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem kleinbürgerliche und Mittelschichten die eigentlichen massenhaften Träger:innen des reaktionären Antigenderismus sind. Selbst der viel zu gering entfaltete Klassenkampf bildet in der Arbeiter:innenklasse einen Rahmen kollektiver Erfahrung und der, wenn auch reformistisch und bürokratisch begrenzten, Weitergabe historischer Erfahrung. Die kleinbürgerlichen Schichten haben diese kollektive Erfahrung nicht. Im Gegenteil. Als Eigentümer:innen an Produktionsmitteln, als Ausbeuter:innen von Arbeitskräften hängen sie selbst am Privateigentum – auch wenn sie mehr und mehr in der Konkurrenz unter die Räder zu kommen drohen.

Die Zunahme reaktionärer Einstellungen stellt keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen den vorherrschenden Sexismus und seine tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen. Darüber hinaus bildet die Steigerung des Bewusstseins und der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse auch die Voraussetzung dafür, Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten eine alternative Perspektive zur reaktionären populistischen Regression zu bieten.

Wir können das toxische Ideologieamalgam aus Rassismus, Antisemitismus und Sexismus der Rechten nur bekämpfen, wenn wir zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, auf denen diese Ideologien beruhen. Der Kampf gegen Frauen- und Queerfeindlichkeit muss daher als integraler Bestandteil des Kampfes gegen die kapitalistische Klassenherrschaft begriffen und entsprechend geführt werden.

„Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen.“ (https://arbeiterinnenmacht.de/2020/07/28/die-unterdrueckung-von-transpersonen/)

Es geht bei dem Kampf gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit also nicht nur um individuelle „Awareness“ und den kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Rollenerwartungen, sondern wesentlich um die Errichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich jede:r Einzelne unabhängig von seinem/ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht in der Solidarität aller frei entfalten kann.

Literatur

Brunner, Markus (2019): Enthemmte Männer. Psychoanalytisch-sozialpsychologische Überlegungen zur Freudschen Massenpsychologie und zum Antifeminismus in der «Neuen» Rechten. Online: https://www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.60.2/1178 (21.08.2023)

Pohl, Rolf: Männer – das benachteiligte Geschlecht? Weiblichkeitsabwehr und Antifeminismus im Diskurs über die Krise der Männlichkeit (Vorabdruck aus: Bereswill, Mechthild und Neuber, Anke (Hg.) (2010): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert. Reihe: Forum Frauen- und Geschlechterforschung. Westfälisches Dampfboot. Münster). Online: http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2010/06/pohl-krise-der-mannlichkeit-vorabdruck-2010.pdf

Wuest, Joanna (2023): Gezielte Grausamkeit. Das Kapital und die trans*feindliche Agenda. Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gezielte-grausamkeit/




Familienrecht: Umkämpfte Schmalspurreformen

Jürgen Roth, Neue Internationale 271, Februar 2023

Schon im Koalitionspapier wurden umfassende Reformen auf dem Gebiet der Frauen-, Familien- und Queerpolitik angekündigt. Der Abschnitt des Koalitionsvertrags ist auch der mit den vergleichsweise progressivsten Absichten der Ampel. Umgesetzt wurde allerdings bisher nur die Streichung des Werbeverbotes für Abtreibungen (§ 129a) im Juni 2022.

Nun steht eine weitere Gesetzesänderung ins Haus. Beim Sorgerecht soll nach einer Trennung generell das paritätische Wechselmodell (auch Doppelresidenzmodell genannt) zum Zuge kommen. Das soll bedeuten, dass die Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringen. Das heißt auch: Künftig sollen Väter mit gleichem Wohnsitz das Sorgerecht ohne Einwilligung der Mutter erhalten können.

Das hört sich gut und gerecht an, ist es aber nicht. Denn das Modell abstrahiert in vielen Punkten von der Realität.

Sorge- und Erwerbsarbeit

So kann dieses dazu führen, dass Väter Rechte erhalten, ohne eine partnerschaftliche Arbeitsteilung gelebt zu haben. 90 % aller Kinder haben schon heute geteiltes Sorgerecht. Doch bei deren Betreuung klafft eine Lücke von 50 % zwischen Vätern und Müttern. Die feministischen Sozialwissenschaftlerinnen Alicia Schlender und Lisa Yashodara Haller erklären das so: „Väter beteiligen sich also weniger an der Sorgearbeit, weil es für sie gesellschaftlich schwieriger ist, Erwerbsarbeit zugunsten der Sorgearbeit zurückzuweisen.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 15.11.2022, S. 3) So weit richtig.

Dass der Zwang zur Lohnarbeit die proletarischen Männer davon abhält, sich genügend um ihre Kinder zu kümmern, ist unstrittig. Doch wirkt der nicht auch für Frauen dieser Klasse, insbesondere nach Scheidung oder Trennung?

Historisch-materialistisch betrachtet liegt die Ursache für den Care Gap im Gender Pay Gap, der selbst wiederum Resultat einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist. Doch statt diese Problematik direkt angehen, begnügen sich Haller und Schlender mit der Forderung nach staatlichen Ausgleichsleistungen.

So befürworten sie steuerliche Anreize, um weniger arbeiten zu müssen, und eine Erhöhung der verpflichtenden Elternzeit für Väter. Ihnen ist bewusst, dass die bisherige Regelung, je mehr ich verdiene, desto mehr Elterngeld bekomme ich, zu Ungerechtigkeiten führt und schlagen die Summe beider Gehälter als dessen Berechnungsgrundlage vor. Analog zum Mutterschutz soll ein Erwerbsverbot für Väter im unmittelbaren Anschluss an die Geburt gelten über die optionalen 2 Wochen hinaus, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) anstrebt. Ferner soll das Ehegattensplitting abgeschafft werden und halbe Vollzeiterwerbstätigkeit pro Elternteil bei vollem Lohnausgleich gelten. Wer das bezahlen soll, erwähnen sie nicht.

Koalitionsmodell

Das im Koalitionsvertrag bevorzugte Modell sieht diese Abfederungen im Interesse der Frauen erst gar nicht vor. Nachdem die Kinder abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnen würden, würde für viele Mütter damit der Barunterhalt wegfallen. Dieses Wechselmodell können sich allenfalls, wie Schlender und Haller anmerken, „ökonomisch stabile Familien“ leisten. Woher soll schließlich das Geld für 2 Wohnungen plus doppelte Kinderzimmer nebst Ausstattung kommen?

Schon jetzt erhält mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden – weit überwiegend Mütter – keinen oder nur unvollständigen Unterhalt vom anderen Elternteil. Zwar springt die Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts ein, wo die Mutter aber unabhängig vom Einkommen des Vaters nur den Mindestsatz erhält, von dem auch noch das Kindergeld abgezogen wird.

Doch alle strittigen Fragen rund um Kindesunterhalt bilden kein Thema für die regierende Koalition. Diese beschränkt sich ausschließlich auf eine Kindergrundsicherung. In Zeiten der Aufhübschung von Hartz IV zum Bürgergeld ist Armutskosmetik eben chic.

Kindeswohl und väterliche Gewalt

Doch das Wechselmodell sieht nicht nur von der sozialen Frage und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ab. Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen bleibt unterbelichtet und wird tendenziell ignoriert, wie der Artikel „Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell“ zeigt.

So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Familie und Partner:innenschaft sind dabei die wichtigsten Tatorte. Allein für 2021 weist die Statistik des BKA 143.604 Fälle häuslicher Gewalt auf. Die Täter sind zu 80 % Männer. Und selbst das BKA fügt hinzu, dass die Dunkelziffer weit höher liegt.

Doch vor Gerichten und bei Behörden spielt häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. So verweist die Studie „Familienrecht in Deutschland“ des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer vom April 2022 darauf, dass bei Priorisierung des Wechselmodells  selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert werde. Ähnliches Verhalten wird auch von Jugendämtern berichtet.

Diese Entscheidungen gehen auch mit der biologistischen Vorstellung einher, dass Kinder vor allem „beide Elternteile“ bräuchten, egal was sie zum Kindeswohl (und dem des anderen Elternteils) beigetragen haben. Der reaktionären Argumentationslinie zufolge würden auch Frauen, die gewalttätigen Männern im Interesse der Kinder das Sorgerecht streitig machen, die Kinder vom anderen Elternteil „entfremden“ – und so deren „natürliche“ Entwicklung beeinträchtigen.

Dafür macht sich seit Jahren auch die reaktionäre „Männerbewegung“ stark, deren Argumente u. a. auch die FDP in der Koalition aufgreift. Von der Gesetzesvorlage der Ampel ist daher auch in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.

Elternschaft, Kapitalismus und Feminismus

Uns geht es hier keineswegs darum, den Wunsch nach Kindern, nach Elternschaft (und damit auch nach Sorgerechten für Väter) als solchen abzutun. Wir stimmen Schlender und Haller in folgender Aussage unbedingt zu: „Es geht nicht länger um eine Abgrenzung von Elternschaft, sondern darum, die Zustände zu kritisieren, unter denen Elternschaft zur Zumutung wird.“

Das Problem mit den Reformvorhaben der Regierungskoalition besteht nicht nur darin, dass sie diese Zustände nicht kritisiert, sondern selbst an deren Reproduktion mitwirkt. Reaktionäre Geschlechterrollen und Familienbilder werden nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern als natürliche Zustände betrachtet, die es allenfalls etwas zu dehnen gelte. Und selbst soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen oder zur Unterstützung ärmerer Schichten der Arbeiter:innenklasse bleiben außen vor.

Zu Recht kritisieren die beiden Feministinnen daher: „Gleichberechtigung ist im Kapitalismus nicht zu haben. Sorgearbeit ist ein zentrales Element menschlicher Existenz, aus dem auch Freiheit entsteht.“ Und sie folgern dann:

„Wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen, dann sollten wir Mutterschaft verallgemeinern und nicht abschaffen … Vaterschaft ist historisch allein patriarchale Herrschaft … Aus dieser philosophischen Perspektive braucht Vaterschaft heutzutage kein Mensch, aber Mutterschaft für alle ist ein hohes Gut.“

In dieser Gesellschaft aber gerade nicht, sondern oft ebenso eine Strafe wie Kindheit und Jugend! Haller und Schlender ist ihr subjektiv antikapitalistischer Wunsch zugutezuhalten. Mit der Verteidigung der Mutterschaft als „hohem Gut“ führen sie freilich ungewollt jene Naturalisierung wieder ein, die sie mit der Kritik an der Rolle von Vaterschaft angreifen.

Aufhebung der Geschlechterrollen

Beziehen wir uns unter den Begriffen Vater- und Mutterschaft allein auf das biologisch Notwendige für die Fortpflanzung, so sind sie schlecht abzuschaffen, wenn sich die Menschheit weiter reproduzieren soll.

Betrachten wir freilich die Geschlechterrollen Vater- und Mutterschaft, so sind sie nur idealisierte Vorstellungen einer angeblich natürlichen Ordnung der Geschlechter. Als Sozialist:innen wollen wir die geschlechtliche Arbeitsteilung bis auf das biologisch Unumgängliche (Gebären, Stillen, Zeugen) aufheben. Solange die Sorgearbeit mit Mutterschaft identifiziert wird, werden vom Patriarchat übernommene und überkommene soziale Geschlechterstereotype gerade nicht unterminiert, geschweige aufgehoben, sondern eher fortgeschrieben.

