Frankreich: Macron oder Le Pen – keine Wahl für die Arbeiter:innenklasse

Dave Stockton, Infomail 1185, 23. April 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag tritt der autoritäre neoliberale Amtsinhaber Emmanuel Macron gegen die rechtsextreme Veteranin und Rassistin Marine Le Pen an. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Runde kam es in ganz Frankreich zu einer Reihe von Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen, vor allem jungen Menschen, Student:innen an Universitäten und Oberschulen, die sich gegen das wehren, was sie als eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“ in der zweiten Runde betrachten.

Viele der Student:innen, die die Universitäten, darunter die Sorbonne in Paris, besetzt und auf der Straße demonstriert haben, verkünden offen, dass das, was sie ironisch als „die wirkliche dritte Runde“ der Wahlen bezeichnen, auf der Straße und in den Betrieben ausgetragen werden wird, egal wer im Präsident:innenpalast Elysée sitzen wird.

Zur Überraschung vieler Kommentator:innen liefert sich Le Pen mit Macron ein enges Rennen. Ein Grund dafür ist Macrons arroganter, monarchischer Stil und die Tatsache, dass er eine Reihe bösartiger Angriffe auf die verbleibenden sozialen Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse, der Armen und der Migrant:innen durchgeführt und repressive Polizeieinsätze gegen Demonstrant:innen entfesselt hat, insbesondere gegen die Bewegung der Gilets Jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018.

Zu seinen neoliberalen Reformen gehörten die des Arbeitsgesetzbuchs (Code du Travail), der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung der direkten Vermögenssteuer (ISF), die Kürzungen der individuellen Wohnbeihilfe (APL) und die (gescheiterten) Rentenreformen. Zu seinen antidemokratischen Angriffen zählten die dauerhafte Übernahme der Bestimmungen des Ausnahmezustands nach den Terroranschlägen ins Gesetz und seine islamfeindliche Kampagne gegen den „Separatismus“.

Le Pen hat die letzten Jahre damit verbracht, das Erbe ihres faschistischen Vaters Jean Marie abzustreifen. Dazu gehört auch die Umbenennung ihrer Partei, der ehemaligen Front National (FN; Nationale Front), in Rassemblement National (RN; Nationale Sammlungsbewegung). Und in der Tat hatte sie damit einen gewissen Erfolg. Sie weiß, dass allein ihre Vergangenheit und das Versprechen, das Tragen der Hidschab als Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu verbieten, weiterhin antimuslimische Wähler:innen anziehen wird.

In der Zwischenzeit hat sie eifrig um diejenigen geworben, die in der Vergangenheit nie die NF gewählt hätten, indem sie die sinkende Kaufkraft der Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht thematisiert und politische Maßnahmen wie den Austritt aus der Eurozone oder der EU selbst fallenlassen hat. Problematischer, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, sind ihre Verbindungen zu Putin und die Finanzierung durch russische Banken.

Ein weiterer großer Schrecken für Macron ist, dass ein größerer Teil der Wähler:innenschaft als je zuvor sich wahrscheinlich der Stimme enthalten wird – sogar mehr als die über 25 Prozent, die dies 2017 taten. Es scheint, dass die „republikanische Disziplin“ , die früher dafür sorgte, dass die Wähler:innen der Linken gegen die NF als antirepublikanische Partei stimmten und sogar für die Kandidat:innen der rechten Gaullist:innen, unter Macron, der weithin als Paradebeispiel für die politische Elite Frankreichs verabscheut wird, ein verlorenes Gut ist.

Die französischen Linken, die früher für die Sozialistische Partei (PS) oder die Kommunistische Partei (PCF) gestimmt hatten, schlossen sich diesmal Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer Partei La France Insoumise (Das ungehorsame Frankreich) an, die für diese Wahl in Union Populaire (Volksunion) umbenannt wurde, und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent und etwa 7,7 Millionen Stimmen.

Mélenchon hat seine Anhänger:innen aufgefordert, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, hat sich aber geweigert, Macron zu unterstützen. Eine Meinungsumfrage zeigt, dass sich bis zu zwei Drittel seiner Wähler:innen der Stimme enthalten werden. Er hofft, auf seinem Erfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni aufbauen zu können, für die er die offen gesagt lächerliche Idee hegt, sich Macron als Premierminister „aufzudrängen“.

In der Tat wäre es ein fataler Fehler, auf Mélenchon zu warten und sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Wie verschiedene Bewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt haben, sind Massenstreiks, Besetzungen von Arbeitsplätzen und Bildungsstätten der Weg, um neoliberale Reformen zu stoppen.

Heute haben diejenigen Recht, die für eine Blankowahl plädieren. Bei dieser Wahl gibt es keine/n Kandidat:in, nicht einmal eine/n von den traditionellen reformistischen Arbeiter:innenparteien, der/die die Stimmen der Arbeiter:innenklasse, der Jugendlichen an den Gymnasien und Universitäten und derjenigen, die in den sozial benachteiligten Vorstädten, den Banlieues, wählen dürfen, auf sich ziehen könnte.

Die Idee, dass Macron ein Hindernis für den Aufstieg des Faschismus bildet, ist ein Witz oder vielmehr ein zynischer Trick, um die Wähler:innenschaft in Panik zu versetzen, damit sie ihn als das vermeintlich kleinere Übel wählen. Das Problem bei diesem Argument ist, dass die Wirtschaftspolitik und die soziale Verwüstung, die der frühere Präsident Sarkozy und dann Macron angerichtet haben, den Aufstieg der rassistischen Rechten begünstigt haben und weiter begünstigen werden.

Die einzigen Kräfte, die es wirklich sowohl mit einer rassistischen bürgerlichen Republik als auch mit der extremen Rechten aufnehmen können, sind die Arbeiter:innenklasse und die Jugend der Unis, der weiterführenden Schulen und Banlieues, die schon immer den Großteil der antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten, die die NF-Schläger:innen in der Vergangenheit aus dem Weg geräumt haben und sie wieder aus dem Weg räumen können. Gewerkschaften und extreme Linke müssen sich vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieser Kräfte stellen.




NATO, USA, EU, Russland, Ukraine: Ein Propagandakrieg und seine Hintergründe

Frederik Haber, Neue Internationale 262, Februar 2022

Revolutionäre KommunistInnen dürfen sich von der Propaganda der Herrschenden nicht beeindrucken lassen, schon gar nicht von den FührerInnen der imperialistischen Länder, also denen, die in der Lage sind, andere Länder zu unterdrücken und auszubeuten, sei es auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Wege. Deren ganzes Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, dies besser zu machen als ihre KonkurrentInnen.

Ganz besonders gilt es, die Lügen der Herrschenden im eigenen Land zu entlarven. Die Tatsache, dass linke wie rechte bürgerliche Medien, von der TAZ über den Spiegel bis zu FAZ und WELT, die gleiche Stoßrichtung einschlagen und die gleiche Wortwahl nutzen, belegt nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr die Entschlossenheit des Imperialismus – in diesem Falle des deutschen.

Lügen und Verfälschungen

Zu den billigen Lügen gehört, dass die (vermeintlichen) Truppenbewegungen Russlands berichtet werden, die der NATO nicht. Zum Beispiel die Tagesschau am 22. Dezember 2021: „Angesichts der russischen Truppenbewegung an der Grenze zur Ukraine hat die NATO offenbar mit einer ersten konkreten militärischen Maßnahme reagiert. Die Einsatzbereitschaft der schnellen Eingreiftruppe sei erhöht worden, berichtet die ‚Welt‘ unter Berufung eines ranghohen NATO-Diplomaten.“

Das ist gelogen. Es war nicht die „erste“ Maßnahme: Schon Anfang Dezember hatte sich die NATO zu einer Konferenz in Riga getroffen und bei der Gelegenheit das erste von 5 geplanten Manövern in Lettland abgehalten. Von wegen „einer ersten konkreten militärischen Maßnahme“! Es war die NATO, die mit „Truppenbewegungen an der Grenze“ schon Wochen vorher angefangen hatte. Genauso wie es Bilder der US-Geheimdienste gibt, die Reihen von LKWs in irgendwelchen Wäldern zeigen, gibt es übrigens solche von NATO-Ausrüstung, die in den Wäldern Polens und Norwegens stehen soll und dies vermutlich auch tut. Und auch das nicht erst seit dem 22. Dezember.

Die Frage, die auf der Hand liegt, lautet: Warum sollte Putin eigentlich in die Ukraine einmarschieren wollen? In der Propaganda wird diese nicht nur nicht beantwortet. Sie wird von den Medien offensichtlich bewusst nicht einmal gestellt. Stattdessen wird suggeriert, das habe er schon immer wollen, er habe ja 2014 die Krim annektiert und die „SeparatistInnen“ unterstützt. Die Welt hat offensichtlich erst 2014 begonnen, sich zu drehen.

Medien, PolitikerInnen und Militärs reden nicht davon, wie es zur „Separation“ in der Ostukraine kam und wie zur Annexion der Krim. Die propagandistischen Halb- und Viertelwahrheiten bestärken die Vermutung, dass es in der aktuellen geostrategischen Auseinandersetzung unter anderem genau um dieses Land geht, genauer gesagt, um die Bereinigung der Lage in der Ostukraine.

Der Putsch von 2014 …

Ende 2013 entstand eine diffuse Protestbewegung in der Ukraine, damals wie heute eines der ärmsten Länder Europas. Losgetreten wurde sie von rechten AktivistInnen und prowestlichen NGOs, die eine Neuauflage der „orangenen Revolution“ von 2004 wollten, die einen neoliberalen prowestlichen Präsidenten ins Amt gehievt hatte, der dies aber bei den nächsten Wahlen wieder verlor. Die Regierung in Kiew reagierte brutal auf diese Versuche und ihre Brutalität entfachte echte Massenproteste, die auch soziale Fragen aufwarfen. Diese Bewegung richtete sich natürlich gegen die damalige Regierung und den Staatspräsidenten Janukowitsch (Janukowytsch). Der zentrale Platz in Kiew wurde besetzt und gab der Bewegung den Namen: Maidan. Sehr schnell übernahmen nationalistische, rechtsradikale und faschistische Kräfte die Führung dieser Aktionen.

Die Bewegung wurde politisch rechts ausgerichtet. Soziale Forderungen wurden marginalisiert und allenfalls in einer populistisch-rechten Form verbreitet. Ansonsten dominierten Hoffnungen in die EU als freien Markt, der individuellen Aufstieg ermögliche. Die breite Solidarisierung ging zurück, aber rechte politische Strukturen etablierten sich vor allem im Westen des Landes.

Es gelang dem Maidan mit Provokationen und viel Unterstützung seitens der USA, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 5 Mrd. US-Dollar in die Schlacht um die Ukraine geworfen hatten, aber auch der BRD und ihrem Schlepptau in der EU, die politisch schwache Regierung Janukowitsch zu stürzen. Ein zentraler Konfliktpunkt war deren Zögern gewesen, einen Vertrag mit der EU zu ratifizieren, der dieser weitgehende Ausbeutungsmöglichkeiten sichern sollte. Russland wollte dagegen die Ukraine weiter als seinen Satelliten halten und offerierte seinerseits günstige Kredite.

Nach der Machtergreifung versuchte die neue Regierung, ihr Programm aggressiv durchzusetzen. Um den Staatshaushalt und den Krieg gegen den Osten zu sichern, brauchte sie Kredite vom IWF und Hilfsgelder von EU und USA. Mit der EU wurde das Assoziierungsabkommen in zwei Schritten beschlossen. Die sozialen Kosten für diese Maßnahmen mussten die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen tragen – und zwar nicht nur im Osten.

Zugleich verfolgte die Kiewer Regierung einen aggressiven Kurs, um ihre Machtansprüche im Osten des Landes durchzusetzen: Nationalistische Sprachpolitik, d. h. das Verbot der russischen Sprache, Ersetzen von GouverneurInnen, Legitimierung der neuen Regierung durch Putsch der „neuen“ Parlamentsmehrheit und über Aktionen auf der Straße.

Nach der Machtergreifung des „Maidan“ wurden alle jene Linke, die sich gegen die Regierung und die FaschistInnen wehrten, brutal angegriffen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und sozialistische Organisationen wie Borotba wurden verboten. Am 26. Juni 2014 griff der faschistische „Rechte Sektor“ z. B. eine Gewerkschaftsversammlung brutal an – die Polizei schaute zu. Diese Repression gegen Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen setzt sich fort. Vor kurzem wurden 5 Sender verboten, die nicht genügend regierungskonform waren – was bei den demokratischen westlichen Medien ebenfalls keine Kritik hervorrief.

 … und die Gegenbewegung

Der Maidan war nie eine landesweite Bewegung und das Gros der ArbeiterInnenklasse verhielt sich ihr gegenüber reserviert – aus verständlichen Gründen. Der ukrainische Nationalismus bildete von Beginn an den ideologische Kitt des Maidan, was notwendigerweise die russischsprachige Bevölkerung v. a. im Osten und Süden des Landes abstoßen musste.

Es entstand eine Gegenbewegung im Osten, die sich erstens gegen den ukrainischen Nationalismus und die Unterdrückung der russischen Sprache wandte, gegen den Terror der FaschistInnen, aber auch richtig verstand, dass eine Ukraine unter dem EU-Imperialismus ihre Industrie und den Bergbau im Osten sowie die Werften am Schwarzen Meer zerschlagen bekommen, also dasselbe Schicksal wie auch andere EU-Neuzugänge erleiden würde.

Dagegen versprach die Fortsetzung der engen industriellen Arbeitsteilung mit Russland der Industrie wenn auch keine goldene Zukunft, so doch ihren Fortbestand.

