Die EU in der Krise – nicht erst an der Wahlurne

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 282, Mai 2024

Auch in der Europäischen Union wird im Superwahljahr 2024 gewählt. In einem anderen Artikel dieser Ausgabe widmen wir uns der vorgeschlagenen Wahltaktik für die Wahl des Europäischen Parlaments. In diesem Text sollen die Stabilität und Widersprüche der Europäischen Union heute diskutiert werden.

Wunsch und Wirklichkeit seit der Wahl 2019

2019 wurde auf europäischer Ebene letztmals gewählt. Die Kommissionspräsidentin wurde damals Ursula von der Leyen. Sie rief zwei zentrale Ziele aus: erstens einen europäischen Green New Deal und zweitens eine gemeinsame europäische Asylregelung. Beide sind durch die politischen Kräfteverhältnissen verwässert oder verschoben worden.

Spätestens angesichts der Energiekrise inmitten des Ukrainekriegs durch die Russlandsanktionen wurde das Wirtschaftsförderprogramm für regenerative Energieprojekte und ökologisch nachhaltigere Produktion ad acta gelegt. Mit dem EU-Taxonomie-Abkommen aus dem Herbst 2023 wurden Atomkraft und Erdgas als saubere Energien definiert. Auch nach dem Verbrenner-Aus 2035 dürfen weiter Fahrzeuge mit sogenannten synthetischen Kraftstoffen zugelassen werden. Woraufhin Frans Timmermans, der sozialdemokratische EU-Klimakommissar, zurücktrat. Er wurde ersetzt durch Wopke Hoekstra, der bereits für den Ölkonzern Shell und die Beratungsagentur McKinsey tätig war. In seiner Funktion als Vizepremier der Niederlande stellte er deren Klimaziele infrage und subventionierte in der Pandemie die Fluggesellschaft KLM. Denn letztendlich ist die EU und allen voran die in ihr dominante Nation, Deutschland, massiv abhängig von einer globalisierten Wirtschaft mitsamt internationalen Wertschöpfungsketten, zusammengefasst unter dem Schlagwort „Exportweltmeister“. Speziell bei Energieträgern ist dieses Verhältnis jedoch prekär, auch beispielsweise bei Halbleitern, wie Chips. Die Nachhaltigkeitsziele, die auch ein massives Konjunkturprogramm für einen Teil des Kapitals bilden, wurden schnell aufgegeben. Die Umstellung auf den Binnenmarkt trifft die EU folglich härter als andere imperialistische Großmächte. Sie ist zugleich eine wesentliche Triebkraft, die die EU-Politik der vergangenen Wahlperiode bestimmte und mit größter Wahrscheinlichkeit die kommende prägen wird.

Zur Asylregelung: Als im September 2020 das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos durch Brandstiftung abbrannte, wurde die sozialdemokratische Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, bekannt durch den Ausruf „No more Morias“. Mit dem „Gemeinsamen Europäischen Asylsystem“ (GEAS) hat sich die Situation geflüchteter Menschen effektiv verschlechtert. Sie sollen nach der Ankunft in Lager in Grenznähe gesteckt werden und als bisher nicht eingereist gelten, sodass ihre direkte Abschiebung erleichtert wird. Flankiert werden soll dies durch sogenannte Drittstaatenregelungen, die vor Ort Rückführung  und Übernahme garantieren sollen. Im Extremfall soll die Inhaftierung zur Identitätsprüfung 20 Wochen andauern dürfen. Diese Entwicklung hängt stark mit dem Erstarken der europäischen Rechten und dem generellen politischen Rechtsruck zusammen. Die Auseinandersetzungen um die Ukrainepolitik innerhalb der EU zeigen, dass kein Frieden mit den Kräften, die die dominierende EU-Politik von rechts herausfordern, durch die Asylrechtsverschärfung erreicht wurde. Dies deutet auf den Grundkonflikt der EU hin, dass sie ein Staatenbund ist mitsamt unterschiedlichen herrschenden Klassen und teilweise in Konflikt stehenden Interessen.

Die Entwicklung dieser beiden Zielsetzungen (Green Deal und europäische Asylregelung) verdeutlicht den Kurs der EU, ihre Krisengeschütteltheit und die Richtung, in welche sich die Regierungsprogramme bewegen.

EU – der schwächelnde Riese in der Runde der Großmächte

Die politischen Zerwürfnisse, die ökonomische Schwäche ihrer dominanten Nationen und die militärische Stellung machen deutlich: Die EU ist eher eine Akteurin, auf die Einfluss genommen wird, als andersherum. In diesem Sinne ist sie ein getriebenes Projekt. Ihr fehlt die einheitliche Perspektive (Strategie). Die Verträge von Lissabon 2009 und die Einführung des Euro erzeugten damals den größten Binnenmarkt weltweit und strebten dessen Vereinheitlichung an, scheiterten aber zugleich an ebenjenem Ziel, einen gemeinsamen Kapitalblock zu erzeugen. Eine Perspektive, die bis heute als strategische Zielsetzung besteht, auch wenn diese als immer unrealistischer erscheint. Die EU hat selbst kaum supranationales Kapital hervorgebracht und reibt sich stetig in diesem Widerspruch auf. In diesem Sinne ist die Krise der EU immer auch die der dominanten imperialistischen Nationen in ihr. Als größter Binnenmarkt der Welt stellte sie eine Art Hinterhof für ihre dominierenden Kapitale dar, zugleich aber auch einen Widerspruch wegen ihrer Konkurrenz untereinander. Die strategische Sackgasse des deutschen Imperialismus als Vermittler zwischen beiden widerstreitenden Kräften wird besonders in dessen Krise augenfällig.

Sie ist durch politische, wirtschaftliche und militärische Dominanz des deutschen Imperialismus im Schulterschluss mit dem französischen innerkapitalistisch unüberwindbar, selbst im Aufschwung. Mit dem Scheitern der Integration zu einem einheitlichen Blockgesamtkapital steht die EU als schwächstes Glied unter den Großmächten da. Der Term schwächstes Glied der imperialistischen Kette stammt von Lenin und dessen Analyse der Widersprüche im System der imperialistischen Großmächte vor dem ersten Weltkrieg – damals auf den russischen Zarismus bezogen. Die Kategorie hat er entwickelt, um zu diskutieren, wo die Möglichkeiten revolutionärer Politik bestehen, die Herrschenden im Scheitern ihrer Politik herauszufordern, sie zu stürzen. Die EU und damit verbunden der deutsche und der französische Imperialismus können nicht ohne weitere ökonomische, politische oder militärische Rückschläge so weitermachen. Diese geostrategische Sackgasse kann explosiv auf die Klassenbeziehungen im Inneren wirken. Die europäischen Spardiktate und der Brexit waren Ausdruck dieser verlorenen Integrationskraft. Die immer heißer werdenden Kriege, die treibende Inflation und der Aufstieg der neuen Rechten zeigen, dass diese Entwicklung sich fortsetzt. Um die Entwicklung der EU im Zusammenhang mit dem Niedergang der Globalisierungsperiode zu betrachten, wird im Nachfolgenden kurz ihre Entwicklung in diesem Jahrtausend besprochen.

Eine kurze Geschichte des europäischen Niedergangs

Die europäische Union rief im Jahr 2000 bei einem Sondergipfel in Lissabon aus, dass Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden würde. Das Projekt selbst lässt sich als historischer Kompromiss zwischen den Parteien der europäischen Sozialdemokratie (S&D) und den sogenannten europäischen Volksparteien (EVP), den zumeist dominanten bürgerlichen Parteien, verstehen. Heute im Jahr 2024 ist von einem sozialen Europa kaum noch die Rede, selbst von einem aufstrebenden Wirtschaftsraum spricht niemand mehr.

Der Sondergipfel stellte einen Abgesang dar für ein Mindestmaß sozialer Zugeständnisse an die die europäische Arbeiter:innenklasse, einen Bruch mit dem sozialdemokratischen, keynesianischen Wirtschaftsprogramm. In der Sozialdemokratie wurde dies damals durch eine Politik der sogenannten „Neuen Mitte“ salonfähig gemacht, wie beispielsweise Schröders Hartz-Gesetze. Auch der Leitslogan des europäischen Green Deal kann hier nicht als Wiederaufnahme dessen verstanden werden, sondern v. a. als Konjunkturprogramm für Teile des Kapitals.

Zugleich nahm sich der Sondergipfel weitaus mehr vor. Allem voran eine EU-Verfassung. Das Ziel scheiterte 2005 an Referenden in den Niederlanden und Frankreich. Um diese zu umgehen, wurde ein sogenannter Vertrag eingeführt anstelle einer Verfassung. Mit den Verträgen von Lissabon 2009 wurde der Versuch erneut aufgenommen, der jedoch bis heute in seiner Umsetzung scheiterte, ein gesamteuropäisches Kapital mitsamt einer geeinten Außenpolitik herauszubilden. Dieser Prozess bildet einen Teilaspekt der Legitimationskrise, in der die EU heute steckt.

Dieser Kompromiss ist spätestens im EU-Spardiktat v. a. zwischen 2012 und 2015 verpufft, zeitigte jedoch auch für das deutsche Exportkapital und seinen Binnenmarkt Konsequenzen. Letzterer wurde zwar weiter dominiert, jedoch durch die Sparpolitik der sogenannten Schwarzen Null von ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und ESFS (Europäisches Finanzaufsichtssystem) ausgehöhlt und führte zu einem Ausverkauf und Kaputtsparen weiter Teile des öffentlichen Sektors. Die gemeinsame Währungsunion erzeugt hier eine besondere, ungleichzeitige und kombinierte Krisenentwicklung im Euroraum in Gestalt einer Abwälzung der Krisenlasten auf den Rücken der Arbeiter:innen und südeuropäischen Volkswirtschaften.

Der historische Kompromiss des sozialen Europa fiel ebenso dem Neoliberalismus zum Opfer, wie dies auch die Stärkung für die größeren Kapitale angesichts der Finanzkrise 2007/08 in sich trug. Die Krisenpolitik spitzte die soziale Spaltung, aber auch die zwischen den europäischen Nationen zu: durch Abwälzung der Kosten der Krise auf Teile Südeuropas, allen voran Griechenland, das mit drakonischen Sparmaßnahmen ausgequetscht wurde. Eine Krisenpolitik, die bis heute auf Eurozone und EU wie eine Last liegt. Die massiv steigenden Fluchtbewegungen nach Europa als Folge von Krieg und Krise, rassistischer Chauvinismus gegenüber den „faulen Griech:innen“ und Vertrauensverlust in die EU-Institutionen entluden sich in einer Welle antimuslimischen Rassismus v. a. gegen Geflüchtete und einer demokratischen Krise der EU, speziell herausgefordert von nationalistischen und populistischen Ideologien. Stimmen unter den Herrschenden und dem vor sozialem Abstieg verängstigten Kleinbürger:innen organisierten sich seitdem verstärkt und spitzen diesen inneren Widerspruch zu. Er zeigt auch auf, die EU ist kein geeinter Nationalstaat, sondern primär eine Sonderwirtschaftszone konkurrierender nationaler Gesamt- und Einzelkapitale. Die Klassenkämpfe in Griechenland trugen exemplarisch einen gesamteuropäischen Charakter. Die Niederlage der griechischen Arbeiter:innenbewegung, herbeigeführt durch den Verrat Syrizas an ihrer Basis durch die Kapitulation von dem europäischen Sparregime, brach das Vertrauen in reformistische Politik weit über die griechischen Staatsgrenzen hinaus und konnte nicht von revolutionären Kräften gewinnbringend aufgegriffen werden.