Darüber hinaus fassen die beiden Feministinnen die Klassenfrage ungenügend. Druckmittel und Steuerungsmechanismen versagen beim Kindesunterhalt selbst bei Trennungen von vielen Paaren, die mehr als den Durchschnitt verdienen. Schon gar kritisch wird es erst, wenn getrennte Paare wieder eine neue Familie gründen wollen. Arbeiter:innen können sich den Luxus des Wechselmodells erst recht nicht leisten. Wie für teure Schäden muss eine Art Solidarversicherung her, aber eine staatliche, keine private des Finanzmarkts.

Darum treten Kommunist:innen energisch für Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors ein, nicht nur für die Verwandlung der Hausarbeit in eine öffentliche Industrie, sondern auch der sonstigen Carearbeit in eine gesellschaftliche Dienstleistung mit Rechten und Pflichten für alle. Das bedeutet anzufangen, mit allen Hindernissen bei der Adoption von Kindern und sonstigen Menschen aufzuräumen, mit staatlichem Kindesunterhalt als neuem Sozialversicherungszweig, bezahlt aus progressiven Beiträgen bzw. Steuern von allen und mit Sozialversicherungspflicht (natürlich auch Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung) für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenorganisationen. Mit solchen Forderungen würde der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft geebnet, in der menschliche Nähe, gegenseitige Verantwortung und Zuneigung nicht allein das Werk von Blutsverwandten ausmachen.




Sexarbeit und Prostitution im Kapitalismus

Leonie Schmidt, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Aktuell ist es wieder eine heiße Debatte in linken und auch explizit in marxistischen Kreisen: Sollte man als Linke/r, insbesondere als KommunistIn, für ein Verbot von Prostitution kämpfen? Schnell wird mit Vorwürfen des Liberalfeminismus oder der SexarbeiterInnenfeindlichkeit argumentiert. Aber wie sieht eine marxistische Betrachtung der Thematik aus?

In diesem Artikel werden Wörter in der folgenden Bedeutung verwendet: 1. Sexarbeit: Damit sind alle konsensuellen sexuellen Dienstleistungen gemeint. Das bedeutet natürlich zum einen Sex, aber auch bspw. Erstellung von pornographischen Inhalten oder Cam- und Chat-Tätigkeiten; 2. Prostitution: Hierbei handelt es sich um den konsensuellen Kauf von Sex; und 3. Zwangsprostitution: Es geht dabei um den zwanghaften Verkauf von Sex, der in den meisten Fällen nicht konsensuell ist, also eine Vergewaltigung darstellt. Diese Definitionen zeichnen natürlich nur einen groben Unterschied und es ist nicht in jedem Fall einfach, eine klare Trennung zu ziehen.

Situation in Deutschland

Fakt ist, es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Personen, insbesondere Frauen, sich in Deutschland prostituieren und Sexarbeit ausüben und wie viele es davon nicht freiwillig machen. Es gibt zwar Studien, in welchen aufgeführt wird, dass 90 % oder mehr der Prostituierten in Deutschland aussteigen wollen und ihre Arbeit nicht als freiwillig ansehen. Jedoch wurden diese vornehmlich bei Frauen unternommen, welche bereits in Aussteigerprogrammen standen.

Die Zahlen sind jedoch definitiv schwer zu erfassen, da es auch in Deutschland genügend Frauen in der illegalen Zwangsprostitution gibt. Außerdem ist es laut Prostituiertenschutzgesetz für SexarbeiterInnen nötig, sich beim Amt zu melden. Jedoch dürfte klar sein, dass die Dunkelziffer aufgrund von Zwangsprostitution enorm ist. Ende 2019 waren 40.400 Personen gemeldet. Manche Schätzungen gehen von 400.000 SexarbeiterInnen inkl. Zwangsprostituierten in Deutschland aus.

Viele der Letzteren kommen aus Osteuropa  in der Hoffnung, der Armut zu entfliehen und in Deutschland ein besseres Leben zu führen. Oftmals sind sie direkt oder indirekt von Menschenhandel betroffen und können sich nur sehr schwer dagegen wehren aufgrund von Armut, keiner anderen Möglichkeit, an Geld zu kommen, sprachlicher Barrieren, oder weil ihnen von den Zuhältern und Menschenhändlern die Pässe abgenommen werden. Zusätzlich sind sie auch noch von Rassismus betroffen und aufgrund der Illegalität ihres Aufenthaltes von Abschiebungen und staatlicher Verfolgung bedroht.

Auch gibt es viele Armutsprostituierte, welche keine andere Möglichkeit in diesem System sehen zu überleben. Diese sind meistens auch obdachlos und drogenabhängig. Allerdings gibt es auch Prostituierte und SexarbeiterInnen, welche ihren Job gerne und freiwillig ausüben. Das soll aber keineswegs verschleiern, dass diese Tätigkeit mit enorm viel Gewalt bis hin zu sklavenartigen Verhältnissen und Unterdrückung verbunden ist und viele Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen auslöst, allerdings nicht immer und bei jeder Person.

Rechtliche Lage

Die rechtliche Lage in Deutschland erlaubt Prostitution grundsätzlich. Allerdings müssen sich die Prostituierten, wie bereits oben erwähnt, beim Amt melden. Diese Regelung gilt seit 2017 und wurde von Betroffenen bereits damals kritisiert, da es sich um ein Zwangsouting für ein zentrales Register handelt, was insbesondere bei einem weiterhin stigmatisierten Beruf wie Prostitution problematisch ist. Außerdem war es ein erklärtes Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes, Frauen vor Zwangsprostitution zu schützen. Doch bleibt es eine utopische Annahme, dass sich Menschenhändler und Zuhälter von so einem Gesetz etwas vorschreiben lassen, da sie es bereits gewohnt sind, die Frauen zu bedrohen und einzuschüchtern und Letztere somit gar nicht ohne Druck bspw. Anzeige erstatten könnten. Des Weiteren müssen sich insbesondere Prostituierte aus Osteuropa Sorgen machen, dass sie nach einem Verfahren abgeschoben werden könnten. Strukturelle Unterdrückung kann eben nicht einfach durch Gesetz abgeschafft werden.

Sexarbeit ist Arbeit – oder?

Ist sie Lohnarbeit oder eine andere Form der Ausbeutung? Das hängt natürlich vom Arbeitsverhältnis ab. Die meisten Personen in der Prostitution arbeiten für einen Zuhälter. Hier können wir grundsätzlich ökonomisch von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen, jedoch in der Regel nicht von freier Lohnarbeit, weil sie oft genug auch mit einem direkten, persönlichen Zwangs- und Gewaltverhältnis verbunden ist. Der Zuhälter eignet sich allerdings einen Teil des Erlöses für die Dienstleistung der Prostituierten an, die der Kunde zahlt. Es findet eine Form der Ausbeutung statt.

Das Verhältnis, das der Lohnarbeit am nächsten kommt, ist, wenn die Prostituierte z. B. für ein Bordell arbeitet. Selbst wenn sie dort formal als Selbstständige registriert sein mag, so lässt sich dies mit der Scheinselbstständigkeit eigentlicher LohnarbeiterInnen in anderen Berufen vergleichen.

Die EigentümerInnen des Bordells kassieren praktisch einen Mehrwert aus der Beschäftigung der Prostituierten und deren sexuellen Dienstleistungen. Sie besitzen außerdem die Produktionsmittel, bspw. das Bordell als Ort der Tätigkeit, und auch das nötige Zubehör wie bspw. Kondome oder Gleitgel. Natürlich darf bei dieser Betrachtung nicht vernachlässigt werden, warum die meisten Prostituierten überhaupt beginnen, in diesem Gewerbe tätig zu werden: Es ist oftmals ökonomischer Zwang. Dieser herrscht natürlich auch bei anderen Arbeitsverhältnissen, allerdings nicht in solch einer Form in Kombination mit psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt.

Allerdings ist die Aussage, SexarbeiterInnen, insbesondere Prostituierte, würden ihren Körper verkaufen, falsch, denn er wird nicht zur Ware selbst und existiert hinterher immer noch. Richtig ist hingegen, dass es sich um eine Dienstleistung handelt und der Körper für eine bestimmte Zeit als Arbeitsmittel fungiert (als Mittel zur Befriedigung eines bestimmten sexuellen Bedürfnisses). Oftmals ist ein Argument dafür, dass der Körper doch verkauft werden würde, dass er für eine bestimmte Zeit für jegliche sexuelle Befriedigung gemietet wird. Jedoch trifft das nicht für alle Fälle und unvermeidlich zu. Es gibt Tarife für bestimmte Tätigkeiten oder Zeiten und auch Grenzen für das, was angeboten wird. Nicht zu bestreiten ist, dass es jedoch Freier gibt, die diese übertreten.

Es gibt aber auch SexarbeiterInnen, die quasi selbstständig sind. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch ökonomischen Zwängen oder anderen Unterdrückungsformen unterworfen sind. Einerseits gibt es die Prostituierten, welche direkt auf der Straße ohne Bordell und Zuhälter arbeiten. Oft sind gerade diese besonders gefährdet durch sexualisierte Gewalt, da sie ohne Schutz sind (wenngleich die Zuhälterei oftmals auch keinen sonderlich großen bietet und ihrerseits ein Gewaltverhältnis darstellt) und oftmals auch völlig unterbezahlt werden.

Andere selbstständige SexarbeiterInnen sind teilweise in der Lage, sich ihre KundInnen auszusuchen oder produzieren von Zuhause aus pornografische Inhalte. Diese kann man durchaus eher zum KleinbürgerInnentum zählen, denn sie arbeiten nicht für andere. Sie verkaufen nicht ihre Arbeitskraft, sondern ein Produkt. Allerdings ist zu beachten, wie das Material vertrieben wird, denn wenn es Websites wie OnlyFans (OF) hochladen, welche daraus Profit schlagen und einen Teil der Zahlungen einbehalten (bei OF sind es 20 %), so ist doch wieder ein Ausbeutungsverhältnis vorhanden, wobei auch hier die Frage bestehen bleibt, ob es sich um eine Haupttätigkeit handelt oder ob es weiteren Besitz an Produktionsmitteln etc. gibt.

Gerade bei OF sind nämlich auch viele Prominente tätig, die nicht auf die Zahlungen angewiesen sind. Grundsätzlich ist aber OF eine Plattform, wo untersucht werden muss, wie viel ökonomischer Zwang hinter Sexarbeit stecken kann. Da sie leicht zugänglich ist und es offizielle Statistiken gibt, kann erkannt werden, wie groß der Zuwachs an KreatorInnen und NutzerInnen während der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Krise (inkl. Jobverlusten und Arbeitslosigkeit) ausfiel: Alleine im März 2020 stiegen die Nutzerzahlen um 75 % an.

Historische Betrachtung

Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung der Frauenunterdrückung mit ein. Hier wird klar, dass diese, genau wie die bürgerliche Familie, untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels sind die bürgerliche Familie und die Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw.  Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht.

Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Gebären  und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht.

Natürlich ist es für MarxistInnen notwendig, gesellschaftliche Zusammenhänge zu kritisieren. Das sollte allerdings niemals auf Basis der Moral offiziöser, aber heuchlerischer bürgerlicher Prüderie geschehen, sondern vielmehr auf der einer dialektisch-materialistischen Kritik. Hier wäre anzumerken, dass es natürlich schon fatal ist, dass Sexualität zu einer Ware verkommt, nicht nur in Form von Sexarbeit, sondern auch Schönheitsindustrie und den damit verbundenen Instrumenten, Werbung sowie Dating Apps etc.