Diese Gegenbewegung führte auf der Krim zu einer Volksabstimmung für den Anschluss an Russland mit einer Mehrheit von 96,7 % bei einer Wahlbeteiligung von über 80 %. Gleichzeitig besetzten russische Truppen ohne Abzeichen dort alle Schaltstellen der Macht.

Die Ukraine und die UNO halten den Anschluss der Krim für illegal, den Putsch in Kiew und die Absetzung des Parlaments der Krim durch die Kiewer Regierung dagegen für legal. (Bemerkenswerterweise halten sie das vergleichbare Vorgehen bei der Abspaltung des Kosovo von Serbien für legal, während Russland dies wiederum als völkerrechtswidrig einstuft.)

Donbass

Die demokratische Volksbewegung im Osten akzeptierte die Absetzung ihrer gewählten lokalen Vertretungen durch die Putschregierung nicht. Sie fürchteten zu Recht die Pogrome der NationalistInnen zu einer Zeit, als die „Demokratin“ Timoschenko (Tymoschenko) davon sprach, „alle Russen eigenhändig auszurotten“.

Es kam zu Besetzungen von Rathäusern in fast allen Städten im Osten und Südosten. In den meisten gelang es Regierungstruppen, Polizei und FaschistInnen, den Aufstand niederzuschlagen. In Lugansk (Luhansk) und Donezk konnten sich die Aufständischen halten.

In den folgenden Kämpfen gab es um die 10.000 Tote auf beiden Seiten, darunter auch viele Opfer aus der Zivilbevölkerung durch die Regierungskräfte. Dem schrecklichen Pogrom in Odessa fielen mindestens 43 Menschen zum Opfer. Täter waren Killertrupps, die in enger Verbindung zur Putschregierung in Kiew standen. Sie griffen ein Camp der Volksbewegung an, viele flüchteten von dort ins Gewerkschaftshaus. Die FaschistInnen legten Feuer, Menschen verbrannten oder wurden erschlagen. Weder Feuerwehr noch Polizei griffen ein.

Lugansk und Donezk konstituierten sich als „Volksrepubliken“. Sie konnten der scheinbaren Übermacht Kiews trotzen, aus mehreren Gründen: Die Wehrpflichtigenarmee der Regierung war für einen Bürgerkrieg untauglich, viele desertierten. Es musste erst eine Elitetruppe, die Nationalgarde, aufgebaut werden. Die faschistischen Einheiten auf Seiten der Regierung, die von ukrainischen OligarchInnen und aus internationalen Quellen finanziert wurden, provozierten mit ihrem Vorgehen eher Widerstand. Es gab viele Freiwillige aus Russland, aber auch aus anderen Ländern, und militärisches Material, mindestens mit Wohlwollen der russischen Regierung geliefert.

Minsker Abkommen

Als sich die Fronten einigermaßen verfestigt hatten, wurde unter Merkels Führung ein Waffenstillstand vereinbart. Beteiligt waren daran die ukrainische Zentralregierung, die Volksrepubliken, Russland und Frankreich sowie die OSZE. In zwei Abkommen wurde der militärische Status quo festgeschrieben, der bis zum Schluss noch verändert werden sollte: Die Regierung wollte den Flughafen Donezk erobern, die Aufständischen versuchten, Mariupol zurückzugewinnen, und waren letztlich erfolgreich bei der Einkesselung der Regierungstruppen bei Debalzewo (Debalzewe). Die drohende Niederlage dort hatte letztlich zum Einlenken von Kiew geführt.

Neben der Festschreibung des Status quo gab es vage Formulierungen für die Zukunft, die beiden Bürgerkriegsparteien erlaubten, das Gesicht zu wahren, die aber nicht umgesetzt werden konnten.

Die Jahre seit dem Minsker Abkommen haben zugleich auch die Verhältnisse im Donbass verändert. 2014/15 gab es in den Volksrepubliken durchaus auch linke, fortschrittliche Initiativen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und Industrie wurde diskutiert und teilweise umgesetzt, landwirtschaftliche Kooperativen entstanden – teilweise aus militärischem und wirtschaftlichem Zwang, teilweise mit kleinbürgerlich-linken ideologischen Ansätzen. Heute sind diese linken Initiativen erlahmt und zerstört, einige der linkspopulistischen Führer wie Mozgowoi (Mozgovoy) und Bednow („Batman“) wurden ermordet. In den Republiken selbst gibt es wohl Fragen, wie es weitergeht, und um diese auch Konflikte zwischen den jeweiligen AnführerInnen.

2014 verzichtete die Russische Föderation auf eine direkte, staatliche Integration der Ostukraine, auch wenn sie militärisch leicht möglich gewesen wäre. Das hatte einerseits mit den damals unsicheren inneren Verhältnissen zu tun. Andererseits dient der unsichere Status der Donbassrepubliken als diplomatisches Faustpfand. Für Putin und den russischen Imperialismus stellen sie Kleingeld im Kampf um die Neuordnung der Region dar.

USA gegen Deutschland

Neben dem Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine und dem globalen Konflikt USA gegen Russland gab es eine dritte Front – innerhalb des westlichen Bündnisses. Der deutsche Imperialismus und in seinem Gefolge die EU wollten zwar die Assoziierung der Ukraine, so wie sie das auch sonst in Osteuropa getan hatten: Überschwemmung des Warenmarktes, Integration in die Arbeitsteilung, (Stilllegung großer Teile der Industrie, Aufkauf der interessanten „Kerne“, „verlängerte Werkbank“ zu Niedriglöhnen), Arbeitskräftereservoir. Die Ukraine ist zusätzlich besonders begehrt für ihre großen, z. T. sehr fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen, auf die die deutsche Agrarindustrie gierig schielt.

Aber Deutschland strebte und strebt durchaus gute Beziehungen mit Russland auf wirtschaftlicher Ebene an: Öl und Gas importieren, Maschinen und Autos exportieren. Kurz vor der Ukrainekrise 2014 waren die EU und Russland fast so weit, das Visa-Regime gegenseitig zu erleichtern.

Der US-Imperialismus hegte und hegt andere Interessen. Seine wirtschaftlichen Beziehungen sind sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland schwach. Ihm geht es darum, die militärische Macht Russlands zu brechen, zu verhindern, dass der russische Imperialismus ihm an allen möglichen Ecken der Welt in die Quere kommt.

Zweitens sind die EU und Deutschland auch KonkurrentInnen der USA. Die Störung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ist diesen mindestens genauso wichtig. Heute zeigt das der Kampf der USA gegen „Nordstream 2“. Es war immer auch in ihrem Interesse, die EU uneinig zu halten – oder besser gesagt – es dem französischen und deutschen Imperialismus so schwer wie möglich zu machen, die EU nicht nur wirtschaftlich zu dominieren, sondern auch zu einem eigenständigen imperialistischen Block zu formieren. Konflikte in Osteuropa sind immer geeignet, die baltischen Länder, Polen oder Ungarn gegen Deutschland und die EU zu mobilisieren.

2014 in Kiew stellte sich dieser Konflikt so dar: Die BRD hatte mit dem damaligen Außenminister Steinmeier eine gemeinsame Übergangsregierung unter Einschluss Janukowitschs und der „MaidansprecherInnen“ vereinbart. Die USA forderten die rechtsnationalistischen und faschistischen Banden des „Rechten Sektors“ zum Sturm auf das Parlament auf. Janukowitsch floh. Berühmt wurden die (abgehörten) Worte der US-Beauftragen Victoria Nuland in diesem Zusammenhang: „Fuck the EU“.

Die Minsker Abkommen als Versuch Deutschlands, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wurden von den USA immer abgelehnt. Nuland damals: „Sie fürchten sich vor Schäden für ihre Wirtschaft, Gegensanktionen der Russen“ und „Wir können gegen die Europäer kämpfen, rhetorisch gegen sie kämpfen … “

Heute wird diese Front z. B. sichtbar, wenn CDU-Chef Merz feststellt, dass eine Einstellung des internationalen Überweisungssystems „SWIFT“ keinesfalls geeignet für Sanktionen sei. Darüber hinaus zeigen sich die inneren Gegensätze der EU letztlich auch in inneren Konflikten der herrschenden Klasse, in Regierung wie in der parlamentarischen Opposition. Die FPD und die Grünen markieren dabei die größten, pro-US-amerikanischen Kriegstreiberinnen, während v. a. die SPD, aber auch CDU/CSU – siehe nur Söders Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine – gespalten sind.

Während die ArbeiterInnenklasse im großen globalen Kampf zwischen der US/NATO-geführten westlichen Allianz unter Einschluss Deutschlands und der EU einerseits und Russlands mit China im Rücken andererseits keine Seite unterstützen darf, stellen die verschiedenen Flügel innerhalb des deutschen politischen Establishments nur unterschiedliche strategische Orientierungen innerhalb der herrschenden Klasse dar.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke sollten vielmehr diese inneren Widersprüche nutzen, um eine schlagkräftige Antikriegsbewegung auf die Beine zu stellen. Frei nach dem Motto von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!




Nachhaltigkeitsprüfung: Die „Grünen“ vor der Kernschmelze?

Markus Lehner, Infomail 1175, 7. Januar 2022

Stromproduktion aus Atom- und Gaskraftwerken ist ökologisch nachhaltig? Was wie ein Witz klingt, soll tatsächlich Bestandteil einer EU-Verordnung werden. Natürlich, und wie aus der Brüsseler EU-Kommission nicht anders zu erwarten, wird der Sachverhalt, um den es bei der Verordnung geht, so unverständlich wie möglich präsentiert – so dass dann Meister der Beschwichtigung wie Olaf Scholz behaupten können, das Ganze werde „maßlos überschätzt“. Tatsächlich geht es aber um einen Knackpunkt des Umbaus der Energiewirtschaft.

Taxonomie-Verordnung

Die „Taxonomie-Verordnung“ soll einen „Rahmen zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“ einrichten und ändert auch entsprechende Bilanzvorschriften. Diese Mitte 2020 in Kraft getretene Verordnung definiert nur einen allgemeinen Rahmen für die Vereinheitlichung von nationalen Kriterien zur Kennzeichnung „ökologisch nachhaltiger“ Investitionen. Sie wurde damals mit „qualifizierter Mehrheit“ von Europäischem Rat (Gremium der EU-Staats- und RegierungschefInnen, nicht zu verwechseln mit EU-Ministerrat und Europarat) und Parlament beschlossen – und hat seinerzeit auch kaum Kontroversen hervorgerufen. Allerdings wurde in dieser Verordnung in Artikel 23 der Kommission die „Befugnis für den Erlass delegierter Rechtsakte“ zur Konkretisierung der „technischen“ Bestimmung dessen gegeben, was denn nun konkret nachhaltig im Sinne der verschiedenen, in der Verordnung genannten ökologischen Kriterien ist. Und – Überraschung, Überraschung: Für die dann von der Kommission herausgebrachten Durchführungsbestimmungen gibt es enorme Hürden für eine Ablehnung durch EU-Mitgliedsstaaten oder -Parlament (z. B. mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 % der EU-Bevölkerung; beim normalen Gesetzgebungsverfahren kann mit 4 Mitgliedsstaaten mit mindestens 35 % der Bevölkerung eine Sperrminorität erreicht werden).

Und eben in dieser „technischen Regelung“ zur Durchführung der Taxonomie-Verordnung hat die Kommission jetzt – unter vielem anderen – auch Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als „nachhaltig“ eingeordnet. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Vorhabens kann auch für die diversen grünen MinisterInnen nicht überraschend kommen: Angesichts der „Green Deal“-Pläne über die von der EU aufgelegten Investitionsfonds wurde darauf gedrängt, speziell die Nachhaltigkeitskriterien für Klimaschutzziele vorab, noch bis Ende 2021, zu definieren – die restlichen Umweltbereiche sollen dann bis Ende 2022 bearbeitet sein. Schon hier liegt ein beträchtliches, systematisches Problem: An sich wurde die Taxonomie-Verordnung einst auf die Nachhaltigkeitsdefinitionen des Rio-Prozesses ausgelegt, die weit über eine Verengung der Umweltkrise nur auf die Klimakatastrophe hinausgingen.

Bekanntlich ist die Klimakrise nur eine – und nicht einmal die schlimmste – von den 9 planetaren ökologischen Bedrohungen, wie sie etwa die Rockström-Kommission auflistet (Artensterben, Versauerung der Ozeane, Müllprobleme, … ). Diese werden in der EU-Verordnung durchaus auch aufgelistet – und es wird auch festgestellt, dass „nachhaltig“ nicht nur bedeutet, dass eine Technologie bei einem Bereich verträglich ist, sondern sie auch nicht in den anderen Bereichen umweltzerstörerisch sein darf. Artikel 17 der Verordnung stellt ironischerweise in Bezug auf das Kriterium der „erheblichen Beeinträchtigung der Umweltziele“ als negatives für Nachhaltigkeit fest, dass eine nachhaltige Technologie nicht durch „langfristige Abfallbeseitigung eine erhebliche und langfristige Beeinträchtigung der Umwelt verursachen darf“. Mit einem Wort: Atomenergie mit ihrem sehr, sehr langfristigen Müllendlageranforderungen kann auch nach dieser Verordnung eigentlich nie und nimmer nachhaltig sein. Durch den Trick, für die Durchführungsverordnung aber nur alle Artikel und Absätze der Grundverordnung für die Definition heranzuziehen, die etwas mit Klimaschutz zu tun haben, kann man diese Klippe gerade noch umschiffen – unter völliger Aushöhlung des Nachhaltigkeitsbegriffs, der ja gerade eine ganzheitliche Betrachtung von ökologischen Wechselwirkungen beinhaltet. In einem Jahr, wenn dann die anderen Umweltaspekte Berücksichtigung finden, werden die Milliarden aus den EU-Investitionsfonds schon in die „nachhaltige“ Atomindustrie geflossen sein. Statt die sehr viel billigere Stromerzeugung mit Wind- und Solar-Technologien auszubauen, werden die Mittel weiterhin in das Milliardengrab Atomenergie geschüttet.