Zugleich: Die EU verblieb im Vergleich zu anderen imperialistischen Großmächten, wie China und den USA aber auch Russland, geopolitisch und militärisch schwach. Ihre Ukrainepolitik stellt in diesem Sinne sowohl Ausdruck dieser Schwäche als auch einen möglichen Wendepunkt für ebenjene dar. Jedwedes diplomatisches Vorhaben Frankreichs und Deutschlands, allen voran das Minsk-Abkommen, scheiterte über kurz oder lang, ausgehöhlt von Russland, spätestens mit dem Einmarsch vom 24.02.2022. Wie die US-Diplomatin Nuland bereits 2014 über die Abkommen gegenüber dem US-Botschafter in Kiew sagte: „Fuck the EU“. Für Deutschland ging durch den Krieg um die Ukraine mitsamt der Wirtschaftssanktionen ein strategischer Wirtschaftspartner verloren: Russland. Die Rolle der EU-Mitglieder hierin, allen voran Polens und der baltischen Staaten, lässt sich jedoch nicht auf populistische Politik reduzieren. Sie haben durch die militärische fehlende Eigenständigkeit der EU deutlicher zur Stabilisierung der Nato beigetragen und agieren mehr oder minder als Juniorpartner des US-Imperialismus in der EU. Sie treten zugleich für eine heißere Kriegspolitik gegenüber Russland ein als auch gegen eine schnelle Integration der Ukraine in die EU, da sie eher das Abwandern von Investitionen dahin aufgrund der dort geringeren Kosten der Ware Arbeitskraft fürchten. Für die europäischen Imperialist:innen hingegen bedeutet es sowohl eine Erweiterung des Binnenmarktes als auch ein Investitionsfeld für das Exportkapital, das sich produktiv im Wiederaufbau und der EU-Integration verwerten möchte. Den Halbkolonien Osteuropas soll dementsprechend für das Zugeständnis von EU-Subventionen und die Freizügigkeit der Arbeitskraft das Vetorecht im europäischen Rat genommen werden, um die EU entscheidungsfähiger im Sinne ihrer vorherrschenden Nationen zu machen. Dass diese Ziele nicht ohne weitere Zerwürfnisse umsetzbar sind, liegt auf der Hand. In den vergangenen Jahren waren für dieses Spannungsverhältnis immer wieder Polen und Ungarn passende Beispiele.

Während der Kampf um die Neuaufteilung der Welt außenpolitisch die bisherige strategische Orientierung der EU infrage stellt, bildet die Stärkung des Rechtspopulismus im Inneren eine Herausforderung für das bisher etablierte Programm des deutschen Imperialismus und – mit Abstrichen – des französischen. In diesem Zusammenhang kann dementsprechend die immer mehr Einfluss nehmende Rolle des deutschen Imperialismus im Kampf um die Ukraine und seiner Politik der Kriegstüchtigkeit im Inneren verstanden werden: als Reaktion einer imperialistischen Großmacht, deren zentrales Projekt zu scheitern droht, auch weil sie nicht fähig ist, ihre Ziele zu einer gesamteuropäischen Strategie zu machen. Es handelt sich dabei um die schwerste Krise der Europäischen Union seit ihrer Existenz und der ihrer Vorläuferorganisationen EWG und EG.

Die Umstellung des europäischen Binnenmarktes

Die Coronapandemie und der damalige Impfnationalismus, also die global ungleiche Verteilung der vorliegenden Impfstoffe, lieferten schon eine Blaupause für die Umstellung der europäischen Wirtschaft. Hier wurden in Europa und bei den eigenen politischen Blockpartner:innen Impfstoffinfrastrukturen aufgebaut und Wirkstoffe wie die russischen und chinesischen nicht zugelassen. Mittlerweile hören wir häufiger Debatten um Medikamentenengpässe und Renationalisierung von Produktionsstätten (Stichwort: Arzneimittel für Kinder). Eine durch die Sanktionen getriebene Entwicklung stellt die Verschiebung der Energieimporte weg von Russland hin zum US-Imperialismus und den Golfstaaten dar. Das jüngste Beispiel sind die Joint-Venture-Halbleiterfabriken gemeinsam mit US-amerikanischen und chinesischen Konzernen. Die EU ist also getrieben von einer Umordnung des Weltmarktes. Deutschland hatte durch die Währungsunion in der Globalisierung doppelt profitiert: einerseits durch einen zollschrankenbefreiten europäischen Binnenmarkt, andererseits durch eine schwächere Währung als die Deutsche Mark, welche Exportvorzüge versprach.

Mitgliedsländer – von Abstellgleisen und Überholspuren

Der Krieg auf europäischem Boden spitzt logisch auch die Blockkonfrontation zu. Im Zuge dessen sind die Ukraine und Moldawien im vergangenen Jahr EU-Beitrittskandidat:innen  geworden. Entsprechend stellten sich die Westbalkanstaaten (Albanien, Nordmazedonien, Kosovo, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina), die teilweise seit über 18 Jahren als Beitrittskandidatinnen gelten, nach hinten an. Das Projekt einer wirtschaftlichen Integration, das vor allem unter Merkel betrieben worden war, ist reduziert auf ihre Nutzung als Reservoir billiger, rechtloser Arbeitskräfte. Die Arbeitsvisa wie die Westbalkanregelung ermöglichen für die EU eine kapitalkonformere Regelung als das Schengen-Abkommen. Dafür sollen die Staaten die Migration bekämpfen und sich militärisch unterordnen. Hierfür sind die NATO-Beitritte Montenegros (2017) und Nordmazedoniens (2020) Sinnbild. In diesem Sinne stellen die Beitrittspläne eher eine Blockstrategie mit ihnen als Peripherie denn eine Stärkung des Projektes EU in seiner ursprünglich beschrieben Konzeption dar.

Arbeiter:innenklasse und -bewegung

Wie stehen die Organisationen der europäischen Arbeiter:innenklasse diesen Herausforderungen gegenüber? Bei der Europawahl scheinen den Prognosen zufolge nur die Parteienbündnisse rechts der Europäischen Volksparteien an Stimmen zu gewinnen. Stellen doch schlussendlich die europäischen Sozialdemokratien eher einen Flügel dar, der die proeuropäischen Teile der Bourgeoisie integrieren möchte. So orientiert sich die sozialdemokratische S&D auf eine Reform der EU-Institutionen, um blockierende Vetos zu verhindern. Gemeinsam will man sich gegen die EU-Kritiker:innen im Osten stellen, während die Europäische Linke (EL) zurück zum sozialen Europa will, ohne die Frage aufzuwerfen, welche Klasseninteressen dem entgegenstehen. Wie das selbst bei einem – unrealistischen – Wahlerfolg der EL (Fraktion im Europaparlament: GUE/NGL) erreicht werden kann, darüber hüllt sie sich in Schweigen. In Deutschland hat sich mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht eine populistische Partei aus der LINKEN herausentwickelt, die eine alternative Ausrichtung für das deutsche Kapital vorschlägt, die sich auch an der Perspektive des Europas der Vaterländer orientiert. Hinter dieser vermeintlichen Flucht vor undemokratischen EU-Institutionen, wie berechtigt die Kritik auch sein mag, steckt die Unterordnung unter die herrschende Klasse im Nationalstaat als Ausweg. All diese Parteien versagen also darin, eine Alternative gegen das Programm der imperialistischen Vereinigung oder nationalen Abschottung zu formulieren und deren Widersprüche dabei zuzuspitzen.

Die Europäische Linke ist unter den antretenden Kräften bei der EU-Wahl, jene, die dem Bedürfnis der Ausgebeuteten und Unterdrückten nach einer Perspektive gegen den aktuellen Kurs am ehesten in größerer Masse zum Ausdruck bringt. Die EL bietet dabei jedoch eine Perspektive, die programmatisch auf die Transformation sozial wie politisch der Gesellschaft mitsamt der EU, wie sie im Grunde ist, orientiert. Laut Gründungsmanifest von 2004 wollte man der EU einen anderen Inhalt geben. Alle diese Formationen setzen sich kurzum für eine Umwandlung der EU ein, eines Projekts, das jedoch in seiner Konstitution bereits undemokratische Fallstricke eingebaut hat.

  • Undemokratisch: So sind weite Politikbereiche selbst im bürgerlichen Sinne nicht durch Wahlen beeinflussbar, das EU-Parlament ist verglichen mit EU-Kommission und Europarat das schwächste Organ.

  • Neoliberal: Ihr Aufbau ist historisch vielleicht ein Kompromiss gewesen, der auch soziale Zugeständnisse beinhaltete, krisengetrieben bleibt hierfür jedoch kein Spielraum, da der Binnenmarkt nicht viel mehr ist als der Hinterhof des deutschen Exportkapitals.

  • Militaristisch: Spätestens angesichts massiver Aufrüstung droht die EU, vermittelt über die Nato, als koordiniertes Militärprojekt auf den Schlachtfeldern dieser Welt deutlicher mitmischen zu wollen.

Für uns wird daraus deutlich: Das Europa des Kapitals kann nicht reformiert werden. Der kapitalistischen Europäischen Union halten wir die Losung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa entgegen.




Die Qual der Europawahl

Martin Suchanek, Neue Internationale 282, Mai 2024

Am 8./9. Juni findet die Wahl zum Europäischen Parlament, kurz Europawahl, statt. Mit mehr als 350 Millionen Wahlberechtigten ist sie nach dem Urnengang in Indien der größte dieses Jahres.

Euphorie und Beigeisterung des Wahlvolkes halten sich freilich in Grenzen. Obwohl das Europäische Parlament in den letzten Jahren an Kompetenzen hinzugewonnen hat, kommt ihm in den Augen der Bevölkerung wie auch der konkurrierenden Parteien gegenüber nationalen Parlamenten eine untergeordnete Bedeutung zu. Kein Wunder also, dass der öffentliche Kampf um Stimmen und Sitze erst einen Monat vor der Entscheidung beginnt. Aufsehen erregte bisher eher der Kampf um Listenplätze und Startpositionen für mögliche zukünftige Posten.

Charakter des Europaparlaments

Das spiegelt nicht zuletzt auch den Charakter des Europaparlaments wieder. Anders als jene der EU-Einzelstaaten wird das Gegenstück zur Regierung auf nationaler Ebene, die Europäische Kommission, nicht direkt vom Parlament gewählt. Präsidentschaft und Kommissar:innen (quasi Minister:innen) werden vielmehr vom Rat der Europäischen Union (auch EU-Ministerrat genannt) mit qualifizierter Mehrheit ernannt und dann dem Parlament vorgeschlagen. Dies kann natürlich, wie 2019 der EVP-Listenführer Manfred Weber (CSU) schmerzlich erfahren musste, den Vorschlag ablehnen und so den EU-Ministerrat zur Neuverhandlung zwingen, aber keinen eigenen Vorschlag zur Abstimmung stellen.

Ebenso wenig kann es eigene Gesetzesinitiativen starten, sondern nur die der Europäischen Kommission abändern, verwerfen oder beschließen.

Kurzum, es ist auch rein formal ein Parlament mit beschränkter legislativer Vollmacht. Gegenüber der Europäischen Kommission spielt es die zweite Geige. Darin unterscheidet es sich nicht grundsätzlich von nationalen Parlamenten, wo Regierung und Staatsapparat die politische Macht auf sich konzentrieren, es ist hier nur offensichtlicher.

Viel bedeutender ist jedoch, dass die Europäische Kommission keineswegs als EU-Regierung missverstanden werden will. Auch wenn die europäischen Institutionen in den letzten Jahrzehnten an Kompetenzen hinzugewannen und auch über beachtliche Budgets verfügen, so liegt die politische Macht bis heute letztlich nicht bei den suprastaatlichen Einrichtungen, ganz so wie die EU kein Staat, sondern ein Staatenbund ist. Die eigentliche Macht befindet sich bei den politischen Exekutiven der Nationalstaaten, genauer bei den tradierten großen imperialistischen Staaten Europas – Deutschland, Frankreich, Italien.

Auch wenn diese keineswegs „allmächtig“ ihren Willen durchsetzen können, ja gelegentlich auch von den „kleinen“ blockiert werden können, so geht doch nichts ohne sie und vor allem vertreten diese Staaten das Ziel, die EU zu einem imperialistischen Block unter ihrer Dominanz zu gestalten, der weltmachtfähig werden soll. Die Schwierigkeiten auf diesem Weg reflektieren letztlich, dass die vorherrschenden Nationen und die dominierenden nationalen Kapitale nicht bloß „Partner:innen“, sondern zugleich auch Konkurrent:innen sind, die zwar alle für „Einheit“ und einen „freien Markt“ eintreten, aber nur solange es nicht auf ihre Kosten geht.