Dementsprechend können wir auf die Frage, ob es im Sozialismus Sexarbeit geben wird, antworten: Nicht so, wie sie heutzutage funktioniert. Genauso, wie es auch keine Lohnarbeit und kein Geld in dieser Form mehr geben wird. Allerdings kann es durchaus vorkommen, dass sexuelle Dienstleistungen, natürlich frei von ökonomischen und sonstigen Zwängen, angeboten werden könnten, je nachdem, ob sich dafür Menschen finden, die dies tun wollen. Die Frage der Notwendigkeit kann aus heutiger Sicht natürlich nicht komplett beantwortet werden. Fakt ist aber, dass diese durchaus mit dem endgültigen Absterben der bürgerlichen Familie und der Monogamie verschwinden könnte.

Feministisches „Empowerment“?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich  „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden ist. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden, denn natürlich ist Sexarbeit nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich ist im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und keine Form der Ausbeutung selbstermächtigend.

Allerdings können insbesondere eine Verbesserung des Arbeitsumfeldes und ein offener Umgang mit der Tätigkeit und der Kampf für die eigenen (Arbeits-)Rechte durchaus eine positive und fortschrittliche Wirkung zeitigen sowie grundsätzlich auch eine Möglichkeit bieten, offen mit seiner Sexualität und seinem Körper umzugehen (allerdings besteht diese Möglichkeit nur außerhalb von Armutsprostitution und ist eher selten anzutreffen). Insbesondere zu beachten ist hier auch, dass es viele Sexarbeitende gibt, die sich in keine Opferrolle drängen lassen, sondern selbstbestimmt für ihre Rechte, gegen Gewalt und gegen Stigmatisierung eintreten möchten.

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch eine falsche These zu behaupten, alle, die sich bewusst für Sexarbeit entschieden, wären ganz einfach privilegiert und Sklavinnen des Patriarchats. Man kann sich natürlich auch bewusst für diese Form der Lohnarbeit entscheiden und trotzdem einen ökonomischen Zwang verspüren. Dem Kampf gegen das Patriarchat wäre auch nicht geholfen, wenn diese Einzelpersonen sich für einen anderen Job im Niedriglohnsektor entscheiden würden. Allerdings darf Sexarbeit natürlich auch nicht romantisiert und als der „Girlboss-Move“ schlechthin dargestellt werden, denn leider denken viele, insbesondere junge Frauen mit der ansteigenden Popularität von OF, dass dies schnelles und leicht verdientes Geld wäre. Diese Einstellung wird allerdings besonders durch RadikalfeministInnen den offen auftretenden SexarbeiterInnen in die Schuhe geschoben, was keineswegs auf alle zutrifft und nur einen sehr marginalen und vermutlich besser gestellten Teil der SexarbeiterInnengemeinde betrifft.

Verbot von Sexarbeit – die Lösung?

Viele Linke schlagen als Lösung ein Verbot vor, indem Zuhälterei und Freierschaft bestraft werden und nicht die Sexarbeitenden selber. Das mag auf den ersten Blick sinnvoll klingen, allerdings hat das sogenannte „Nordische Modell“ viele Tücken, über die auch SexarbeiterInnen aufklären. Aktuell wird dieses Modell auch schon u. a. in Schweden praktiziert. Daher ist es möglich, die Folgen zu analysieren. Dadurch, dass nicht das Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, welches Sexarbeit notwendig macht, abgeschafft werden soll, besteht die Nachfrage der Kundschaft natürlich weiterhin. Durch dieses Verbot wird die Sexarbeit aber in die Illegalität gedrängt, wodurch es vermehrt zu Übergriffen und schlechten Arbeitsbedingungen kommt, und die Möglichkeit, bspw. eine Anzeige aufgrund sexualisierter Gewalt zu erstatten, wird ebenfalls stark eingeschränkt.

Gleichzeitig wird mit einer Illegalisierung auch die Stigmatisierung der Sexarbeitenden befestigt und sie werden ihrer aktuellen ökonomischen Grundlage beraubt, ohne aktive Unterstützung und Berufsalternativen. Des Weiteren fördert es auch Sextourismus. Wenn es nicht möglich ist, in der Heimat an diese Dienstleistungen zu kommen, fliegt man eben für wenig Geld in den Urlaub und lässt sich da bedienen, wo die meisten Personen wirklich Zwangsprostituierte und die Arbeitsbedingungen viel schlimmer sind. Das Nordische Modell ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als MarxistInnen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit SexarbeiterInnen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung  (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die SexarbeiterInnen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für ArbeiterInnenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Person sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von MarxistInnen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher SexarbeiterInnen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Mord an Sarah Everard: Not one more!

Linda Loony, Neue Internationale 254, April 2021

An einem Mittwochabend, dem 3. März 2021, verließ die 33-jährige Sarah Everard das Haus eines Freundes im Londoner Stadtteil Clapham, um sich zu Fuß auf den 2,5 km langen Heimweg nach Brixton zu machen. Sie kam nicht mehr nach Hause. Ihre Leiche wurde eine Woche später in einem Wald in Kent gefunden.

Die Ermittlungen gegen Sarahs Mörder führten zu einem 48-jährigen Polizeibeamten der London Metropolitan Police, Wayne Couzens. Ihm wird vorgeworfen, Sarah gekidnappt und getötet zu haben. Dieser Mann hatte vor dem Mord bereits mehrfach Frauen sexuell belästigt und sich z. B. in der Öffentlichkeit vor ihnen entblößt. Anzeigen, die von den Frauen gegen ihn erstattet wurden, liefen ins Leere. Couzens blieb unbestraft und arbeitete weiter im polizeilichen Dienst. Mittlerweile befindet sich der Mann in Untersuchungshaft und ein Gerichtsverfahren gegen ihn wird vorbereitet.

Protest und Repression

Kurz nach dem Fund von Sarahs Leiche und der Ermittlung des Tatverdächtigen versammelten sich über Tausend Menschen in Clapham zu einer friedlichen Mahnwache auf einer der Kreuzungen, die Sarah in der Nacht ihres Todes überquert hatte. Die örtliche Polizei griff ein, um die Versammlung aufzulösen, da diese wegen der aktuellen Corona-Lage eine zu große Infektionsgefahr darstelle – und das, obwohl die Anwesenden Masken trugen und auf Abstände achteten. Die BeamtInnen gingen dabei mit voller Härte vor. TeilnehmerInnen der Mahnwache wurden zu Boden gedrückt, geschlagen und abgeführt. Viele Videos und Bilder kursierten danach im Internet und bezeugten die Gewalt, die die Polizei gegen die mehrheitlich weiblichen TeilnehmerInnen ausübte.

Die Nachricht von Sarahs Ermordung führte zu einer neuen #MeToo-ähnlichen Bewegung auf der ganzen Welt, mit Hunderttausenden von Frauen, die sich in den sozialen Medien über ihre eigenen Erfahrungen äußerten, sich unsicher zu fühlen, wenn sie nachts nach Hause gehen, zusammen mit Männern, die fragten, was sie tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen. Viele solidarisierten sich auch mit den Protestierenden an der Mahnwache in Clapham.

In den folgenden Tagen und Wochen fanden mehrere Großdemonstrationen im Gedenken an Sarah Everard und gegen sexualisierte Gewalt trotz Verboten statt. Die Aktionen wurden dabei thematisch mit dem Widerstand gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts verbunden, die das britische Parlament zur Zeit durchzupeitschen versucht.

Diese Geschehnisse lenken das Augenmerk auf zwei zentrale Aspekte: Zum einen zeigt der Fall Sarah Everard wie viele andere und wie das riesige Social-Media-Echo, welcher Gefahr Frauen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. Zum anderen zeigt er, dass die Polizei als Exekutivorgan eines Staates, in dem Frauen immer noch systematisch unterdrückt werden, uns nicht schützen wird.

Wie die meisten anderen Frauen fühle ich mich auf dem nächtlichen Nachhauseweg allein nicht sicher. Wir vermeiden solche Wege, wir haben ein Pfefferspray dabei, wir hören keine Musik aus Angst, herannahende Gefahr nicht zu registrieren. Wir halten unseren Haustürschlüssel in der Faust umklammert, bereit, damit um uns zu schlagen, wenn wir angegriffen werden. Wir wechseln die Straßenseite, wir gehen im Dunkeln nicht einfach spazieren oder joggen. Wir gehen nicht alleine auf eine Party zum Tanzen, wir rufen FreundInnen auf dem Heimweg an, um uns zu beruhigen. Potenzielle Gewalt gegen uns, ist eine reale Gefahr, sexuelle Belästigung, dass Männer uns anquatschen, zuzwinkern, Küsse zuwerfen, uns hinterherpfeifen. Aber wieso ist das unsere Realität?

Reaktionen

Die Polizei hatte nach Sarahs Verschwinden Frauen geraten, nachts nicht rauszugehen. Dieser Vorschlag zeigt, wie die Situation in unserer Gesellschaft betrachtet wird. Frauen sollen sich anpassen, das Haus lieber nicht verlassen, lieber keine knappe Kleidung tragen, dann passiert ihnen nichts. Dies verdeutlicht die vorherrschende Kultur, die Opfer zu  Schuldigen zu machen. Statt Frauen zu sagen, dass sie ihr Verhalten ändern sollen, muss der Fokus darauf liegen, männliche Gewalt gegen Frauen zu beenden.

Dabei kann die Lösung nicht nur in der Aufklärung oder Bewusstseinsbildung liegen, erst recht nicht darin, dass das Problem nur als eines zwischen Individuen erscheint. Individuelle Gewalttaten oder Diskriminierung müssen entschieden bekämpft werden. Aber diese Arbeit bleibt letztlich nur eine Symptombekämpfung, wenn wir nicht auch und vor allem die Ursachen für Gewalt gegen Frauen – die systemische gesellschaftliche Unterdrückung – angehen.

Die Schuldigen sind nicht nur die einzelnen Männer, die Frauen so etwas antun, sondern der Staat, die Medienkultur, die ihnen ein hohes Maß an Straffreiheit gewährt. Deren Grundlage bildet eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen im Arbeitsleben benachteiligt und sie zur Verrichtung des größten Teils der privaten Hausarbeit zwingt. Diese gesellschaftliche System bringt ein reaktionäres Rollenbild der Frauen hervor, das sie als unterlegene, sexuelle Objekte darstellt, die dem Mann verfügbar sein sollen. Diese Rolle, diese Degradierung zum Objekt macht uns minderwertig, benutzbar, verfügbar und damit setzt sie uns unangenehmen Belästigungen über körperliche Übergriffe bis hin zu Mord aus. Diese Rolle verfestigt selbst noch einmal die gesellschaftlichen Strukturen, die sie hervorbringen.

Der Mord an Sarah Everard ist ein Weckruf, eine Erinnerung daran, dass selbst in den „fortschrittlichsten“ Ländern Gewalt gegen Frauen systemisch ist, dass sie zu unserem Alltag gehört, selbst wenn wir „all die richtigen Dinge“ tun, um uns zu schützen.

Kein Vertrauen

Im Kampf für Gleichberechtigung, Schutz und Sicherheit können wir uns nicht auf die Polizei oder staatliche Institutionen verlassen, wie der Fall von Sarah Everard zeigt. Viele Frauen erleben, dass ihnen von Beamten nicht geglaubt wird, wenn sie sexuelle Übergriffe melden. Beamte, die selbst übergriffig werden, erfahren viel seltener eine Bestrafung, weil sich die Polizei in Ermittlungen gegen sich selbst natürlich zurückhält. Wenn Frauen protestieren wollen, wie letzte Woche in Clapham, werden sie niedergeschlagen, von eben dieser Polizei.