Atomindustrie – Nachhaltigkeit der besonderen Art

Dabei ist die Atomindustrie in ihrem Gesamtproduktionszyklus von Uranbergbau über -anreicherung, Kraftwerksbetrieb, Stufen von Zwischenlagerung oder „Wiederaufbereitung“ bis zum wahrscheinlich unlösbaren Problem der Endlagerung das gerade Gegenteil von „nachhaltig“. Ökologisches Grundproblem ist natürlich die beim radioaktivem Zerfall entstehende ionisierende Strahlung unterschiedlichster Intensität, die für alle organischen Lebensformen je nach Dosis existenzbedrohlich ist. Die Nutzung schwerer radioaktiver Isotope zur Energiegewinnung (Massendefekt) erfordert eine Anreicherung derselben, wie sie in der Natur z. B. in Gesteinsformationen nie vorkommt. Der dabei in Gang gesetzte Prozess erzeugt nicht nur als End-/Müllprodukt lebensbedrohliches Spaltmaterial oberhalb der Grenzwerte, sondern auch bei allen Zwischenstufen. Gerade die „kurzlebigen“ Spaltprodukte beim Uranzerfall, wie Caesium-137 (Betastrahler, 30 Jahre Halbwertszeit), sind bei Kontamination der Umwelt ab einer Konzentration von 600 Becquerel (Kernzerfall pro Sekunde) nachhaltig gesundheitsgefährdend (laut Strahlenschutzverordnung). Nach dem Unfall in Fukushima 2011 hat die japanische Akademie der Wissenschaften eine Karte der Messwerte zu Cs-137 herausgebracht, nach der ein großer Teil der östlichen Provinzen Japans einen Bodenwert mit Belastungen über 2.500 Bq aufweist. Ähnliche Überschreitungen von Grenzwerten für bestimmte Lebensmittel wurden weitflächig, bis Hawai, festgestellt. Das jetzt übliche Herunterspielen der Fukushimakatastrophe (die vielen Toten seien ja vor allem auf den Tsunami zurückzuführen) verkennt völlig die nachhaltige und großflächige Schädigung der Umwelt – mitsamt daraus resultierender Gesundheitsfolgen für Mensch und Tier. Abgesehen davon sind inzwischen auch Klimafolgen als Konsequenzen radioaktiven Fallouts, z. B. durch die Wirkung auf Mikroorganismen, nachgewiesen.

Der Uranbergbau gehört zu den umweltbelastendsten Arten des Bergbaus überhaupt – auch was seine CO2-Bilanz betrifft. Der Aufschluss des Gesteins, das Uranerze immer nur in kleinen Mengen enthält, erfordert massiven Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel, hinterlässt Wüstenlandschaften und Halden voller radioaktiv und chemisch belasteter „Reststoffe“. Dies geht wohl nicht in die Nachhaltigkeitsbilanzen hierzulande ein, da diese Art von Bergbau vor allem in Afrika, Kasachstan oder indigenen Regionen Nordamerikas betrieben wird.

Widerstand gegen Uranabbau

Bei dem Bruch eines Uranabraumbeckens am Rio Puerco, New Mexico, kamen 1979 tausende von native Americans ums Leben – ein Atomunfall, von dem kaum die Rede ist. Es ist folgerichtig, dass derzeit der Abbau der wohl größten Uranvorkommen weltweit am Widerstand von indigenen Bewegungen scheitert. So wurde in Grönland die linkssozialistische „Inuit Ataqatigiit“ gerade deswegen an die Regierung gewählt, da sie das Uranbergwerk Kvanefjeld eines australisch-chinesischen Konsortiums verhindern will. Wie die grönländische Regierung nachwies, würde dieses Bergwerk nicht nur die CO2-Bilanz Grönlands um 45 % erhöhen (und das in einer Region, die gerade im Zentrum des Klimawandels steht), sondern auch eine große Menge radioaktiven Thoriums in die umgebenden Fjorde freisetzen. Dazu kommt, dass der betreffende Bergbaukonzern zu einem ganzen Netz von Konzernen gehört, die Grönland für Öl- und Gasplattformen erschließen wollen – auch dies ist nun alles erstmal gestoppt.

Ganz ähnlich ist auch die autonome Regierung des zu Kanada gehörenden Territoriums Nunavut (6 mal so groß wie Deutschland) vorgegangen. Hier wurde eines der größten Uranbergbauvorhaben des französischen Atomkonzerns Areva gestoppt. Wahrscheinlich werden die „NachhaltigkeitsexpertInnen“ der EU die Inuit noch überzeugen müssen, dass Uranbergbau enorm wichtig für den Klimaschutz ist! Oder die EU-Konzerne sind noch mehr denn je auf das autoritäre Regime in Kasachstan angewiesen, das gerade vom „Erzfreund“ Putin vor Massenprotesten gerettet wird. Denn der Staatskonzern Kazatomprom ist mit „Hilfe“ vieler internationaler InvestorInnen (alles jetzt ökologisch nachhaltig) derzeit für ein Drittel des weltweiten Abbaus von Uranerzen verantwortlich – die wahrhaft nachhaltige Stütze für ein autoritäres und korruptes System, das sich um die Umweltzerstörungen des schon seit den Atomwaffentests schwer mitgenommenen Landes wenig schert. So viel zur Unabhängigkeit der Energieversorgung von Putin & Co. beim Setzen auf Atomstrom!

Nicht viel besser steht es bei den Produktionsanlagen zur Anreicherung des spaltbaren Uran-235 und der anschließenden Herstellung von Brennelementen. Sowohl beim Zentrifugieren von Uranhexafluorid als auch bei der Verschmelzung von Uran(IV)-Oxid mit der Brennelementekeramik entstehen in hohem Maße Treibhausgase, die an die Atmosphäre abgegeben werden. Außerdem beweisen mehrere schwere Störfälle, wie der beim Brennelementewerk Tokaimura 1999 in Japan, dass auch dieser Produktionsschritt Kernspaltungsenergie zur Hochrisikotechnologie macht.

Betrieb und Entsorgung

Dies gilt natürlich umso mehr für den Betrieb der Kraftwerke selbst. Auch wenn die Strahlenbelastung ihrer Umgebung im „Normalbetrieb“ sicherlich in vertretbaren Grenzbereichen liegen mag, so gab und gibt es genug „Störfälle“, bei denen es zu schwerwiegenden Kontaminationen gekommen ist. Dies betrifft nicht nur die Beinahekatastrophen von Harrisburg oder Sellafield – auch bei kleineren Unfällen kam es während der Jahrzehnte des Betriebs zum Austritt von radioaktiven Materialien. Da inzwischen zumindest in Europa die Grenzwerte für zulässige Strahlungsdosen verschärft wurden, ist der Betrieb von Kernkraftwerken mit derart viel Sicherungstechnologie versehen, dass Atomstrom die bei weitem teuerste Art der Energiegewinnung darstellt. Außerdem weiß jede/r IngenieurIn, dass es kein technisches System gibt, das „absolut sicher“ ist, weshalb jeweils immer mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit gearbeitet werden muss. Die Annahme eines „größten anzunehmenden Unfalls“ (GAU), der innerhalb beherrschbarer Grenzen angesetzt werden könnte, war daher immer schon eine gewagte Hypothese. Diese wurde durch die Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima eindeutig falsifiziert. Bei beiden sehr gut untersuchten Unfällen traten derart unvorhersehbare Probleme auf, dass man nur im Nachhinein schlauer ist, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft. Natürlich ist man inzwischen sehr viel weiter, aber ein neues „Unvorhersehbar“ ist immer möglich – nur dass das bei einem Atomunfall immer mit gewaltigen Konsequenzen für Mensch und Umwelt verbunden ist.

Das größte Nachhaltigkeitsproblem der Atomenergie bildet aber sicherlich das Entsorgungsdilemma. Dies fängt schon mit der Lagerung von abgebrannten Brennelementen in den AKW selber an bzw. bei deren Transport zu den zentralen Zwischenlagern oder Wiederaufbereitungsanlagen. Gerade der „frische“ Atommüll enthält die gefährlichsten, hochradioaktiven Spaltprodukte und muss extrem geschützt werden. Die Umgebung der für den europäischen Brennelementezyklus so zentralen Anlagen von Sellafield und La Hague ist ein reges Zeugnis für dieses Problem. Dort werden Abwasserbelastungen mit Strahlendosen gemessen, die die in den Strahlenschutzverordnungen festgelegten Grenzwerte um das 26- bzw. 7-fache überschreiten. Dazu kommt eine in mehreren Untersuchungen festgestellte erhöhte Strahlenbelastung im Meer im weiten Umkreis um diese Anlagen – dies übrigens auch mit Auswirkungen auf für das Klima wichtige Mikroorganismen im Ozean. Aber auch die Zwischenlager für „abgeklungene“ Brennelemente, wie sie derzeit vor allem in aufgelassenen Bergwerksstollen existieren, bergen enorme Probleme. Bekannt ist etwa das Drama um Asse II, wo 126.000 Fässer radioaktiver und chemischer Abfälle für „Jahrzehnte“ zwischengelagert werden sollten. Aber schon nach wenigen Jahren kam es zu einem „unerklärlichen“ Einsickern von zehntausenden Litern Salzlauge. Der Atommüll muss daher „geborgen“ und in ein anderes Zwischenlager verfrachtet werden: Kostenpunkt 3,35 Milliarden Euro. Angesichts der Kriterien für ein „Endlager“, das mehrere Millionen Jahre stabil beiben müsste, haben bisherige geologische Untersuchungen wenig Erbauliches zu Tage gebracht. Es steht zu befürchten, dass wie bei der Asse Atommüll für Jahrhunderte von Zwischenlager zu Zwischenlager transportiert werden muss – oder eben, wie immer häufiger, einfach nach Afrika abgeschoben wird.

Rechnet man die Gesamtkosten von Atomstrom inklusive Mülllager, Transport-, Wartungskosten, Sicherungsmaßnahmen und der riesigen Anschubsubventionen, so kommen realistische Schätzungen inzwischen auf einen Preis von 37,8 Cent pro Kilowattstunde. Im Vergleich liegen die realen Kosten bei Onshore-Windanlagen bei 8,8 Cent (Forum Ökologisch-Soziale Markwirtschaft). An die VerbraucherInnen direkt werden natürlich andere Strompreise weitergegeben – die Kosten, die für die Stromkonzerne bei Kohle- und Atomstrom vom Staat übernommen werden, werden dann eben über Steuern von StromkundInnen eingetrieben. Damit reduzieren sich die Gestehungskosten für die kWh aus AKWs und Gaskraftwerken enorm und scheinen sogar geringer als die für Strom aus erneuerbaren Energien. Deren Subventionen wurden perverser Weise auch noch über die EEG-Umlage an die Masse der VerbraucherInnen weitergereicht. Der dann möglich gewordene kWh-Preis aus „Strommix“ (der Preis an der Strombörse ergibt sich aus dem teuersten noch verkäuflichen Stromangebot) bringt damit den Stromkonzernen satte Extragewinne.

EU-Subvention für Atom- und Gasstrom

Es ist damit klar, dass die „Nachhaltigkeitsdefinition“ der EU-Durchführungsverordnung genau dafür da ist, dass dieses Subventionsgeschäft für Atom- und Gasstrom weiterhin möglich bleibt. Dies entspricht den Interessen der Konzerne nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Ländern, die jetzt erst aus der Kohleverstromung auszusteigen beginnen. Was damit insbesondere verhindert wird, ist, dass die systematische Benachteiligung von erneuerbaren Energien bei der Preisbestimmung beendet wird. Das Subventionsgeschäft für ökologisch fragwürdige Kraftwerkstechnologien kann munter weitergehen und der Ausbau erneuerbarer Energien für die gesamte EU wird wie schon die letzten Jahrzehnte viel zu langsam vorangehen. Atomenergie mag nicht so schädlich für das Klima sein wie Kohle und Gas, aber zur wesentlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen trägt eine solche Politik der Verzögerung des Umbaus der Energiewirtschaft nicht bei.

Grüner Offenbarungseid

Die Partei der Grünen hat alle diese Punkte – von der Nichtnachhaltigkeit der Atomindustrie, der finanziellen Benachteiligung der erneuerbaren Energien, der Notwendigkeit eines Atomausstiegs zur Beschleunigung des Umbaus der Energiewirtschaft etc. – immer als Kernelemente ihres ökologischen Programms vor sich hergetragen. Nunmehr als tragende Säule einer Bundesregierung, in der sie die MinisterInnen u. a. für Umwelt, Klimaschutz/Wirtschaft, Auswärtiges stellt, müsste man daher erwarten, dass sie diesen schmutzigen Deal der EU-Kommission zu gunsten der Stromkonzerne mit aller Macht verhindern wird. Tatsächlich hat Klima- und Wirtschaftsminister Habeck darauf hingewiesen, dass mit dieser Verordnung droht, dass die französische Energiewirtschaft die dieses Jahr anfallenden enormen AKW-Wartungskosten als „Klimaschutzinvestitionen“ verrechnen kann und damit eben die dafür vorgesehenen Milliarden aus dem „Green Deal“ nicht tatsächlich für den Ausbau von erneuerbaren Energien verwendet.