Inhärenter Widerspruch

Kein Wunder also, dass die europäische Politik immer an diese Grenze stößt, einen wirklichen inneren Widerspruch, der innerkapitalistisch nicht aufzulösen sein wird, der verdeutlicht, dass Nationalstaat und imperialistische Sonderinteressen selbst ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte, für die Lösung aller großen europäischen Probleme darstellen.

Diese Tendenz wird noch dadurch verschärft, dass sich EU-Mächte und damit die EU selbst im schärfer werdenden globalen Kampf um die Neuaufteilung der Welt gezwungen sehen, sich auf das „Kerngeschäft“ in der Konkurrenz zu besinnen: Aufrüstung und Kriegsfähigkeit, Aufbau eigener europäischer Großkapitale und Hightechbranchen, rassistische Abschottung durch selektive Migrationspolitik. Und auch dabei sieht es nicht rosig aus. Der Green Deal, einst als „ökologisches“ und „transformatorisches“ Wunderwerk der EU-Kommission verkauft, wurde längst auf die politische Müllhalde der Staatenunion entsorgt.

Die „Große Koalition“ der EU

Da die EU bis heute ein strategisches Projekt aller ihre zentralen Mitgliedstaaten verkörpert, agieren alle staatstragenden Parteien – die Konservativen der EVP, die Liberalen, Grünen und die Sozialdemokratie – faktisch als „große Koalition“ der EU.

Von den 705 Mitgliedern stellt zur Zeit die EVP (Europäische Volkspartei), der CDU und CSU angehören, 178 Abgeordnete und damit die größte Fraktion im Parlament. Die S&D (Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten) stellt 140, die liberale Renew Europe, der die FDP angehört, 102, die Grüne Fraktion 72 Abgeordnete. Zusammen vereinen sie 492 Sitze auf sich, also fast 70 %.

Auch wenn alle diese Bündnisse mit eigenen Spitzenkandidat:innen zur Europawahl antreten, so ist doch von einer Wiederwahl von der Leyens, der Spitzenkandidatin der EVP, auszugehen.

Auch wenn das Europaparlament nach wie vor nur begrenzte Rechte hat, so stellen die Wahlen natürlich dennoch ein Barometer für die politischen Stimmungen in der EU und das Kräfteverhältnis dar.

Prognosen

Die aktuellen Umfragen gehen davon aus, dass die EVP ihre Position halten oder sogar leicht ausbauen kann. Auch der Sozialdemokratie wird prognostiziert, dass sie ihren Anteil behaupten kann. Erhebliche Verluste werden jedoch den Liberalen (etwa ein Drittel) und den Grünen (rund die Hälfte) vorausgesagt. Das bedeutet für die „große Koalition“ des Europaparlaments zwar weiter eine deutliche Mehrheit, aber eine Verschiebung hin zum konservativen Lager.

Gestärkt werden mit großer Wahrscheinlichkeit die rechten Fraktionen im EU-Parlament, wobei diese jedoch auch große innere Gegensätze – gerade bezüglich des Ukrainekrieges – austragen. Der größte Zuwachs wird dabei der Fraktion der „Konservativen und Reformer“ vorhergesagt. Dieser gehört als wohl wichtigste Partei Melonis Fratelli d’Italia (FdI) an, die durchaus in die EU-Mehrheit integrierbar ist, ganz so wie Meloni als rechte Ministerpräsidentin eng mit von der Leyen und der EU-Kommission zusammengearbeitet hat. Der Grund dafür liegt darin, dass viele dieser Parteien in der Kriegs- und Aufrüstungsfrage vollkommen auf EU-Linie liegen.

Die andere, noch rechtere Fraktion, „Identität und Demokratie“, der auch AfD, FPÖ und Le Pens „Rassemblement National“ (RN) angehörten, dürfte nur leichte Stimmenzuwächse erzielen können – auch, weil sie schon bei den Wahlen 2019 sehr stark abschnitt und die italienische Lega deutliche Verlust einfahren dürfte.

Nichtsdestotrotz können wir mit einem Anteil von 20 – 25 % für die europäischen rechtspopulistischen, rechtskonservativen bis rechtextremen Parteien rechnen, der sich insgesamt vergrößert und konsolidiert, zumal manche rechte Parteien wie z. B. Fidesz aus Ungarn keinem Parteibündnis angehören.

Die Fraktion „Die Linke im Europäischen Parlament“ (GUE/NGL) wird ihren Anteil halten, etlichen Prognosen zufolge womöglich sogar vergrößern können. Die wohl stärkste einzelne Partei in der Fraktion dürfte dabei La France insoumise werden, die 2019 mit einem eigenen Bündnis angetreten war, nun aber so wie andere linke Parteien aus Frankreich wieder im (Fraktions-)Boot sitzt.

Was tun bei den Wahlen?

Das allgemeine Stimmrecht, so Engels im „Ursprung der Familie“, liefert einen Gradmesser für die Reife des Proletariats. „Solange die unterdrückte Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu ihrer Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein.“

Betrachten wir die Ergebnisse von 2019 und die Prognosen zur Europawahl für 2024, so steht es schlecht um die „Reife“, Organisationsgrad, Klassenbewusstsein und Programmatik des Proletariats.

Nehmen wir alle Parteien, die sich sozial, historisch, organisch auf die Arbeiter:innenklasse stützen, so werden die sozialdemokratischen, in Wahrheit bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zwar mit einem blauen Auge davonkommen, aber doch eindeutig unter 20 % in ganz Europa bleiben. Die SPD wird z. B. kaum verlieren, weil sie ihr Desaster schon 2019 eingefahren hat und daher nur 16 von 99 Sitzen zu „verteidigen“ hat.

Grundsätzlich stand jedenfalls die Mehrheit der europäischen Sozialdemokratie während der gesamten Legislaturperiode und steht weiterhin für die nächste für eine Politik, die nicht bloß den europäischen Kapitalismus (mit)verwalten will und das tut, sondern auch für eine aggressive imperialistische Außenpolitik: Sanktionen und neuer Kalter Krieg gegen Russland, NATO-Erweiterung und Aufrüstung, Einverleibung der (West-)Ukraine in NATO und EU, mehr oder minder bedingungslose Solidarität mit Israel, Sanktionen gegen den Iran und direkte Intervention auf Seiten Israels durch Verbände im Mittelmeer und im Roten Meer. Diese Liste ließe sich noch weiter fortführen.

Natürlich steht die Sozialdemokratie auch für die Festung Europa, für rassistische Abschottung und selektive Migration – und sie wird weiter eine Stütze der EU-Kommission bleiben.

Auch wenn die sozialdemokratischen Parteien weiter ihre soziale Stütze in der Arbeiter:innenklasse, vor allem in den relativ bessergestellten Teilen, der Arbeiter:innenaristokratie haben und die Gewerkschaften in Europa dominieren, so lehnen wir eine Stimme für diese Parteien bei diesen Wahlen in der Regel ab – in der Regel, weil wir hier nicht beanspruchen wollen, für jedes der 27 Mitgliederländer eine detaillierte Analyse der politisch-ökonomischen Lage und der Situation in der Arbeiter:innenbewegung vorzulegen.

Links der Europäischen Linken

Allerdings treten in vielen Ländern linksreformistische Organisationen an, die meist, aber nicht immer Teil der GUE/NGL sind (die wohl wichtigste Ausnahme bildet hier die griechische KKE, deren stalinistisches Programm wir grundlegend ablehnen, die jedoch im Gegensatz zu DKP oder MLPD über eine reale Verankerung in signifikanten Teilen der Arbeiter:innenklasse verfügt).

Wir rufen in den meisten europäischen Ländern zur Wahl der Parteien der Europäischen Linken auf, es sei denn diese repräsentieren keine nennenswerte Schicht in der Arbeiter:innenklasse, sondern stellen nur linke, reformistische Kleinstparteien dar.

In Frankreich unterstützen wir die Wahl der NPA. Auch wenn sie noch keine Partei im eigentlichen Sinn darstellt, so bildet sie aktuell einen Ansatzpunkt für die Formierung einer revolutionären Partei in Frankreich. Unser Unterstützung ist dabei durchaus eine kritische. Wir kritisieren, dass sie selbst über kein ausgearbeitetes revolutionäres Programm verfügt, und wir schlagen den Genoss:innen vor, ein solches zu diskutieren und erarbeiten.

Doch die Lage in Frankreich bildet, europaweit betrachtet, eine Ausnahme. Im Gegensatz dazu rufen wir in Deutschland nicht zur Wahl vorgeblich „marxistischer“ oder „revolutionärer“ Parteien wie der DKP, der MLPD und der SGP (Sozialistische Gleichheitspartei) auf. Während die NPA über ein Potential verfügt, in eine revolutionäre Richtung zu gehen, handelt es sich bei DKP und MLPD um verknöcherte stalinistische Möchtegernparteien, wobei die DKP auch noch eine opportunistische Haltung gegenüber dem russischen und chinesischen Imperialismus vertritt. Die SGP ist eine pseudoradikale Sekte, die neben allgemeinen sozialistischen „Wahrheiten“ auch fatale und reaktionäre Positionen vertritt, wie die Ablehnung einer organisierten revolutionären Arbeit in den Gewerkschaften und jeder Einheitsfront mit ihnen.

DKP, MLPD und erst recht PSG vertreten nicht nur falsche, einem revolutionäre Programm entgegengesetzte Positionen, sie repräsentieren im Unterschied zur Partei DIE LINKE nicht einmal eine signifikante Minderheit der Arbeiter:innenklasse oder kämpferischer Aktivist:innen.

DIE LINKE als Alternative?

Allerdings hat auch DIE LINKE in den letzten Jahren einen weiteren Abstieg und Mitgliederschwund zu verzeichnen. Mit der Abspaltung der Bewegung Sahra Wagenknecht (BSW), die eine eigene populistische Volkspartei ins Leben rief, wurde sie weiter geschwächt. Allerdings stellt ihre Mischung aus pazifistischen Antikriegspositionen, sozialen Forderungen und einem klassenübergreifenden Programm, das für eine „vernünftige“ kapitalistische soziale Marktwirtschaft plädiert und in den rassistischen Chor der „rigiden Migrationspolitik“ einstimmt, keine wählbare Alternative, sondern einen Bruch nach rechts dar, wie wir schon ausführlich in der Sondernummer der NI (279) zur Krise der Linkspartei dargelegt haben.

DIE LINKE wird zur Zeit Opfer der eigenen Widersprüche ihrer reformistischen Politik. Einerseits will sie „Klassenpolitik“ betreiben, andererseits vom revolutionären Sturz des Kapitalismus nichts wissen. So läuft es dann auf mehr oder weniger „linke“ Mitgestaltung des Systems, auf Regierungsbeteiligungen und „Transformationsstrategie“ hinaus – und zwar nicht nur bei Wahlen, sondern auch in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, wo man links blinkt, die bürokratischen Apparate oder „Bündnispartner:innen“ aber nie infrage stellt, sondern sich vielmehr an diese anpasst.

Revolutionär:innen können nie das Programm und Strategie einer solchen Partei gutheißen. Wo sie zur Wahl dieser aufrufen, kann das immer nur eine kritische Unterstützung darstellen, die darauf zielt, die Basis eine solchen Partei zu erreichen und sie in einen Gegensatz zu ihrer Führung zu bringen, indem man einerseits zur Wahl dieser Partei aufruft, andererseits die Mitglieder oder Wähler:innen dazu auffordert, ihre Führung in der Aktion auf die Probe zu stellen, von ihr einen wirklichen Kampf selbst für ihre Reformforderungen zu führen. In diesem Sinne setzt die Taktik der kritischen Wahlunterstützung als eine Form der Einheitsfronttaktik notwendig mit der Kritik an den nicht-revolutionären Formationen an, die es hierdurch gilt, anhand ihres Programms zu überprüfen.

