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EU-Balkangipfel: Alte Versprechen, neue Lügen

Frederik Haber, Infomail 1212, 3. Februar 2023

Am 6. Dezember fand in der albanischen Hauptstadt Tirana die jüngste Konferenz der „Westbalkanstaaten“ und der Europäischen Union statt. Neben Vertreter:innen aus Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten nahmen auch solche aus Albanien, dem Kosovo, Mazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro teil. Auf der Konferenz wurden mehrere Fragen im Zusammenhang mit den künftigen Beziehungen der teilnehmenden Staaten erörtert, darunter auch der Prozess eines eventuellen Beitritts zur Union. Die Diskussionen wurden jedoch in unterschiedlichem Maße von einer gemeinsamen Sorge geleitet: wie sich der aktuelle Konflikt zwischen der NATO und Russland auf die Völker und Staaten der Region auswirken würde.

Das Schicksal des Balkans, einer Region mit gegensätzlichen lokalen und externen Interessen, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder von verschiedenen Krisen der Großmächte geprägt, von denen die bekannteste der Auslöser für den Weltkrieg im Jahr 1914 war. Dies ist auch heute noch der Fall, wobei die Region nicht nur durch die jüngste russische Invasion und die Reaktion der NATO destabilisiert wird, sondern auch durch die längerfristige Krise der Hauptprotagonistin der Konferenz, der Europäischen Union.

Die Versuche seitens Paris und Berlins, die EU zu nutzen, um die Hegemonie der Vereinigten Staaten in Frage zu stellen, sind gut 20 Jahre alt. So weigerten sich beide, sich direkt an der Invasion und Besetzung des Irak zu beteiligen, nicht wegen der offensichtlichen Lügen von Bush und Blair, dass Saddam Hussein „Massenvernichtungswaffen“ besäße, sondern weil es nicht zu ihrer eigenen imperialistischen Agenda passte. Ein weiterer Aspekt ihrer Politik betraf den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, wohin sie Produkte von Hightechmaschinen bis hin zu Lebensmitteln exportierten und woher sie billiges Öl und Gas importierten. Daher das 2001 beschlossene und 2011 in Betrieb genommene Nordstream-Pipelineprojekt.

Die Krise des EU-Imperialismus

Das Ziel der EU, dem US-Imperialismus Konkurrenz zu bieten, ist aus drei Gründen gescheitert. Ihr Entwicklungsplan schlug fehl, als  nach der großen Rezession im Jahr 2008 Deutschland sich auf Kosten anderer EU-Mitglieder rettete und dabei die Industrien von Ländern wie Spanien und Italien ruinierte, während es andere wie Griechenland in einem Ausmaß ausplünderte, wie man es sonst nur im Krieg erlebt. Tatsächlich profitierte Deutschland von der größeren wirtschaftlichen Schwäche der anderen, die zu einem schwachen Euro (im Vergleich zur D-Mark vor 1990) führt, was die deutschen Exporte allgemein, aber auch gegenüber den Industrien der anderen begünstigte. Zweitens wurde die EU von China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt. Drittens schlug das amerikanische Imperium zurück, da es seine künftige Weltherrschaft durch China, die EU und sogar durch Russland bedroht sah. Unter Obama und Trump begann es, von den europäischen NATO-Mitgliedern zu verlangen, dass sie ihren „gerechten Anteil“ an den Beiträgen zum Bündnis übernähmen. Außerdem nutzte es die neuen östlichen Mitgliedstaaten, insbesondere Polen und Ungarn, um die Pläne der EU zu durchkreuzen und sich energisch gegen die Nordstream-2-Pipeline zu wehren.

Ukraine

Die Interventionen der USA und Großbritanniens in der Ukraine richteten sich ebenso sehr gegen die EU wie gegen Russland. Die EU hatte versucht, die Ukraine mit einem vorgeschlagenen Assoziierungsabkommen in ihren wirtschaftlichen Orbit zu ziehen, allerdings bis vor kurzem, ohne die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abzubrechen. Die USA spielten unterdessen eine führende Rolle bei der Unterstützung der Maidanproteste, die von einem Volksaufstand zum Putsch auswuchsen, sowie der Bewaffnung des ukrainischen Staates und von Milizen wie dem Asow-Bataillon für deren revanchistischen Feldzug im Donbas(s) (Donezbecken). Auf dem Höhepunkt des Konflikts wurde ein Telefonat abgehört, in dem die US-Außenstaatssekretärin für Europa und Eurasien, Victoria Nuland, erklärte: „Fuck the EU“, was die Differenzen zwischen Brüssel und Washington deutlich machte.

Die Invasion im Februar 2022, ein Versuch des russischen Imperialismus, die Ukraine zu einer direkten Kolonie zu machen, ermöglichte es dem US-Imperialismus, die strategischen Pläne der EU völlig über den Haufen zu werfen. Die USA und Großbritannien riefen am lautesten  nach Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland, die dann die EU-Staaten am stärksten betrafen. Nordstream 2 wurde gestrichen und Nordstream 1 zerstört, was zu einem Zustrom teurer US-Energie auf die europäischen Märkte führte, während die EU-Länder noch mehr Geld für Militärhilfe für die Ukraine und ihre eigene Aufrüstung ausgeben mussten.

Deutschland und Frankreich fanden sich mit ihrer Niederlage ab und suchten nach neuen Möglichkeiten, ihren Einfluss geltend zu machen. Sie boten der Ukraine und der Republik Moldau die Mitgliedschaft in der EU an. Ein Beitritt würde in erster Linie bedeuten, dass dem europäischen Kapital in diesen Staaten weniger Grenzen gesetzt würden, so dass es bei Wiederaufbau und Entwicklung eine Führungsrolle übernehmen und die prorussischen Elemente ihrer herrschenden Klassen weiter marginalisieren könnte. Diese offensichtliche Überholspur zur europäischen Integration war jedoch ein Affront gegen eine Reihe von Balkanstaaten, die seit Jahrzehnten vergeblich versuchen, eine Mitgliedschaft  oder auch nur die Stufe eines „Kandidaten“ zu erreichen.

Westbalkankandidaten

Vor 20 Jahren erklärte der EU-Rat auf seinem Gipfeltreffen in Thessaloniki den Beitritt der Länder des ehemaligen Jugoslawiens zur Union zur Priorität. In der Tat trat Slowenien 2004 der Union bei, gefolgt von Kroatien im Jahr 2013. Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und der Kosovo wurden jedoch nicht aufgenommen, ebenso wenig wie Albanien. Bosnien beispielsweise brauchte sechs Jahre, um als Beitrittskandidat anerkannt zu werden, während die Ukraine und Moldawien vier bzw. drei Monate benötigten.

Alle diese Staaten sind in hohem Maße von den wichtigsten, meist imperialistischen Ländern der EU abhängig. Deutschland ist der größte Exporteur in die Region und seinen Unternehmen gehören große Teile der Infrastruktur wie Telekommunikation und Energie in allen Ländern. Österreich spielt eine führende Rolle im Finanzbereich, während Griechenland im Einzelhandel tätig ist. Italien ist besonders in Albanien engagiert, während Russland, China und die Türkei ebenfalls groß investieren.

Die Regierungen dieser kleinen Länder konkurrieren miteinander, indem sie Land, Infrastruktur, niedrige Steuern und extrem niedrige Löhne anbieten, oft für Arbeitskräfte, die in den verschiedenen „Freihandelszonen“ der Region besonders ausgebeutet werden. Durch ein Abkommen zwischen China und Serbien wurden chinesische Arbeitsgesetze für ein von China aufgekauftes Unternehmen eingeführt. Die Monatslöhne für Frauen in der Textilindustrie in Albanien und Mazedonien liegen bei weniger als 200 Euro und damit weit unter jedem existenzsichernden Einkommen.

Die Region produziert auch Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt der EU-Länder. Zwischen 60 und 90 Prozent der jungen Menschen in jedem dieser Länder sehen dort keine Zukunft und  wandern ab. Diejenigen, die nach Deutschland, dem beliebtesten Zielland, kommen, können dies auf Grundlage des „Westbalkanabkommens“, das sie an das jeweilige Unternehmen bindet, das ihre Arbeitserlaubnis gesponsert hat. Die Visaregelung der EU für die Region, die jetzt auch auf den Kosovo ausgedehnt wurde, ermöglicht die Einreise in die Schengenzone für 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen. Diese legale Einreise wird häufig mit illegaler Arbeit kombiniert.

Es überrascht daher nicht, dass viele Menschen auf dem Balkan die EU-Mitgliedschaft als einen einfacheren und legalen Weg zur Arbeit ansehen. Die Erfahrungen Bulgariens und Rumäniens, des größten Exporteurs von Arbeitskräften in der EU, zeigen jedoch, dass die Migrationspolitik von den imperialistischen Staaten bestimmt wird, die den beiden Staaten nach wie vor die Mitgliedschaft in der Schengenzone verweigern, ganz zu schweigen von den zahlreichen Auflagen und Schlupflöchern, die innerhalb der Freizügigkeitszone bestehen.

Generell gibt es wenig Grund zur Annahme, dass sich die allgemeine wirtschaftliche Situation in den Balkanländern durch einen Beitritt zur EU verbessern würde. In Kroatien, Bulgarien und Rumänien ist dies sicherlich nicht geschehen. Ebenso zweifelhaft ist, dass sich die Staaten gegenüber der politischen Dominanz der imperialistischen Mächte besserstellen werden, angesichts des dann noch engeren Spielraums, um zwischen der EU, den USA und Großbritannien zu manövrieren oder gar mit China, Russland oder der Türkei zu flirten. Auch die nationalistischen Konflikte zwischen den Staaten oder ihren Ethnien werden nicht abnehmen. Das ist der Realität eines globalen kapitalistischen Systems, seiner Ausbeutung und seiner wachsenden Konflikte zwischen imperialistischen Mächten und deren Technik, Halbkolonien als Spielfiguren für ihre Pläne zu benutzen, geschuldet. Die USA und Russland demonstrieren dies seit Beginn dieses Jahrhunderts in der Ukraine, und der Preis, den das Land und sein Volk dafür zahlen, wird immer höher.