Damit hat er zumindest ausgeplaudert, um welchen Deal es hier tatsächlich geht: Frankreich und Osteuropa können weiter auf Kernenergie setzen, wenn sie schon immer mehr aus der Kohle aussteigen müssen, während Deutschland Erdgas als „Brückentechnologie“ hin zur Wasserstoffverstromung bekommt („Brückentechnologie“ ist eh nur ein Gütesiegel dritter Klasse für Nachhaltigkeit). Mehr als deutlich wird damit, dass Scholz und Macron hier wohl unter Umgehung der Grünen einen „akzeptablen“ Kompromiss gefunden haben, gegen den es unter den europäischen Regierungen wenig Opposition gibt (bisher nur: Österreich, Dänemark, Portugal und Luxemburg). Darauf deuten auch die Beschwichtigungen aus den rechten Teilen der SPD-Fraktion und der FDP hin, die darauf drängen, dass man die Verordnung hinnimmt oder sich enthält. Für die Grünen wäre das ein Offenbarungseid, wo sich dann die Frage stellt, was sie als Öko-Partei in so einer Regierung noch zu suchen hätten.

Es ist notwendig, die Proteste gegen die EU-Taxonomie-Verordnung zu verstärken und die Konsequenzen für das Weiter so in der ökologisch katastrophalen bestehenden Stromwirtschaft in Europa aufzuzeigen. Dabei müssen wir als SozialistInnen aber auch klarmachen, dass eine auf den Markt (der Stromkonzerne) ausgerichtete Politik des Umbaus der Stromwirtschaft gar keine anderen Resultate erwarten lässt. Notwendig wäre vielmehr eine europaweite entschädigungslose Enteignung der Stromkonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und VerbraucherInnen mit dem Ziel eines europaweiten Plans zum Umbau einer klimagerechten Stromwirtschaft!




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Streit mit Polen: neue Zerreißprobe für die EU?

Aventina Holzer, Neue Internationale 260. November 2021

Der Konflikt zwischen der EU und Polen eskaliert. Das Parlament und die Regierung in Warschau weigern sich weiterhin, den übergeordneten Charakter des EU-Rechts gegenüber dem nationalen anzuerkennen. Das rechte, nationalistische PiS-geführte Kabinett wehrt sich gegen eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ der EU. Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt sie der Erpressung.

Das eigentliche Ziel der polnischen Regierung besteht vor allem darin, eigene rechte und reaktionäre Verfassungsreformen und Angriffe auf Frauenrechte gegen etwaige Einsprüche der europäischen Gerichtsbarkeit zu sichern. Das Ziel von Morawiecki und Co. ist also durchweg reaktionär.

Gleichwohl geht es natürlich auch der EU nicht um abstrakte, rechtsstaatliche Prinzipien, sondern vielmehr darum, die Vereinigung eines imperialistischen Blocks unter deutscher und französischer Vorherrschaft voranzutreiben. Und dazu gehört auch, dass nationales Recht dem der EU untergeordnet ist, um so auch über diesen Hebel die Dominanz der stärksten Staaten gegenüber ökonomisch und politisch untergeordneten zu sichern.

Nachdem die polnische Regierung nicht freiwillig nachgeben will, packt die EU die Keule aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verurteilte Polen zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem die vom obersten europäischen Gericht gefällten Urteile nicht umgesetzt werden.

Diese Sanktionen sind finanziell noch leicht zu verkraften. Dramatisch würde es für Polen, wenn die EU die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, ingesamt 36 Milliarden Euro, ganz oder teilweise zurückhalten würde.

Was ist passiert?

Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und Polen immer mehr zu. Ursprung der Debatte ist eine 2017 verabschiedete Justizreform die im Widerspruch zum geltenden EU-Recht steht. Ihr Hauptpunkt befasst sich mit einer engeren Verzahnung von Legislative (Politik) und Judikative (Justiz), zum Beispiel die Möglichkeit für den/die JustizministerIn, Gerichtsvorsitzende inklusive StellvertreterInnen abzuberufen.

Der ursprüngliche Konfliktauslöser waren Wahlen von fünf neuen VerfassungsrichterInnen in Polen. Diese gerieten zum Anlass für sechs Gesetze zur Novellierung des Verfassungsgerichts, die fast alle die Möglichkeiten der Nachbesetzung oder Sanktionierung der RichterInnen durch die Politik betrafen. 2018 wurde eine Disziplinarkammer im Verfassungsgerichtshof eingerichtet, die jede/n RichterIn oder Staatsanwalt und Staatsanwältin entlassen kann.

Dies wurde explizit gegen Einwände der EU-Kommission beschlossen, die jetzt beim EuGH versucht, die Gesetzesänderungen in Polen durch Klagen rückgängig zu machen. Eine weitere Eskalation als Reaktion darauf inszenierte der polnische Verfassungsgerichtshof im Oktober 2021. Dieser entschied, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die ihrerseits über dem EU-Recht stehen würde.

Hintergründe

Solche Konflikte sind innerhalb der EU nicht neu. Im Grunde tauchen sie immer wieder auf, wenn die Integration des Staatenbundes vertieft, nationale Gesetze vereinheitlicht werden sollen – und Widerstand gegen EU-Recht, das mit dem eigenen im Widerspruch steht oder eigene nationale Ansprüche beschränkt, erfolgte in der Geschichte der EU keineswegs nur seitens Leuten wie Orbán oder Morawiecki. Denken wir nur an die sog. Flüchtlingskrise, bei der die GegnerInnen einer zeitweiligen Öffnung der EU-Grenzen ihrerseits Grenzkontrollen errichteten oder die Rettung von Menschen im Mittelmeer verhinderten. Diese Gewaltorgien, an denen sich etliche der heute schärfsten KritikerInnen Polens an vorderster Front beteiligten, verdeutlichen, dass es beim aktuellen Konflikt weder von Seiten Polens noch der EU um Demokratie und BürgerInnenrechte geht.

Letztlich ist dieser Zwist nur ein Vorwand. Die EU-Kommission und die sie tragende Parlamentsmehrheit, hinter der der Mainstream der politischen Kräfte steht, nehmen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, deren sich Polen oder auch Ungarn schuldig gemacht haben, zum Anlass, in der Staatengemeinschaft für klarere Verhältnisse zu sorgen.

Ziel ist dabei sicher nicht, Polen aus der EU zu treiben. Ebenso wenig will das eigentlich die Regierung in Warschau, denn nicht nur für die EU, sondern vor allem für das Land selbst wäre ein Austritt aus der Union eine politische und vor allem ökonomische Katastrophe.

Polen spielt wie ganz Osteuropa eine wichtige Rolle im Rahmen der Wertschöpfungsketten und Gesamtproduktion des deutschen Kapitals. Es ist integraler Bestandteil des halbkolonialen Hinterlandes des deutschen Imperialismus.

Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern haben die neoliberalen Reformen und die Zerstörung ganzer Strukturen nach der Restauration des Kapitalismus auch dazu geführt, dass große Teile des KleinbürgerInnentums, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch die städtischen Mittelschichten und vor allem die ArbeiterInnenklasse diese „Reformen“ mit Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und sozialer Unsicherheit bezahlen mussten. Auf politischer Ebene drückte sich das darin aus, dass nach Jahren der wirtschaftsliberalen Regierungen und dem Abwirtschaften der aus den ehemaligen stalinistischen Parteien hervorgegangenen Sozialdemokratie der Rechtspopulismus als nationale und soziale Alternative erschien.

Auf ökonomischer Ebene erweist sich dieser als durchaus willfährig und rollt ausländischen InvestorInnen besonders aus Deutschland geradezu den roten Teppich aus, wenn es um Arbeitsrecht, Umweltschutz usw. geht. Umso schriller und aggressiver versuchen sich Nationalismus und Populismus, bei anderen Fragen in Szene zu setzen – z. B. den Angriffen auf Frauenrechte wie das auf Abtreibung, auf die Pressefreiheit oder in Verfassungsfragen. Garniert wird das Ganze mit demagogischen Angriffen auf die EU-Institutionen, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden, insbesondere auch die Zerstörung „polnischer“ oder „christlicher“ Werte.

Schließlich kommt hinzu, dass Polen in der EU seinen eigenen Spielraum zu erweitern trachtet, indem es sich als enger Verbündeter der USA und vor allem ihrer aggressiven Politik gegenüber Russland präsentiert. Schließlich arbeiten die maßgeblichen Parteienbünde und deren Stiftungen in der EU auch daran, in Ländern wie Polen und Ungarn bei zukünftigen Wahlen ihre engeren Verbündeten an die Macht zu bringen.

Reaktion der EU

Angesichts dieser Lage wird sich der Konflikt zweifellos verschärfen. Auch wenn die Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands und Frankreichs, Merkel und Macron, die Lage nicht zu sehr eskalieren wollen, so gibt es letztlich wenig Kompromissspielraum.

Die EU, die bereits einige Sanktionen gegen Polen verhängt hat, wird auch weitere Methoden nutzen, um es unter Druck zu setzen. Unter anderem ist ein Vertragsverletzungsverfahren möglich, wobei schon eines im Juli wegen Verletzung von Grundrechten von LGBTQIA+-Personen eingeleitet wurde. Auch ein „Artikel 7“-Verfahren wäre denkbar. Dies kommt einer Suspendierung gleich und würde Polen das Stimmrecht kosten. Unmittelbar ist aber damit zu rechnen, dass Druck über die EU-Gelder (in diesem Fall zum Beispiel Covid-19-Hilfezahlungen, die um die 36 Milliarden Euro ausmachen) ausgeübt wird, bis bestimmte Gesetze (wie die Justizreform) zurückgenommen werden.

Alle diese Faktoren spitzen den Konflikt natürlich weiter zu. Wegen der langen oppositionellen Haltung zur EU wird auch schon länger spekuliert, ob Polen nicht auch mit dem Ausstieg aus der Föderation liebäugelt. Einige führende PolitikerInnen der PiS drohten schon konkret mit dem Austritt. Eine Person verglich die Rolle der EU mit der Besatzung durch „die Nazis und die Sowjets“. Das sind jedoch vereinzelte Stimmen und die Opposition versucht momentan stark, die PiS in eine Rolle der EU-skeptischen Partei zu drängen. Die polnische Bevölkerung ist überwiegend für einen Verbleib in der EU (über 80 %). Das wurde auch nochmal durch Donald Tusks Demonstrationen gezeigt, die sich für einen Verbleib von Polen in der EU stark machten. Morawiecki weiß, dass ein Polexit extrem unpopulär wäre. Daher erklärte er wiederholt, dass Polen mit Sicherheit nicht die Absicht hätte, die EU zu verlassen.

Die ökonomische Situation verdeutlicht auch, wie selbstmörderisch dieses Unternehmen wäre. Die EU muss hierbei als ökonomischer Block und nicht als „Wahrerin der Rechtsstaatlichkeit“ oder als „Friedensprojekt“ verstanden werden. Dann werden die Abhängigkeitsverhältnisse augenscheinlicher. Polen ist der größte Empfänger von EU-Geldern und stark abhängig vom Zugang zum Binnenmarkt. Als Zulieferer, speziell für Deutschland, bildet es ein wichtiges Glied in den Wertschöpfungsketten Europas.

Wie geht es weiter?

Der Austritt Polens bleibt also unwahrscheinlich, genauso aber die Rücknahme der Justizreform durch die gegenwärtige Regierung.

Vielmehr setzt die EU, ähnlich wie in Ungarn, auf ein breites, klassenübergreifendes Oppositionsbündnis, das die PiS-geführte Regierung bei den nächsten Wahlen ablösen kann. Betrachten wir den Charakter der Bewegungen für das Recht auf Abtreibung und gegen die Einschränkungen demokratischer Rechte in Polen, so ist eine solche Entwicklung nicht von der Hand zu weisen. Im letzten Herbst demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die politische Führung der Opposition lag und liegt freilich bei der „Bürgerkoalition“ Koalicja Obywatelska (KO), die von Liberalkonservativen wie Donald Tusk, dem ehemaligen Minister- und EU-Ratspräsidenten, geführt wird.

Die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und linke Parteien wie die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und Lewica Razem (Linke Gemeinsam) ordnen sich in diesen Bewegungen dieser faktisch politisch unter. In Polen erscheint der politische Konflikt als einer zwischen nationalkonservativem Populismus und EU-konformem Liberalismus. Genau darin aber besteht das zentrale politische Problem.

Die Lösung der politischen Krise kann und wird nicht darin bestehen, dass die EU Sanktionen gegen das Land verhängt. Im Gegenteil. Dies wird es der PiS erleichtern, den Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und von ihrer reaktionären Politik abzulenken, indem sie z. B. die EU für fehlende Corona-Hilfen verantwortlich machen kann. Daher müssen Linke und die ArbeiterInnenklasse in der EU diese Politik der EU-Kommission zurückweisen.

Notwendig ist vielmehr, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften sich selbst zu einer eigenständigen und führenden Kraft in der Bewegung gegen die PiS erheben, indem sie den Kampf gegen nationale Abschottung, die reaktionäre Flüchtlingspolitik, Angriffe auf die Rechte der Frauen mit dem gegen Armut, Entlassungen, Billigjobs und andere grundlegende Forderungen der ArbeiterInnenklasse verbinden.