Heute verliert DIE LINKE an Einfluss bei den Wähler:innen. Nur 3 bis maximal 4 % werden ihr Umfragen zufolge bei der Europawahl ihre Stimme geben. Zugleich blieb bislang der Exodus aus. Sie ist zwar in den letzten Jahren stetig geschrumpft, organisiert aber noch immer rund 50.000 Mitglieder – weit mehr als der „Rest“ der Linken links von der Linkspartei zusammengenommen. Im Saldo ist sie seit dem Ausscheiden Wagenknechts und ihrer Verbündeten sogar leicht angewachsen.

Wir können durchaus nachvollziehen, dass auch zur Europawahl und erst recht zu den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg klassenkämpferische Arbeiter:innen und linke Aktivist:innen ihr Kreuz bei DIE LINKE machen, um damit einen weiteren Rechtsruck wenigstens an der Urne abzubremsen und auch ihre Ablehnung der vorherrschenden Politik der Ampel oder EU-Kommission zum Ausdruck zu bringen. Viele tun das mit wenig Enthusiasmus, wohl aber in der Hoffnung, dass DIE LINKE wenigstens ein „kleineres Übel“ als der ganze andere Scheiß sei. In letzter Instanz stellt auch das eine Illusion dar.

Da hilft es letztlich auch nichts, dass DIE LINKE bei innenpolitischen, sozialen und antirassistischen Fragen im Europawahlkampf sogar wieder etwas linker blinkt und ihre „Oppositionsrolle“ hervorzaubert. Doch die reformistischen Held:innen um Schirdewan, Rackete, Alev Demirel, Gerhard Trabert und Ines Schwerdtner bleiben auch gleich auf halber Strecke stecken. Zur Kriegsfrage halten sie sich bedeckt. Gegenüber Russland und der Ukraine machen sie auf Pazifismus, bezüglich Palästina lautet die Devise, möglichst nichts zu sagen.

Umso lauter positionieren sich Parteirechte wie Klaus Lederer für den Zionismus. Da reicht es nicht, dass auch Leute vom linken Flügel wie DIE LINKE Neukölln und Mitte in Berlin oder andere Gliederungen den Palästinakongress verteidigen.

Natürlich können wir nachvollziehen, dass viele Aktivist:innen DIE LINKE trotz alledem wählen werden – und wir sind durchaus bereit, diesen Schritt mitzugehen. Eine Kampagne, die sich auf eine Wahlenthaltung oder gar einseitig auf Nichtwahl der LINKEN kapriziert, als ob es nichts Schlimmeres im Juni 2024 gebe, halten wir für unsinnig. Sie richtet sich an Formationen, die einen bedeutenderen Einfluss auf die Arbeiter:innenbewegung nehmen, während sogenannte revolutionäre – bestenfalls Propagandagruppen, keine Parteien mit nennenswertem Einfluss in der Klasse – sich legitimatorisch und zugleich isolierend an die eigene Basis im Gewand revolutionärer Klarheit und eines abstrakten Propagandismus wenden.

Frage an ihren linken Flügel: Umgruppierung oder überwintern?

Aber an die Linken und kämpferischen Genoss:innen in der Linkspartei seien ein paar Fragen gestellt: Wie lange wollt Ihr noch „oppositionelle“ Sisyphusarbeit betreiben? Wie lange wollt Ihr Euch auf die „Reform“ einer schrumpfenden reformistischen Partei fokussieren, deren bürokratischen Apparat und deren reformistische Führungsallianzen Ihr in den letzten fast 20 Jahren keinen Schritt nach links bewegt habt? Wie lange wollt Ihr Euch noch etwas über eine Partei vormachen, wo Ihr vielleicht an einzelnen Orten neue Leute für linke Politik gewinnt, die Partei damit aber keinen Millimeter nach links zieht?

Wäre es nicht Zeit zu überlegen, ob Euer Anspruch, klassenkämpferische – ja im Falle von Organisationen wie Sozialismus von unten, marx21, Sol oder SAV „revolutionäre“ – Politik voranzubringen, in DIE LINKE einlösbar ist? Wäre es nicht höchste Zeit, statt weitere Jahre mit politischen Manövern in einer Partei zuzubringen, die auch, als sie mehr Anziehungskraft auf kämpferische, nach links gehende Schichten ausübte, sich nicht nach links bewegt hat, in eine systematische Diskussion um den Aufbau einer wirklichen Alternative zum Reformismus mit Genoss:innen in wie außerhalb der Partei zu treten? Wir würden dazu den Austritt oder organisatorischen Bruch nicht zur Vorbedingung machen, aber halten es für unabdingbar, dass die subjektiv revolutionäre und klassenkämpferische Linke einen solchen Diskussionsprozess mit Ziel der Schaffung einer gemeinsamen revolutionären Organisation auf Basis eines revolutionären Programms in Angriff nimmt. Denn die gesamte weltgeschichtliche Lage, Krisen, Krieg, drohende Umweltkatastrophe erfordern eine revolutionäre Antwort, nicht ein weiteres, „kleineres reformistisches Übel“.




UK und Irland: Stoppt Rassismus und Bigotterie!

Dave Stockton, Infomail 1215, 1. März 2023

Rechtspopulistische und faschistische Gruppen starten im gesamten Vereinigten Königreich und in der Republik Irland eine breit angelegte Offensive, bei der sie Rassismus gegen Migrant:innen und Bigotterie gegen Transsexuelle als ihre Visitenkarte abgeben. Die Entscheidung der Regierungen, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und gleichzeitig – zumindest im Falle Großbritanniens – diejenigen zu verteufeln, die den Ärmelkanal in wackeligen Booten überqueren, bietet einen fruchtbaren Boden für die Hassprediger:innen.

In Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Not in strukturschwachen Gebieten, die sowohl von den regierenden Torys als auch von der Labour-Partei lange Zeit vernachlässigt wurden, bringen die Regierungen diejenigen, die es hierher geschafft haben, in heruntergekommenen Hotels unter, oft in Badeorten, wo sie unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht sind, weit weg von Freund:innen oder Unterstützungsnetzen der eigenen Community.

Dort hetzen die rassistischen Gruppen die Einheimischen auf, diese vermeintlichen Zufluchtsorte für Demonstrationen und Schlimmeres anzusteuern, und finden ein Publikum, das zwar noch nicht groß ist, aber wächst und gefährlich ist. Die antirassistische Kampagne „Hope not Hate“ weist in ihrem Bericht 2023 darauf hin:

„Die Proteste und Aktionen gegen Migrant:innen vor deren Unterkünften und Hotels haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt. In der Zwischenzeit gab es eine Reihe von Aktionen zur Störung oder Absage von Buchveranstaltungen der Drag Queen Story Hour, die sich gegen Transrechte und die LGBTIA+-Community richteten.“

Die Tory-Boulevardblätter wie die Daily Mail mit ihrer Propaganda über eine Invasion von Bootsflüchtlingen oder Lehrer:innen, die versuchen, das Geschlecht „unserer“ Kinder zu ändern, haben den Boden bereitet, um diese Verbreitung reaktionärer Aktivitäten zu schüren. Daher rühren auch die Slogans auf diesen Demonstrationen, die Boote zu stoppen oder die „Pädos“ zu bekämpfen.

Die einwanderungsfeindliche Innenministerin Suella Braverman, die zunächst vorschlug, die Marine zu veranlassen, die Boote zurück in französische Gewässer zu „schieben“ und dann diejenigen, die die Überfahrt überleben, auf alten Kreuzfahrtschiffen festzuhalten, versucht immer noch, die Gerichte dazu zu bringen, die Menschen nach Ruanda abschieben zu lassen.

Warnung aus Merseyside

Das bedrohlichste Ereignis war der große Aufruhr am 11. Februar vor dem Suites Hotel in Knowsley, Merseyside, wo sich eine große Menschenmenge, darunter viele Einheimische, versammelte und rassistische Parolen rief. Die Aufregung wurde durch Behauptungen im Internet angeheizt, eine fünfzehnjährige Schülerin sei von einem Mann aus dem Hotel belästigt worden. Diese Behauptungen haben sich inzwischen als unbegründet erwiesen. Jemand aus dem Mob hatte eine Benzinbombe mitgebracht, offensichtlich in der Absicht, ein Pogrom zu veranstalten. Ein Polizeiauto geriet zur Zielscheibe.

Weitere Angriffe auf Hotels, in denen Migrant:innen untergebracht sind, fanden in Long Eaton (Derbyshire) bei Nottingham und Newquay in Cornwall statt. Hunderte nahmen an einer Demonstration in Skegness (Lincolnshire) teil. Rechtsextreme Gruppen wie Patriotic Alternative und Britain First haben in diesen Gebieten Flugblätter über „Luxushotels für Migrant:innen“ verteilt, während „unsere Leute“ obdachlos sind.

Das gemeinsame Muster ist die bewusste Entscheidung der Regierung für unwirtliche Orte für Menschen, die in ihren Heimatländern unter Kriegstraumata leiden, was durch lange Verzögerungen bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge noch verstärkt wird. Dies geht auf Theresa Mays Politik der „feindlichen Umgebung“ zurück, als sie Innenministerin war (2010 – 2016).

Auch in der irischen Republik finden seit November landesweit antimigrantische Mobilisierungen unter dem Motto „Irland ist voll“ statt. Im Jahr 2022 gab es 307 solcher Proteste, 2023 waren es bereits 64. Bei der letzten Demonstration in Dublin gingen mehr als 2.000 Demonstrant:innen auf die Straße, wobei der Schwerpunkt auf einem Gebäude lag, das zu einem Wohnheim für Migrant:innen umgebaut worden war und in dem sich Woche für Woche Hunderte von Menschen versammelten. Im Dezember weiteten sich die Demonstrationen auf andere Gebiete aus: die Vororte Dublins Drimnagh, Finglas und Ballymun sowie Fermoy (Cork).

Auch in Schottland kam es in der dritten Woche in Folge zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen vor einem Hotel in Renfrewshire (bei Glasgow) wegen Plänen zur Unterbringung von Asylbewerber:innen. Mitglieder der Patriotic Alternative versammeln sich jeden Sonntag vor dem Muthu Glasgow River Hotel in Erskine (nahe Glasgow), um gegen die geplante Unterbringung von 200 Asylbewerber:innen zu protestieren.

Weitere Ziele der Rechten bilden die fortschrittlichen Vorschriften zur Geschlechtsanerkennung und transkulturelle Veranstaltungen. Transphobie war das Thema der jüngsten Veranstaltungen in London vor der Tate Modern-Kunstgalerie, und vor kurzem versuchten ein Dutzend Rechtsextremist:innen der Gruppe Turning Point, eine Drag Queen Storytelling-Veranstaltung im The Honor Oak Pub in Lewisham (London) zu verhindern, wurden aber von 200 Gegendemonstrant:innen empfangen.

Runter von unseren Straßen

Glücklicherweise haben sich in vielen dieser Fälle lokale Antirassist:innen, oft von der Organisation Stand Up to Racism, schnell mobilisiert und dazu beigetragen, mögliche gewalttätige Übergriffe zu verhindern. Obwohl die Polizei in Knowsley eingegriffen hat, können wir es nicht ihr überlassen, denn sie wird immer das „Recht auf friedlichen Protest“ der Faschist:innen verteidigen. Es ist klar, dass die neuen Antiprotestgesetze, die sich gegen diejenigen richten, die gegen die Umweltzerstörung durch den Kapitalismus protestieren, in erster Linie gegen Antirassist:innen und nicht gegen Faschist:innen eingesetzt werden.

Es ist die Pflicht der Arbeiter:innenbewegung, unsere Brüder und Schwestern zu verteidigen, die vor Umweltzerstörung, Armut, Verfolgung und Krieg fliehen. Wir müssen sagen: Öffnet die Grenzen für diejenigen, die vor Kriegen, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Not Zuflucht suchen!

Wir müssen uns auch dafür einsetzen, dass Asylbewerber:innen eine angemessene Unterkunft in Städten zur Verfügung gestellt wird, in denen es Gemeinschaften aus ihren Herkunftsländern gibt und in denen Gewerkschaften, Labourstadträte und sozialistische Gruppen sie willkommen heißen und ihnen bei der Verfolgung ihrer Ansprüche mit Rechtsberatung helfen können. Wir müssen die Beschränkungen bekämpfen, die ihnen das Recht auf Arbeit oder den Nachzug ihrer Familienangehörigen verwehren.