Diese Zweifel und Fragen, die so offensichtlich mit der EU-Mitgliedschaft zusammenhängen, sind in den Verlautbarungen der Brüsseler Staats- und Regierungschef:innen nicht enthalten. Bezeichnenderweise verkündeten sie in ihrer abschließenden „Erklärung von Tirana“, dass alles in Ordnung sein wird, vorausgesetzt, die Bewerber:innen erledigen ihre Hausaufgaben und werden so demokratisch, gesetzestreu und diskriminierend wie ihre Herr:innen.

„Die EU bekräftigt ihr uneingeschränktes und klares Bekenntnis zur Perspektive einer Mitgliedschaft des Westbalkans in der Europäischen Union und ruft dazu auf, den Beitrittsprozess auf der Grundlage glaubwürdiger Reformen seitens der Partner, einer fairen und strikten Konditionalität sowie des Grundsatzes der Beurteilung nach der eigenen Leistung zu beschleunigen, was in unserem beiderseitigen Interesse liegt.“

Und weiter: „Die EU begrüßt die Entschlossenheit der Partner im Westbalkan, im Einklang mit dem Völkerrecht die zentralen europäischen Werte und Grundsätze zu wahren.“

Reine Heuchelei

Das Mantra der EU-Führer:innen, dass die Bewerberländer ihre Pflichten erfüllen, ihre Rechtsvorschriften an EU-Standards anpassen, die öffentlichen Ausgaben kürzen, Korruption und Nationalismus bekämpfen und bessere Demokrat:innen werden müssen, stinkt geradezu vor Heuchelei.

Die Korruption, die in diesen Staaten in der Tat weitverbreitet ist, stellt eine direkte Folge ihrer Ausbeutung durch imperialistische Konzerne, Banken und Staaten dar, die einen Großteil des in der Region produzierten Wertes ins Ausland abfließen lassen, während die Märkte mit Konsumgütern von ausländischen Unternehmen überschwemmt werden. Jede bürgerliche politische Partei oder Regierung wird von multinationalen Unternehmen oder imperialistischen Mächten korrumpiert. Der Mangel an Mitteln, die einem größeren Teil der Massen zugutekommen könnten, sei es der Arbeiter:innenklasse oder dem Kleinbürger:innentum, lässt ihnen als einzige Möglichkeit offen, Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor an ihre eigenen Anhänger:innen zu vergeben.

Doch die EU-Bürokratie ist die letzte, die es sich leisten kann, mit dem Finger nach Südosten zu zeigen. Nur eine Woche nach dem Tiranagipfel kamen die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, und andere ins Gefängnis, weil sie Geld von der Regierung Katars angenommen hatten. In Brüssel wimmelt es von Lobbyist;innen, die politische Entscheidungen im Interesse der Unternehmen, die sie bezahlen, „beeinflussen“. Auf dem Balkan selbst ist die Korruption in Ländern wie Bosnien und dem Kosovo am weitesten fortgeschritten, also genau in denen, deren politische Systeme am direktesten vom europäischen und amerikanischen Imperialismus kontrolliert werden.

Die mächtigste Institution in Bosnien und Herzegowina ist der Posten des Hohen Repräsentanten (HR) für Bosnien und Herzegowina, der mit dem Daytonabkommen von 1995 geschaffen wurde. Der Hohe Repräsentant kommt immer aus einem EU-Land und sein/e Stellvertreter:in aus den USA. Sie haben die Macht, gewählte Repräsentant:innen zu entlassen, neue Gesetze zu beschließen oder andere abzuschaffen und Institutionen aufzulösen. Selbst bürgerliche Demokrat:innen kritisieren die praktisch nicht vorhandene Rechenschaftspflicht dieser Institution. Erst in diesem Jahr beschloss der amtierende deutsche HR, Christian Schmidt, mitten im Wahlverfahren für das nationale Parlament, die Gewichtung der Stimmen so zu ändern, dass der nationalistischen kroatischen Partei HDZ-BiH mehr Mandate zugeteilt werden konnten. Außerdem schlossen sie die Augen vor einem schweren Wahlbetrug in der Republika Srpska, der der serbischen nationalistischen Partei SDS (Serbische Demokratische Partei) zugutekam.

Bosnien und Herzegowina ist auch das beste Beispiel dafür, wie die nationalen und ethnischen Konflikte auf dem Balkan von den Imperialist:innen angeheizt und missbraucht werden. Der durch das Daytonabkommen geschaffene Staatsaufbau aus Entitäten (Teilrepubliken) und Kantonen hat die ethnischen Konflikte von vor 30 Jahren zementiert. Dass dieses System und die Dominanz der nationalistischen Parteien im letzten Jahrzehnt von demokratischen politischen und sozialen Bewegungen von unten in Frage gestellt worden sind, geschah nicht wegen, sondern trotz der und gegen die von der EU aufgestellte/n Bürokratie.

Erklärung von Tirana

Dass die allgemeinen wirtschaftlichen Perspektiven für die Region, die Krisen aus schwacher Entwicklung und hoher Auswanderung, die zunehmenden nationalistischen Spannungen und die allgegenwärtige Diskriminierung von Menschen aus dem Balkan überhaupt kein Thema auf der Konferenz waren, mutet offen gesagt bizarr an. Ein/e Beobachter:in könnte sich zu Recht fragen, worin überhaupt ihr Sinn lag.

Das Endergebnis der Konferenz befasst sich wie immer nur mit den Interessen und Bedürfnissen der Herren und Damen der EU. Dem unveränderten Brüsseler Repertoire wurde lediglich ein neuer heuchlerischer Slogan im Rahmen der neuen globalen Konjunktur hinzugefügt: Alle vereint gegen Russland!

„Im Zuge der Vertiefung unserer Zusammenarbeit mit den Partnern fordern wir sie nachdrücklich auf, rasche und anhaltende Fortschritte bei der vollständigen Angleichung an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU zu erzielen und entsprechend zu handeln, auch in Bezug auf restriktive Maßnahmen der EU. Wir würdigen diejenigen Partner im Westbalkan, die bereits ihr strategisches Engagement in dieser Hinsicht unter Beweis stellen, indem sie sich vollständig an die GASP der EU anpassen, und ermutigen diejenigen, die dies noch nicht getan haben, diesem Beispiel zu folgen.“

Die „Partner:innen“ sollten sich auch an der Propagandaschlacht beteiligen und ihrer Bevölkerung sagen: „Die EU ist für die Region nach wie vor der engste Partner, der größte Investor und Handelspartner sowie der wichtigste Geber. Diese in ihrem Ausmaß und Umfang einzigartige Unterstützung sollte von den Partnern in ihrer öffentlichen Debatte und Kommunikation klarer herausgestellt und proaktiv wiedergegeben werden, damit die Bürgerinnen und Bürger die konkreten Vorteile der Partnerschaft mit der EU würdigen können.“

Die große Geldgeberin/Ausbeuterin EU verspricht dem Balkan auch einen Anteil an ihrem Energiepaket, das seinerseits ein Mechanismus ist, um die verheerenden Auswirkungen der unerbittlichen Preistreiberei der Lieferant:innen in der Region und ebenso verheerenden Sanktionspolitik der EU zu mildern.

Straßen ins Nirgendwo

In der Erklärung wird dann versprochen: „Die kontinuierliche Umsetzung des Wirtschafts- und Investitionsplans (EIP) sowie der grünen und der digitalen Agenda für den Westbalkan wird dazu beitragen, die Wirtschaft und die Resilienz der Region zu stärken, unter anderem durch weitere Unterstützung für die Konnektivität, die Energiewende und die Diversifizierung der Energieversorgung.“

Bei der Frage nach der Konnektivität der Region, einschließlich Eisen- und Autobahnen, geht es nur selten um den praktischen Nutzen für die Bewohner:innen, sondern vielmehr um die potenzielle Rentabilität für ausländische Investor:innen, in deren Interesse entschieden wird, wo und warum sie gebaut werden und mit wessen Mitteln. In den Balkanländern stehen die  Neuinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur oft in keinem Verhältnis zum bestehenden Netz, mit dem sie verbunden werden, und in krassem Gegensatz zu dessen Kapazität und der Umwelt. Die Gewinne aus Fahrkarten, Mautgebühren und natürlich aus der staatlichen Finanzierung verbleiben selten in den Ländern, in denen sie erwirtschaftet werden, sondern gehen direkt an die Unternehmen, die mit dem Bau und Betrieb der Strecken beauftragt wurden. Das „ehrgeizige Investitionspaket, mit dem fast 30 Milliarden Euro für die Region mobilisiert werden sollen“, ist also ein koordinierter Plan für die multinationalen Unternehmen der EU, um ihren Anteil an den Volkswirtschaften zu erhöhen und noch mehr Profit aus den Menschen und dem Boden der Region zu ziehen.