Der „AUKUS-Pakt“ erhöht die Kriegsgefahr

Dave Brody, Workers Power (Britannien), Infomail 1164, 27. September 2021

Der „AUKUS“-Sicherheitspakt zwischen Australien, Großbritannien und den USA (benannt nach den Initialen der drei teilnehmenden Länder) ist einer der dramatischsten Schritte, den die Vereinigten Staaten bisher unternommen haben, um der Bedrohung ihrer Interessen durch ihren größten imperialistischen Rivalen, China, zu begegnen. Er stellt auch eine brutale Brüskierung Frankreichs und im weiteren Sinne der Europäischen Union und ihrer Nato-Verbündeten dar, von denen keine/r konsultiert worden war. Der Brexit unterstreicht auch die Abkehr Großbritanniens von seinen früheren EU-PartnerInnen und die Hinwendung zu einer Geostrategie mit Nordamerika.

Der Pakt ist einer der bisher deutlichsten Beweise für die Schwächung der US-amerikanischen Hegemonie, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurde, und für die wachsenden Spannungen nicht nur zwischen konkurrierenden imperialistischen Blöcken, sondern auch innerhalb dieser. Es zeigt auch – wie schon der überstürzte Abzug aus Kabul –, dass Joe Bidens Multilateralismus und seine Versöhnung mit den Verbündeten mehr eine Sache der Worte als der Taten ist.

Den größte Schock verspürte nicht die chinesische, sondern die französische Regierung,  eine der ältesten Verbündeten der USA. Ein Abkommen zwischen Frankreich und Australien über den Bau der nächsten Generation von U-Booten der Angriffsklasse war ohne Vorwarnung gekündigt worden. Frankreich zog wutentbrannt seine BotschafterInnen aus Washington und Canberra ab, um „Konsultationen“ abzuhalten. Großbritannien wurde nur deshalb ausgeschlossen, weil die französische Regierung vom „perfiden Albion“ (Löwe: englisches Wappentier) nichts Besseres erwarteten. Aber im Beisein der USA gestand der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian Gefühle von „Wut und Bitterkeit“ ein und erklärte.  „Diese brutale, einseitige und unvorhersehbare Entscheidung erinnert mich sehr an das, was Herr Trump zu tun pflegte“, und fügte hinzu: „So etwas tut man nicht unter Verbündeten.“

Inhalt des Paktes

AUKUS ist ein Sicherheitspakt zwischen den drei Ländern, der zunächst auf die Entwicklung und Stationierung einer Flotte australischer Atom-U-Boote im Indopazifik abzielt. Diese U-Boote sind weitaus schwerer zu entdecken und viel schneller als konventionell angetriebene Schiffe. Die Stationierung einer solchen Flotte in Australien wird die Bemühungen der USA unterstützen, der wachsenden Dominanz Chinas in der Region und seiner militärischen und maritimen Aufrüstung entgegenzuwirken. Die Vereinbarung geht jedoch weit darüber hinaus und sieht eine Zusammenarbeit in einem breiten Spektrum militärischer Fragen vor, darunter Cybersicherheit und künstliche Intelligenz.

Die UnterzeichnerInnen des Pakts hoffen, der wachsenden maritimen Herausforderung durch China begegnen zu können. Die Modernisierung der chinesischen Marine hat inzwischen diejenige Japans, Indiens und Australiens überholt, und China konkurriert nun direkt mit Amerika um die Vorherrschaft auf dem Seeweg in der Region. Die USA und Großbritannien sind zunehmend besorgt über Chinas wachsende Fähigkeit, ihre imperialistischen Interessen im Pazifik zu beeinträchtigen.

Obwohl Australien ein wichtiger Handelspartner Chinas ist, macht es sich zunehmend Sorgen über die wachsende Dominanz der chinesischen Flotte und das zunehmend bedrohliche Verhalten des Landes, einschließlich der Errichtung von Marinestützpunkten auf künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer. Obwohl AUKUS Australiens Marinekapazitäten massiv erhöhen wird, ist das Abkommen an Bedingungen geknüpft: Australien hat sich in einem künftigen Konflikt mit China fest auf die Seite der USA gestellt. Ein hochrangiger US-Beamter bezeichnete das Abkommen als „eine grundlegende Entscheidung, die Australien für Generationen fest an die Vereinigten Staaten und Großbritannien bindet“.

Wie vorauszusehen, betrachtet China den AUKUS-Pakt als direkten Gegenschlag zu seinen Versuchen, die potenzielle Blockade durch US-Basen, -Verbündete und -Flotten im indopazifischen Raum zu lockern. Der Pakt kommt auch zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten in demütigender Weise aus Afghanistan abziehen und China mit seiner „Neuen Seidenstraßen“-Initiative vorankommt, die ihrerseits eindeutig darauf abzielt, den potenziellen maritimen Würgegriff der USA zu überwinden.

Die chinesische Regierung hat das Abkommen als „extrem unverantwortlich“ verurteilt und erklärt, dass es „das Wettrüsten verschärft“, was es in der Tat tut. Die Global Times, eine vom chinesischen Staat unterstützte Publikation, ging noch weiter und erklärte, Australien habe sich mit diesem Schritt „zum Gegner Chinas gemacht“, und sagte noch offener, dass „die australischen Truppen höchstwahrscheinlich die erste Gruppe westlicher SoldatInnen sein werden, die ihr Leben im Südchinesischen Meer vergeuden“.

Es waren jedoch der demokratische Präsident Barack Obama und seine  Außenministerin Hillary Clinton, von der Falkenfraktion, die „pivot to Asia“ (Schwenk nach Asien) einleiteten und unter anderem die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ins Leben riefen, einen Handelspakt zwischen elf Ländern, der als Mittel zur Eindämmung des wirtschaftlichen Einflusses Chinas im Pazifikraum angesehen wurde, den Trump jedoch später aufgab. Am Tag nach der Ankündigung des AUKUS-Pakts beantragte China den Beitritt zur seltsam umbenannten „umfassenden und progressiven“ TPP, offensichtlich mit dem Ziel, die USA zu überflügeln oder zumindest in Verlegenheit zu bringen.

Weitere Eskalation

Im Grunde ist der AUKUS-Pakt eine weitere Eskalation der zwischenimperialistischen Rivalität und des zunehmenden Wettrüstens zwischen den Großmächten – in erster Linie China und den USA. Aber der Streit mit Frankreich und die Rede zur „Lage der Union“ der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in der sie Europa aufforderte, seine eigenen Verteidigungskapazitäten zu entwickeln, um Expeditionsstreitkräfte zur Verteidigung seiner Interessen ohne die Erlaubnis der USA zu entsenden, werden ein Thema für den neuen deutschen Bundeskanzler sein. Bisher hat sich Deutschland geweigert, sich Macron und früheren französischen Präsidenten anzuschließen und sich für eine von der amerikanischen Führung innerhalb der NATO unabhängige europäische Verteidigungstruppe einzusetzen. Dieser Weg kann nur zur Bildung eines neuen Lagers als Rivalin zu den USA führen – keine leichte Angelegenheit.

Der zunehmende Unilateralismus der USA – sowohl unter Biden als auch unter Trump – ist jedoch ein Faktor, der auf eine künftige transatlantische Konkurrenz hindeutet, eine Rivalität, die das „weltumspannende Großbritannien“ vor harte Entscheidungen stellen wird.

Die Macht der Vereinigten Staaten nimmt sicherlich ab, aber sie sind immer noch die bei weitem höchstentwickelte imperialistische Macht mit enormen militärischen und finanziellen Fähigkeiten. In dem Maße, wie China an Stärke gewinnt und die absolute globale Hegemonie der USA nach 1991 schwindet, wächst die Gefahr eines offenen Konflikts zwischen den beiden Mächten und ihren Verbündeten.

Ein solcher Konflikt wäre verheerend für die ArbeiterInnenklasse und für die gesamte Menschheit und könnte bis zur völligen nuklearen Vernichtung eskalieren. Daher ist es für revolutionäre KommunistInnen in den imperialistischen Zentren, sei es in den USA, Großbritannien, der EU oder China, von entscheidender Bedeutung, eine Bewegung gegen eine Eskalation des Wettrüstens der rivalisierenden imperialistischen Lager zu organisieren, die auf einen Krieg zusteuert.




Die Wahlen und die politische Krise der Bourgeoisie

Martin Suchanek, Infomail 1163, 20. September 2021

Gut eine Woche vor den Bundestagswahlen wurden die letzten Umfragen von ARD und ZDF veröffentlicht. Im Deutschlandtrend vom 16. September liegt die SPD mit 26 Prozentpunkten vor CDU/CSU (22 %) und den Grünen (15 %). AfD und FPD würden auf je 11 % kommen und DIE LINKE mit 6 % zwar sicher, aber abgeschlagen in den Bundestag einziehen.

In den letzten Wochen prägt ein eigentümlicher Gegensatz den Wahlkampf. Einerseits könnte er mit einem überraschenden Sieg einer politischen Untoten enden, einer SPD, die über Jahre in den Umfragen um die 15 % dümpelte. Nicht nur die Frage, wer die Regierung führt, sondern auch welche Koalition gebildet wird, ist offen wie nie nach 16 Jahren Merkel-Regierungen.

Zugleich bleibt der Wahlkampf selbst extrem inhaltsleer, wie nicht nur ein Blick auf die Wahlplakate zeigt. So verspricht Scholz „Kompetenz für Deutschland“ und „Respekt für Dich“. Die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Baerbock preisen „unser Land“ an. Es „kann viel, wenn man es lässt“. Die CDU/CSU verspricht „Sicherheit“ in unsicheren Zeiten. Und die FDP erklärt nur: „Es gab noch nie so viel zu tun.“

Von einem Lagerwahlkampf ist nichts zu spüren, es gibt auch keinen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wahrscheinlich drei der vier oben genannten Parteien, also SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP nach den Wahlen in eine Koalitionsregierung eintreten werden. Auch wenn von SPD und Grünen mit der Linkspartei rechnerisch eine Koalition im Bereich des Möglichen liegt, so ist sie trotz hartnäckiger Bemühungen der Linkspartei-Spitze nach den Wahlen sehr unwahrscheinlich. Sowohl SPD wie auch Grüne streben bei einem Wahlsieg von Scholz eine Koalition mit der FDP an, um so dem deutschen Kapital Verlässlichkeit und Stabilität zu signalisieren. Sollten die Unionsparteien das Ergebnis doch noch drehen können und zur größten Fraktion im Bundestag werden, läuft es wahrscheinlich auf eine Regierung mit der FPD und Grünen oder SPD hinaus.

Theoretisch wäre auch der Eintritt der CDU/CSU in ein SPD-geführtes Kabinett möglich, doch das würde mit ziemlicher Sicherheit die tiefe Krise der Unionsparteien noch weiter verschärfen und ist daher nicht zu erwarten.

Warum drehten sich die Umfragen?

Bemerkenswert an diesem Wahlkampf ist zweifellos, dass sich die Umfragen seit Anfang 2021 mehrmals drehten. Eine Zeit lang schien es so, als würden die Wahlen auf ein Duell von CDU/CSU und Grünen hinauslaufen und diese schließlich eine Regierung bilden. Dann fielen aber die Grünen zurück und die Unionsparteien sahen wie die sicheren Siegerinnen aus. Offen war nur, ob Söder oder Laschet Merkel-Nachfolger werden würde.

Mit Olaf Scholz schicke die SPD einen Großkoalitionär vom rechten Parteiflügel ins Rennen, der wie die sichere Fortsetzung ihrer Dauerkrise und ihres langsamen Absterbens wirkte. Wohlmeinende bezeichnen seine Rhetorik als unaufgeregt. Andere schlafen bei seinen Ansprachen einfach ein und sparen so wenigstens am Schlafmittel.

Lange Zeit schien er, sicherer Dritter im Rennen um die KanzlerInnenschaft zu werden, wirkte eigentlich wie ein Pseudokandidat, dessen Partei obendrein das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfahren würde. Doch im Gegensatz zur SPD leisteten sich ihre Konkurrentinnen einen offenen Kampf um die Frage des/der SpitzenkandidatIn. Während CDU und CSU dabei mehr oder weniger offen Laschet beschädigten, geriet die grüne Spitzenkandidatin Baerbock sehr früh ins Sperrfeuer einer Gegenkampagne von Teilen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Medien.

All dies trug sicher dazu bei, dass sich die Umfragen drehten. Die SPD profitierte im Wesentlichen von den Schwächen der anderen, so dass sie nun reale Chancen hat, am 26. September zur stärksten Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Die Grünen sind mittlerweile faktisch aus diesem Rennen ausgeschieden, so dass sich die Wahl als Zweikampf zwischen Scholz und Laschet zuspitzt.

Zweifellos kommt dem SPD-Mann dabei zugute, dass ihn selbst Teile der CDU-WählerInnen und der herrschenden Klasse für den besseren oder wenigstens vorzeigbareren Kanzler halten. Es wäre freilich viel zu kurz gegriffen, die Frage auf letztlich zweitrangige, personelle Faktoren zu reduzieren.

Politisch-strategische Krise

Die raschen Veränderungen in den Umfragen, drücken vielmehr eine wachsende politische Instabilität und Krise im bürgerlichen Lager aus. Dies reflektiert zwar auch eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, vor allem aber eine politisch-strategische Krise der Parteien, die über Jahrzehnte die Regierungen in der Bundesrepublik stellten und die Stützen des etablierten bürgerlich-parlamentarischen Systems bildeten.

Entscheidend und vorrangig zu nennen ist hier die Krise der CDU/CSU. Selbst wenn Laschet noch vor Scholz landen, die Unionsfraktion zur stärksten im Bundestag werden und die nächste Regierung anführen sollte, wäre ihr Ergebnis katastrophal. Schon 2017 erreichte sie mit 32,9 % das zweitschlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik (nur 1949 war es ärger), als CDU/CSU gegenüber 2012 8,6 % verloren. Dieses Mal könnten sich die Verluste in ähnlichen Dimensionen bewegen.