Aber das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Mahnwache in Clapham ist nur die jüngste Erinnerung daran, dass die Polizei, das Gesetz und der Staat wiederholt versagt haben, Frauen und andere unterdrückte Minderheiten zu schützen.

Beispielsweise ist die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung auf einem historischen Tiefstand in England. Nur 1,4 % der Fälle, die der Polizei gemeldet werden, führen zu einer Anklage. Die Beweislast liegt bei den Frauen, um ZeugInnen zu finden, und zu oft ist der Ermittlungsprozess selbst aufdringlich und traumatisierend.

Während Morde an Frauen, die von Fremden begangen werden, vergleichsweise selten sind und häufiger von Bekannten der Frauen ausgehen, bedeutet der institutionelle Sexismus der Polizei, dass es vielen Männern freisteht, mehrere Sexualdelikte zu begehen, die in ihrer Schwere eskalieren und manchmal in Mord enden.

Die Polizei hat wiederholt ihre Verachtung für Frauen gezeigt, die Opfer tödlicher Gewalt wurden, wie z. B. als zwei englische Polizeibeamte letztes Jahr Selfies mit den Leichen von zwei schwarzen Frauen machten, die ermordet in einem Park gefunden wurden.

Was brauchen wir?

Wenn der Staat Repression ausübt und seinen wahren frauenfeindlichen Charakter zeigt, müssen wir uns selbst verteidigen, uns organisieren und eine kämpfende Bewegung von Frauen aufbauen. Die Geschehnisse hätten ebenso gut in Deutschland stattfinden können. Das System ist dasselbe, die Unterdrückung ist dieselbe, der Kampf ist ein gemeinsamer, internationaler.

Wir müssen das Recht der Polizei ablehnen, ausschließlich gegen sich selbst zu ermitteln. Stattdessen fordern wir unabhängige Kommissionen aus VertreterInnen der Bevölkerung, der ArbeiterInnen- und Frauenorganisationen, um unterdrückerisches Verhalten und Gewalt durch die Polizei zu untersuchen.

Wir lehnen die Verschärfung von polizeilichen Befugnissen und die Erhöhung der Polizeipräsenz als Lösungen ab. Die Exekutive eines Systems in dem Frauen unterdrückt werden, wird uns nicht schützen, sondern dieses System verteidigen. Sie werden unsere Bewegung zerschlagen wollen, erst recht, wenn wir mehr tun wollen, als auf Zugeständnisse zu hoffen. Während wir natürlich weiterhin für unmittelbare Forderungen kämpfen, sollte eine neue Frauenbewegung ihre Ziele höher stecken – hin zur Überwindung des Systems, des Kapitalismus, der im Namen des Profits Frauen an unbezahlte Hausarbeit in der Familie fesselt und die sexistischen Institutionen hervorbringt, die es erlauben, dass sich Sexismus und Frauenfeindlichkeit auf jeder Ebene der Gesellschaft und in jedem Teil der Welt ausbreiten.

Darum lautet unser Slogan: Frauen die kämpfen, sind Frauen, die leben. Lasst uns das System aus den Angeln heben!

Anhang: Häusliche Gewalt

So schockierend die Details von Sarahs Fall auch sind, so ist sie kein Einzelfall. Durchschnittlich werden täglich 137 Frauen getötet, weil sie Frauen sind. So die Erhebungen der UN, die zu dem Schluss kommen, dass häusliche Gewalt die häufigste Ursache für Mord von Frauen auf der Welt ist.

Ohne den Horror von Sarahs Ermordung zu schmälern, sollten wir uns daran erinnern, dass Frauen viel eher von einem Partner oder Ex-Partner getötet werden als von einem Fremden.

Die Krise der häuslichen Gewalt hat sich während der Lockdowns extrem verschlimmert, die Frauen in ihren Häusern mit ihren Missbrauchstätern gefangen halten und Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit anheizen, was es für Frauen schwieriger macht, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen. Während des ersten Lockdowns stieg in Britannien die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt um 7 % gegenüber dem Vorjahr, und die britische  National Domestic Abuse Helpline verzeichnete einen Anstieg der Anrufe um 80 %. Gleichzeitig sank die Zahl der Strafverfolgungen und Verurteilungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als die Hälfte.

Die überwältigende Mehrheit dieser Frauen wird vor den Gerichten keine Gerechtigkeit erfahren. Frauenhäuser und spezialisierte Dienste in der Gemeinde sind lebenswichtig, doch die Mittel für sie wurden in den letzten zehn Jahren drastisch gekürzt. Trotz der Versprechen der Tory-Regierung, nach der Pandemie „wieder besser aufzubauen“, erleben die lokalen Behörden, die diese Dienste finanzieren, einige der schlimmsten Haushaltskürzungen aller Zeiten. Schätzungsweise 50 % der Frauenhäuser und Dienste mussten in den letzten zehn Jahren schließen oder wurden privatisiert.

Die konservative Regierung ist direkt verantwortlich für die systematische Zerstörung des Sicherheitsnetzes, das Frauen die Möglichkeit gibt, Gewalt und Missbrauch zu entkommen.




Queer-Unterdrückung in Pakistan

Huma Khan & Falak Ali, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als SozialistInnen stolz auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische FührerInnen anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere AktivistInnen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und ArbeiterInnenklasse-Politik werden können.

Queer-AktivistInnen sehen seit langem, wie sich das Schweigen, das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der Zwischenzeit sind viele der OrganisatorInnen des Aurat-Marsches, so werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von radikalen FeministInnen und SozialistInnen wie wir will, dass alle queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen innerhalb der Bewegung haben einige FührerInnen für eine „klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“ repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien (reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt, sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin, dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin, ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen. Wie die Cis-Het-OrganisatorInnen des Aurat-Marschs 2019 sagten: „Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne Widerstände radikaler AktivistInnen führten dazu, dass sie ihre Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen OrganisatorInnen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass „schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie, Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können – ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte TheoretikerInnen mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht, zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als BürgerInnen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl, Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018 Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte, die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken, die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden, reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen; eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia, also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt, gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der ArbeiterInnenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der Notwendigkeit eines Programms der ArbeiterInnenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus der ArbeiterInnenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der ArbeiterInnenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem ArbeiterInnenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen, und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen. Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus dem städtischen KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der ArbeiterInnenklasse der Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze, verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt, wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine BürgerInnenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie RechtsexpertInnen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden, zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“ (18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der ArbeiterInnenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP (Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar schon Fälle, in denen ÄrztInnen diese Menschen wegen dieses „Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die ÄrztInnen in solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese verletzlichen PatientInnen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen, wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten, ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie ein schwuler Mann aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund des Privilegs ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse fragen ihre kleinbürgerlichen KollegInnen, warum sie ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren. „Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage. Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu, im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit, die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus (Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische und nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse liegt daher darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen GenossInnen aus der ArbeiterInnenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum? Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es sind immer diejenigen aus dem ArbeiterInnenmilieu, die für etwas so Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt  werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen, wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden? Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der queeren Menschen aus der ArbeiterInn- und der herrschenden Klasse sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien erfreuen und diese gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse verteidigen. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse haben ihre Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die ArbeiterInnenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen, die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten. Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche MarxistInnen erkennen wir auch die grassierende Trans- und Queerphobie in der ArbeiterInnenklasse, und wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche Übel in der ArbeiterInnenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der ArbeiterInnenklasse – eine scharfe und dauerhafte Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten ArbeiterInnenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und Frauen sowie aller queeren Menschen der ArbeiterInnenklasse, zu verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt.  Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen der ArbeiterInnenklasse und queeren Menschen am Erbe aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische Regierung der ArbeiterInnen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch cis-het und queere ArbeiterInnen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den breiteren Fragen der ArbeiterInnenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018 https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January 22, 2019 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons (Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018 https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018 https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018 https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression in Pakistan”, The News, September 11, 2020 https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows, Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012 https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December 29, 2006 https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of Transgender People”, League for the Fifth International, March 17, 2019 https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird. Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland) mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen, das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt? Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“ zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht verwurzelt ist, lehnen wir als MarxistInnen aus verschiedenen Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen, im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“ unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch „Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“. Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte, verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres) Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das Argumentationsmuster liberaler FeministInnen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler FeministInnen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die Befreiung der Frau als Selbstzweck oder humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das „Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit. Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen „liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung muss geschichtlich erklärt werden. Als MarxistInnen orientieren wir uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht (Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die „großer Männer“ und ihres Willens, ihrer Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a. der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als MarxistInnen können Phänomene wie Gender Pay Gap erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den „Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten. Innerhalb der LohnarbeiterInnenfamilie, in der die Urproduktion eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen, die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk und Nation gegen MigrantInnen, um nur einige zu nennen. Der Fokus auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders stark Frauen aus der ArbeiterInnenklasse oder der Bauern-/BäuerInnenschaft – und hier wiederum aus den unteren Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln, Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, aber auch aus Teilen des KleinbürgerInnentums von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden darf. Der Kapitalismus ist für uns MarxistInnen nicht nur ein Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt, dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit. Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B. geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem, die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische „Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren Spaltungen der ArbeiterInnenklasse und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt. Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“ brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des KleinbürgerInnentums und der von Deklassierung bedrohten Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“ oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten) verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“ angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der ArbeiterInnenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen, können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte auch rückständige ArbeiterInnen für ihre reaktionäre Demagogie gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern. Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden, die von der gesamten ArbeiterInnenbewegung und der Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer Bewusstseins- und Verhaltensformen in der ArbeiterInnenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Die Unterdrückung von Transpersonen

Internationales Exekutive Komitee (IEK) der Liga für die Fünfte Internationale, April 2019, Infomail 1112, 28. Juli 2020

Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung

Im Folgenden veröffentlich wir eine Resolution unserer internationalen Strömung zum Kampf gegen die Unterdrückung von Transpersonen Wie viele andere stehen auch wir vor dem Problem, die Begriffe „sex“ und „gender“ angemessen in die deutsche Sprache zu übersetzen. Während sich im Englischen in den letzten Jahrzehnten der Begriff „sex“ für das biologische Geschlecht einer Person etabliert hat, bezieht sich „gender“ auf das soziale Geschlecht, auf die gesellschaftlich geprägte Geschlechterrolle. Wenn von Geschlechtsidentität gesprochen wird, wird in der Regel auch der Begriff „gender“ verwendet. Wir versuchen, in der Übersetzung diesen Unterschied deutlich zu machen. Wenn wir von Geschlechterrolle oder Geschlechtsidentität sprechen, so bezieht sich das auf das englische „gender“.

Definition unserer Begrifflichkeiten

In dieser Resolution werden wir den Begriff Trans in Bezug auf Transpersonen verwenden, d. h. diejenigen, die erklären, dass ihr subjektives Bewusstsein über ihre Geschlechterrolle oder ihre Geschlechtsidentität im Widerspruch zu ihrem biologischen Geschlecht steht. Entsprechend möchten Transpersonen hinsichtlich ihrer subjektiven Geschlechtsidentität bezeichnet werden, d. h. als Frauen oder Männer, als „genderqueer“, „nichtbinär“, „genderfluid“, „agender“ oder durch andere in den jeweiligen Sprachen verwendete Begriffe.