„Illegale Migration“

Die großen Demokrat:innen der EU wollen Flüchtende und Arbeitsmigrant:innen aus Asien und Afrika fernhalten. Also erklären sie:

„Seit Anfang 2022 ist auf der Westbalkan-Migrationsroute ein erheblicher Anstieg der Migrantenzahlen zu verzeichnen. Das Migrationsmanagement bleibt eine gemeinsame Herausforderung, die die EU und der Westbalkan gemeinsam und in enger Partnerschaft angehen werden. Deshalb hat die EU ihre finanzielle Unterstützung für die Region erheblich aufgestockt, sodass bereits über 170 Mio. EUR an bilateraler und regionaler Hilfe im Rahmen des IPA III bereitgestellt wurden.“

Sie ziehen es vor, dass andere sich die Hände schmutzig machen und diejenigen ausschließen, denen sie nach internationalem Recht Asyl gewähren sollten:

„In diesem Zusammenhang ist die EU bereit, die Partner im Westbalkan dabei zu unterstützen, die Rückkehr und Rückführung, auch direkt aus der Region in die Herkunftsländer, zu verstärken. Die Zusammenarbeit mit Frontex sollte – unter anderem durch den raschen Abschluss und die rasche Umsetzung aktualisierter Statusvereinbarungen – intensiviert werden, ebenso wie die Zusammenarbeit mit der Asylagentur der Europäischen Union und Europol.“

Und sie nennen die Bezahlung der Westbalkanstaaten für diese Drecksarbeit „finanzielle Unterstützung“. Nur zwei Tage nach der Tiranakonferenz wurde eine neue Studie des Border Violence Monitoring Network veröffentlicht, die 25.000 gewaltsame Push-backs an den EU-Grenzen dokumentiert und davon ausgeht, dass deren tatsächliche Zahl wahrscheinlich noch höher ist. Diese geschehen auch an den Grenzen der Balkanstaaten, unabhängig davon, ob sie der EU angehören oder nicht.

Alternativen blockieren

Die in Tirana durchgesetzte Agenda hatte die EU-Führung im Jahr vor der Konferenz ändern müssen. In dieser Zeit hatte sich ihr Schwerpunkt vom Westen auf den Osten verlagert, d. h. auf die Ukraine, Moldawien, Rumänien und andere Staaten der Region, die im Kampf gegen ihren früheren Partner Russland von größerem strategischem Wert sind. Der Rest der Region, die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien, mussten sich im Handumdrehen an die neue Ausrichtung der EU anpassen.

Diese nutzte die Konferenz, um ihre „Partner:innen“ daran zu erinnern, und griff die neu geschaffene Freihandels- und Freizügigkeitszone zwischen Albanien, Serbien und Mazedonien an, die als Open Balkan Initiative firmiert. Der slowakische EU-Sonderbeauftragte für den Kosovo-Serbien-Dialog Miroslav Lajcák bezeichnete die Initiative, die zuvor als „Mini-Schengen“ bezeichnet worden war, als „ungesunde Konkurrenz“ zum europäischen Integrationsprozess. Darüber hinaus hat die EU ihren Widerstand gegen einen Beitritt von Bosnien und Herzegowina und des Kosovo zur Open Balkan Initiative bekräftigt und de facto ihr Vetorecht gegenüber den politischen Systemen beider Länder geltend gemacht, um dies zu verhindern.

Diese ungeheuerliche Einmischung in die Souveränität der beteiligten Staaten ist eine weitere Erinnerung an die Beherrschung des Balkans durch die imperialistischen Mächte, die zuerst die Spaltungen und schließlich die Kriege in der Region schürten, was zur Schaffung neuer Staaten führte, die ihrer Hegemonialmacht völlig untergeordnet sind. Die Offene Balkaninitiative, selbst ein bescheidener bürgerlicher Versuch, den EU-Integrationsprozess unter weniger repressiven Bedingungen für die beteiligten Staaten voranzutreiben, ist daher eine unannehmbare Bedrohung für die Ambitionen der Imperialist:innen, die ein politisch zersplittertes Gebiet voller nationaler Feindseligkeiten benötigen, um die Region vollständig zu kontrollieren und auszubeuten.

Eine sozialistische Föderation auf dem Balkan

Nur die föderale Einheit der Balkanstaaten hätte das jahrhundertealte Spiel verhindern können, in dem diese versuchen, sich gegeneinander durchzusetzen, um die Unterstützung der einen oder anderen imperialistischen Großmacht betteln – ein Spiel, das im zwanzigsten Jahrhundert zu zerstörerischen Kriegen auf dem Balkan geführt hat. Alle Großmächte der Geschichte haben diese Menschen benutzt und sie gegeneinander ausgespielt, um ihre Macht zu festigen. Jede „Unterstützung“ der EU, der USA, Russlands und Chinas für die Völker des Balkans wird auch in Zukunft diesem Zweck dienen.

Aber weder die herrschenden Klassen dieser Länder noch ihre bürgerliche politische Kaste werden in der Lage sein, dieses Dilemma zu beenden. Sie werden Abkommen wie Open Balkan für kleine Privilegien verkaufen und müssen die nationalistische und chauvinistische Karte spielen, um an der Macht zu bleiben. Die einzige Kraft, die das objektive Interesse und die potenzielle Stärke besitzt, die miserable wirtschaftliche und politische Situation der Region zu überwinden, sind die Arbeiter:innenklassen der Balkanländer. Sie sind nicht an imperialistische Kräfte gebunden, können die nationalen und ethnischen Spaltungen überwinden, verfügen sogar über das Potenzial, die Unterstützung der Arbeiter:innenklassen der imperialistischen Länder zu gewinnen.

Es ist wahr, dass die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten große Niederlagen erlitten hat, insbesondere in den ehemaligen bürokratischen Arbeiter:innenstaaten. Es stimmt, dass sie international schlecht organisiert und das revolutionäre sozialistische Klassenbewusstsein gering ist. Es ist die Aufgabe der Sozialist:innen und Revolutionär:innen auf dem Balkan und in ganz Europa, ein Programm zu erarbeiten, wichtige soziale und demokratische Forderungen aufzustellen und Kämpfe dafür zu initiieren. Ein solches Programm wird sich grundlegend gegen die gesamte EU-Agenda sowie gegen Russland und die Kriege der Nato richten müssen.




Parlamentswahl in Italien: Rechtsruck inmitten der Instabilität

Azim Parker, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Wie erwartet gingen Giorgia Meloni und ihre ultra-reaktionäre Partei Fratelli d’Italia als Siegerinnen aus der Wahl am 25. September hervor. Sie wird demzufolge an der Spitze der nächsten Regierung stehen. Die Fratelli d’Italia, deren Mitglieder sich bis heute positiv auf Mussolinis Faschismus beziehen, erhielt 26 % der Stimmen (plus 21,6 % gegenüber 2018). Auf den gesamten rechten Block, der nun die Regierung stellen wird, entfielen 43,9 % (Lega 8,8 %, Forza Italia 8,1 %). Damit verfügt er aufgrund des undemokratischen Wahlrechts über eine absolute Mehrheit in Abgeordnetenhaus wie Senat.

Für die italienischen Arbeiter:innen bedeutet dies eine weitere katastrophale Nachricht. Sie werden gegen weiteren massiven Sozialabbau und die hundertste Steuersenkung für die Kapitalist:innen – im Einklang übrigens mit allen bisherigen bürgerlichen Regierungen – kämpfen müssen. Genauso furchtbar sieht das Zukunftsszenario für Frauen, queere Menschen und Migrant:innen aus, die einen beispiellose Angriff auf ihre Grundrechte erleiden werden. So wetterte Meloni im Wahlkampf gegen das Recht auf Abtreibung, eine angebliche LGBT-Lobby und forderte Seeblockaden gegen Geflüchtete aus Afrika.

Abgesehen von den Schlagzeilen und den Siegeserklärungen ist dieses Wahlergebnis jedoch nicht ohne Widersprüche, die ganz deutlich darauf hinweisen, dass die Situation alles andere als stabil ist.

Die neue Mehrheit und die reaktionäre Wende

Die Wahl war auch durch eine riesige Enthaltung gekennzeichnet. Am 25. September entschlossen sich nämlich nur 64 % der Wahlberechtigen, sich zu den Urnen zu begeben – 9 % weniger als 2018. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, seitdem die Republik existiert, und das zeigt zweifellos eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise der bürgerlichen Institutionen.

Betrachtet man die absolute Zahl der Stimmen, so erhielt die rechte Koalition, bestehend aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia, die gleiche Anzahl von Stimmen wie 2018 (ca. 12 Millionen). Die WählerInnen, die 2018 für Salvini oder Berlusconi stimmten, wandten sich nun Giorgia Meloni zu, weil Fratelli d’Italia die einzige Partei war, die nicht Draghis Kabinett unterstützte. Das  bedeutet aber auch, dass die Begeisterung wahrscheinlich mehr und mehr schwinden wird, sobald Giorgia Meloni gezwungen sein wird, die gleichen Politiken der vergangene Regierungen fortzusetzen.

Das Land befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Der Staat ist massiv überschuldet – und die rechte Regierung braucht bei aller Kritik an Brüssel 200 Mrd. Euro von der EU, um das Land zu stabilisieren – und zwar auf Kosten der Arbeiter:innen und der Armen.

Auch die politischen Differenzen innerhalb der neuen Mehrheit sind bestimmt nicht zu ignorieren. Das betrifft insbesondere die Haltung gegenüber Russland. Obwohl das Koalitionsprogramm die Unterstützung des NATO und der „westlichen Werte“ bekräftigt, ist klar, dass die Lega im Gegensatz zu Fratelli d’Italia eine „flexiblen“ Haltung gegenüber Putin einnehmen möchte und für das Ende der Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine eintritt. Wenn man bedenkt, dass die Lega mit 8,8 % als die große Verliererin gilt, ist nicht schwer zu erraten, dass Salvini in der Zukunft die Uneinigkeit über den Krieg nutzten könnte, um wieder Anklang zu gewinnen.