Dem Niedergang der Unionsparteien entspricht eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers, also all jener Parteien, die historisch nicht aus der ArbeiterInnenbewegung stammen. Den Aufstieg der Grünen, die wohl ihr bestes Ergebnis einfahren und sich als dritte politische Kraft festigen, ergänzen FDP und AfD, die beide mit Sicherheit über 10 % der Stimmen erhalten werden. Das verdeutlicht, dass CDU/CSU ihre historische Rolle als Hauptpartei(enbündnis) des BürgerInnentums immer weniger zu erfüllen vermögen. Über Jahrzehnte vermochten die Unionsparteien, verschiedene kleinere offen bürgerliche Kräfte, die in der Weimer Republik miteinander konkurrierten, in einer Partei zu integrieren und so für Einheit im bürgerlichen Lager zu sorgen. Partikularinteressen von kleinbürgerlichen Schichten, Teilen der ArbeiterInnenschaft, unterschiedliche Kapitalfraktionen konnten im Interesse des Gesamtkapitals zu einem Ganzen verbunden werden.

Konfliktlinien

Das gelingt immer weniger. Das liegt insbesondere daran, dass die CDU/CSU-Allianz immer weniger eine Politik zu formulieren vermag, die die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als einigermaßen konsistente Strategie artikuliert. Vielmehr sind die Unionsparteien von einer Reihe politischer Gegensätze durchzogen. So schwankt ihre ganze Politik z. B. zwischen Green Deal mit staatlichen Investitionsprogrammen einerseits und einem neoliberalen, „rein“ marktwirtschaftlichen Kurs. Der Green Deal hat dabei natürlich wenig bis gar nichts mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun, sondern stellt bloß ein „ökologisches“ Programm zur Erneuerung der stofflichen Basis und Konkurrenzfähigkeit des industriellen Kapitals dar. Der andere Flügel setzt aber auf eine wesentlich neoliberale Politik, da so den Interessen der FinanzinvestorInnen am besten gedient sei und der Markt nebenbei auch die ökologischen Probleme lösen würde.

Beide Seiten repräsentieren unterschiedliche Fraktionen des Monopol- und Finanzkapitals und auch unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen. Ein Flügel setzt auf Korporatismus und SozialpartnerInnenschaft und damit eine gewisse Einbindung der ArbeiterInnenklasse über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte. Dem anderen (FDP, Merz-Flügel in der CDU) erscheint das als grundlegendes Problem.

Schließlich kommt hinzu, dass die verschiedenen politischen Kräfte über keine gemeinsame längerfristige und klare Strategie zur Lösung der EU-Krise sowie der des transatlantischen Verhältnisses verfügen, deren Konflikt unter Biden nicht verschwunden ist, sondern nur seine Form geändert hat. Da beide Fragen untrennbar mit der des Verhältnisses zu China und Russland verknüpft sind, ergibt sich eine weitere Baustelle außenpolitischer Strategie.

Klar ist nur: Es muss sich Entscheidendes ändern. Aber es gibt keine klare Strategie „des“ deutschen Kapitals, ja selbst die verschiedenen Lager durchdringen sich teilweise.

Während sich die unterschiedlichen Richtungen bürgerlicher Politik in der CDU/CSU auch parteiintern gegenüberstehen, herrschen bei Grünen und FDP jeweils bestimmte Richtungen vor, so dass diese Parteien über eine relativ große Einheitlichkeit verfügen.

In gewisser Weise gilt das auch für die SPD. Sie steht – ähnlich wie die Grünen – für den Green Deal. Aber sie vermag es eher und glaubwürdiger, dessen soziale Abfederung und die Rücksichtnahme auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, die bei einem massiven Umbau des Exportkapitals im Bereich der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchtet, zu verkaufen. Das erklärt auch, warum die Sozialdemokratie die Grünen in den Umfragen überholen konnte.

Allzu viele soziale Wohltaten sollte auch von Olaf Scholz und seiner SPD niemand erwarten. Mit gerade 3,- Euro/Monat bepreist die Sozialdemokratie die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ bei der jüngsten Hartz-IV-Erhöhung. So billig sollen die Ärmsten der Armen auch in Zukunft abgespeist werden.

Unter einer von Scholz oder Laschet geführten Bundesregierung sollen die sozialen und ökonomischen Kosten für die Corona-Programme, für die Staatsverschuldung, für die „Reform“ der EU, für die „ökologische Erneuerung“, für Rüstung, Militär und weitere Auslandseinsätze die Lohnabhängigen zahlen. Die Frage ist nur, ob die herrschende Klasse auch einen „Anteil“ tragen oder nach dem Modell von Union und FDP als „Leistungsträgerin“ ganz ungeschoren davonkommen soll. Dass die herrschende Klasse nicht allzu sehr zur Kasse gebeten wird, dafür werden sich in jeder neuen Koalition genug Kräfte finden und wird auch der unvermeidliche Druck des deutschen Kapitals sorgen. Die konjunkturelle Lage mag zwar einen gewissen Spielraum für einzelne Lohnerhöhungen und soziale Abfederung mit sich bringen, aber das ist nur das Zuckerbrot zur Peitsche drohender Massenentlassungen und Umstrukturierungen in der Industrie oder bei den nächsten Sparprogrammen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt, dass die steigende Inflation zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führen wird. Was die Bekämpfung der Corona-Pandemie betrifft, so setzen im Grunde alle vier auf eine Mischung aus Impfungen und Durchseuchung der Ungeimpften, also die sog. Herdenimmunität. Es geht längst nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu stoppen, sondern nur noch darum, die Belastung des Gesundheitssystems und die Sterberaten in „akzeptablen“ Grenzen zu halten.

Innere Probleme einer nächsten Regierung

Die strategische Linie des deutschen Kapitalismus wird in der nächsten Regierung weiter umstritten und schwankend sein, weil sie sich selbst aus unterschiedlichen Richtungen zusammensetzen wird und auch diese für sich genommen keineswegs über ein schlüssiges, klares „Zukunftskonzept“ verfügen.

Zugleich wird die nächste Regierung wichtige Angriffe starten oder fortsetzen – unterscheiden werden sich die verschiedenen Koalitionen allenfalls dadurch, wie sehr sie die Gewerkschaftsführungen und die Betriebsräte in den Großkonzernen weiter „partnerschaftlich“ in den Kampf um Weltmarktanteile einbinden.

Gemäß der Mechanik der Klassenzusammenarbeit soll davon ein Teil an die ArbeiterInnenaristokratie fallen. Doch dieser Anteil wird vor dem Hintergrund fallender Profitraten und immer härterer Weltmarktkonkurrenz zusehends geringer. Für viele besteht er schon heute, nach erfolgreichem, sozial abfederten Strukturwandel, nur noch im „Privileg“, die eigene Arbeitskraft weiter verkaufen zu dürfen – zu deutlich schlechteren Bedingungen, versteht sich.

Den wunden Punkt des deutschen Imperialismus stellt jedoch seine außenpolitische und militärische Schwäche dar. Daher muss eine zukünftige Regierung, ob unter Scholz oder Laschet, danach trachten, den gordischen Knoten der EU-Krise und des weiteren Zurückbleibens in der Konkurrenz mit den USA und China zu lösen. Ob das gelingt, ist durchaus zweifelhaft. Das Schwert, mit dem er durchschlagen werden kann, muss noch geschmiedet werden.

Allein daher können wir eine größere Instabilität erwarten. Falls der kommenden Regierung keine wirkliche Lösung dieser strategischen Krise gelingt, müssen wir mit einer weiteren Umgruppierung im bürgerlichen Lager rechnen. Die rassistische und rechtspopulistische AfD wird zwar regelmäßig von inneren Konflikten heimgesucht, aber sie hat sich bei über 10 % der Stimmen stabilisiert. Auch in der nächsten Periode wird sie enttäuschte und wütende kleinere Kapitale, KleinbürgerInnen und rückständige ArbeiterInnen durch eine Mischung aus rassistischer Demagogie und Freiheitsversprechen für „ehrliche“ KleinunternehmerInnen binden können.

Bei diesen Wahlen kommt die AfD aufgrund ihrer Anti-EU-Haltung weder für CDU/CSU noch für die FDP als Koalitionspartnerin in Frage. Doch dies kann sich in der nächsten Legislaturperiode ändern – sei es, wenn die Krise der EU andere Optionen für das Kapital notwendig macht, sei es als mögliche Partnerin gegen den Widerstand der ArbeiterInnenklasse oder sozialer Bewegungen (z. B. Umwelt, Mieten) gegen kommende Angriffe. Außerdem werden die Unionsparteien und die FDP danach trachten, ihre Regierungsoptionen zu erweitern, um die Möglichkeiten von SPD und Grünen auszugleichen, die auch auf die Linkspartei als Drohkulisse zurückgreifen können.

Im Grunde wird es aber bei den Wahlen um die Alternative zwischen zwei möglichen zukünftigen Richtungen des deutschen Imperialismus gehen. SPD und Grüne stehen für eine sozial und ökologisch abgefederte Modernisierung. FDP und rechter Unionsflügel setzen auf eine Neuauflage des Neoliberalismus. Ein Teil der CDU/CSU steht entweder dazwischen oder SPD, Grünen und der EU-Kommission näher.

Wie die deutsche Bourgeoisie diese Krise löst, hängt letztlich natürlich nicht vom Ausgang der Wahlen ab und von den Verhandlungen um eine neue Regierung. Wesentlich wird die Frage im Kampf entschieden, sowohl mit anderen Blöcken und Staaten um die Zukunft der EU und der Weltordnung als auch zwischen den Klassen. Darin müssen sich die verschiedenen bürgerlichen Strategien als tauglich erweisen.

Auf reiner Regierungsebene werden wir es unmittelbar – nicht unähnlich den Verhältnissen in der EU – mit einer Koalition der beiden Richtungen zu tun haben. Verstärkt wird das unmittelbar noch durch das föderale System der Bundesrepublik, das der parlamentarischen Opposition bei wichtigen Gesetzen noch immer „Mitspracherechte“ gegenüber der Regierung einräumen würde. In jedem Fall wäre dies, anders als in früheren Perioden, ein fragiles, instabiles Kabinett.

Rolle von Gewerkschaften und SPD

Grundsätzlich bietet eine solche Lage auch Chance für die ArbeiterInnenklasse. Doch der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte, der selbst aus Niederlagen (Hartz-Gesetze, EU-Diktat gegenüber Griechenland, Rechtsrutsch nach der sog. Flüchtlingskrise) herrührt, führte mit dazu, dass nicht die Linke, sondern die politische Rechte von den krisenhaften Prozessen profitierte.

Dies wurde und wird durch die Politik von SPD und Gewerkschaften – insbesondere durch den sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss der Bürokratie während der Krise und der Pandemie – massiv verschärft. Die großen DGB-Gewerkschaften verzichteten faktisch auf Tarifauseinandersetzungen. Die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen kamen von kleinbürgerlich-geführten Bewegungen gegen Rassismus und vor allem gegen die Umweltpolitik der Regierung, was dazu beitrug, dass diese wie auch die außerparlamentarische Linke stark von kleinbürgerlichen Ideologien geprägt sind.

Auch wenn es 2021 eine eingeschränkte Trendumkehr mit wichtigen Arbeitskämpfen bei der Bahn oder im Gesundheitswesen oder durch Kampagnen gegen steigende Mieten gab, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur einzelne Sektoren und Teilkämpfe betrifft. In den großen Betrieben herrscht ein von oben, mithilfe der Gewerkschaften und Betriebsräte organisierter Frieden vor, er von den Beschäftigten mit Verzicht auf allen Ebenen und Arbeitsplatzverlusten bezahlt wird.

Und DIE LINKE?

Die Linkspartei vermochte es nicht, aus dieser Krise der SPD politisches Kapital zu schlagen. Sie ist vielmehr selbst Teil des Problems, der politischen Krise der ArbeiterInnenklasse. Das drückt sich auch, aber nicht nur bei den Wahlen aus. Gegenüber 2017 wird sie in diesem Jahr wahrscheinlich um die 2 – 3 % verlieren. Das reicht zwar zum Einzug in den Bundestag. Die Frage stellt sich aber, warum sie um die 6 % dümpelt?

Der entscheidende Faktor ist wohl der: Die Linkspartei vermochte, sich selbst nicht als glaubwürdige Alternative zur Regierung und das heißt vor allem zum sozialpartnerschaftlichen Kurs der SPD und der Gewerkschaftsführungen zu präsentieren. In Thüringen, Berlin und Bremen ist sie bekanntlich an den Landesregierungen beteiligt – und damit verschwimmt selbst der Unterschied ihres linksreformistischen Programms zur Politik von SPD und Grünen.

Andererseits hat sich die Linkspartei durchaus gewandelt. Seit Jahren zählt sie zwar um die 60.000 Mitglieder, doch während bei der Fusion von PDS und WASG eine deutliche Mehrheit aus Ostdeutschland kam, ist es heute nur noch eine Minderheit. Die Partei hat sich auch verjüngt und weist eine stärkere Verankerung unter gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen auf, als die ehemalige PDS sie je hatte. Sie ist eigentlich eine „klassischere“ bürgerliche ArbeiterInnenpartei geworden, eine kleinere reformistische Schwester der SPD. Sie organisiert zur Zeit die politisch bewussteren Teile der ArbeiterInnenklasse und spielt eine wichtige, wenn nicht führende Rolle in bedeuteten Arbeitskämpfen, so im aktuellen Streik an den Berliner Krankenhäusern, so in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder in den Mobilisierungen gegen das verschärfte Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen.