Sozialist:innen müssen dem rechtsextremen Hass in all seinen Formen, einschließlich der Transphobie, unbeirrt entgegentreten. Wo immer möglich, müssen wir diese rassistischen und transphoben Mobs von unseren Straßen vertreiben und sicherstellen, dass alle naiven Einheimischen, die sich ihnen anschließen, eine unangenehme Erfahrung machen, und die Faschist:innen, die sie wütend machen, in die Flucht schlagen.

Workers Power wird sich für eine große Beteiligung an den Demonstrationen am 18. März in London einsetzen. Auch in Glasgow und Cardiff wird es im Rahmen des weltweiten Tages der antirassistischen Proteste Demonstrationen geben. Angesichts der bösartigen Antimigrationspolitik vieler EU-Staaten, insbesondere der neuen extrem rechten italienischen Regierung unter Giorgia Meloni, und der Tragödie des Schiffsunglücks in Italien, bei dem 63 Flüchtlinge, darunter auch Kinder, ums Leben kamen, ist ein internationales Vorgehen dringend erforderlich.




Britannien: Johnson als Parteivorsitzender zurückgetreten – aber die Konservativen regieren weiter

Dave Stockton, Infomail 1193, 14. Juli 2022

Boris Johnson ist als Vorsitzender der Konservativen Partei zurückgetreten, aber noch nicht als Premierminister. Der raffinierte Drückeberger hat es geschafft, bis zum 5. September in der Downing Street Nr. 10 zu bleiben und sein Jahresgehalt von 164.080 Pfund zu beziehen. Die mehr als 50 Abgeordneten, die ihr Amt niedergelegt haben, haben ebenfalls Anspruch auf drei Monatsgehälter, was die Steuerzahler:innen rund 423.000 Pfund kostet, auch wenn einige von ihnen ihr Amt nur wenige Tage oder Wochen innehatten.

Der Daily Express und die Daily Mail sind außer sich vor Trauer und Wut über Boris, den Helden des Brexit. „Danke, Boris. Du hast Großbritannien seine Freiheit zurückgegeben“, jammert das eine; „Was zum Teufel haben sie getan?“, schreit das andere Zeitungsblatt.

Abgesehen von der Schadenfreude darüber, dass der/die dritte Tory-Chef:in Folge vor dem Amtssitz ans Rednerpult tritt, um den Rücktritt zu verkünden, gibt es für die Arbeiter:innenbewegung wenig zu feiern. Nach dem unbeholfenen Ed Miliband, nach Jeremy Corbyn – der von der Labour-Parlamentsfraktion sabotiert wurde – und nun mit dem langweiligen Keir Starmer besteht wenig Hoffnung auf eine sofortige Ersetzung Johnsons oder seines Nachfolgers „von uns“ – zumindest bei normalem Verlauf der Ereignisse.

Sicher, es war amüsant zu beobachten, was ein Abgeordneter der Konservativen Partei als eine Szene aus Shakespeares Julius Cäsar beschrieb, als über 50 Tory-Minister:innen ihre Dolche in Johnsons Rücken stießen. Er seinerseits, selbstgerecht wie immer, bestand nicht nur darauf, dass er nicht zurücktreten werde, sondern dass er plane, bis in die 2030er Jahre im Amt zu bleiben! Selbst als er seinen Rücktritt ankündigte, beschuldigte er die Westminster-„Herde“, ihn in den Abgrund getrieben zu haben – so wie sie ihn über den politischen Leichnam seiner Vorgängerin Theresa May an die Macht gebracht hatte.

Natürlich gibt es ernsthafte Probleme jenseits der „Partygate“-Skandale und seiner Lügen, dass Johnson nichts von dem Ruf seines stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer Chris Pincher als Sexualstraftäter wusste. Er war und ist ein dreister Lügner, der glaubt, dass Regeln und Vorschriften, ja sogar das Gesetz des Landes, für ihn nicht wirklich gelten.

Die Konservative Partei kannte seinen Ruf, als sie ihn zum Vorsitzenden wählte. Wie Trump in Amerika gezeigt hat, sind seine Fähigkeiten genau die, die ein moderner Demagoge braucht. Seine komödiantischen Fähigkeiten appellierten an die Vorurteile der reaktionären unteren Mittelschicht und der Tory-Wähler:innen aus der Arbeiter:innenklasse, die schon lange vor dem Einsturz roter Bastionen zur Wähler:innenbasis der Partei gehörten. Sie bewunderten seine Unverfrorenheit und seine offene Verachtung für die steifen und spießigen Konventionen des britischen politischen Lebens.

Brexit-Betrug

Johnsons Charakter als totaler Scharlatan war eine Empfehlung, als es darum ging, „den Brexit zu vollziehen“, ohne in irgendeiner Weise zu verraten, was das eigentlich bedeuten würde. Jetzt, wo sich dessen Auswirkungen zeigen, ist es angebracht, dass er abtritt und anderen überlässt, den Schlamassel zu beseitigen. In der Zwischenzeit ist der Brexit, was die Stabilisierung der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU oder die Unterzeichnung von „goldenen“ Handelsabkommen mit den USA und China angeht, noch lange nicht „erledigt“ – er könnte sogar noch rückgängig gemacht werden.

Das Einzige, was „getan“ wurde, ist, dass das Vereinigte Königreich den zollfreien europäischen Binnenmarkt verlassen hat. Es wurde kein Handelsabkommen mit Brüssel oder einem anderen wichtigen Land oder einer anderen Wirtschaft geschlossen. Es besteht ein akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Mit seinem Versuch, das von ihm selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll zu zerreißen, hat Johnson die Handelsvereinbarungen mit der US-Regierung Bidens zum Scheitern gebracht.

Jetzt, da die Inflation fast doppelt so hoch ist wie in den Nachbarländern, versprechen alle Tory-Kandidat:innen, die Steuern zu senken und gleichzeitig die Rüstungsausgaben zu erhöhen. Damit werden die Versprechen, in die heruntergekommenen Städte des Nordens zu investieren oder den staatlichen Gesundheitsdienst zu retten, ad absurdum geführt. Und „Anhebung des Niveaus“? Das hat sich wie alle anderen Versprechen erledigt. Natürlich steckt diese Regierung in einer Krise.

Die Konkurrent:innen um die Tory-Führung, die sich vor den betagten und reaktionären Parteimitgliedern aufführen, die am Ende zwischen zwei von ihnen wählen werden, sind sich einig, dass sie den Arbeiter:innen, die sie vor kurzem noch als Held:innen von Covid bejubelt haben, erhebliche Lohnkürzungen (z. B. Lohnabschlüsse unterhalb der Inflationsrate) aufzwingen wollen. Deshalb sollte jede Gewerkschaft eine Lohnforderung vorlegen, die die steigenden Lebenshaltungskosten vollständig ausgleicht und einen echten Anstieg der Kaufkraft nach 12 Jahren sinkender Einkommen und Tory-Kürzungen beim „Soziallohn“, im Gesundheits- und Bildungswesen, bei der Sozialhilfe, im öffentlichen Verkehr usw. vorsieht.

Die Zukunft unter den Tories

In der Zwischenzeit bieten die Tory-Kandidat:innen verschiedene Nuancen von Johnsons Politik an, die keine/r von ihnen wirklich ablehnte. Dazu gehören:

  • Provozieren eines Handelskriegs mit der EU wegen der irischen Grenze und Kriecherei vor den erzreaktionären Demokratischen Unionisten im Norden Irlands;
  • Steuersenkungen für die Reichen und die obere Mittelschicht, die eine Rückkehr zu brutaler Sparsamkeit erforderlich machen, um die Schulden zu begleichen, die durch Finanzminister Sunaks Großzügigkeit gegenüber den „Arbeitgeber:innen“ während der Covid-Pandemie entstanden sind;
  • Kriegstrommeln gegen Russland zu schlagen und Truppen und Flugzeuge an seine Grenzen zu schicken, was einen Weltkrieg provozieren könnte, während gleichzeitig Milliarden in Rüstungsausgaben fließen, die für Gesundheit, Bildung und die Bekämpfung der Klimakatastrophe verwendet werden könnten;
  • fortgesetzte Auslagerung, Privatisierung und generelle Unterminierung des staatlichen Gesundheitswesens und dessen, was von einem öffentlichen Bildungssystem übrig geblieben ist;
  • Asylbewerber:innen auf grausame Weise nach Ruanda zu schicken – und wahrscheinlich an noch weniger aufnahmebereite Orte;
  • die Inflation nutzen, um die Löhne zu kürzen, auch für die „Held:innen“, die sie während der Pandemie bejubelt haben.

Wenn der/die neue Tory-Vorsitzende fleißiger und effizienter ist als der faule, selbstdarstellerische Johnson, wird es für uns umso schlimmer kommen … wenn wir sie nicht aufhalten.

Die Labour-Bewegung – Gewerkschafter:innen und Sozialist:innen – muss Johnson und seinem/r Nachfolger/in sofort einen Schlag versetzen:

  • hohe Lohnforderungen, die den durch die Inflation angerichteten Schaden ausgleichen. Dem Beispiel der Gewerkschaft für Eisenbahn, See, Transport (RMT) folgen, deren Streik im Juni die öffentliche Unterstützung weckte und Forderungen anderer Gewerkschaften ermutigte.
  • Mobilisierung der Mehrheit für die Forderung nach einer entschädigungslosen Renationalisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe – Gas, Wasser und Strom –, damit wir ihre Preise senken und die Senkung der CO2-Emissionen beschleunigen können.
  • Austritt aus der NATO und Schließung britischer Stützpunkte in Europa und der ganzen Welt.
  • Umschichtung des gesamten Verteidigungshaushalts auf Gesundheit, Bildung und soziale Dienste.
  • Einleitung einer echten grünen industriellen Revolution auf der Grundlage von erneuerbarer Energie, öffentlichem Verkehr und Planung.
  • Abschaffung der Mehrwertsteuer und aller indirekten Steuern auf lebenswichtige Verbrauchsgüter und deren Ersetzung durch eine stark progressive Besteuerung von Einkommen und persönlichem Vermögen.

Wir müssen eine Massenbewegung aufbauen, die in jedem Ort verwurzelt ist und sich mit jeder kämpfenden Gruppe von Arbeiter:innen solidarisiert. Wir brauchen lokale Aktionsräte, um diese Kämpfe zu koordinieren und auf Massenstreiks gegen jede reaktionäre Maßnahme und Politik (Lohnstopp, Sparmaßnahmen, gewerkschaftsfeindliche Gesetze) der „Arbeitgeber:innen“ und ihrer Tory-Regierung hinzuarbeiten.

Gleichzeitig sollten die Mitgliedsgewerkschaften angesichts der bevorstehenden Labour-Konferenz mit ihrer passiven Missbilligung brechen und offen ein Ende von Starmers Hexenjagd und Außerkraftsetzung politischer Beschlüsse fordern, die von der Konferenz zwischen 2016 und 2021 demokratisch gefällt wurden. Wir sollten diesen politischen Kurs als Sprungbrett für die weitere Entwicklung einer echten Alternative zu Johnsons reaktionärem/r Nachfolger:in nutzen: nicht nur als Politik für eine künftige Labour-Regierung, sondern als Aktionsprogramm, das den Abgang der Tories durch eine massive soziale Revolte beschleunigen kann.




Rücktritt von Kurz: Abfuhr für Bürgerliche – Chance für Linke!

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1166, 14. Oktober 2021

Nicht einmal eine Woche, nachdem es zu Hausdurchsuchungen bei der ÖVP in der Parteizentrale sowie im Bundeskanzleramt gekommen war, war Sebastian Kurz schon nicht mehr Kanzler. Nach dem kometenhaften Aufstieg war das sein bisher größter Rückschlag.  Ob er dabei verglühen oder wieder wie eine Bombe einschlagen wird, wird sich noch zeigen. Fest steht: Die politischen Karten werden neu gemischt!