Demokratische Partei und Fünf-Sterne-Bewegung

Die Demokratische Partei (PD) verlor ca. 800.000 Stimmen und mit 19 % blieb sie einmal mehr unter der 20 %-Marke. Die Partei unterstützte die sozialen Angriffe unter Draghis Kabinett. So entfremdete beispielsweise die reaktionäre Bildungsreform die Lehrkräfte, eine traditionelle Wähler:innenbasis der PD. Ihren Anspruch, sich als glaubwürdige Alternative zur rechten Koalition darzustellen, konterkarierte die Partei selbst in den letzten Monaten, in denen sie zusammen mit der Lega regierte. All diese Faktoren haben eine wichtige Rolle gespielt und zur Niederlage beigetragen. Ganz zu schweigen von dem katastrophalen Wahlkampf, vor allem, weil es nach verschiedenen Versuchen unmöglich war, eine Koalition mit den liberalen Parteien von Calenda und Renzi zu bilden. All das stiftete zweifellos eine große Verwirrung, die dazu beitrug, die Stimmen für andere Parteien abzugeben.

Andererseits stellt die Fünf-Sterne-Bewegung die echte Überraschung dieser Wahl dar. Obwohl sie mehr als die Hälfe der Stimmen verlor (17,3 %), schnitt sie mit 15,3 % besser ab, als die meisten erwartet hatten. Schließlich hatte sich kaum eine Partei in der letzten Legislaturperiode so unglaubwürdig verhalten wie die, die einst gegen das gesamte System angetreten war. Ursprünglich aus einer Bewegung gegen alle Parteien geboren, regierte sie schließlich zunächst allein.

Diese populistische Bewegung  unterzeichnete u. a. das kriminelle „Sicherheitsdekret“ von Salvini gegen die Migrant:innen, war mitschuldig an der todbringenden Pandemiepolitik, den Kürzungen der Gesundheitssysteme und der Erhöhung der Militärausgaben. All das führte zu einem Kollaps in den Umfragen. Trotz alledem gelang es der Partei, eine Katastrophe zu verhindern, indem sie den Wahlkampf auf die Verteidigung des Grundeinkommens fokussierte im Gegensatz zur rechten Koalition, die dessen Abschaffung forderte. Diese Strategie war relativ erfolgreich, insbesondere im Süden, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Dadurch konnte die Fünf-Stere-Bewegung mit 15,3 % noch überleben.

Der Niedergang der Linken geht weiter …

Das Ergebnis der linken Organisationen bestätigt die tiefe, seit Jahren andauernde Krise der Arbeiter:innenbewegung, zu der auch diese Führungen maßgeblich beitrugen.

Insgesamt traten drei Organisationen der Linken und sogenannten radikalen Linken bei dieser Wahl an:

– Sinistra Italiana (italienische Linke). In einer gemeinsamen Liste mit den Grünen (Alleanza Verdi e Sinistra) erreichte sie 3,6 %. Was ihre Rolle im Wahlkampf sowie künftigen Parlament angeht, ist sie nichts anders als ein Anhängsel der PD, dessen wichtigste Forderung einfach die Wiederaufnahme des Dialogs mit der Fünf-Sterne-Bewegung darstellt.

– Die Kommunistische Partei, eine stalinistische Organisation um den ehemaligen Abgeordneten Marco Rizzo, trat in die Liste Italia Sovrana e Popolare (souveränes und populäres Italien) ein. Das war ein groteskes Sammelsurium, das aus faschistischen Verschwörer:innen und Reaktionär:innen bestand. Diese Liste zeigte ganz klar, wie tief die Stalinist:innen fallen können. Das Ergebnis war auch in diesem Fall ganz mies – 1,2 % – und bedeutet hoffentlich einen vernichtenden Schlag für Marco Rizzos Beliebtheit.

– Rifondazione Comunista (RC) verbarg sich seit Jahren hinter der Bürgerliste, die jede Spur von Klasseninhalten verdrängt, in einem verzweifelten Versuch, wieder einen Platz im Parlament zu gewinnen. Diesmal hieß der Versuch Unione Popolare (populäre Union), geführt vom ehemaligen Bürgermeister und Staatsanwalt Neapels, de Magistris. Die Liste zeichnet sich durch ihren Ruf nach Verfassungstreue aller Parteien und blasse fortschrittliche Forderungen aus. Am Ende des Wahlkampfes versuchte de Magistris noch erfolglos, zu einer Vereinbarung mit der Fünf-Sterne-Bewegung zu kommen. Unione popolare erreichte schließlich 1,4 % und RC bestätigt damit auch den Mangel an Perspektive ihres Linksreformismus.

Dramatisch

In diesem Szenario sind die Zukunftsperspektiven einfach dramatisch. Allein die Engpässe der Energieversorgung und die stetig steigende Inflation bedrohen tausende Betriebe. Rund 20 % gelten als gefährdet – und damit die Arbeitsplätze und Zukunft von Millionen Arbeiter:innen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Doch der Ausgang der Wahlen zeigt auch, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik, zur Rechten wie zu allen anderen offen bürgerlichen und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.




Dänemark: Scheitern der „neuen“ Sozialdemokratie

Markus Lehner, Neue Internationale 267, September 2022

Seit einigen Jahren wurde die „Modernisierung“ der dänischen Socialdemokraterne unter ihrer Frontfrau Mette Frederiksen als so etwas wie das Modell für die europäische Sozialdemokratie gefeiert. Jetzt deutet vieles darauf hin, dass bei vorgezogenen Neuwahlen im Herbst der Mette-Stern wieder im Sinken begriffen ist.

Rechtsruck

Auch Dänemark war im letzten Jahrzehnt durch das Aufkommen des Rechtspopulismus rund um die Migrationsfragen nach rechts gerückt. Bei der Folketingwahl 2015 hatte die Antimigrationspartei Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei), vergleichbar der AfD zu jener Zeit, um die 20 % der Stimmen bekommen und war so im bürgerlichen Lager zur stärksten Partei geworden. Die wichtigste offen bürgerliche Partei, mit dem irreführenden Namen Venstre (übersetzt eigentlich Die Linke, die wohl im 19. Jahrhundert als linksliberale galt) bildete unter Duldung auch der Rechtspopulist:innen eine Minderheitsregierung unter Løkke Rasmussen. Die in Opposition geschickte Sozialdemokratie „erneuerte“ sich daraufhin unter ihrer neuen Vorsitzenden Mette Frederiksen, indem sie weitgehend die rassistische Einwanderungspolitik der Rechtspopulist:innen übernahm, diese aber mit einem sozialen Programm nur für „einheimische“ Dän:innen koppelte. Tatsächlich konnte dann bei der Wahl 2019 die Sozialdemokratie wieder mit über 25 % zur stärksten Partei werden – gleichzeitig halbierten sich die Rechtspopulist:innen der Dänischen Volkspartei auf unter 10 %. Dies ging jedoch nicht nur zu Gunsten der Sozialdemokrat:innen – auch die anderen bürgerlichen Parteien, insbesondere Venstre und die Konservative Volkspartei waren nach rechts gerückt und gewannen Anteile von den Rechten. Insgesamt reichte es aber für eine Minderheitsregierung der Sozialdemokrat:innen.

In Dänemark sind Minderheitsregierungen der Normalfall. Es wird von einem roten Block um die Sozialdemokrat:innen, einem blauen Block um Venstre und die Konservativen ausgegangen, die abwechselnd Minderheitsregierungen bilden. Nach dänischem Recht bleiben diese im Amt, solange aus dem jeweiligen Block keine explizite Ansage getroffen wird, dass die Regierung nicht mehr unterstützt wird. Im roten Block befinden sich traditionell die Sozialistische Volkspartei (SF, die zwar aus einer eurokommunistischen Abspaltung der Kommunistischen Partei hervorgegangen ist, aber nicht zufällig im Europaparlament in der grünen Fraktion sitzt; sie bildet eine etwas linkere Version der deutschen Grünen) und die Rot-Grüne Einheitsliste (die Schwesterorganisation der deutschen LINKEN). Wesentlicher Bestandteil des Blocks ist aber immer auch eine offen bürgerliche Partei, die Radikale Venstre (vor Jahrzehnten als linksliberale Abspaltung aus Venstre hervorgegangen). Diese Radikalen sorgen jeweils dafür, dass die sozialdemokratischen Regierungen „maßvolle“ Sozial- und Steuerpolitik betreiben. Bei der Wahl 2019 ging es 52 % zu 48 % für den „roten Block“ aus. Somit war auch die Einheitsliste (mit ihrem 7 %-Anteil) durch ihre Tolerierung mitbeteiligt an solchen rassistischen Gesetzen wie der Unterbindung von „Ghettobildung“ durch Quoten für den Zuzug von MigrantInnen in bestimmte Gemeinden.

EU-Imperialismus

Die Regierung Frederiksen stand auch sonst während der Coronakrise und im Gefolge dem Ukrainekrieg ganz auf Linie der europäischen Bourgeoisie. Dänemark ist vorne dran bei Waffenlieferungen, Aufrüstung (insbesondere der Marine). Außerdem setzte Frederiksen per Volksabstimmung durch, dass Dänemark nun auch der europäischen Verteidigungsgemeinschaft beitritt, wogegen früher vehement opponiert wurde. Dänemark erreichte hierzu bei den europäischen Verträgen eine Ausnahme, die nun aufgehoben wird. Nur die Einheitsliste opponierte, hielt aber an der Tolerierung fest. Außerdem ist Frederiksen eine radikale Unterstützerin aller Aspekte der israelischen Politik und benützt dies regelmäßig zur Begründung rassistischer Politik gegen Migrant:inen aus arabischen Ländern und deren linke Unterstützer:innen mithilfe von Vorwürfen des auf Israel bezogenen Antisemitismus‘. Kurz gesagt war Frederiksen in fast allen Aspekten für die rechte Sozialdemokratie in Europa so etwas wie die Anti-Corbyn.