Das Wort „Trans“ wurde erstmals 1971 verwendet. Zumindest im Englischen hat es den Begriff „transsexuell“ weitgehend ersetzt, der in den 1940er Jahren aufkam und in vielen Bereichen als Bezeichnung für diejenigen verstanden wurde, die medizinische Eingriffe vorgenommen hatten oder vornehmen wollten, um die äußeren Erscheinungsformen ihres Geschlechts denen des anderen Geschlechts anzugleichen.

Die Haltung von KommunistInnen, der ArbeiterInnenbewegung und in der Tat aller konsequent demokratischen oder sozial fortschrittlichen Menschen sollte darin bestehen, den Wünschen von Transpersonen in Bezug darauf, wie sie im gesellschaftlichen Leben und als StaatsbürgerInnen betrachtet werden wollen, zu entsprechen. In dieser Hinsicht ist unsere Einstellung die gleiche wie gegenüber der Verteidigung der Rechte von Frauen, homosexuellen und bisexuellen Menschen auf Gleichheit und Respekt.

Sexuelles oder soziales Verhalten, Kleidung usw. dürfen nicht einem Schein-„Recht“ anderer untergeordnet werden, die sich auf Grund von Vorurteilen, religiöser oder sonstiger Art, dadurch beleidigt fühlen könnten. Es sollte weder rechtlichen noch individuellen Bestrafungen unterliegen und schon gar nicht Misshandlungen ausgesetzt sein. Wir sprechen uns auch dagegen aus, es als eine psychische Störung einzustufen. Der Wunsch von Transpersonen, mit den Namen, der Bezeichnung und den Pronomen ihrer Wahl angesprochen zu werden, sollte als selbstverständlich respektiert werden. Die bewusste Weigerung, dies zu tun, sollte als unterdrückendes Verhalten (Transphobie) angesehen und in der ArbeiterInnenbewegung keinesfalls toleriert werden.

MarxistInnen sind jedoch ebenso wenig verpflichtet, die Behauptungen der Transtheorie, der Queertheorie usw. wie auch die verschiedenen Theorien, die als Feminismus oder Theorien der Schwulen- und Lesbenbewegungen bekannt sind, kritik- und vorbehaltlos zu akzeptieren. Subjektive Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung verdienen die respektvolle Aufmerksamkeit, sie bringen an sich noch keine korrekte Theorie oder ein Programm für Befreiung hervor. Die Einteilung in bipolare Geschlechter wird weder durch die Existenz intersexueller Menschen (d. h. Menschen mit biologischen Merkmalen beider Geschlechter) oder erst recht nicht durch Behauptungen einiger TranstheoretikerInnen über die Existenz weiblicher Gehirne in männlichen Körpern oder umgekehrt widerlegt. Selbstverständlich darf dies jedoch im Umkehrschluss in keinem Fall zur Verweigerung gleicher Rechte führen.

Als historisch-dialektische MaterialistInnen erkennen MarxistInnen die objektive Existenz bipolarer Geschlechter als Teil unserer Spezies an, die (wie bei den meisten anderen Spezies) für die Reproduktion notwendig ist. Welch zukünftige Möglichkeit (oder Wünschbarkeit) der medizinischen Wissenschaft auch immer uns womöglich in die Lage versetzen werden, diese biologische Determination zu überwinden, sie existiert heute und ihre „Überwindung“ stellt weder für die Überwindung der Klassengesellschaft noch für die damit einhergehenden sozialen Unterdrückungen eine Bedingung dar.

Unsere Spezies zeichnet sich jedoch auch durch soziale und kollektive Organisation und Bewusstsein sowie durch individuelles Bewusstsein aus, auf welches und durch welches die biologischen Faktoren wirken. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in verschiedenen Formen der Vorklassen- und dann der Klassengesellschaft mit ihrer Produktionsweise haben gesellschaftliche Ideologien geschaffen, die Formen des kollektiven Selbstbewusstseins rechtfertigen und fördern. Diese werden durch die ideologischen Konstrukte von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ verkörpert. Man kann diese als „Rollen“ oder „Identitäten“ bezeichnen, solange anerkannt wird, dass sie weder ein spontaner Ausdruck des inneren Wesens eines Individuums noch eine unvermittelte Darstellung der Biologie sind, sondern von der patriarchalen Rechtfertigung der Frauenunterdrückung überlagert werden.

Weder die biologische Definition von Geschlecht noch die weit verbreitete Dominanz sozialer Rollen sollten verdinglicht und aus ihrer interagierenden, widersprüchlichen und verschmelzenden Entwicklung über historische Epochen hinweg herausgelöst werden. Unter dieser Voraussetzung können wir das Wort Gender (soziales Geschlecht) verwenden, um die von der Gesellschaft erwartete und von Kindheit an verinnerlichte soziale Rolle der bipolaren Geschlechter zu beschreiben. Bis in die letzten Jahrzehnte war es in der englischen Sprache lediglich ein Synonym (oft ein Euphemismus) für Geschlecht (engl. „sex“), das in diesem Sinne oft in offiziellen Dokumenten auftaucht.

Zu beobachten ist, dass sich eine Reihe von Menschen subjektiv nicht mit dem Gender (sozialem Geschlecht) identifiziert, das mit ihrem biologischen Geschlecht kongruent ist. Wie viele dies tun bzw. welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmachen, wurde lange durch Unterdrückung und Repression verdeckt. Viele von ihnen empfinden das, was medizinisch als „Geschlechtsidentitätsstörung“ bezeichnet wird, darunter auch die sog. „Körperdysphorie“ (Unbehagen mit dem eigenen Körper). Dies wurde (und wird immer noch) weithin als medizinische Erkrankung (oder psychische Störung) angesehen und als solche behandelt, oft auch ohne die Zustimmung der jeweiligen betroffenen Person. In diesem Punkt finden sich Parallelen zur Haltung gegenüber Homosexualität. Und auch wenn Transpersonen (wie auch Schwule und Lesben) im Einzelfall unter medizinischen/psychologischen Erkrankungen leiden können und dies auch tun, dürfen diese nicht von der tiefen sozialen Stigmatisierung und Intoleranz losgelöst betrachtet werden, mit der Transpersonen in der Familie, der Schule, am Arbeitsplatz und im sozialen Leben im Allgemeinen konfrontiert sind.

Transunterdrückung

In den letzten Jahren sind Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt, die sich gegen Transpersonen richten, in der Öffentlichkeit viel stärker wahrgenommen worden, da Transpersonen sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr setzen. In einer Reihe von Ländern sind Gesetze verabschiedet oder reformiert worden, die Rechte von Transpersonen anerkennen und Diskriminierung abbauen. Dies gilt für einige, wenn auch nur wenige, westliche imperialistische Länder wie Dänemark, das 2014 die Selbstdefinition legalisiert hat. In den meisten europäischen Staaten, darunter Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien, ist jedoch für eine Änderung der rechtlichen Eintragung ein medizinischer „Beweis” – zum Beispiel über das Vorliegen einer Geschlechtsidentitätsstörung – erforderlich. Auch in einigen Halbkolonien wie Argentinien, Indien, Pakistan und Nepal wurden rechtliche Liberalisierungsmaßnahmen verabschiedet, was jedoch keineswegs bedeutet, dass die reale und ernste soziale Unterdrückung von Transpersonen überwunden ist.

Ungeachtet der rechtlichen Reformen haben in den meisten Ländern die Ungleichheit und Diskriminierung bei der Arbeit und in Bezug auf BürgerInnenrechte, die Stigmatisierung durch die Medien, soziale Ächtung, Missbrauch und Hassverbrechen keineswegs abgenommen. Der Rechtsruck in der Weltpolitik und der Aufstieg der radikalen Rechten bedrohen vielmehr die begrenzten Rechte, die Transpersonen erkämpft haben (ebenso wie sie die Errungenschaften von Frauen, Lesben und Schwulen oder die Erfolge der sexuellen Befreiung bedrohen). Alle diese Gruppen sind häufiger Ziel von Gewalt und Übergriffen als Heterosexuelle, mit extrem hohen Dunkelziffern und sogar gezielten Tötungen (vor allem in Brasilien, Mexiko und den USA).

Wie praktisch alle Formen der sozialen Unterdrückung betrifft auch die Transunterdrückung Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten in ungleicher Weise. Rechtsreformen und Gleichstellungsforderungen gehen Hand in Hand mit der fortwährenden Ausgrenzung im öffentlichen Leben, am Arbeitsplatz, bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle oder in der Familie (bis hin zum Abbruch aller familiären Bindungen und der Vertreibung aus dem Elternhaus). Die bipolaren Geschlechterstereotypen, die ein reaktionäres Frauenbild fördern, stigmatisieren auch Transpersonen, transsexuelle, intersexuelle und homosexuelle Menschen als „unnatürlich”, „abweichend“, „Pädophile“, „Vergewaltiger“ usw. Darüber hinaus hat der Aufstieg einer sozial reaktionären populistischen Rechten, die oft mit religiösem Fundamentalismus verbündet ist, die Hetze gegen Transsexuelle in vielen Gesellschaften verstärkt.

Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde Transgenderismus/Transsexualität nicht als Ausdruck der eigenen Geschlechts- bzw. Gender-Identität, sondern als pathologische medizinische und psychologische Abweichung begriffen. Die Tatsache, dass in einigen Kulturen oder historischen Perioden, wenn auch in kulturell begrenzten Kontexten, Transpersonen gesellschaftlich akzeptiert waren, ändert nichts an der Tatsache, dass systematische Diskriminierung heute in allen Ländern existiert. In einer Gesellschaft, in der alle Formen der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentitäten, die von der Heterosexualität abweichen, systematisch unterdrückt werden, ist es unvermeidlich, dass Menschen, die von dieser Norm abweichen, als „abnormal“ erscheinen. In Wirklichkeit ist die Kategorisierung von Transgenderismus als Krankheit selbst eine Form von Diskriminierung, Stigmatisierung und Transphobie.

Die bürgerlichen Gesetzesreformen der letzten Jahrzehnte haben in einigen Ländern zu einer Verbesserung der Situation von Transpersonen geführt und mehr Menschen ermutigt, sich zu äußern, Geschlechtsumwandlungen und Anerkennung ihrer Identität anzustreben bzw. durchzuführen. Dennoch ist die systematische Diskriminierung erhalten geblieben und ihre Wurzeln können im Kapitalismus nicht beseitigt werden. Es muss auch angemerkt werden, dass in Ländern wie dem Iran das „Problem“ der Homosexualität oder besser gesagt ein Problem, welches durch religiöse Gesetze verursacht wird, die die Todesstrafe dafür vorsehen, durch die Anerkennung von Transgenderismus und die Vorschrift chirurgischer und anderer Verfahren zur „Wiederherstellung“ des „wahren“ Geschlechts eines Homosexuellen in perverser Weise „gemildert“ wurde. SozialistInnen verurteilen diese unmenschliche Politik. Sie enthüllt lediglich, dass die Befreiung von Frauen, Transpersonen und Homosexuellen untrennbar miteinander verbunden ist.

Wurzeln der Unterdrückung

Die Unterdrückung von Transpersonen beruht ebenso auf der sexuellen und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Gesellschaft wie auf der Existenz der bürgerlichen Familie und der ihr inhärenten Frauenunterdrückung. Während der Entstehung und Entwicklung der Klassengesellschaft entstand eine Arbeitsteilung, die sich auf die Kindererziehung, die Hausarbeit (Kochen, Putzen) und die Sicherstellung der patrilinearen Eigentumsübertragung bezog. Damit einher ging der Ausschluss der Frauen vom politischen Leben.