Projekt Ballhausplatz

Am gleichen Tag wie die Hausdurchsuchungen kam auch die Anordnung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) an die Medien. In ihr ist dargelegt, was für Vorwürfe gegen Sebastian Kurz und enge Vertraute von ihm vorliegen. Als schon davor bekanntes „Projekt Ballhausplatz“ wurde der mehrstufige Plan von Sebastian Kurz bezeichnet, von seinem Amt als Außenminister und Zukunftshoffnung der ÖVP aus, zuerst in einem Putsch die Partei und später das Bundeskanzleramt zu übernehmen. Neu ist die strafrechtlich relevante Dimension. In mehreren Stufen wurden offenbar frisierte Umfragen an Medien verteilt, insbesondere an die der Fellner-Gruppe (Österreich, oe24.at).

Zu einer Zeit, als Kurz noch Außenminister war, sollte die ÖVP – damals noch geführt von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner – in den Umfragen schlecht dargestellt werden. Als dann Sebastian Kurz die ÖVP übernahm, sollte sich das Blatt wenden. Dafür soll mit der Meinungsforscherin Beinschab zusammengearbeitet worden sein, die teilweise durch Pseudoprojekte des Finanzministeriums und später durch die Fellner-Gruppe bezahlt worden sein soll. Das Wesentliche dabei war, dass es zwar durchaus echte Rohdaten für die Umfragen gegeben haben dürfte, diese aber zugunsten von Sebastian Kurz gewichtet und teilweise frisiert wurden. Schon 2016 hatte Kurz ein Netzwerk an loyalen UnterstützerInnen in der ÖVP sowie in unterschiedlichen Ministerien aufgebaut. Thomas Schmid und Johannes Frischmann waren im Finanzministerium tätig, Sophie Karmasin war Familienministerin, Stefan Steiner war Generalsekretär der ÖVP – sie alle und noch mehr sind als Beschuldigte in der Anordnung für die Hausdurchsuchungen aufgeführt.

Bürgerliche wie Boulevard

Die engste Zusammenarbeit dürfte die Kurz-Clique mit den Medien der Brüder Fellner getätigt haben. Die Meinungsforscherin Beinschab wurde laut Vorwürfen später von deren Seite bezahlt – im Gegenzug für die Inserate in der Höhe von mehr als einer Million Euro. Doch man sollte hier nicht den Fehler begehen zu glauben, dass sich nur das Boulevard einkaufen lassen würde. Vielmehr ist das nur eine Komponente der Vorwürfe, die im Raum stehen. Des Weiteren geht aus den Chatverläufen hervor, dass auch über Rainer Nowak, Chefredakteur der „Die Presse“, Umfragen platziert worden sein sollen. So schreibt Thomas Schmid: „Nowak macht Story Abgrenzung zu NEOS. Blümel spielt in Wien NEOS an die Wand. Rund um Parteitag spielen wir Umfragen groß. Macht er uns.“ Sebastian Kurz dazu: „Großartig!!! Du bist super!“ Nowak dürfte aber auch Umfragen an unterschiedliche Zeitungen in diversen Bundesländern vermittelt haben.

Was sich in den Chatverläufen gut zeigt, ist das, was für KommunistInnen zum politischen Einmaleins gehört, nämlich dass die bürgerlichen Medien alles andere als neutrale und objektive Berichterstattung leisten. Neben den natürlich existierenden unbewussten gesellschaftlichen Prägungen im Interesse des Kapitals, der Vorauslese gewisser bessergestellter Bevölkerungsschichten in den Reihen der JournalistInnen und natürlich noch mehr der RedakteurInnen und ChefredakteurInnen, gibt es noch die gute alte Korruption. Oder wie es Thomas Schmid zusammenfasst: „Hehe, Objektivität gibt es nicht im Journalismus“.

Bestechlichkeit und Bestechung

Von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wird eine ganze Reihe an Leuten für Tatbestände wie Bestechlichkeit, Untreue und Bestechung als Beschuldigte geführt. Was hierbei aber vor allem interessant ist, ist, dass sich diese Korruptionsaffäre vom typischen Schema der Bestechlichkeit von bürgerlichen PolitikerInnen abhebt. Zuerst einmal kurz zur Klarstellung der Begrifflichkeit. Im österreichischen Strafgesetzbuch werden diese Begriffe nämlich etwas anders verwendet als im normalen Sprachgebrauch. Normalerweise trifft Bestechlichkeit auf den passiven Part einer Bestechung zu. Kurz gesagt, wer sich für eine Gegenleistung zahlen lässt, ist bestechlich, wer zahlt, besticht. Im Strafgesetzbuch beziehen sich die Begriffe aber nicht auf einen etwaigen aktiven oder passiven Teil des Geschäfts, sondern hier wird danach unterschieden, welche Funktion der Personen jeweils existiert. Auf öffentliche AmtsträgerInnen trifft hier der Vorwurf der Bestechlichkeit zu, auf jene, die die AmtsträgerInnen bestechen, der der Bestechung. In weiterer Folge werden wir die geläufigen Begrifflichkeiten und nicht die juristischen verwenden.

Schon die Unterscheidung zwischen juristischen und geläufigen Begrifflichkeiten legt nahe, warum es sich hier um einen speziellen Fall von Korruption handelt. Denn die Rollenverteilung ist in diesem Fall eigentlich vertauscht. Die Kurz-Clique versuchte nicht, aus ihren Rollen als MinisterInnen und BeamtInnen zu profitieren, sondern ihre Posten dazu zu verwenden, um Geld aufzutreiben. Mit diesem sollten dann Bestechungen durchgeführt werden und zwar im Interesse ihrer eigenen Machtsteigerung. Das klassische Gegenbeispiel ist Karl-Heinz Grasser, der versuchte, aus seinem Amt (finanzielle) Vorteile zu ziehen.

Doch was sagt uns das über Sebastian Kurz als Politiker? Im Gegensatz zu einem passiven Gehilfen des Kapitals, der erst durch Bestechung gefügig gemacht werden muss, war (und ist) er entschlossen, die unterschiedlichsten Mittel einzusetzen, um in Machtpositionen zu kommen. Dieser persönliche Ehrgeiz war von ihm von Anfang an mit einer offensiven Politik im Interesse des Kapitals verbunden: Er brachte rassistische Spaltung, den 12-Stundentag und Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen. Aber eben nicht primär aus einer passiven Rolle, wo von Seiten der KapitalistInnen (finanziell) nachgeholfen werden musste, sondern aus einer aktiven, eigenständigen Position heraus. Das ist einer der zentralen Gründe dafür, warum er nahezu alle relevanten Teile des Kapitals hinter sich versammeln konnte.

Schritt zur Seite?

Nachdem er 3 Tage lang einen Rücktritt ausgeschlossen hatte, wurde schließlich doch der Druck zu groß – vor allem wegen der Gefahr eines Koalitionsbruchs – und Sebastian Kurz zog die Konsequenzen –  so könnte man meinen. Er legte das Amt des Bundeskanzlers zurück, kehrte aber als Klubobmann in den Nationalrat als Abgeordneter zurück. Das Amt des ÖVP-Chefs behielt er gleichermaßen. Sein Nachfolger als Bundeskanzler wurde Außenminister Alexander Schallenberg.

Schallenberg selbst könnte kaum aus einem elitäreren Hintergrund stammen. Seine Familie ist ein Jahrhunderte altes Adelsgeschlecht, sein Vater war Botschafter und Generalsekretär im Außenministerium. Er selbst ist Berufsdiplomat. Wesentliche Fortschritte auf seiner Karriereleiter hat er Kurz zu verdanken. Nachdem Sebastian Kurz 2013 das Außenministerium übernahm, wurde Schallenberg zum Leiter der neu geschaffenen „Stabsstelle für strategische außenpolitische Planung“ und damit mehr oder weniger direkter Berater von Sebastian Kurz und prägend für seine außenpolitischen Positionen. Nachdem Kurz zuerst die ÖVP und kurze Zeit später das Bundeskanzleramt übernommen hatte, saß Schallenberg im Verhandlungsteam der ÖVP. Unter der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein wurde er zum Außenminister bestellt – ein weiterer Beweis dafür, dass die damalige „ExpertInnen“-Regierung einen deutlichen Rechtsdrall aufwies. Unter der neuen türkis-grünen Regierung wurde er dann ebenfalls wieder Außenminister. Deutlich zeigt sich hier also, dass Alexander Schallenberg ganz klar dem Kurz-Flügel der Partei zuzuordnen ist und die wesentlichen Aufstiege in seiner Karriere – wie wohl auch den bisher letzten zum Bundeskanzler – Kurz zu verdanken hat.

Unmut in der ÖVP

Doch wir sollten uns nicht der verkürzten Analyse hingeben, dass mit dem Rücktritt von Kurz und der Ernennung Schallenbergs zum Kanzler sich überhaupt nichts geändert hätte. Unmittelbar ist Sebastian Kurz zumindest als Parteichef offensichtlich bestimmend in der ÖVP und darüber sollten wir uns nicht täuschen, aber gleichzeitig sollte man nicht den Beginn des Aufstiegs von Sebastian Kurz vergessen. Als er sich im Mai  2017 zum ÖVP-Chef krönen ließ, konnte er gleichzeitig wesentliche Vollmachten in der ÖVP durchsetzen, die sogar statutarisch verbrieft wurden. Das ging mit einer deutlichen Zentralisierung der traditionell föderalistisch und in Bünden aufgebauten ÖVP einher. Aber die laufenden Ermittlungen werden wohl oder übel weitere Offenbarungen über Sebastian Kurz und sein Umfeld zu Tage bringen und die teilentmachteten Bünde der ÖVP werden ihre Chance wittern, sich die Macht zurückzuholen. Schon jetzt wurde eine klare Diskrepanz zwischen Zentrum in Wien und den Bundesländern deutlich. Während Kurz von den Nationalratsabgeordneten der ÖVP mit 100 % zum Klubobmann gewählt wurde, gingen gleichzeitig einige ÖVP-Landeshauptleute auf Distanz. Platter (ÖVP-Landeshauptmann von Tirol) sagte von sich, dass er „ein Schwarzer“ (und damit kein Türkiser) sei, Mikl-Leitner (Landeshauptfrau Niederösterreichs) meinte, sie sei „allen voran Niederösterreich verpflichtet“ und die „Vorwürfe [müssen] aufgeklärt werden“ oder Wallner (Landeshauptmann Vorarlbergs) dazu: „Nicht unser Stil. Wo man’s kann, muss man es abstellen.“

Wir dürfen also davon ausgehen, dass in der ÖVP langsam aber sicher die uneingeschränkte Macht von Sebastian Kurz aufhören wird, gerade wenn es in den nächsten Wochen und Monaten neue Enthüllungen gibt. Damit ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen verbunden, auch wenn eine unmittelbare Aussicht darauf erstmal gebannt zu sein scheint.

Und die Linke?

Die Linke hat es zwar in Wien geschafft, durch spontane und kräftige Mobilisierungen einen gewissen öffentlichen Druck gegen Sebastian Kurz auszuüben, aber wie schon bei der Ibiza-Affäre zeigte sich, dass sie von sich aus nicht im Stande ist, einen (Vize)-Kanzler zu Fall zu bringen. Die offizielle ArbeiterInnenbewegung, organisierte in den Gewerkschaften und der SPÖ, blieb passiv. Letztere beschränkte ihren Misstrauensantrag sogar auf Finanzminister Blümel, statt ihn gegen die ganze Regierung zu richten. Gleichzeitig ist aber aktuell durch unterschiedliche Faktoren die Chance einer stärkeren linken Alternative bei durchaus wahrscheinlichen verfrühten Nationalratswahlen vor 2024 sehr groß. Vor nicht einmal einem Monat konnte die KPÖ in Graz zur stärksten Kraft aufsteigen und damit verbunden ist eine noch nie dagewesene Akzeptanz für kommunistische Politik – auch wenn die der KPÖ Steiermark mit klassisch sozialdemokratischer mehr gemein hat. Die unterschiedlichen linken Kräfte links der SPÖ und der Grünen sollten sich also heute schon darüber Gedanken machen, wie ein österreichweites Projekt für die nächsten Nationalratswahlen aussehen kann, um nicht – wie so oft – von den Ereignissen überrollt zu werden. Ein Wahlbündnis könnte den Weg zu einer neuen, linken Partei eröffnen, in der KommunistInnen für eine Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse und einen revolutionären Antikapitalismus kämpfen können.