Dass sie jetzt gerade trotzdem von der dänischen Bourgeoisie in Gestalt der Radikalen gestürzt wird, ist bemerkenswert. Vordergründig geht es um eine Untersuchungskommission zur Schlachtung der Nerzbestände während der Coronakrise. Dabei kam wohl heraus, dass die Regierung (wie viele andere in der Coronakrise) im rechtlichen Graubereich agierte, als sie auf Studien der Übertragung von Coronaviren durch Nerze die Massenkeulungen anordnete. Offensichtlich ist dies ein Vorwand. Umfragewerte hatten seit einiger Zeit einen Umschwung zugunsten des blauen Blocks gezeigt. Die dänische Bourgeoisie sieht wohl die Notwendigkeit, in einer wirtschaftlichen Krisensituation möglichst nicht über eine Regierung zu verfügen, die Rücksichten auf Gewerkschaften und Linke nehmen muss. Sowohl Gewerkschaften wie Einheitsliste drängen auf Preiskontrollen, Mietpreisbremsen und in bestimmten Bereichen auch auf Verstaatlichungen – und finden dafür auch in Teilen der Sozialdemokratie breite Unterstützung. Die rechten Parteien setzen dagegen auf Steuererleichterungen, was auch die Radikalen für den besseren Weg sehen. Dafür haben sie jetzt die „Nerzaffäre“ genutzt, um zu erklären, dass sie die Regierung Frederiksen nicht mehr unterstützen werden. Da Steuerpolitik zugunsten der Reichen und Nerze allein sicher keine Wahlen gewinnen lässt, spielt zufällig auch der Rechtspopulismus wieder seine Rolle.

Neuwahlen

Auch wenn der Niedergang der Dänischen Volkspartei weitergeht, so ist doch eine neue rechtspopulistische Alternative aufgetaucht: Ein Mitglied der ehemaligen Venstre-Regierung, Inger Støjberg, hatte als Integrationsministerin gesetzeswidrig migrantische Eheleute getrennt und war dafür sogar zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Nunmehr aus Venstre ausgetreten, gründete sie eine neue Partei, nach schwedischem Vorbild Dänemarkdemokraten genannt. Als „Heldin“ des Antimigrationskampfes und stramme EU-Establishmentkritikerin sammelte sie sofort eine große Anhängerschaft und katapultierte ihre Partei auf Anhieb auf 11 % in den Umfragen. Wiederum ist sich der blaue Block nicht zu schade, diese noch übleren Rechten in ihre Reihen aufzunehmen. Konservative und Venstre schachern gar schon darum, wer von beiden künftig den Ministerpräsidenten stellt (es gibt dafür nur zwei männliche Kandidaten). Entsprechend sind die Sozialdemokrat:innen auf 21 % abgesackt so wie der rote Block insgesamt auf 48 %. Allerdings durchkreuzt der ehemalige Ministerpräsident Løkke Rasmussen die Rechnung, da er mit seiner Abspaltung von Venstre, den Moderaten, aus beiden Blöcken ausscheiden und eine „große Koalition“ (wohl unter seiner Führung) erzwingen will.

Es sieht also nach „Zeitenwende“ in Dänemark aus, allerdings in jedem Fall nicht im Sinne der Arbeiter:innen und migrantischen Menschen. Die Sozialdemokrat:innen, statt aus dem Debakel ihrer Rechtswende zu lernen, werden weiterhin versuchen, sich als die Rassist:innen mit sozialem Antlitz und als getreue NATO-Kriegstreiber:innen zu präsentieren mit linker Flankendeckung durch die SF. Allerdings hat die Rechtswende ihnen gerade in den Großstädten wie Kopenhagen oder Odense starke Verlust nach links, insbesondere in Richtung Einheitsliste gebracht (in Kopenhagen wurden letztere zur stärksten Kommunalpartei). Auch in den Umfragen legen SF und Einheitsliste auf jeweils 9 % zu. Auch wenn die Einheitsliste sich in den letzten Jahren als Steigbügelhalterin der Rechtswende der Sozialdemokratie betätigt hat, vereinigt sie jetzt schon im Vorwahlkampf all diejenigen hinter sich, die für Antirassismus, Antimilitarismus und Forderungen nach Umverteilung von oben nach unten in Zeiten der Inflation kämpfen wollen. Es mag sein, dass ein größerer Teil der organisierten Arbeiter:innenklasse weiterhin Sozialdemokratie wählen will, aber mit Inkaufnahme oder gar Unterstützung des rassistischen Kurses der Partei. Die Einheitsliste vereinigt daher die fortschrittlichen Teile der Arbeiter:innenklasse hinter sich, und sollte daher im Wahlkampf auch kritisch unterstützt werden. Eine Antikrisenbewegung in Dänemark, die sich gerade gegen die rechte Frederiksen-Sozialdemokratie herausbildet, kann tatsächlich ein Zeichen für die ganze EU setzen. Dies erfordert aber auch letztlich, dass sich jenseits der Einheitsliste und der in ihr vertretenen zentristischen Organisationen in diesen Kämpfen wieder eine neue revolutionäre dänische Arbeiter:innenpartei herausbildet.




Italien: Draghi scheitert, die extreme Rechte im Aufschwung

Dave Stockton, Infomail 1194, 30. Juli 2022

Am 21. Juli trat der italienische Ministerpräsident Mario Draghi zum zweiten Mal innerhalb einer Woche zurück, nachdem wichtige Teile seiner Koalition der nationalen Einheit – die populistische Fünf-Sterne-Bewegung M5S, die rechtsextreme Lega von Matteo Salvini und die Forza Italia von Silvio Berlusconi – es darauf ankommen ließen und ihn auf die Probe gestellt hatten. Präsident Sergio Mattarella löste das Parlament noch am selben Tag auf, und am 25. September sollen Wahlen stattfinden. Die M5S selbst hatte gerade eine große Spaltung erlitten, als Außenminister Luigi Di Maio die Bewegung verließ, um seine eigene Partei mit dem wenig inspirierenden Namen „Gemeinsam für die Zukunft“ zu gründen. Giuseppe Conte, Draghis Vorgänger als Ministerpräsident und Parteivorsitzender, übernimmt die Leitung der Rumpf-M5S.

Super-Mario des Kapitals

Draghi, ehemals geschäftsführender Direktor der US-Großbank Goldman Sachs, Gouverneur der Bank von Italien und dann von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank, wurde als „Super-Mario“ gelobt, weil er „alles getan hat, was nötig war“, um den Euro vor dem Zusammenbruch zu retten. Er verteilte Milliarden an die Kapitalist:innenklasse und holte sie sich dann über sinkende Reallöhne und gekürzte Sozialprogramme von der Arbeiter:innenklasse zurück. Er hob die Zinssätze an, während die Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks sie senkten, und löste damit eine schwere Rezession für Arbeiter:innen und Rentner:innen aus.

Unter seiner Leitung hat die EZB die EU-Regierungen wiederholt erpresst, ihren Völkern „brutale Sparmaßnahmen“ aufzuerlegen. Während einige der brutalsten dieser „Pakete“ Griechenland aufgenötigt wurden, waren seine Absichten für sein Heimatland genauso hart. Ein durchgesickerter Brief, den er mitverfasst und an die italienische Regierung geschickt hatte, enthielt die Bedingungen der EZB für die Hilfe.

Dazu gehörten „eine umfassende Überholung der öffentlichen Verwaltung“, „die vollständige Liberalisierung der lokalen öffentlichen Dienste“, „Privatisierungen in großem Umfang“, „die Senkung der Kosten für öffentliche Bedienstete, wenn nötig durch Lohnkürzungen“, „die Reform des Tarifvertragssystems“, „strengere … Kriterien für die Altersrenten“ und eine „Verfassungsreform zur Verschärfung der Vorschriften für Staatsausgaben“. Oberstes Ziel sei es, „das Vertrauen der Investor:innen wiederherzustellen“.

In diese Zeit fällt der Aufstieg der „Finanzexpert:innen“, der so genannten Technokrat:innen, die immer dann zum Einsatz kamen, wenn die gewählten Vertreter:innen die vom Großkapital geforderte harte Medizin nicht durchsetzen konnten oder es nicht wagten.

Bürgerliche Reaktion

Kein Wunder, dass nicht nur die italienischen Bosse, sondern ihre gesamte Klasse in der Europäischen Union in ihm die sicherste Steuerungshand sahen, um Italien „Reformen“ aufzuzwingen, wie z. B. den Preis für die Auszahlung von 200 Mrd. Euro EU-Hilfen im Rahmen des Pandemieplans „Next Generation EU“ (EU der nächsten Generation). Kein Wunder, dass die solidesten bürgerlichen Zeitungen in Europa ihre Bestürzung über seine Absetzung und ihre Verzweiflung über die italienische politische Klasse und das gesamte Regierungssystem zum Ausdruck brachten.