Auch wenn sich die Formen dieser Unterdrückung bei Ablösung einer sozialen Formation durch eine andere ständig verändern, zieht sich die Frauenunterdrückung im Gegensatz zu anderen Formen sozialer Unterdrückung, wie z. B. der nationalen, durch alle Klassengesellschaften. Die jeweilige Familienstruktur bildet auch einen Reproduktionsmechanismus und Transmissionsriemen für die vorherrschenden Geschlechterrollen, Stereotypen, sozialen Normen und Zwänge.

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Diese werden durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen, Rechtsauffassungen und Werte weiter gestärkt. Neben der Familie werden sie über religiöse Institutionen, Medien und Bildungseinrichtungen vermittelt und durchdringen auch die vorherrschenden Konzepte der Medizin, Biologie und Sozialwissenschaften.

Die Trennung und das Entgegenstellen der Produktions- und Reproduktionssphären ist typisch für den Kapitalismus. Sie manifestiert und reproduziert sich in der Institution der bürgerlichen Familie – trotz all ihrer unterschiedlichen Formen und trotz der Tendenzen des Kapitalismus, sie zu untergraben. Ein wesentlicher Faktor für die ideologische Verklärung und Rechtfertigung der Familie ist, dass sie als eine natürliche, über der Geschichte stehende Institution erscheint, als Ausdruck der „menschlichen Natur“. Obwohl Geschlechterrollen, sexuelle Praktiken und Geschlechtsidentitäten gesellschaftlich determiniert sind und sich im Laufe der historischen Entwicklung ständig verändern, erscheinen die herrschenden Normen immer als „natürlich“, während andere als „unnatürlich“, pathologisch oder sogar destruktiv geächtet werden.

Die Tatsache, dass die Unterdrückung von Transpersonen zu einem politischen Thema geworden ist, ist selbst das Ergebnis sozialer Kämpfe, insbesondere der Frauenbewegung, des Kampfes für die Befreiung von Schwulen und Lesben und für sexuelle Befreiung. All diese Kämpfe stellten traditionelle, scheinbar natürliche Geschlechterrollen und heteronormative Sexualität in Frage. Auf der anderen Seite haben diese Bewegungen aber auch Ideologien hervorgebracht, die ihrerseits falsche, weil einseitige Darstellungen des Verhältnisses zwischen biologischem Geschlecht, gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen und dem Bewusstsein der Geschlechtsidentität enthalten, die heute die Ideologien der feministischen Bewegung und der radikalen TransaktivistInnen prägen. Wie alle einseitigen, idealistischen und/oder mechanischen Sichtweisen führen auch diese zu falschen politischen Schlussfolgerungen einschließlich falscher Taktiken oder Forderungen, die für den Befreiungskampf kontraproduktiv sind.

Grob und einfach ausgedrückt gibt es zwei „Pole“ in der Diskussion. Der eine, zu dem wichtige Teile und IdeologInnen der feministischen Bewegung gehören, betrachtet Geschlecht als etwas biologisch Gegebenes und Gender als unterdrückende, gesellschaftlich aufgezwungene Geschlechterrollen oder Stereotypen und damit als nicht „real“. Daher erscheint die Existenz von Transpersonen radikalen FeministInnen als eine Stärkung und sogar eine Art Verherrlichung repressiver Geschlechterrollen. Ein Gegensatz zwischen dem biologischen Geschlecht und der Geschlechtsidentität, d. h. dem Bewusstsein, dass die eigene Geschlechtsidentität im Widerspruch zum biologischen Geschlecht steht, kann dann nur als „Abweichung“, „Perversion“ oder „Krankheit“ oder als männlicher Angriff auf die hart erkämpften Rechte der Frau erscheinen. Es gibt jedoch auch einen Trend im radikalen Feminismus, der Geschlechterrollen als biologisch begründet betrachtet und Weiblichkeit für die mit ihr verbundenen positiven Eigenschaften wie Friedfertigkeit und Kooperation preist, denen männliche Eigenschaften wie Aggressivität und Konkurrenzdenken gegenübergestellt werden.

Die vorherrschenden Strömungen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauenbewegung verkörpern eine Tendenz zur klassischen Identitätspolitik und zur rigiden Herleitung von Geschlechterstereotypen aus biologischen Merkmalen. Ein repressives Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das sich durch alle Gesellschaften gleichermaßen (nicht zwischen den Klassen) zieht, erscheint ihnen als das wesentliche Merkmal und Verhältnis aller bisherigen Geschichte (manchmal eklektisch mit Antikapitalismus oder Antirassismus verbunden, z. B. in der Triple Oppression Theory). Die Ideologisierung bestimmter Merkmale von Frauen hat immer die Tendenz, diese als überhistorische, natürliche Merkmale darzustellen (eine Tendenz, die sogar AutorInnen in der kommunistischen Bewegung wie Alexandra Kollontai beeinflusst hat).

Die Queer Theory, auf die sich viele radikale Trans-AktivistInnen und neuere feministische Strömungen stützen, hat zu Recht (z. B. Judith Butler in „Das Unbehagen der Geschlechter“) auf die Schwächen der Identitätspolitik hingewiesen und insbesondere darauf aufmerksam gemacht, dass das Verständnis von „Frau“ oft genug auf der Realität weißer, akademisch gebildeter Frauen der Mittelschicht basiert. Daher rührt die Unterstützung für die Queer Theory in wesentlichen Teilen der antirassistischen und schwarzen Frauenbewegung. Aber die Queer Theory und viele der Trans-AktivistInnen, die ihren Aktivismus darauf gründen, stellen der traditionellen feministischen Bewegung eine nicht minder einseitige Theorie entgegen.

Die Queer Theory erklärt das biologische Geschlecht als solches zu einer Konstruktion. Für Butler zum Beispiel ist es das Kant’sche „Ding an sich“, das wir letztlich nicht erkennen können. Sexismus und Heteronormativität erscheinen nicht als ideologischer Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Unterdrückung, die auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beruht, sondern sie werden zur Ursache der Unterdrückung erklärt. Die „heteronormative Matrix“, das „binäre“ Bild der Geschlechter, produziert tatsächlich „die Geschlechter“, so wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ergebnis des Geschlechterdiskurses erscheint und nicht umgekehrt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird somit nicht mehr als Ursache und Reproduktionsmechanismus der Frauenunterdrückung angesehen.

Gleichzeitig und auch in Bezug auf die damit verbundene Praxis macht diese idealistische Sichtweise auch die Wurzel der Frauenunterdrückung (geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) zu einer zweitrangigen Frage. Der eigentliche Kampf darf sich nicht gegen die materiellen Wurzeln der Frauenunterdrückung richten, sondern gegen den herrschenden Diskurs über biologisches und soziales Geschlecht. Der spezifische Aspekt der Frauenunterdrückung und letztlich auch der Unterdrückung von Lesben und Schwulen verschwindet in der Queer Theory. Verschiedene Formen der Unterdrückung, auch wenn sie alle an die Institution Familie gebunden sind, verschwinden in einem scheinbar allumfassenden „Geschlechterverhältnis“. Frauenunterdrückung, die Unterdrückung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Intersexuellen und Transpersonen werden zusammengeworfen und unter diesem Begriff ideologisiert. Dies ist ein unfreiwilliger Schlag nicht nur gegen den Feminismus, sondern auch gegen die Frauenbewegung und letztlich gegen die konkreten Forderungen der Transpersonen selbst.

Biologisches Geschlecht, Identität, Geschlechterrollen

Bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir uns eingehend mit der Beziehung zwischen biologischem Geschlecht, Identität und sozialen Geschlechterrollen befassen.

Als MaterialistInnen erkennen wir die biologische bipolare Sexualität als eine Tatsache an. Nur diejenigen, die die Fortpflanzung der Menschheit zu einer für sie unbedeutenden Frage erklären, können davon abstrahieren oder sie ignorieren.

Die bipolare Sexualität ist älter als die Menschheit selbst und allen Säugetieren und vielen anderen Tier- und Pflanzenklassen eigen. Sie stellt in der menschlichen Spezies eine historisch relativ konstante Größe dar, hat aber im Laufe ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung eine erstaunliche Variabilität in ihrem Ausdruck erfahren. Dies zeigt ein komplexes Zusammenspiel zwischen einer biologisch begründeten physikalischen Basis, einer ontogenetisch bedingten psychischen Strukturierung und einer sozialen Rollenerwartung, also den historisch spezifischen, vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die geschlechtliche und sexuelle Identität eines Menschen ist also das Ergebnis eines Komplexes von biologischen Funktionen, sexuellen Neigungen, sozialen Anforderungen und Erwartungen sowie des eigenen Unter- und Unbewussten. Dies impliziert also, dass biologisches Geschlecht und geschlechtliche Identität einander widersprechen können, wie dies bei Transpersonen der Fall ist.

Sogar zwischen den „Polen“ Mann und Frau als Ausdruck des männlichen/weiblichen biologischen Binärsystems gibt es eine Reihe von Zwischen-, Kombinations-, Übergangsstadien oder Merkmalen, deren Definition weder biologisch noch medizinisch eindeutig ist. Sie stellen kein einheitliches drittes Geschlecht dar, sondern vielmehr eine Reihe von Übergangsstufen. Auch pränatal erfolgt die Definition einer männlichen oder weiblichen Konstitution nicht auf einfache und allgemein klare Weise, sondern ist eine mehr oder weniger gelungene Annäherung an die eine oder andere Entwicklungsmöglichkeit. Bleibt diese Annäherung unentschieden, wird die Identität als intersexuell bezeichnet.

Ob die Identität von Transpersonen biologisch verwurzelt ist oder nicht bzw. in welchem Ausmaß, ist nicht entscheidend für ein Programm gegen ihre Unterdrückung. Da menschliche Sexualität (bzw. ihre Verwirklichung) immer mit herrschenden Geschlechternormen und -kategorisierungen, rechtlichen, sozialen und psychologischen Phänomenen verbunden ist, ist ihre Entstehung auch immer historisch und sozial bedingt. Das biologische Geschlecht existiert immer im Verhältnis zu den Geschlechterrollen oder -normen, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Formation dominieren, sowie zu den vorherrschenden Geschlechtsidentitäten. Menschen können eine dem biologischen Geschlecht entgegengesetzte (davon abweichende) Geschlechtsidentität haben, da sie selbst soziale Wesen sind, deren sexuelle Identität und Sexualität notwendigerweise immer sozial kommuniziert wird und die sich in einem Bewusstsein von der eigenen Sexualität – einer sexuellen Identität – ausdrücken muss.

Als die Menschheit ein historisches Entwicklungsstadium erreichte, in dem die Produktionsmittel und angehäuften Ressourcen nicht mehr in gleichem Maße an die nächste Generation als Kollektiv weitergegeben wurden, war es notwendig, das Sexualleben in einer dieser Ungleichheit angemessenen Form einzuschränken (z. B. erzwungene Monogamie für die Frau). Dieses patriarchale System, das verschiedene Produktionsweisen durchlaufen hat, macht es erforderlich, dass auf die daraus resultierenden soziokulturellen Aspekte von Sexualität als Geschlechterrollen oder Stereotypen Bezug genommen wird. Transsexualität (wie Homosexualität) gehen über diese vorherrschenden Geschlechterrollen hinaus, insbesondere über ihren „natürlichen“ Status, was auch bedeutet, dass Transpersonen in der Regel gezwungen sind, sich ihrem „wahren“ Geschlecht entsprechend zu verhalten und zu fühlen.