Dass die Partei trotz ihrer reformistischen Politik und Programmatik politischer Ausdruck dieser Kräfte und Bewegungen wurde, bringt ihre Verankerung in fortschrittlicheren und kämpferischeren Teilen der Lohnabhängigen zum Ausdruck und bildet die Basis dafür, sie bei den kommenden Wahlen kritisch zu unterstützen. Um einen Kampf gegen die kommenden Angriffe erfolgreich zu führen, ist die Gewinnung dieser Teile der ArbeiterInnenklasse für eine Einheitsfront unbedingt notwendig, sowohl wegen ihres eigenen gesellschaftlichen Gewichts, aber auch als Hebel zur Gewinnung breiterer Schichten der Klasse.

Doch die Reaktion der Führung der Linkspartei auf eine nach einigen Umfragen mögliche rechnerische Mehrheit im kommenden Bundestag verdeutlicht auch, warum ein Wahlaufruf nur ein sehr kritischer sein kann. Die Spitze der Partei konzentriert sich in den letzten Wochen nicht darauf, sich als linke, kämpferischer Alternative zu allen proimperialistischen Kräften und möglichen bürgerlichen Koalitionen zu präsentieren. Sie setzt vielmehr auf eine Regierungsbeteiligung. Dazu veröffentlichten die Vorsitzenden der Partei und der Parlamentsfraktion Anfang September ohne Diskussion im Parteivorstand ein Sofortprogramm für eine rot-grün-rote Regierung, in dem alle wesentlichen Differenzen mit SPD und Grünen (insbesondere auch zur NATO und zur Außenpolitik) umschifft werden. Gegenüber dem deutlich linkeren Wahlprogramm kommt es einer Kapitulation gleich.

Die Linkspartei verkennt dabei nicht nur, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; sie verkennt auch, dass eine rot-grün-rote Regierung mit einer SPD unter Scholz nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green (New) Deal im Kapitalinteresse.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.

Nach der Wahl

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock und Lindner werden nach dem 26. September sicher für massive soziale Angriffe sorgen. Dabei werden sie sich aber auch in langwierige Koalitionsverhandlungen verstricken. Und das kann für uns nützlich sein, wenn wir selbst entschlossen reagieren und nicht erst auf eine Regierungsbildung warten.

Eine Massenbewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie auf die Lohnabhängigen aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dazu schlagen wir eine bundesweite Aktionskonferenz vor, die die Lage nach den Wahlen diskutiert und einen Aktions- und Mobilisierungsplan gegen die zu erwartenden Angriffe beschließt.




Rassismus gegen AfghanInnen: sichere Fluchtrouten jetzt!

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1160, 31. August 2021

Nach dem militärischen und politischen Debakel der US-geführten Militärallianz in Afghanistan und dem Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen konnten die reaktionär-islamistischen Taliban in den letzten Wochen und Monaten im rasanten Tempo nahezu das gesamte Land erobern. Nach der kampflosen Übernahme der Hauptstadt Kabul gingen dramatische Bilder von tausenden AfghanInnen, die versuchten, Richtung Flughafen zu fliehen, durch die internationalen Medien. Die westlichen Militärmissionen im Land legten dabei den klaren Fokus auf die Evakuierung der eigenen Streitkräfte, diplomatischen MitarbeiterInnen und der wenigen verbliebenen Geschäftsleute im Land. Das führte teilweise zu den abstrusen Situationen, dass Flugzeuge teilweise nur halb gefüllt die Abreise antraten und damit zeigten, wie wenig den imperialistischen Mächten das Leben der AfghanInnen offenbar wert ist. Nach dem blutigen Anschlag am Kabuler Flughafen, mutmaßlich durchgeführt durch den Islamischen Staat, bei dem mehr als 185 Menschen ihr Leben verloren, sind für die meisten Länder ihre Evakuierungsprogramme erst mal beendet.

Internationale Aufnahmepläne

Länder wie die USA haben angekündigt, einige AfghanInnen aufzunehmen. Der Schwerpunkt wird hierbei vor allem darauf gelegt, diejenigen aufzunehmen, die mit den imperialistischen Besatzungsmächten zusammengearbeitet haben. Argumentiert wird das mit einer speziellen Gefährdungslage dieser Menschen. Doch dass unterschiedliche religiöse, ethnische oder sozial unterdrückte Gruppen vermutlich einer genauso großen, wenn nicht einer größeren Gefährdung unterliegen, wird hier geflissentlich ignoriert. Der Schwerpunkt liegt klar darauf, dass die „guten“ AfghanInnen, also solche, die die Besatzung des Landes aktiv unterstützt haben, Asyl bekommen sollen, während der Rest schauen soll, wo er bleibt.

In der EU ist das Thema Asyl und Flucht seit einigen Jahren immer härter umkämpft. Quer durch die politische Rechte, bis tief in die Mitte hinein, wird beschworen, dass sich „2015 nicht wiederholen darf“. Und für die politischen Eliten ist das auch nicht verwunderlich, durchbrachen damals tausende geflüchtete Menschen kurzzeitig das Grenzregime und die rassistische Ordnung Europas. Dazu kam gleichzeitig eine breite Welle der Solidarität der Menschen in Europa mit denen, die vor Krieg, Verfolgung und Elend flohen. Grund genug für die Herrschenden, das als Gefahr für ihre „Ordnung“ zu sehen.

Besonders tut sich hier der französische Präsident Macron hervor. Während tausende verzweifelte Menschen am Kabuler Flughafen auf eine mögliche Ausreise hofften, argumentierte er, dass sich Frankreich vor „Wellen von Migranten“ schützen müsse. Deutschland geht eher den US-amerikanischen Weg und möchte Menschen aufnehmen, die „sich für Deutschland engagiert“ haben (Laschet) oder „in den letzten Jahren die NATO-Truppen mit unterstützt haben“ (Baerbock).

Österreich wieder mal rechts außen

Während sich in anderen EU-Staaten darüber unterhalten wird, wie viele Geflüchtete aufgenommen werden können, schließt das die österreichische Bundesregierung komplett aus. Sebastian Kurz dazu in seiner berühmt menschenfeindlichen Manier: „Ich bin klar dagegen, dass wir jetzt freiwillig mehr Menschen aufnehmen – das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben.“ Stattdessen möchte man mit den autokratischen Regimen rund um Afghanistan zusammenarbeiten, um dort „Außenanlandeplattformen“ bzw. „Abschiebezentren“ zu schaffen, in denen afghanische Geflüchtete aufgefangen werden sollen. Garniert wird das Ganze mit der alten Leier von einer „Hilfe vor Ort“, die es nie gab und auch mit dieser Regierung nie geben wird.

Darüber hinaus möchte die Bundesregierung auch weiter AfghanInnen abschieben können. Das geht zwar derzeit nicht, einerseits wegen der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber was für Nehammer (österreichischer Bundesinnenminister, ÖVP) und Co. vermutlich deutlich wichtiger ist, weil es akut keine Möglichkeit der Überstellung nach Afghanistan gibt. Grundsätzlich ausschließen will der Innenminister auch Abschiebungen nicht, solange die Taliban an der Macht sind. Unmittelbar möchte man stattdessen AfghanInnen in Nachbarländer abschieben.

Parteien der Menschenrechte?

Von den Grünen, die ja wie oft schwer erkennbar, auch in der Regierung sitzen, ist zurzeit wenig zu hören. Zwar gibt es einzelne Appelle von grünen PolitikerInnen für mehr „notwendige Menschlichkeit“ (Kogler, Vizekanzler und österreichischer Bundesminister für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport), aber reale Auswirkungen auf die Politik der Regierung hat das nicht. Wie so oft in der Vergangenheit sind die Grünen in der Regierung SteigbügelhalterInnen der türkisen Politik.

Die SPÖ ist hier aber um nichts besser. Von ihrem rechten Flügel aus dem Burgenland wird sogar der Rücktritt von Nehammer gefordert, weil dieser angeblich zu links wäre! Aber auch die Mehrheitslinie von Pamela Rendi-Wagner ist nicht wirklich viel besser: Sie fordert Deals mit den Nachbarländern nach Vorbild des Türkeiabkommens von 2016, das die rassistische Festung Europa durch politische und finanzielle Zugeständnisse an Erdogan absicherte.

Was es stattdessen brauchen würde, ist die Gewährleistung von sicheren Fluchtrouten, die Aufnahme aller Geflüchteten, eine klare Ablehnung der rassistischen Grundhaltung aller etablierter Parteien und die Einheit aller Unterdrückten und Ausgebeuteten.




Mali: Nieder mit dem französischen Kolonialismus – Truppen raus!

Marc Lassalle, Infomail 1158, 17. August 2021

In einer Erklärung vom Juni 2021 kündigte Präsident Macron das Ende der französischen Opération Barkhane (nach der Sicheldüne Barchan in der Sahara benannt) in Mali an. Diese Militärintervention wurde 2013 unter dem Namen Serval vom damaligen Präsidenten François Hollande gestartet, angeblich um den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen, die die Hauptstadt Bamako bedrohten. Zum Zeitpunkt ihres Beginns wurde sie von allen französischen Parteien unterstützt, darunter der Front de Gauche (Linksfront), der Kommunistischen Partei und Jean-Luc Mélenchon. Die einzigen nennenswerten Ausnahmen waren die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) und Lutte Ouvrière (LO), die die Aktion aus einer antiimperialistischen Position heraus ablehnten.

Acht Jahre später sieht die Bilanz für den französischen Imperialismus düster aus, aber für die Menschen in Mali ist sie noch schlechter. Trotz der Stationierung von 5.100 SoldatInnen im Land und des Einsatzes eines Arsenals von Hightechwaffen wie Drohnen, Hubschraubern, Raketen, Düsenjägern usw. ist die Sahelzone (das Gebiet südlich der Wüste Sahara) laut Emmanuel Macron zum „Epizentrum des internationalen Terrorismus“ geworden. Die Dschihadisten werden sogar zu einer Bedrohung für andere Länder wie Burkina Faso und streben eine Ausdehnung auf den Senegal oder die Elfenbeinküste an.

Zwei Staatsstreiche innerhalb von neun Monaten haben den Staat Mali noch weiter an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, und auch der Tschad ist destabilisiert. Seit 2012 wurden in der Region 8.000 Menschen, zumeist ZivilistInnen, getötet, 2 Millionen wurden vertrieben und 3,9 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. Die Parallele zum gleichzeitigen Rückzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan und zur dortigen katastrophalen Lage ist offensichtlich. Trotz aller Ankündigungen ist dies jedoch noch lange nicht das Ende der französischen Kolonialherrschaft in der Region, und neue Krisen und Interventionen stehen bevor.

Kolonie

„Frankreich befreit. Frankreich trägt Werte. Es verfolgt keine eigenen Interessen in Mali. Es verteidigt keine wirtschaftlichen oder politischen Pläne. Es dient einfach dem Frieden“, behauptete François Hollande 2013. Leider ist diese Rhetorik nur eine Anhäufung von zynischen Lügen und eine völlige Verfälschung der Wahrheit.

Die Aktionen der AQMI (Al-Qaida im Maghreb) und anderer fundamentalistischer islamistischer Gruppen sind absolut reaktionär, und wir verurteilen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und anderer Grundfreiheiten sowie die Auferlegung theokratischer Maßnahmen. Aber genau wie die imperialistische Besatzung in Afghanistan dienen Demokratie und Frauenrechte nur als ideologisches Feigenblatt. Der wahre Grund für diese Intervention liegt woanders.

Der französische „Dienst an der Freiheit und am Frieden“ begann mit der militärischen Besetzung des Landes im Jahr 1863, woraufhin Mali in Französisch-Westafrika eingegliedert wurde, zunächst als Haut-Sénégal-Niger und dann als Französisch-Sudan. Um die Reis- und Baumwollproduktion zu entwickeln, wurden massiv ZwangsarbeiterInnen eingesetzt, und die Bevölkerung lieferte in beiden Weltkriegen unter der Bezeichnung „tirailleurs“ (Scharfschützen) Hunderttausende als Kanonenfutter für die französische Armee.

Wie in anderen französischen Kolonien war die 1960 erlangte Unabhängigkeit eher formal als real. Ein Staatsstreich im Jahr 1968 brachte einen Diktator, Moussa Traoré, an die Macht, der mit Unterstützung des französischen Staates bis 1991 Präsident blieb. In wirtschaftlicher Hinsicht wird das Big Business vollständig von den französischen multinationalen Unternehmen im Bankensektor (BNP-Paribas), in der Infrastruktur und im Baugewerbe (Bolloré, Bouygues), in der Telekommunikation (Orange) usw. beherrscht, mit einem komfortablen Überschuss von 300 Millionen Euro im Handelsaustausch zugunsten Frankreichs. Wie die meisten anderen Staaten des französischen Kolonialreichs ist Mali in Bezug auf seine Währung vollständig von Frankreich abhängig: Der Franc CFA wird in der Tat in Frankreich gedruckt und streng von der französischen Währungsaufsicht kontrolliert.

Mali ist eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Laut dem Index für menschliche Entwicklung liegt es mit einer Lebenserwartung von 53 Jahren und einer Analphabetenrate von 69 Prozent auf Rang 175 von 187 Ländern. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Nach der Krise der Baumwolle, einst das „weiße Gold“, ist der einzige bekannte Reichtum echtes Gold: Mali ist der drittgrößte afrikanische Produzent, und dies macht zwei Drittel des Wertes seiner Exporte aus, die von kanadischen und südafrikanischen Unternehmen kontrolliert werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die malischen MigrantInnen einen bedeutenden Teil der französischen ArbeiterInnenklasse ausmachen, vor allem im Baugewerbe, und wie alle anderen EinwanderInnen durch die rassistischen diskriminierenden Gesetze in Frankreich besonders unterdrückt werden.