Die ehrwürdige Turiner Tageszeitung La Stampa zeigte sich erzürnt über das Abstimmungsverhalten der populistischen Parteien:

„Eine Schande! Es gibt kein anderes Wort, um die Art und Weise zu beschreiben, wie die Regierung Draghi im Senat gescheitert ist … Es ist, als ob sich ein Abgrund aufgetan hat, in den zusammen mit der Regierung der nationalen Einheit auch jener große Teil Italiens hineingezogen wird, der bereit war, Opfer zu bringen, um in Europa und in der Welt wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, dank des Vertrauens, das auf allen Ebenen in den Mann gesetzt wurde, der gestern die Bühne verlassen hat.“

Auch der Mailänder Corriere della Sera schreibt:

„Selbst Draghi, der berühmteste Italiener, den wir hatten und den wir hoffentlich bald wieder im Dienste unseres Landes sehen werden, hat den Preis für das unerbittliche Gesetz der nationalen Einheitsregierungen bezahlt. Nämlich, dass sich die Parteien in Italien nicht länger als ein Jahr, höchstens eineinhalb Jahre, an ihre ,allgemeinen’ oder ,sehr allgemeinen’ Vereinbarungen halten.“

Das überschwängliche Lob, das Draghi von den Medien entgegengebracht wird, wird von beißender Satire begleitet, die auf die italienische politische „Casta“ abzielt, wie die Cinque Stelle (M5S) sie nannte, bevor sie selbst an die Futtertröge der Macht kam.

In Wirklichkeit sind die schamlose Korruption der Politiker:innen oder gar die engstirnigen Rivalitäten der Parteien nicht das eigentliche Problem. Und es wird ganz sicher nicht dadurch gelöst, dass man die Macht weiterhin unpolitischen Expert:innen anvertraut.

Hinter dem lärmenden Überbau der Parteien und ihren unaufhörlichen und prinzipienlosen Kämpfen um die Früchte der Ämter verbergen sich die Interessen der Klassen. Trotz ihrer geringen Zahl gibt die Bourgeoisie die Form der wirtschaftlichen und politischen Kurse vor, aber sie ist gezwungen, deren Umsetzung der politischen Kaste zu überlassen. Die Politiker:innen wiederum müssen einen Weg finden, um die Wähler:innen dazu zu bringen, sie in ihr Amt zu wählen, um dies zu tun. Das bedeutet systematisches Lügen und Täuschen im großen Stil.

Absturz der Parteien der „nationalen Einheit“

Obwohl die große Mehrheit der 2018 gewählten Parteien die neoliberale Sparpolitik vorgeblich ablehnte, sahen sich die Wähler:innen im Februar 2021 mit einer Regierung konfrontiert, die von einem der Hauptverantwortlichen für diese Politik geführt wurde. Es besteht kein Zweifel, dass nach dem 25. September oder wann immer eine Rechtskoalition gebildet werden kann, im Wesentlichen die Politik von Draghi übernommen wird, um die „großzügige“ Unterstützung der EZB zu gewinnen. Zu dieser Politik wird Super-Marios uneingeschränkte Unterstützung der NATO-Beteiligung am Krieg in der Ukraine zählen. Obwohl Salvini und Berlusconi in der Vergangenheit vor Putin gekrochen sind, haben sie sich beide letztlichhinter diesen Krieg gestellt.

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia, deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Instituts vom 19. Juli).

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Meinungsforschungsinstituts vom 19. Juli).

Infolgedessen müssen Italien und die Europäische Union mit einer Regierung rechnen, an deren Spitze ein:e Vertreter:in in der Tradition von Benito Mussolini steht. Nur die Londoner Times (im Besitz des rechtsgerichteten Medienmoguls Rupert Murdoch) sieht diese Aussicht mit Gleichmut.

„Ein Wahlsieg der Brüder Italiens mit ihren neofaschistischen Wurzeln wäre sicherlich ein politischer Schock, aber nicht mehr als frühere Erfolge der Populistinnen Fünf Sterne und Lega. Das Zuckerbrot der großzügigen EU-Gelder und die Peitsche der Volatilität der Anleihemärkte sind starke Anreize für die nächste Regierung, die Reformen von Herrn Draghi fortzusetzen.“

Sie schätzen – wahrscheinlich zu Recht – ein, dass sich die tatsächliche Politik einer rechten Koalition nicht so sehr von der von Draghi unterscheiden wird. Meloni hat sich zu einer starken Befürworterin der Beteiligung der EU und der NATO am Krieg in der Ukraine entwickelt.

Drohende Rezession, Inflation und Angriffe

Vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession, der Störung der Weltwirtschaft im kommenden Winter und einer galoppierenden Inflation, da die Zentralbanken die Zinssätze anheben, könnte Italien jedoch, wie der Rest der EU, im kommenden Jahr mit einer schweren Rezessionskrise konfrontiert werden. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bereits bei 8,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Darüber hinaus sind 3,4 Millionen Arbeitskräfte prekär beschäftigt. Die Zahl der Armen ist während der Covid-Pandemie auf 5,6 Millionen gestiegen, und die offizielle Inflationsrate steht derzeitig Stand bei 8 Prozent.

Unterdessen nehmen auf lokaler Ebene die Streiks gegen Arbeitsplatzverluste, niedrige Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu. Bisher werden sie hauptsächlich von den kleineren „Basis“-Gewerkschaften initiiert. Die Mitglieder von SI Cobas (Sindacato Intercategoriale Cobas) im Logistiksektor, viele von ihnen Einwander:innen, haben sich zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Arbeiter:innenrechten in verschiedenen Lagern und Abteilungen von Logistikriesen organisiert.

Am 19. Juli wurden sechs Mitglieder von SI Cobas und USB (Unione Sindacale di Base) von der Staatsanwaltschaft Piacenza unter Hausarrest gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, Streiks organisiert und die Arbeit in den Lagerhäusern multinationaler Logistikunternehmen wie Amazon, Nippon Express, Fedex, TNT und anderen in Piacenza gestört zu haben. Aldo Milani, der nationale Koordinator von SI Cobas, war unter den Inhaftierten.

In ihrer Antwort erklärte die Gewerkschaft:

„Es handelt sich um einen schweren Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit und das Streikrecht, der von einem Teil der Justiz ausgeht, der sich bereits in den vergangenen Jahren durch gewerkschaftsfeindliche Aktionen wie Klagen, Verhaftungen und Aufenthaltsverbote hervorgetan hat. Mit dem Vorwurf der ,Gewalt’ und der ,Erpressung’ wollen sie den Kampf der Arbeiter:innen gegen die Ausbeutung und für die Löhne unterdrücken, und das in einer Zeit, in der die italienischen und internationalen Eigentümer:innen und Spekulant:innen die Löhne rauben, während die Preise um 8 % (10 % für Familien mit niedrigem Einkommen) und mehr gestiegen sind. Ein allgemeiner Kampf zur Verteidigung der Kaufkraft … ist dringend notwendig.“

Italienische linke politische Organisationen, ihre Jugendverbände und andere Gewerkschaften haben in Turin, Rom, Neapel, Genua und Bologna sowie in Piacenza selbst Proteste und Streiks in Solidarität mit den unter Arrest Stehenden organisiert.

Was Italien heute trotz oder gerade wegen der drohenden Rechtsregierung braucht, ist ein heißer Herbst militanter Aktionen gegen die Sparmaßnahmen, die mit EZB-Geldern an Italiens Bosse vergolten werden. Die großen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL sowie die kämpferischen „Basis“-Gewerkschaften sollten sofort Forderungen nach Lohnerhöhungen stellen, die den Kaufkraftverlust aufgrund der Pandemie und der Inflation vollständig ausgleichen und die Forderung nach einer gleitenden Lohnskala (scala mobile) einschließen – ein Prozent für ein Prozent Anstieg im Lebenshaltungskostenindex für die Arbeiter:innenklasse.

Angesichts der steigenden Kraftstoffpreise müssen die Gewerkschaften auch für die entschädigungslose Verstaatlichung der großen Energiemonopole unter Arbeiter:innenkontrolle kämpfen. Sie sollten fordern, dass kein einziger Euro für das riesige Aufrüstungsprogramm der NATO ausgegeben wird, und das Kriegstreiben blockieren. Stattdessen muss die Arbeiter:innenbewegung massive Investitionen und den Ausbau von Arbeitsplätzen in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Bildung, erneuerbare Energien, ja ein ganzes Spektrum von Maßnahmen gegen den Klimawandel und zum Schutz der Umwelt fordern.

Wenn in diesem Herbst eine neue rechte Regierung unter Führung der Fratelli an die Macht kommt, können die italienischen Arbeiter:innen mit einem brutalen neoliberalen Wirtschaftsangriff rechnen, der dem von Draghi geplanten sehr ähnlich ist. Darüber hinaus werden sie aber auch mit der Gewalt einer ermutigten und gestärkten extremen Rechten wie Forza Nuova (Neue Kraft) und CasaPound Italia (benannt nach dem Mussolini-Anhänger und Schriftsteller Ezra Pound) konfrontiert sein, wobei erstere für die Besetzung und Verwüstung des CGIL-Hauptsitzes in Rom im vergangenen Oktober verantwortlich war.

Die gesamte Arbeiter:innenbewegung muss sich gegen solche Angriffe schützen und Gruppen organisieren und ausbilden, die groß genug sind, um diese Aufgabe wirksam zu erfüllen und den neofaschistischen Banden eine harte Lektion zu erteilen. Aber sie muss sich auch vor den staatlichen Kräften schützen, die immer aggressiver werden, wenn sie wissen, dass ihre politischen Herr:innen voll und ganz hinter ihnen stehen.

Vor gut zwei Jahrzehnten hatte Italien die stärkste politische Arbeiter:innenbewegung Europas. Der rechte, klassenkollaborierende Flügel der Bewegung wurde zur bürgerlichen Mitte-Links-Partei, dem Partito Democratico (Demokratische Partei). Zusammen mit dem linken Flügel, Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung), verspielten sie diese Stärke, indem sie sich kollaborierenden Regierungen anschlossen oder diese unterstützten, die dann neoliberale Reformen durchführten. Im Jahr 2006 hatte die Rifondazione 41 Abgeordnete, 2008 keine:n mehr. Heute hat sie nur noch 10 – 15.000 Mitglieder. Bei diesem fatalen Kurs der Klassenkollaboration wurden sie von der Bürokratie der großen Gewerkschaftsverbände unterstützt.