Alles in allem bedeutet dies, dass in der Klassengesellschaft im Allgemeinen und im Kapitalismus im Besonderen das biologische Geschlecht, die Sexualität und die Geschlechterrollen das Produkt dieser Festlegungen mit einer Vielzahl von Entwicklungsvarianten und Ausdrucksmöglichkeiten sind. Das lässt sich weder auf die Biologie reduzieren noch als einfach psychologisch strukturiert noch als einfacher Ausdruck eines sozialen Konstrukts noch lediglich auf der Grundlage einer Präferenz für eine bestimmte PartnerInnenschaft begreifen.

Entscheidend ist, dass die Fragen des biologischen Geschlechts, der Geschlechterrollen und der Geschlechtsidentität solche von Verhältnissen sind. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Unterdrückung nicht nur von Frauen, sondern auch von Lesben und Schwulen sowie von Transpersonen aufgrund einer repressiven Familienstruktur und reaktionären Geschlechterrollen notwendig.

Programm

Unser Programm gegen die Unterdrückung von Transpersonen umfasst eine Reihe demokratischer und sozialer Forderungen. Viele davon ähneln dem Kampf gegen andere Formen der geschlechtsspezifischen oder sexuellen Unterdrückung.

Transpersonen erleben verschiedene Grade emotionaler Unterdrückung innerhalb der Familie sowie soziale Ausgrenzung und Mobbing in der Schule, wenn sie Geschlechter- und Geschlechternormen durchbrechen: Sie sind oft auch medizinischen Versuchen ausgesetzt, um „geheilt“ zu werden. Eine hohe Zahl von Transpersonen im Jugendalter reagiert darauf mit Ausreißen, Drogenkonsum oder ist selbstmordgefährdet.

SozialistInnen erkennen an, dass in der kapitalistischen Gesellschaft (und in der Tat auch in der postkapitalistischen Gesellschaft, bis Klassen und Frauenunterdrückung deutlich absterben) die Unterdrückung einer Transsexualität und von Geschlechteridentitäten weiter andauern wird ebenso wie die Notwendigkeit, diese zu bekämpfen. Wir verteidigen das Recht erwachsener (postpubertärer) Individuen, eine Therapie oder Operation zur „Neuzuweisung“ zu beantragen. Ebenso verteidigen wir das Recht von Kindern, die ihre Geschlechteridentität in Frage stellen, auf Beratung und Schutz vor Mobbing oder jeglicher Form von Diskriminierung.

Wenn progressive Schulen versuchen, positiv auf TransschülerInnen zu reagieren, werden sie oft von Kirchen, ängstlichen Eltern, konservativen PolitikerInnen und radikalen FeministInnen beschuldigt, Transgenderismus zu „lehren“ oder zu „fördern“, indem sie Kinder ermutigen, ihr Geschlecht zu wechseln, sich einer Hormontherapie oder einer chirurgischen „Neuzuweisung“ zu unterziehen usw. Wir befürworten eine wissenschaftlich fundierte Sexualerziehung, die biologische und soziale Einflussfaktoren erklärt und lediglich Verständnis, Widerstand gegen Unterdrückung und die Freiheit junger Menschen, sich sexuell nach ihren Wünschen zu entwickeln, „befürwortet“ (natürlich unter der eindeutigen Bedingung, dass dies niemand anderem schadet, wie es z. B. bei „Kindesmissbrauch“, Pädophilie und anderen genuinen sexuellen Perversionen der Fall wäre).

Deshalb fordern wir

  • Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen Transpersonen und Homosexuelle, Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben
  • Das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft (auf Rechtsdokumenten, bei Zugang zu Gesundheitsversorgung und Versicherungsleistungen usw.)
  • Wir treten für das Recht von Transpersonen auf Selbstbestimmung über ihre Körper ein einschließlich des Rechts auf Maßnahmen zur „Geschlechtsumwandlung“ und auf kostenlose medizinische Beratung. Dies soll durch das öffentliche Gesundheitswesen oder durch gesetzliche Krankenkassen finanziert werden. Die Beratung soll von ÄrztInnen, PsychologInnen und BeraterInnen durchgeführt werden, die das Vertrauen der Transperson selbst und der Unterdrückten genießen. Wir lehnen Geschlechtsumwandlungen ab, die gegen den Willen der Betroffenen vorgenommen werden.
  • Recht auf Adoption von Kindern, Anerkennung als Eltern oder PartnerInnen
  • Recht auf Nutzung der sanitären Einrichtungen, die dem angegebenen Geschlecht der Transperson entsprechen. Sichere Räume für Frauen sollten das Recht haben, missbrauchende oder bedrohliche Frauen individuell auszuschließen. Außerdem müssen diese Räume unter Kontrolle der Frauen stehen, die sie benutzen und leiten, einschließlich Transfrauen.
  • Rechtlicher Schutz von Transpersonen, die sich in Dokumenten als „unbestimmt“ oder drittes Geschlecht bezeichnen wollen. Transpersonen sollten als legitime Formen der Geschlechtsidentität anerkannt und nicht als Kranke stigmatisiert werden.

In der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten setzen wir uns für eine öffentliche Kampagne gegen Transphobie (wie auch gegen Homophobie) ein. Transpersonen sollten ein Caucus-Recht (getrennte Treffen) in der ArbeiterInnenbewegung, den Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien haben. Ob dies gemeinsam mit anderen, z. B. Schwulen und Lesben oder auch mit Frauen, durchgeführt wird, sollte gemeinsam und mit dem Einverständnis von Frauen, Lesben und Schwulen etc. entschieden werden.

Wir erkennen an, dass unter denjenigen, die gegen Transinklusion in Frauenräumen argumentieren, transexklusionäre und offen transphobe Individuen und Organisationen dominieren. Als SozialistInnen sollten wir uns jedoch bemühen, zwischen den radikal transphoben Elementen in dieser Debatte und denjenigen zu unterscheiden, denen es an Verständnis mangelt oder die ohne böse Absicht Bedenken äußern. Unser Ziel sollte nicht sein, alle der letzteren Gruppe als Transphobe zu brandmarken, sondern alternative Sichtweisen und Aufklärung anzubieten, um sie für uns zu gewinnen.

Im Falle von Quoten für den öffentlichen Dienst oder für Frauen in politischen Parteien und Gewerkschaften treten wir dafür ein, dass Transfrauen als Frauen betrachtet werden. In jedem konkreten Konfliktfall sollten die Gewerkschafts- und ArbeiterInnenkomitees, die hauptsächlich aus Frauen und Transpersonen zusammengesetzt sein sollen, entscheiden.

Wir lehnen die Vorstellungen einiger FeministInnen ab, dass alle Transfrauen „in Wirklichkeit“ Männer sind. Dadurch wird eine Frage der sozialen Unterdrückung letztlich zu einer scheinbar rein biologischen (die selbst nicht so klar ist). Vor allem aber wird dabei die Tatsache ignoriert, dass Transfrauen, auch wenn sie oft als Männer sozialisiert wurden, heute als Frauen leben, einschließlich der Erfahrung mit deren Unterdrückung.

Wir erkennen an, dass die Rechte oder Forderungen von sozial unterdrückten Menschen aufeinanderprallen können. Dieser Konflikt kann nicht durch das Verbot unterschiedlicher Ansichten „reguliert“ werden, was ihn nur noch verschärfen könnte. Wir lehnen jede physische Bedrohung ab und erkennen daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen solche Bedrohungen an. Unser Interesse besteht vielmehr darin, den Konflikt in einer vernünftigen Auseinandersetzung zu lösen, d. h. unter voller Achtung der jeweiligen Befreiungsinteressen und Unterdrückungserfahrungen.

Leider sind Konflikte zwischen den sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen wechselseitiger Forderungen und Ansprüche in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie treten immer wieder auf. Die ArbeiterInnenklasse hat ein fundamentales Interesse daran, diese so demokratisch und transparent wie möglich zu regeln und die legitimen Anliegen aller Seiten so weit wie möglich zu berücksichtigen. Eine solche Regelung sollte prinzipiell nicht dem bürgerlichen Staat überlassen werden. Deshalb plädieren wir für die Einrichtung der oben genannten Komitees im Falle von Quotenkonflikten usw. Auch in der ArbeiterInnenbewegung lehnen wir jedes Recht des bürgerlichen Staates, in Wahlen, Statuten, Finanzen usw. unserer Klassenorganisationen einzugreifen, kategorisch ab.

Selbst die besten „Konfliktlösungsmechanismen“ werden die negativen Auswirkungen möglicher Konflikte nur begrenzen, sie können den Ausbruch von Konflikten nicht verhindern. In der bürgerlichen Gesellschaft werden Menschen als KonkurrentInnen gegeneinander ausgespielt. Dies birgt immer die Gefahr, dass sich z. B. bei der Konkurrenz um Arbeitsplätze auch verschiedene unterdrückte Gruppen als KonkurrentInnen gegenüberstehen. Die Lösung kann hier nicht nur in einem demokratischen Konfliktlösungsprozess liegen, sondern muss auch den Kampf für soziale Forderungen beinhalten, z. B. für ein Programm sozial nützlicher Arbeiten und für eine Arbeitszeitverkürzung. Konkurrenz kann nur durch einen sozialen und politischen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden, durch die Schaffung einer ArbeiterInnenbewegung, die alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung bekämpft.

Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen. Nur in einer solchen Gesellschaft werden sich die menschliche Sexualität und Geschlechtsidentität (wie die menschliche Individualität in all ihren Facetten) frei entfalten.




Sexuelle Unterdrückung: Die heilige Familie

Martin Suchanek, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Kaum eine andere Institution unserer Gesellschaft erfreut sich seit Jahrhunderten solcher Idealisierung wie die Familie. Sie gilt als „Keimzelle der Gesellschaft“. Sie erscheint als Hort des privaten Glücks, der Gemeinschaftlichkeit, der Liebe und „Partnerschaft“ inmitten eines Ozeans aus kapitalistischer Konkurrenz und Eigennutz. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern wird romantisiert, idealisiert, überhöht – im krassen Gegensatz zur Realität der Familie.

In der Tat brachte die bürgerliche Gesellschaftsordnung eine wichtige Veränderung: die Heirat ist freiwillig und basiert auf Liebe und Ehevertrag.

In früheren Klassengesellschaften waren die Ehen zwischen Mann und Frau arrangiert. Die Stellung der Ehefrau war z.B. innerhalb der herrschenden Klasse der athenischen „Demokratie“ auf die der Gebärerin, der Mutter reduziert. Für Sklavinnen und Sklaven gab es als Eigentum ihrer Herrn ohnedies kein Recht auf Ehe. Von einer „Liebesheirat“ konnte keine Rede sein, ja selbst die Vorstellung, dass Eheschließung oder Familiengründung auf gegenseitiger, freiwilliger Zuneigung basieren, war dieser Geschichtsepoche fremd.

Zweifellos war demgegenüber die Vorstellung einer Partnerschaft, die auf gegenseitiger Zuneigung und Freiwilligkeit fußt, ein riesiger Fortschritt. Aber auch in der bürgerlichen Familie ist die „Liebe“ nicht frei profanen Zwecken, die sich aus dem Klassencharakter der Gesellschaft notwendig ergeben. Die Vorstellung der individuellen Geschlechtsliebe war gegen den Feudaladel gerichtet, der sich gegen das „Einheiraten“ der „Bürgerlichen“ abschotten wollte. Mit der „Liebesheirat“ wurde auch der „Ehevertrag“ zum unerlässlichen Beiwerk jeder noch so innigen Beziehung, um die Vererbung des Privateigentums innerhalb der herrschenden Klasse abzusichern.