Warum also ist Frankreich so besorgt über ein armes, rückständiges Land mitten in Afrika?

Intervention

Der erste Grund ist natürlich, dass Mali, wie die meisten anderen afrikanischen Länder, vom französischen Imperialismus als gegenwärtige und zukünftige Quelle von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften angesehen wird. Der Norden des Landes ist weitgehend unerforscht, aber neben Gold und Erdöl könnten auch andere Mineralien vorhanden sein. Es gibt auch Pläne, die Sonnenenergie in der Sahara zu nutzen und sie als elektrische Energie nach Europa zu übertragen.

Noch wichtiger für Frankreich ist die große Uranmine von Arlit in Niger, die nur wenige Stunden von der malischen Grenze entfernt liegt. In dieser Mine wird der größte Teil des Urans für französische Reaktoren und natürlich auch für Atomwaffen produziert. Eine stabile und kontrollierte Lage in Nordmali ist für die Fortsetzung der Produktion dieses strategischen Rohstoffs in Arlit unerlässlich.

Die Kontrolle der Lage in Mali ist auch für die Sicherung der Verbindungswege zwischen Zentralafrika und dem Maghreb von entscheidender Bedeutung. Wie zu Zeiten der Karawanen, als der Handel durch die Sahara florierte, werden diese Routen heute stark für den Warenverkehr aller Art genutzt, darunter Zigaretten, Waffen, Drogen, aber auch Menschenhandel. Sie werden auch jedes Jahr von Tausenden von MigrantInnen genutzt, die versuchen, nach Libyen oder Tunesien und dann nach Europa zu gelangen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mali ein wichtiges Glied in der französischen Kolonialherrschaft über die gesamte Region ist und der französische Imperialismus nicht dulden kann, dass das Land zerfällt und den Weg für unkontrollierte bewaffnete Gruppen im Dienste anderer Interessen frei macht. Dies könnte in der Tat die gesamte Region weit über die Sahelzone hinaus destabilisieren.

Nach schnellen Siegen gegen die dschihadistischen Gruppen (AQMI, MUJAO – Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika, Ansar Eddine – HelferInnen der islamischen Religion) zu Beginn der Intervention übergab die französische Armee die Kontrolle über den nördlichen Teil des Landes an eine bewaffnete Tuareg-Gruppe, MNLA (Mouvement National de Libération de l’Azawad; Nationalbewegung für die Befreiung Azawads). Die Dschihadisten erlitten mehrere Niederlagen, breiteten sich aber dennoch in der Region aus und versuchten, sich mit anderen Konflikten zu verbinden, beispielsweise im Zentrum Malis. Die anfängliche Popularität der französischen Intervention verflüchtigte sich nach mehreren Fällen von Morden an der Zivilbevölkerung. Da die staatliche Autorität schwindet, gerät das Land immer mehr unter die Kontrolle bewaffneter Gruppen.

Schwacher Staat

Das Problem ist, dass Mali als Staat seit seiner Gründung von Grund auf schwach war. Wie viele andere Kolonialstaaten war er ein künstliches Ganzes. Der Norden ist eine Wüstenregion, die im Wesentlichen von den Tuareg bevölkert wird, einem Volk ohne Staat, das heute über fünf Länder verstreut ist. Weiter südlich wird die Sahelzone von ViehhirtInnen bewohnt, erst in der Nähe des Niger ist Landwirtschaft möglich. Die Spannungen zwischen den Tuareg und dem malischen Zentralstaat bilden seit Jahrzehnten ein nahezu ständiges Phänomen, das mehrere Aufstände und BürgerInnenkriege nach sich zog.

Zu diesem Flickenteppich kommt noch hinzu, dass der Zentralstaat durch imperialistische Vorherrschaft extrem geschwächt ist. Zwischen 1970 und 1980 hat sich die Verschuldung verdoppelt, wobei Frankreich Hauptkreditgeber war. In den 1990er Jahren setzten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eine harte Politik der Umschuldung (Strukturanpassungspläne) durch, die zu Privatisierungen und Kürzungen im ohnehin spärlichen öffentlichen Sektor, einschließlich der Schulen und der Gesundheitsdienste, führte. In vielen Dörfern gibt es keine Schulen, und die Gesundheitsdienste beschränken sich auf traditionelle Medizin. Kein Wunder, dass sich die malische Armee in einem erschreckenden Zustand befindet. Die Korruption ist weit verbreitet, und die hundert Millionen Euro, die westliche Mächte dort investiert haben, sind in den Händen einer unfähigen bürokratischen Kaste einfach verschwunden.

Auch die internationale Lage stellt eine mächtige Quelle der Destabilisierung dar. Die französisch-britische Intervention in Libyen hat das Regime von Gaddafi schnell gestürzt, aber ein politisches Chaos geschaffen, wo die Kontrolle über das libysche Öl heftig umstritten ist. Der Sturz des Gaddafi-Regimes führte zur Bildung bewaffneter Gruppen in Nordmali: Tuareg-SoldatInnen, die einst zu Gaddafis Armee gehörten, flohen nach Mali, und die riesigen Waffenbestände Libyens wurden in die gesamte Region verkauft. Auf globaler Ebene ist Mali nur ein Spielball in einem neuen Kampf um Afrika, in dem die alten, vom französischen Imperialismus geschaffenen Herrschaftsverhältnisse von anderen Ländern, einschließlich China, bedroht werden.

Ein Grund für die Barkhane-Expedition war also, die französische Vormachtstellung in seinem Hinterhof zu bekräftigen. Frankreich ist wahrscheinlich das einzige Land, das fast nach Belieben Truppen in die Region schicken kann, ohne auch nur den Anschein einer von der UNO sanktionierten internationalen Friedensmission zu erwecken. Und dies praktisch ohne internationalen Protest oder Empörung. Die Szenen, in denen französische FallschirmjägerInnen Timbuktu einnahmen, waren zum einen als Machtdemonstration für andere afrikanische Länder gedacht: „Benehmt euch, oder das Gleiche wird in eurem Land passieren“, und zum anderen, um andere Mächte abzuwehren.

Doch wie Napoleon einst sagte, kann man mit einem Bajonett vieles tun, außer sich darauf zu setzen. Acht Jahre später hegt Frankreich nicht die Absicht, sich weiter an einer nicht enden wollenden Friedensmission zu beteiligen, die sich bereits in einen langsamen Zermürbungskrieg verwandelt. Die Erklärung des Endes der Opération Barkhane ist also nur ein Schachzug, um die Realität eines Strategiewechsels zu verschleiern.

Neue Mission

Frankreich wird 2.000 Truppen in der Region belassen, zusätzlich zu den 4.000 SoldatInnen von der Elfenbeinküste bis nach Dschibuti. Diese Streitkräfte haben seit der Unabhängigkeit bereits 48 Mal in der Region interveniert, fast einmal pro Jahr.

Seit vielen Jahren versucht Frankreich, seine Intervention durch ein internationales Mandat zu decken. Dies dient nicht nur der politischen Absicherung, sondern ermöglicht auch die Ersetzung französischer Truppen durch solche aus anderen Ländern. Die UNO hat eine friedenserhaltende Mission MINUSMA (Mission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation du Mali; multidimensionale, integrierte Mission der Vereinten Nationen für die Stabilisierung Malis) mit Truppen aus anderen afrikanischen Ländern, darunter dem Tschad, geschaffen. Es wurde ein Sondergipfel „G5 Sahel“ mit Mali, Niger, Tschad, Burkina Faso und Mauretanien eingerichtet. Die europäischen Länder haben Barkhane logistisch unterstützt und Mittel für die Ausbildung der malischen Armee bereitgestellt. Dieser Logik folgend hat Frankreich im Grunde einen Deal mit den Tuareg-Kräften im Norden, vor allem mit der MNLA, geschlossen und sie als Stellvertreterin der französischen Armee eingesetzt.

Die Europäische Union wird zunehmend in die politische Intervention im Maghreb und in der Sahelzone hineingezogen, die sie faktisch als ihre Südgrenze betrachtet, und unterstützt den französischen Imperialismus als führende Kraft bei dieser Aufgabe. Im Rahmen der MINUSMA leitet die EU eine Mission zur Ausbildung der malischen Armee und Polizeikräfte. Allein Deutschland hat inzwischen mehr als 1.000 SoldatInnen im Land stationiert, um die französischen imperialistischen Interessen zu unterstützen und seine eigenen zu verfolgen. Mehrere EU-Länder, darunter Frankreich, Schweden, Estland und die Tschechische Republik, sponsern eine neue „Antiterror“-Interventionsgruppe namens Takuba, deren Aktionen sich nicht auf Mali beschränken, sondern die gesamte G5-Sahelzone abdecken sollen.

Die Intervention des französischen Imperialismus oder gemeinsame Missionen mit seinen Verbündeten, sei es unter dem Banner der UNO, der EU oder einer anderen „friedenserhaltenden“ Allianz, können für das malische Volk keine fortschrittliche Lösung bringen.

In der Tat ist das Gegenteil der Fall. Alle imperialistischen Kräfte und ihre Hilfstruppen müssen aus dem Land abgezogen werden. Wenn sie so besorgt um die Menschen in Mali sind, könnten sie ihre Waffen einfach in den Händen von ArbeiterInnen-, Frauen- und demokratischen Organisationen lassen. Nur durch die Selbstorganisation der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, die Bewaffnung des Volkes und die Bildung von ArbeiterInnen-, bäuerlichen und Volksmilizen wird es möglich sein, die reaktionäre Gewalt und die Unterdrückung der Frauen durch fundamentalistische islamische Kräfte, durch die malische Armee und andere Besatzungstruppen zu beenden.

Diese Form der Selbstverteidigung und Selbstorganisation muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf gegen den eisernen Griff, den Frankreich und andere imperialistische Mächte durch Schulden und sogenannte „Umstrukturierungsprogramme“ auf den Kontinent ausüben. Wenn man die soziale Verwüstung des Landes angehen will, müssen die Schulden gestrichen und alle imperialistischen Unternehmen und die korrupte KapitalistInnenklasse des Landes selbst, die seine Reichtümer ausplündert, entschädigungslos enteignet werden. Ebenso müssen die zentralen demokratischen Fragen in Mali und darüber hinaus angepackt werden: das Recht auf nationale Selbstbestimmung für Völker wie die Tuareg, die Verteidigung und Ausweitung der Frauenrechte, Abschaffung der militärischen und bürokratischen Elite, die Landfrage, die sich aufgrund der globalen Erwärmung und der Versteppung des Bodens verschärft hat und wahrscheinlich weiter zuspitzen wird.

All diese Fragen müssen im Kampf gegen die IslamistInnen, die putschistischen Regime und die ImperialistInnen angegangen werden. Um diese zentralen sozialen und demokratischen Fragen und die Zukunft des Landes zu bewältigen, ist der Kampf für eine verfassunggebende Versammlung von entscheidender Bedeutung, um die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Armen in den Städten und auf dem Land, die Frauen, die unterdrückten Nationalitäten, die demokratische Intelligenz und sogar Teile der städtischen Kleinbourgeoisie zu mobilisieren. Angesichts des bonapartistischen Charakters des Regimes in Mali und seines Staates müssten die Wahlen und die Arbeit einer verfassunggebenden Versammlung von Aktionsräten der ArbeiterInnenklasse und der Volksmassen kontrolliert werden, die innerhalb einer solchen Versammlung dafür kämpfen, die Macht in die Hände einer ArbeiterInnen- und Bauern- und Bäuerinnenregierung zu legen, die sich auf diese Räte und eine bewaffnete Volksmiliz stützt.

Um eine solche Perspektive herbeizuführen, muss die ArbeiterInnenklasse die politische Führung in einem solchen revolutionären Kampf übernehmen und die ungelösten demokratischen Fragen mit dem Kampf für eine sozialistische Transformation in Mali und auf dem gesamten Kontinent verbinden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Partei aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt.

Der Rückzug aller imperialistischen Truppen ist der Schlüssel für jede Entwicklung in diese Richtung. Die französischen, deutschen und anderen „friedenserhaltenden“ Truppen haben sich nicht nur als völlig unfähig erwiesen, die Kräfte der Reaktion zu stoppen, sie sind selbst Teil des Problems, da sie systematisch an Gräueltaten beteiligt sind. Mehr noch, es ist ihre koloniale und imperialistische Herrschaft über das Land, die die Massen verarmen lässt und jede echte demokratische oder soziale Entwicklung blockiert, und es sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des französischen Imperialismus und seiner Verbündeten, die sie verteidigen. Die imperialistischen Truppen sind tödliche Feindinnen jeder echten und unabhängigen Bewegung der Volksmassen und insbesondere der ArbeiterInnenklasse, sei es in Mali oder in einem anderen afrikanischen Staat. Deshalb muss die ArbeiterInnenklasse in Frankreich und der EU vorbehaltlos gegen jede Form der imperialistischen Intervention in Mali und auf dem gesamten Kontinent kämpfen.

  • Französische Truppen und alle ihre Verbündeten raus aus Mali und anderen afrikanischen Ländern! Nein zu jeder neuen „friedenserhaltenden“ Mission der UN oder der EU!
  • Nein zur Festung Europa! Öffnet die Grenzen für MigrantInnen! Volle demokratische Rechte in Europa für MigrantInnen und EU-ArbeiterInnen!
  • Streichung der Schulden Malis! Stoppt die Ausplünderung des afrikanischen Kontinents durch die imperialistischen Länder!