Die Aufgabe besteht heute darin, die Kraft, die zu Beginn des Jahrhunderts existierte, sowohl auf betrieblicher als auch auf lokaler Ebene auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit wiederaufzubauen, mit dem Ziel, eine neue revolutionäre kommunistische Partei in Italien als Teil einer neuen revolutionären Arbeiter:innen-Internationale, der Fünften, zu schaffen.




Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Dave Stockton, Neue Internationale 264, Mai 2024

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am 24. April kehrte Emmanuel Macron, ein arroganter neoliberaler „Reformer“, für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurück. Er schlug die altgediente rassistische Populistin Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 %, ein größerer Vorsprung, als viele erwartet hatten.

Allerdings hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidat:innen seine/ihre Stimme gegeben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 % und war damit die niedrigste in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel leer abgegeben oder sonst wie ungültig gemacht.

Ergebnis von Le Pen

Dennoch hat Le Pen mehr als 13 Millionen Stimmen erhalten, ein Rekord für die Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN), die frühere Front National (Nationale Front, FN). Die RN ist sicherlich eine üble reaktionäre Kraft, die Maßnahmen zur Diskriminierung der französischen Bürger:innen kolonialer Herkunft und zum Schikanieren der Jugend in den Banlieue-Vorstädten ergreifen würde, aber sie ist keine faschistische Bewegung.

Le Pens Stimmenzuwachs ist zum Teil auf ihre „Entdämonisierung“ zurückzuführen, die sie erreicht hat, indem sie soziale Fragen wie die steigenden Lebenshaltungskosten für die einfachen Leute in den Vordergrund gestellt und Themen wie Abtreibungsverbot und „Frexit“ aus der EU aufgegeben hat. Sie milderte auch ihre heftige Islamophobie etwas ab, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen Französ:innen sein können, aber ihre Forderung nach einem Verbot des Tragens der Hidschab-Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit und Referendum über strengere Einwanderungskontrollen  aufrechterhielt.

Massenenthaltung

Ein Grund für die rekordverdächtige Enthaltung ist die Tatsache, dass Macron sowohl die traditionellen Parteien der Linken als auch der Rechten an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So sind die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei in der ersten Runde auf einstellige Zahlen geschrumpft, und auf der rechten Seite sind auch die Gaullist:innen nicht mehr vertreten. Seine eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Vormarsch), ist eine in den Massen wenig verankerte Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen von rechts und links, die gut geeignet ist, die Basis für eine bonapartistische Präsidentschaft zu bilden.

Der Champion der Linken ist nun Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde nur knapp von Le Pen geschlagen wurde. Er stellt sich nun so dar, als hätte er eine reale Chance, die Partei des Präsidenten bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni zu besiegen und sogar Premierminister zu werden und Macron in ein „Zusammengehen“ zu zwingen.

Die hohe Zahl der Stimmenthaltungen und ungültigen Stimmen spiegelt nicht nur die Tatsache wider, dass Macron weithin verabscheut wird, sondern auch, dass es keine/n Kandidat:in der reformistischen Linken gab, für die/den man stimmen konnte, und Mélenchon sich weigerte, zur Wahl Macrons aufzurufen, um Le Pen zu stoppen. Die weit verbreitete Entfremdung verdeutlichte sich nach der ersten Runde in einer Reihe von Demonstrationen, die in ganz Frankreich ausbrachen und bei denen Universitätsstudent:innen, Oberschüler:innen sowie Eisenbahner:innen die Wahl zwischen „Pest und Cholera“ anprangerten.

Linke

Die französischen Linken, die früher für die PS oder die kommunistische PCF gestimmt haben, unterstützen nun Mélenchons linkspopulistische Union Populaire und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent, was etwa 7,7 Millionen Stimmen entspricht. Mélenchon forderte seine Wähler:innen auf, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, lehnte es aber auch ab, sich für Macron zu erklären.

Diejenigen, die dafür plädierten, ungültig zu wählen, hatten Recht. Keine/r der beiden bürgerlichen Kandidat:innen hat auch nur eine einzige Stimme von der Arbeiter:innenklasse, der Jugend an den weiterführenden Schulen und in den Banlieues verdient. In der Tat werden Letztere derzeit weit mehr von Macrons Polizei schikaniert als von der extremen Rechten. Die Vorstellung, dass Macron dem Aufstieg des Faschismus im Wege steht, war der übliche zynische Trick, um die Wähler:innen in Panik zu versetzen, ihn als das kleinere Übel zu wählen.

Die Tatsache, dass die Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapistalistische Partei, NPA) darauf hereingefallen ist, zeigt, wie weit sie sich von einer unabhängigen Klassenpolitik entfernt hat. Auch die Tatsache, dass sie nun bei den Parlamentswahlen um einen Platz in Mélenchons Union Populaire buhlt – auf einer Plattform mit einem Potpourri aus volksfrontistischem „Republikanismus“ – könnte ihren Tod bedeuten, wo sie doch vor etwa zehn Jahren noch als Durchbruch für die extreme Linke galt.

In der Tat sind die Wirtschaftspolitik und die soziale Zerstörung, die Macron betrieben hat und die durch seine zweite Amtszeit drohen, ein wesentlicher Teil dessen, was den Aufstieg der rassistischen Rechten, Zemmour und auch Le Pen, angeheizt hat und weiterhin anheizen wird. Dabei ist Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, CFDT und CGT, nachdem sie dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, was natürlich auch seine „Reformen“ einschließt.

Widerstand

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten extremen Rechten aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend an den Unis, den Gymnasien und in den Banlieues, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antimilitaristischen und antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten und in der Vergangenheit die FN-Schläger:innen abwehren konnten. Und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über die Misserfolge von Le Pen und Zemmour bei den Wahlen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung des Lumpenproletariats unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieses Widerstands stellen und sich nicht auf das Hirngespinst von Jena Luc-Mélenchon als Macrons Premierminister konzentrieren.




Frankreich: Macron oder Le Pen – keine Wahl für die Arbeiter:innenklasse

Dave Stockton, Infomail 1185, 23. April 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag tritt der autoritäre neoliberale Amtsinhaber Emmanuel Macron gegen die rechtsextreme Veteranin und Rassistin Marine Le Pen an. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Runde kam es in ganz Frankreich zu einer Reihe von Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen, vor allem jungen Menschen, Student:innen an Universitäten und Oberschulen, die sich gegen das wehren, was sie als eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“ in der zweiten Runde betrachten.

Viele der Student:innen, die die Universitäten, darunter die Sorbonne in Paris, besetzt und auf der Straße demonstriert haben, verkünden offen, dass das, was sie ironisch als „die wirkliche dritte Runde“ der Wahlen bezeichnen, auf der Straße und in den Betrieben ausgetragen werden wird, egal wer im Präsident:innenpalast Elysée sitzen wird.

Zur Überraschung vieler Kommentator:innen liefert sich Le Pen mit Macron ein enges Rennen. Ein Grund dafür ist Macrons arroganter, monarchischer Stil und die Tatsache, dass er eine Reihe bösartiger Angriffe auf die verbleibenden sozialen Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse, der Armen und der Migrant:innen durchgeführt und repressive Polizeieinsätze gegen Demonstrant:innen entfesselt hat, insbesondere gegen die Bewegung der Gilets Jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018.

Zu seinen neoliberalen Reformen gehörten die des Arbeitsgesetzbuchs (Code du Travail), der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung der direkten Vermögenssteuer (ISF), die Kürzungen der individuellen Wohnbeihilfe (APL) und die (gescheiterten) Rentenreformen. Zu seinen antidemokratischen Angriffen zählten die dauerhafte Übernahme der Bestimmungen des Ausnahmezustands nach den Terroranschlägen ins Gesetz und seine islamfeindliche Kampagne gegen den „Separatismus“.

Le Pen hat die letzten Jahre damit verbracht, das Erbe ihres faschistischen Vaters Jean Marie abzustreifen. Dazu gehört auch die Umbenennung ihrer Partei, der ehemaligen Front National (FN; Nationale Front), in Rassemblement National (RN; Nationale Sammlungsbewegung). Und in der Tat hatte sie damit einen gewissen Erfolg. Sie weiß, dass allein ihre Vergangenheit und das Versprechen, das Tragen der Hidschab als Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu verbieten, weiterhin antimuslimische Wähler:innen anziehen wird.

In der Zwischenzeit hat sie eifrig um diejenigen geworben, die in der Vergangenheit nie die NF gewählt hätten, indem sie die sinkende Kaufkraft der Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht thematisiert und politische Maßnahmen wie den Austritt aus der Eurozone oder der EU selbst fallenlassen hat. Problematischer, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, sind ihre Verbindungen zu Putin und die Finanzierung durch russische Banken.

Ein weiterer großer Schrecken für Macron ist, dass ein größerer Teil der Wähler:innenschaft als je zuvor sich wahrscheinlich der Stimme enthalten wird – sogar mehr als die über 25 Prozent, die dies 2017 taten. Es scheint, dass die „republikanische Disziplin“ , die früher dafür sorgte, dass die Wähler:innen der Linken gegen die NF als antirepublikanische Partei stimmten und sogar für die Kandidat:innen der rechten Gaullist:innen, unter Macron, der weithin als Paradebeispiel für die politische Elite Frankreichs verabscheut wird, ein verlorenes Gut ist.