Die Monogamie der Frau – Kennzeichen der verschiedensten Familienformen in allen Klassengesellschaften – galt und gilt auch für die bürgerliche Familie. Für den Mann hingegen waren der „Seitensprung“ oder der Besuch im Bordell von Beginn an allenfalls eine lässliche Sünde.

Sexueller Missbrauch und Gewalt

In der vor-bürgerlichen Familie galt die Sexualität der Frau nur als Mittel zur Befriedigung des Mannes und der Zeugung des Nachwuchses. Die Frau war Mutter, je nach Klassenzugehörigkeit Arbeitende oder Anleitende im Haushalt und hatte dem Mann zur Verfügung zu stehen. Zur sexuellen Befriedigung des Mannes, zu seinem Vergnügen stand ihm neben der Ehefrau eine ganze Reihe von Institutionen der mehr oder weniger offen sanktionierten Prostitution zur Verfügung.

In der bürgerlichen Gesellschaft drückt sich die systematische Unterdrückung der Frau auch in deren sexueller Unterdrückung in der Familie aus.

Auch hier herrschenden die Bedürfnisse des Mannes vor, wenn auch nicht mehr so offen wie in früheren Gesellschaften. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten galt, dass die Frau ihrem Mann zu Diensten zu sein hatte, die Vergewaltigung der Frau in der Ehe gab es als juristisches Delikt  nicht. Es bedurfte langwieriger politischer Kämpfe, damit Missbrauch, Gewalt gegen die Frau und die Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestände überhaupt anerkannt wurden.

Das ändert jedoch nichts daran, dass bis heute das „Schlafzimmer“- offenkundig ein bevorzugter Ort des Missbrauchs im ehelichen Idyll – von Konservativen und Klerikalen aller Art für tabu erklärt wird. Über sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen liegen seit Jahren sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor, die ein erschreckendes Ausmaß dieser brutalsten Form der Unterdrückung belegen – von Beschimpfung und Erniedrigung bis hin zu Vergewaltigung und Zwangsprostitution.

Große, repräsentative Studien wie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ aus dem Jahr 2004 kommen zum Schluss, dass rund 40 Prozent aller Frauen im Alter von 16 bis 85 (mehr als 16 Millionen!) Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt werden. 58 Prozent oder rund 25 Millionen wurden sexuell belästigt. Das größte Risiko sexueller Übergriffe besteht für die Frauen in der Familie und in der Beziehung. Die eigene Wohnung ist in zwei Drittel der Fälle auch der Tatort.

Die zweite große Opfergruppe im familiären Zusammenhang sind die Kinder. Nach Untersuchungen ist jedes 4. Mädchen und jeder 7. Junge Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Täter sind zu 90 Prozent Männer, mehr als die Hälfe die Väter der Kinder (gefolgt von anderen „Respektspersonen“ wie Lehrer und Priester)!

Repressive Sexualmoral und Rollenbilder

Sexuelle Gewalt ist zweifellos die brutalste Form von Unterdrückung. Sie zeigt aber auch, welche Verhältnisse in der Institution Familie vorherrschen, wie weit sie davon entfernt ist, einen Schutzraum in einer auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Welt zu bieten.

Die Familie ist aber nicht nur oft ein Ort offener, sexistischer Unterdrückung und sexueller Gewalt. Eine ihrer gesellschaftlich grundlegenden Funktionen besteht darin, die vorherrschenden Werte und Moralvorstellungen, einschließlich der Geschlechterrollen und einer repressiven, bürgerlichen Sexualmoral (oft in der einen oder anderen religiösen Spielart) an die nächste Generation weiterzugeben. Es geht darum, die Klassenherrschaft als „natürliche Ordnung“ zu reproduzieren und damit auch die Kinder der jeweiligen Klassen je nach sozialem Status zu erziehen. Gerade Kinder aus der ArbeiterInnenklasse müssen früh lernen, ihren untergeordneten Status als natürliche, unveränderliche „Gegebenheit“ zu akzeptieren. In diesem Sinne ist die Familie wahrlich eine „Keimzelle“ der Gesellschaft.

Dazu gehören auch die tradierten Formen der Sexualmoral. Die Sexualität von Kindern und Jugendlichen wird geleugnet (was natürlich den Missbrauch nicht hindert), sexuelle Aufklärung findet nur statt, wenn die Kinder „Glück“ haben.

Gleichzeitig werden die vorherrschenden, hetero-normativen Geschlechterrollen vermittelt. Auch wenn eine Familie gegenüber alternativen Lebensentwürfen, Homosexualität usw. nicht-diskriminierend ist, so setzt die typische, bürgerliche Kleinfamilie schon qua Existenz die Norm. In den meisten Fällen sitzt die Homophobie noch immer so tief, dass es den meisten Familien, Eltern wie Kindern, bis heute als eine „Katastrophe“ erscheint, wenn sich das Kind als lesbisch oder schwul, als transsexuell oder als sonstwie „pervers“ entpuppen sollte.

Überhaupt ist für Jugendliche die Entwicklung ihrer Sexualität eingeschränkt im Korsett von konservativen Traditionen, einengenden Vorschriften und fehlender Aufklärung. Selbst freier Zugang zu Verhütungsmitteln stößt bis heute für viele auf massive Grenzen (nicht nur finanzieller Natur).

“Natürliche” Verhältnisse

Wie überall werden „natürlich“ auch im sexuellen Leben gesellschaftliche Normen, Hierarchien, Geschlechterrollen und selbst Klassenzugehörigkeit reproduziert. Den Eltern, und besonders den Frauen, kommt hier die Rolle der Vermittler der herrschenden Moralvorstellungen zu. Die rückständigsten gesellschaftlichen Ideen, die mitunter sogar im öffentlichen Diskurs nicht mehr offen geäußert werden dürfen/sollen, feiern oft in der Intimität der Familie fröhliche Urständ. Das liegt gerade daran, dass die Familie als privater Ort konstituiert ist, wo Kritik, Verantwortung  und Kontrolle durch „die Öffentlichkeit“ nicht gelten. Dazu kommt, dass der Mann in verschiedener Hinsicht gemäß dem traditionellen Rollenbild das „Oberhaupt“ der Familie ist. Oft nutzt er diesen Status, seine körperliche Überlegenheit und seine Stellung als Hauptverdiener auf Kosten der Frau und der Kinder aus.

Doch selbst ohne diese Bekräftigung der Reaktion konstituiert die „traditionelle“ Familie – einschließlich der an ihr orientieren Formen wie der Ehe von Homosexuellen oder der allein erziehenden Mütter oder Väter – allein durch ihre Bestehen als private, vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben abgeschiedene Gemeinschaft das vorherrschende Modell der Beziehung. Wer es nicht schafft, eine derartige Form irgendwann zu etablieren (selbst wenn ein Teil fehlen sollte), hat „etwas falsch gemacht im Leben“.

Wer eine Familie oder Ehe hat, gibt sie nicht so leicht auf, selbst wenn sie die Hölle auf Erden sein mag, ist sie doch immerhin eine gemeinsame Hölle. Das führt neben der ökonomischen Abhängigkeit und dem gesellschaftlichem Druck dazu, dass viele Frauen eine gewalttätige, unterdrückerische Beziehung nicht oder nur schwer beenden können, weil sie durchaus zurecht fürchten, danach total vereinzelt und sozial schlechter gestellt zu sein.

Das heiß aber auch, dass Sexualität immer als eine auf diese Gemeinschaft bezogene reproduziert wird, andere Formen nur als zeitweilige oder „Nebenformen“ gelten (unabhängig von ihrer realen Häufigkeit). Durch diese private Beziehungsform, die Bindung der Sexualität an die Familie oder jedenfalls an die „innige“ Privatbeziehung werden nicht nur die extrem repressiven, unterdrückerischen Seiten begünstigt, v.a. wird die Familie als Modell, als unhinterfragbare „natürliche“ Beziehung etabliert. Das trifft auch, ja gerade auf deren reformierte, partnerschaftlichere Formen zu, wo z.B. Männer und Frauen gleiche Arbeit leisten oder auf die Ehe für Homosexuelle usw. Auch diese „reformierte“ Familie bleibt letztlich eine bürgerliche Institution.

Sexualität und Warengesellschaft

Es wäre jedoch falsch, die Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft nur vom Standpunkt ihrer Unterdrückung und reaktionärer Vorstellungen zu betrachten oder ihr eine quasi-natürliche, „unverfälschte“ Sexualität entgegenzustellen. Auch in einer befreiten, kommunistischen Gesellschaft werden die sexuellen Bedürfnisse nicht quasi-natürlich hervortreten, sondern immer gesellschaftlich vermittelt sein.

Wenn wir die normierte Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten, so dürfen wir auch die Wirkung der vorherrschenden, über den Warentausch vermittelten Gesellschaftlichkeit auf die sexuellen Bedürfnisse nicht übersehen. Diese werden auch über die Familie, oft aber auch über den Markt vermittelt.

Für die bürgerliche Gesellschaft ist es typisch, dass sich Menschen zueinander als WarenbesitzerInnen verhalten. Auch bei der Sexualität wollen die Menschen „die besten“ sein – und im Gegenzug auch nur den/die/das Beste erhalten oder wenigstens ein gleichwertiges Tauschobjekt. Die Entfremdung der ProduzentInnen vom Produkt ihrer Arbeit prägt in der bürgerlichen Gesellschaft noch die intimsten, persönlichsten Bedürfnisse.

Das erklärt aber auch, warum alle Versuche der sexuellen Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft, alle realen Fortschritte immer zwiespältig bleiben, weil sie eben auf dem Boden einer durch Klassenspaltung, Frauenunterdrückung und Entfremdung geprägten Gesellschaft verbleiben.

Absterben der Familie

Die Familie als Institution ist letztlich untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verbunden und einer ihrer ideologischen und institutionellen Stützen. Sie ist weit davon entfernt, nur ein Hort der Geborgenheit zu sein – in Wirklichkeit ist sie auch ein Hort der Reaktion, der Unterdrückung und des Konservativismus.

Aber sie kann nicht einfach abgeschafft werden, solange ihre materiellen Grundlagen weiter bestehen. Hausarbeit und Kindererziehung, also große Teile der Reproduktion, sind im Kapitalismus wesentlich privat organisiert. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung liegt der systematischen Unterdrückung der Frau in allen Lebensbereichten zugrunde.

Dies heißt keineswegs, dass wir als RevolutionärInnen Reformen auf dem Gebiet der Familie oder der sexuellen Beziehungen gleichgültig gegenüber stehen. Es bedeutet nur, dass wir uns wie auf jedem Gebiet demokratischer oder sozialer Verbesserung der Grenzen dieser bewusst sein müssen und den Kampf dafür in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des längerfristigen Kampfes gegen Kapitalismus und Frauenunterdrückung betrachten.

Die Familie kann nicht „abgeschafft“ werden, wenn nicht eine andere, höhere Form der Organisation der Hausarbeit und Kindererziehung an ihre Stelle tritt. Die individuelle Verantwortlichkeit der Eltern für Hausarbeit und Kindererziehung muss ersetzt werden durch eine reale Vergesellschaft dieser „privaten“ Aufgaben. Allein auf einer solchen Basis kann auch die Sexualität befreit werden vom Makel der Frauenunterdrückung und Klassenausbeutung.