Ein Schritt in die richtige Richtung: Zero Covid!

Markus Lehner, Neue Internationale 253, Februar 2021

Die Corona-Pandemie mit ihren bisher weltweit über 2 Millionen Toten ist sicherlich die gefährlichste sich schnell verbreitende globale Epidemie seit der Spanischen Grippe. Diese forderte am Ende des Ersten Weltkriegs mehr Todesopfer als der gesamte grausame Krieg zuvor. Sie breitete sich in insgesamt 4 Wellen über alle Kontinente aus, um am Ende alle mehr oder weniger schwer zu treffen – allein in Indien soll die Todesrate über 6 % gelegen haben. Damals dauerte es über ein Jahrzehnt, bis ein Impfstoff gegen Grippeviren vom Typ A gefunden wurde. Nach dem Höhepunkt 1918/19 brauchte es noch bis spät in die 1920er Jahre, bis die Epidemie ausklang -, um davor noch viele Todesopfer zu fordern!

Insofern ist die Geschwindigkeit, mit der diesmal ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden wurde, ein entscheidender Vorteil gegenüber der damaligen Situation. Allerdings lehrt diese Erfahrung auch, dass sich ein hochinfektiöses, global ausbreitendes Virus auch nur global ausrotten lässt – und die Geschwindigkeit dabei ein entscheidender Faktor ist. Einerseits: Solange es noch Weltregionen gibt, in denen das Virus unkontrolliert ausbrechen kann, ist es immer wieder gut für eine neue globale „Welle“. Andererseits: RNA-Viren wie Corona mutieren aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit sehr schnell. Dies führt nicht nur zu einem Wettrennen mit der Zeit, um rechtzeitig einen Impfstoff zu entwickeln, sondern wird uns auch in den kommenden Jahren immer wieder vor das Problem stellen, einen neuen Impfstoff gegen eine neue Variante des Virus komponieren zu müssen.

Keine Entwarnung

Dies liegt vor allem daran, dass eine breit eingesetzte Impfung einen Entwicklungsdruck auf das Virus ausüben und gerade die Virusvarianten, welche immun gegen den breitflächig eingesetzten Impfstoff sind, selektieren wird. Diese können sich dann im Verborgenen erneut aufbauen, bis es zu einer neuen Infektionswelle kommen wird. Dies sehen wir jedes Jahr in Form der Influenza (Grippe), gegen die unter hohem logistischen Aufwand ein neuer Impfstoff gezüchtet und appliziert werden muss. Das Gleiche kann uns im Kampf gegen Corona ebenfalls bevorstehen. Die Warnungen der VirologInnen verweisen darauf, dass eine kontinuierliche Beobachtung der Virusveränderung dringend geboten ist, um den Impfstoff schnell dahingehend verändern zu können, wenn die Impfung mit dem alten nicht mehr greifen würde.

Die Schnelligkeit der Entwicklung von Impfstoffen sollte daher nicht zu der Illusion führen, dass damit das Virus „besiegt“ sei. Erstens muss natürlich betont werden, dass ihre kurze Testphase weder ausreichend über medizinische Nebenfolgen Auskunft gibt noch über die tatsächliche Wirksamkeit des Impfschutzes (sowohl was den Schutz vor Erkrankung als auch die Infektiösität betrifft). Die Verimpfung stellt daher ein kalkuliertes Risiko dar, das mit den Gefahren der Weiterverbreitung des Virus abgewogen werden muss und auch weitere gesellschaftlich kontrollierte Überprüfungen der Wirkungsweise der Impfstoffe erfordert.

Zweitens wurde global gesehen die Kontrolle über die Produktion der Impfstoffe weitgehend großen Pharmakonzernen überlassen, die Geschwindigkeit und Ausmaß der Produktion ihrer Kostenkalkulation und damit ihren Profitinteressen unterordnen. Damit ergibt sich sogar in den „reichen“ Ländern eine viel zu geringe Geschwindigkeit der Lieferung von Impfstoffen, aber auch eine noch viel geringere und verzögerte Lieferung für den „globalen Süden“. Drittens: Da somit vor Ende 2022 nicht mit einer globalen „Durchimpfung“ zu rechnen ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass bis dahin gefährlichere Mutationen des Corona-Virus aufgetreten sind, die dann die Pandemie weiterhin am Leben erhalten. Schon jetzt gibt es eine große Zahl, die in bestimmten Formen weitaus ansteckender zu sein scheinen (ob sie auch tödlicher sind, ist derzeit noch in Untersuchung) und bei denen nicht abschließend geklärt wurde, ob die derzeitigen Impfstoff weiterhin ihre hohe Wirkung zeigen.

Zweite Welle

Wir befinden uns derzeit in der zweiten Welle der Pandemie – und wie bei der spanischen Grippe ist diese weitaus tödlicher als die erste. Dies zeigt sich auch in Deutschland bei der Auswertung der Übersterblichkeitsstatistik, die Ende letzten Jahres fast ein Drittel über dem Durchschnitt lag. Auch wenn man Alterseffekte und andere Ursachen herausrechnet, ist das Bedrohungspotential insbesondere für ältere Menschen eindeutig. Auch scheinen inzwischen die Mutationen des Virus für jüngere Menschen und Kinder bedrohlichere Krankheitsverläufe zu bewirken.

Eine dritte Welle mit möglicherweise gefährlicheren Formen des Virus sollte daher unbedingt verhindert werden – und aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Impfung alleine dagegen nicht ausreichen wird! Wenn wir die Selektion der „überlebenswerten“ PatientInnen (wie jetzt schon wieder z. B. in Portugal) oder das Sterben vor den Toren von Kliniken, die nicht mal mehr Betten für Schwerkranke haben (wie jetzt z. B. in Manaus in Brasilien) vermeiden wollen, braucht es eine wirksame internationale Strategie zur Pandemiebekämpfung!

Deren bisherigen Methoden können in drei Typen zusammengefasst werden. Geschwindigkeit und Ausmaß von Neuinfektionen hängen natürlich davon ab, wie viele noch nicht betroffene Menschen durch Kontakt mit VirenträgerInnen infiziert werden können. Sind etwa 70 % der Bevölkerung „immun“ (entweder durch Impfung oder, sofern die Antikörper durch Erkrankung noch vorhalten), so zeigt einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die Zahl der Neuinfektionen so gering wird, dass das Virus einfach keine/n neue/n WirtIn mehr findet und damit verschwindet. Damit ist die berühmte „Herdenimmunität“ erreicht. Damit diese bei einer Pandemie eintritt, muss dies allerdings für 70 % der Weltbevölkerung gelten. Für neuere, infektiösere Mutanten wie die aus Großbritannien, Südafrika oder Brasilien würde eine Herdenimmunität jedoch schwerer zu erreichen sein. Die vielzitierten 70 % würden dann nicht mehr ausreichen.

Herdenimmunität

Der erste Typ der Pandemiebekämpfung ist daher, durch Verbreitung des Virus so schnell wie möglich „Herdenimmunität“ zu erreichen (wenn außer Acht gelassen wird, dass Personen nicht von neuen Varianten erneut angesteckt werden können oder mit der Zeit ihre Immunität verlieren). Letztlich war dies die „Strategie“ im Fall der Spanischen Grippe, womit das Virus nach etwa 10 Jahren verschwand bzw. durch „normale“ Grippeviren ersetzt wurde. Bei Corona ist die Geschwindigkeit der Verbreitung offensichtlich langsamer, so dass diese Strategie hier sehr viel länger brauchen würde. Bekanntlich wurde sie in Europa (kein Lockdown, aber mit Schutzmaßnahmen für „vulnerable Gruppen“) nur von Schweden versucht: Während nicht mal 5 % Immunität erreicht wurde, war die Todesrate wesentlich höher als in Ländern mit Lockdowns – diese Strategie gilt daher als gescheitert.

Allerdings stellt sie bis heute für eine große Zahl von halbkolonialen Ländern die vorherrschende dar. In den Metropolen des Nordens sieht man zynisch darüber hinweg, was das für die dortigen Gesundheitssysteme bedeutet – und schiebt die Schuld auf „wahnsinnige“ StaatschefInnen wie Brasiliens Bolsonaro oder wiegt sich in Sicherheit aufgrund der niedrigen Fallzahlen, die sich aus mangelhaften Testsystemen vor Ort ergeben. Die Weiterverbreitung des Virus im globalen Süden ist damit vorprogrammiert und untergräbt jede weltweite Strategie zur Pandemiebekämpfung.

Abflachen der Kurve

Nach der Abkehr von der Herdenimmunitätsstrategie in den imperialistischen Ländern ist die vorherrschende dort „das Abflachen der Kurve“. Diese beruht auf der statistisch aus der „Reproduktionszahl“ zu berechnenden Zahlder Neuinfektionen. Die Reproduktionszahl besagt, wie viele nicht immune Personen von einem/r Infizierten während seiner/ihrer aktiven Infektion „im Durchschnitt“ angesteckt werden. Die Geschwindigkeit der Ansteckungen ist durch die Exponentialfunktion an die Reproduktionszahl gebunden. Daher machen schon wenige Unterschiede in den Zahlen hinterm Komma spürbare Effekte beim Anstieg der Neuinfektionen (z. B. gemessen in der Verdoppelungsrate) aus, wenn die Zahl größer als eins ist, oder beim Rückgang der Neuinfektionen (gemessen z. B. in der Halbierungszeit), wenn die Zahl unter eins liegt.

Die „Flatten the curve“-Strategie besteht nun darin, Maßnahmen zu ergreifen, die Anzahl der Neuinfektionen erstmal so zu steuern, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht – also zunächst den Anstieg unterhalb der Grenze der Kapazität an Behandlungsmöglichkeiten (Intensivstationen, Pflegepersonal etc.) zu halten. Dazu muss die Reproduktionszahl Richtung der Eins abgesenkt werden, da ansonsten per exponentiellem Wachstum das Limit mehr oder weniger schnell erreicht wird. Dies kann zumeist nur durch starke Kontaktbeschränkungen wie Lockdowns, Schulschließungen, Maskenpflicht im öffentlichen Raum, Ausgangssperren, wiederholte Massentests, Quarantänemaßnahmen etc. erreicht werden. In einem zweiten Schritt muss die Zahl der Neuinfektionen auf ein Maß gesenkt werden, das eine Rückverfolgung von Infektionsketten und regionale Eindämmung von neuen Ausbrüchen ermöglicht. Dabei kommt es darauf an, wie weit die Reproduktionszahl tatsächlich unter eins gebracht wird. Bei den heute zumeist erreichten Werten der Zahl um die 0,9 dauert aber die Halbierung der Neuinfektionszahlen tatsächlich mehrere Monate. Schon eine Reduktion auf 0,8 würde dies auf wenige Wochen beschränken.

Dies führt auch ins Zentrum der Kritik an der heute vorherrschenden Strategie zur Pandemiebekämpfung. Die Regierungen des „globalen Nordens“ sind letztlich bürgerlich-kapitalistische, die nicht nur die Interessen von Pharma- und Gesundheitskonzernen nicht einmal in Pandemiezeiten anzutasten wagen – sie würden auch nie Maßnahmen ergreifen, die „ihrer“ Wirtschaft, d. h. den Profiten der wichtigsten Kapitalgruppen zuwiderliefen.

Daher ist auch die Strategie der Kurvenabflachung danach ausgerichtet, das öffentliche Leben nur soweit einzuschränken, wie es für die Profitinteressen des Kapitals gerade noch akzeptabel ist. D. h. es werden nicht die konsequenten Schritte zur Senkung der Infektionsausbreitung gesetzt, die notwendig wären, sondern die Reproduktionszahl wird gerade soweit gesenkt, dass das Gesundheitssystem es gerade noch aushält und andererseits „die Wirtschaft“ nicht weitere Wachstumseinbrüche erleidet. Heraus kommt dann ein monatelanger Teil-Lockdown mit immer absurderen Einschränkungen im privaten Bereich bei weitgehender Aufrechterhaltung der Aktivitäten großer Privatbetriebe. Einzig über die (Teil-)Schließungen im Bildungsbereich oder das Ausmaß von „Homeoffice“ werden größere Debatten geführt. Dabei wird deutlich, dass alle diese Maßnahmen nicht die Reduktion der Reproduktionszahl bringen, die tatsächlich zu raschen Halbierungszeiten der Zahl der Neuinfektionen führen würde – und damit zu einer echten Eindämmung von Infektionswellen.

#ZeroCovid

Mitte Dezember 2020 haben daher führende WissenschaftlerInnen auf dem Gebiet der Pandemiebekämpfung in dem einschlägigen Wissenschaftsjournal „The Lancet“ einen Aufruf publiziert, in dem sie einen radikalen Strategiewechsel gefordert haben. Diese dritte Strategie wurde mit dem Label #ZeroCovid versehen und bedeutet, dass durch einschneidende kurzzeitige Maßnahmen (3-4 Wochen) unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche die Zahl der Neuinfektionen soweit gesenkt werden kann (Ziel: nicht mehr als 10 Neuinfektionen pro einer Million EinwohnerInnen pro Tag), dass eine Vermeidung weiterer Infektionswellen erreicht werden kann.

Dazu schlägt der Aufruf entsprechende Testkapazitäten, Nachverfolgungsstrukturen und Quarantäne-Mechanismen im Infektionsfall vor. Es wird dabei auch vorgerechnet, dass ein solcher kurzfristiger Total-Lockdown weitaus weniger kostet als ein langwieriger Teil-Lockdown samt gesundheitlicher Folgeschäden. Die inzwischen oft vorgebrachte Kritik, „zero Covid“ sei gar nicht möglich, da ja das Virus durch diese Strategie nicht völlig verschwinden kann (was erst bei Herdenimmunität möglich ist), geht also ins Leere: Die Strategie ist eine, die für die Zeit, bis Herdenimmunität erreicht wird, das Niveau der Neuinfektionen soweit senkt, dass keine weitere Infektionswelle über das Land schwappt.

Wenn eine Kritik gerechtfertigt ist, dann, dass es sich um ein Programm rein für Europa handelt – und hier um eine Eindämmung durch synchronisierte Maßnahmen in der EU bei Aufrechterhaltung der offenen Grenzen handelt. Eine wirklich wirksame Strategie des „zero Covid“ müsste global koordiniert solche Maßnahmen umsetzen, um tatsächlich eine weitere globale Infektionswelle auszuschalten.

Daneben ist zu dem Aufruf in „The Lancet“ natürlich noch anderes zu bemerken: Die positive Bezugnahme auf China oder Australien, die angeblich erfolgreich auf eine „zero Covid“-Strategie gesetzt haben, ist mehr als fragwürdig. Im Fall von China ist ungewiss, inwiefern die drakonischen und autoritären Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung (im Rahmen der Verhängung von Kriegsrecht über Quarantäneregionen) tatsächlich die behaupteten Erfolge gezeitigt haben. Im Fall von Australien und Neuseeland wurden die Maßnahmen sicherlich nicht unter der Vorgabe von „offenen Grenzen“ durchgeführt. Ein weiterer kritischer Punkt an dem WissenschafterInnen-Aufruf ist natürlich, dass er sehr unkonkret bleibt, woraus die nun notwendigen Shutdown-Maßnahmen denn bestehen sollen.

Schranke Kapitalinteresse

Auch wenn es daher zu begrüßen ist, dass führende WissenschaftlerInnen erkannt haben, dass die von den herrschenden Regierungen in der EU durchgeführten Maßnahmen völlig unzureichend und nicht zielführend sind, so bleiben sie in der Ursachenforschung unterhalb der Erkenntnis, dass dies etwas mit den herrschenden Kapitalverhältnissen in der EU zu tun haben könnte.

Die Reaktion der Kapitalverbände (und wie nicht anders zu erwarten auch der Gewerkschaftsführungen) war trotzdem eindeutig: Eine Lockdown-Strategie, die auch die Privatwirtschaft betreffen würde und die geheiligten Lieferketten unterbricht, wäre völlig unakzeptabel und hätte „unabsehbare“ ökonomische Folgen. So meinte etwa der Präsident des BDI, dass ein Industrie-Shutdown schon von einer Woche zu einem Wachstumseinbruch von 5 % führen würde.

Verschwiegen wird sowohl, dass natürlich auch bei einem Zero-Covid-Shutdown Wirtschaftsbereiche, die für das Überleben notwendig sind, z. B. für Lebensmittelproduktion, weiterarbeiten müssten. Verschwiegen wird auch, dass nach dem ersten Lockdown die Lieferketten, anders als jetzt angedroht, nicht wochenlang wieder für den Anlauf brauchten. Verschwiegen wird natürlich auch, dass die deutsche Industrie momentan gerade im Export mit China wieder Milliardenprofite macht – und dies die Hauptsorge vor einem neuerlichen Lockdown ist, dass diese wieder wegbrechen.

Daher werden auch gerade jetzt wieder in solchen Branchen wie der Automobilindustrie Überstunden gefahren – und wird auf Beschäftigte Druck ausgeübt, jedenfalls zur Arbeit zu kommen und ja nicht sich etwa wegen einer Covid-Erkrankung krankzumelden (wegen der Quarantänefolgen, die das haben könnte). Hier gilt also wieder der volle Einsatz unter Lebensgefahr für „unsere Wirtschaft“, sprich ihre Profite!

Solidarischer Shutdown

Es ist daher eine sehr wichtige und richtige Initiative, dass der WissenschaftlerInnen-Aufruf von „The Lancet“ von der Kampagne „#ZeroCovid“ aufgegriffen und kritisch durch einen Aufruf „Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ erweitert wurde (https://zero-covid.org/). Die InitiatorInnen dieses Aufrufs stammen überwiegend aus linken Organisationen oder sind bekannte progressive WissenschaftlerInnen und Kulturschaffende. Viele Unterzeichnende kommen auch aus Gewerkschaften oder sind aktiv in sozialen Bewegungen. Auch wenn der Aufruf von Menschen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland propagiert wurde und bis zum 25. Januar über 80.000 UnterzeichnerInnen mobilisieren konnte, so läuft er jedoch auch parallel zu ähnlichen Aufrufen in Großbritannien, Spanien und anderen europäischen Ländern.

Im Unterschied zum WissenschaftlerInnenaufruf benennt er auch konkret, dass der Shutodwn auch den Arbeitsbereich betreffen muss: „Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen.“

Hier wird auch ein entscheidender Punkt angesprochen: Die temporäre Stilllegung all der genannten Bereiche darf nicht den Regierungen, Ordnungsbehörden oder Unternehmerverbänden überlassen werden – wir wissen, was sie unter „lebensnotwendigen Arbeiten“ alles verstehen. Sowohl, was die noch weiterarbeitenden Betriebe (vor allem die im Gesundheitsbereich) als auch die Stilllegungen betrifft, müssen die dort Beschäftigten die Kontrolle über diese Maßnahmen übernehmen!

Insofern ist es sehr wichtig, dass der Aufruf auch die Vergesellschaftung des Gesundheitsbereichs, insbesondere die Zurücknahme der Privatisierungen in diesem Sektor fordert. Wenn nach der Erreichung der oben n  genannten Ziele wieder eine Kontrolle über die Pandemie erreicht ist, muss eine Neuordnung des Gesundheitsbereichs, eine Aufstockung der Institutionen stattfinden, die die Infektionen nachverfolgen  – und vor allem auch eine Überführung solcher Kontrollaufgaben weg von Ordnungsbehörden hin zu echten kommunalen Einrichtungen, die unter Kontrolle der dort lebenden Bevölkerung stehen.

Die Reichen müssen zahlen!

Weiterhin sind natürlich auch die Forderungen zur Finanzierung der Folgen des Shutdowns und zur sozialen Sicherung aller von den Maßnahmen betroffenen ArbeiterInnen, kleinen Selbstständigen und prekär Beschäftigten richtig und notwendig. Sie – nicht die großen und kleineren Konzerne – sind es, die vor allem unter der Krise bisher zu leiden hatten -, und denen sicherlich in naher Zukunft die ganze Last der weiteren Kosten noch aufgebürdet werden soll.

Insofern ist es richtig, schon jetzt, gerade durch die Organisierung einer wirksamen Pandemiebekämpfung die Strukturen des Widerstandes gegen die Krisenpolitik des Kapitals aufzubauen. Gerade hier zeigt es sich, wie sehr es notwendig ist, solche Initiativen wie „#ZeroCovid“ mit dem Aufbau von bundes- und europaweit koordinierten Antikrisenbündnissen zu verbinden.

Schließlich ist auch richtig an dem Aufruf, dass trotz der Zielrichtung eines „europäischen Shutdowns“ die Frage der globalen Pandemiebekämpfung klar aufgegriffen wird. Hier wird gefordert, die globale Produktion von Impfstoffen der Kontrolle der Konzerne zu entreißen, ihre Patente zu globalen öffentlichen Gütern zu machen. Allerdings bleibt diese Forderung  inkonsequent formuliert – klarerweise müsste die Stoßrichtung auf eine Enteignung dieser Konzerne und einen globalen Plan zur Herstellung, Verteilung und Verabreichung der Impfstoffe unter Kontrolle von Beschäftigten und Stadtteilen, ländlichen Gemeinden etc. zielen.

Von einer Unterschriftensammlung zur Aktionseinheit

Sicherlich bleibt auch dieser Aufruf in vielen Punkten vage, z. B. wer die AkteurInnen seiner Umsetzung sein sollten. Zwar werden auch die Gewerkschaften aufgefordert, für diese Ziele zu mobilisieren und an vielen Stellen wird von der Kontrolle durch Betroffene oder Beschäftigte geredet. Klar ist auch, dass in den Gewerkschaften solche Forderungen gegen einen Großteil der Führung hart erkämpft werden müssen, dass in den Parteien wie der LINKEN unterschiedliche Interessen vorherrschen, die in Bezug auf solche Forderungen heute positives Aufgreifen, morgen wieder völliges Dementieren erkennen lassen.

Auch wenn es in vielen Teilen der arbeitenden Bevölkerung große Sympathien für die Forderungen gibt, so herrscht doch auch große Angst über die Folgen eines weitergehenden Shutdowns, auch was die eigene soziale Situation betrifft. Daher ist es mit einem Aufruf bei weitem nicht getan. Die zigtausend UnterstützerInnen müssen organisiert werden, Druck in den Gewerkschaften, aber auch Parteien, Kommunen und Medien entwickeln, um diese Forderungen auch tatsächlich zu einer konkreten Option zu machen, die sich vor Ort und in den Betrieben umsetzen lässt. Die begonnene Gründung von Ortsgruppen und Kampagnenstrukturen stellt dazu einen essentiellen, richtigen Schritt dar.

Im Unterschied zu der Situation der letzten Monate, in der es nur die Alternative „Regierungs-Lockdown“ oder Proteste der von der Realität der Pandemie völlig entfernten QuerdenkerInnen, vor allem auch in Verbindung mit der politischen Rechten, gab, bietet der Kampf um den solidarischen Shutdown eine echte linke Perspektive. Er lässt sich nur gegen Kapital und Regierung durchsetzen und erfordert die selbstbestimmte Eigeninitiative von Arbeitenden und von sozialen Härten Betroffenen.

Bei aller Kritik an Mängeln, Fehlern und Leerstellen der Initiative – sie bietet eine Gelegenheit, die wir unbedingt ergreifen müssen, wollen wir nicht vollständig vor der gescheiterten Strategie der Regierenden kapitulieren und hinnehmen, dass die Folgen sowohl gesundheitlich wie ökonomisch dann wiederum der ArbeiterInnenklasse und den armen Teilen der Bevölkerung aufgebürdet werden. Wenn wir jetzt die Initiative ergreifen, werden wir dann im Kampf gegen diese Folgen und die uns sicher noch lange belastende Pandemie wesentlich besser eingreifen können!