Die französischen Linken, die früher für die Sozialistische Partei (PS) oder die Kommunistische Partei (PCF) gestimmt hatten, schlossen sich diesmal Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer Partei La France Insoumise (Das ungehorsame Frankreich) an, die für diese Wahl in Union Populaire (Volksunion) umbenannt wurde, und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent und etwa 7,7 Millionen Stimmen.

Mélenchon hat seine Anhänger:innen aufgefordert, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, hat sich aber geweigert, Macron zu unterstützen. Eine Meinungsumfrage zeigt, dass sich bis zu zwei Drittel seiner Wähler:innen der Stimme enthalten werden. Er hofft, auf seinem Erfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni aufbauen zu können, für die er die offen gesagt lächerliche Idee hegt, sich Macron als Premierminister „aufzudrängen“.

In der Tat wäre es ein fataler Fehler, auf Mélenchon zu warten und sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Wie verschiedene Bewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt haben, sind Massenstreiks, Besetzungen von Arbeitsplätzen und Bildungsstätten der Weg, um neoliberale Reformen zu stoppen.

Heute haben diejenigen Recht, die für eine Blankowahl plädieren. Bei dieser Wahl gibt es keine/n Kandidat:in, nicht einmal eine/n von den traditionellen reformistischen Arbeiter:innenparteien, der/die die Stimmen der Arbeiter:innenklasse, der Jugendlichen an den Gymnasien und Universitäten und derjenigen, die in den sozial benachteiligten Vorstädten, den Banlieues, wählen dürfen, auf sich ziehen könnte.

Die Idee, dass Macron ein Hindernis für den Aufstieg des Faschismus bildet, ist ein Witz oder vielmehr ein zynischer Trick, um die Wähler:innenschaft in Panik zu versetzen, damit sie ihn als das vermeintlich kleinere Übel wählen. Das Problem bei diesem Argument ist, dass die Wirtschaftspolitik und die soziale Verwüstung, die der frühere Präsident Sarkozy und dann Macron angerichtet haben, den Aufstieg der rassistischen Rechten begünstigt haben und weiter begünstigen werden.

Die einzigen Kräfte, die es wirklich sowohl mit einer rassistischen bürgerlichen Republik als auch mit der extremen Rechten aufnehmen können, sind die Arbeiter:innenklasse und die Jugend der Unis, der weiterführenden Schulen und Banlieues, die schon immer den Großteil der antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten, die die NF-Schläger:innen in der Vergangenheit aus dem Weg geräumt haben und sie wieder aus dem Weg räumen können. Gewerkschaften und extreme Linke müssen sich vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieser Kräfte stellen.




NATO, USA, EU, Russland, Ukraine: Ein Propagandakrieg und seine Hintergründe

Frederik Haber, Neue Internationale 262, Februar 2022

Revolutionäre KommunistInnen dürfen sich von der Propaganda der Herrschenden nicht beeindrucken lassen, schon gar nicht von den FührerInnen der imperialistischen Länder, also denen, die in der Lage sind, andere Länder zu unterdrücken und auszubeuten, sei es auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Wege. Deren ganzes Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, dies besser zu machen als ihre KonkurrentInnen.

Ganz besonders gilt es, die Lügen der Herrschenden im eigenen Land zu entlarven. Die Tatsache, dass linke wie rechte bürgerliche Medien, von der TAZ über den Spiegel bis zu FAZ und WELT, die gleiche Stoßrichtung einschlagen und die gleiche Wortwahl nutzen, belegt nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr die Entschlossenheit des Imperialismus – in diesem Falle des deutschen.

Lügen und Verfälschungen

Zu den billigen Lügen gehört, dass die (vermeintlichen) Truppenbewegungen Russlands berichtet werden, die der NATO nicht. Zum Beispiel die Tagesschau am 22. Dezember 2021: „Angesichts der russischen Truppenbewegung an der Grenze zur Ukraine hat die NATO offenbar mit einer ersten konkreten militärischen Maßnahme reagiert. Die Einsatzbereitschaft der schnellen Eingreiftruppe sei erhöht worden, berichtet die ‚Welt‘ unter Berufung eines ranghohen NATO-Diplomaten.“

Das ist gelogen. Es war nicht die „erste“ Maßnahme: Schon Anfang Dezember hatte sich die NATO zu einer Konferenz in Riga getroffen und bei der Gelegenheit das erste von 5 geplanten Manövern in Lettland abgehalten. Von wegen „einer ersten konkreten militärischen Maßnahme“! Es war die NATO, die mit „Truppenbewegungen an der Grenze“ schon Wochen vorher angefangen hatte. Genauso wie es Bilder der US-Geheimdienste gibt, die Reihen von LKWs in irgendwelchen Wäldern zeigen, gibt es übrigens solche von NATO-Ausrüstung, die in den Wäldern Polens und Norwegens stehen soll und dies vermutlich auch tut. Und auch das nicht erst seit dem 22. Dezember.

Die Frage, die auf der Hand liegt, lautet: Warum sollte Putin eigentlich in die Ukraine einmarschieren wollen? In der Propaganda wird diese nicht nur nicht beantwortet. Sie wird von den Medien offensichtlich bewusst nicht einmal gestellt. Stattdessen wird suggeriert, das habe er schon immer wollen, er habe ja 2014 die Krim annektiert und die „SeparatistInnen“ unterstützt. Die Welt hat offensichtlich erst 2014 begonnen, sich zu drehen.

Medien, PolitikerInnen und Militärs reden nicht davon, wie es zur „Separation“ in der Ostukraine kam und wie zur Annexion der Krim. Die propagandistischen Halb- und Viertelwahrheiten bestärken die Vermutung, dass es in der aktuellen geostrategischen Auseinandersetzung unter anderem genau um dieses Land geht, genauer gesagt, um die Bereinigung der Lage in der Ostukraine.

Der Putsch von 2014 …

Ende 2013 entstand eine diffuse Protestbewegung in der Ukraine, damals wie heute eines der ärmsten Länder Europas. Losgetreten wurde sie von rechten AktivistInnen und prowestlichen NGOs, die eine Neuauflage der „orangenen Revolution“ von 2004 wollten, die einen neoliberalen prowestlichen Präsidenten ins Amt gehievt hatte, der dies aber bei den nächsten Wahlen wieder verlor. Die Regierung in Kiew reagierte brutal auf diese Versuche und ihre Brutalität entfachte echte Massenproteste, die auch soziale Fragen aufwarfen. Diese Bewegung richtete sich natürlich gegen die damalige Regierung und den Staatspräsidenten Janukowitsch (Janukowytsch). Der zentrale Platz in Kiew wurde besetzt und gab der Bewegung den Namen: Maidan. Sehr schnell übernahmen nationalistische, rechtsradikale und faschistische Kräfte die Führung dieser Aktionen.

Die Bewegung wurde politisch rechts ausgerichtet. Soziale Forderungen wurden marginalisiert und allenfalls in einer populistisch-rechten Form verbreitet. Ansonsten dominierten Hoffnungen in die EU als freien Markt, der individuellen Aufstieg ermögliche. Die breite Solidarisierung ging zurück, aber rechte politische Strukturen etablierten sich vor allem im Westen des Landes.

Es gelang dem Maidan mit Provokationen und viel Unterstützung seitens der USA, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 5 Mrd. US-Dollar in die Schlacht um die Ukraine geworfen hatten, aber auch der BRD und ihrem Schlepptau in der EU, die politisch schwache Regierung Janukowitsch zu stürzen. Ein zentraler Konfliktpunkt war deren Zögern gewesen, einen Vertrag mit der EU zu ratifizieren, der dieser weitgehende Ausbeutungsmöglichkeiten sichern sollte. Russland wollte dagegen die Ukraine weiter als seinen Satelliten halten und offerierte seinerseits günstige Kredite.

Nach der Machtergreifung versuchte die neue Regierung, ihr Programm aggressiv durchzusetzen. Um den Staatshaushalt und den Krieg gegen den Osten zu sichern, brauchte sie Kredite vom IWF und Hilfsgelder von EU und USA. Mit der EU wurde das Assoziierungsabkommen in zwei Schritten beschlossen. Die sozialen Kosten für diese Maßnahmen mussten die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen tragen – und zwar nicht nur im Osten.

Zugleich verfolgte die Kiewer Regierung einen aggressiven Kurs, um ihre Machtansprüche im Osten des Landes durchzusetzen: Nationalistische Sprachpolitik, d. h. das Verbot der russischen Sprache, Ersetzen von GouverneurInnen, Legitimierung der neuen Regierung durch Putsch der „neuen“ Parlamentsmehrheit und über Aktionen auf der Straße.

Nach der Machtergreifung des „Maidan“ wurden alle jene Linke, die sich gegen die Regierung und die FaschistInnen wehrten, brutal angegriffen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und sozialistische Organisationen wie Borotba wurden verboten. Am 26. Juni 2014 griff der faschistische „Rechte Sektor“ z. B. eine Gewerkschaftsversammlung brutal an – die Polizei schaute zu. Diese Repression gegen Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen setzt sich fort. Vor kurzem wurden 5 Sender verboten, die nicht genügend regierungskonform waren – was bei den demokratischen westlichen Medien ebenfalls keine Kritik hervorrief.

 … und die Gegenbewegung

Der Maidan war nie eine landesweite Bewegung und das Gros der ArbeiterInnenklasse verhielt sich ihr gegenüber reserviert – aus verständlichen Gründen. Der ukrainische Nationalismus bildete von Beginn an den ideologische Kitt des Maidan, was notwendigerweise die russischsprachige Bevölkerung v. a. im Osten und Süden des Landes abstoßen musste.

Es entstand eine Gegenbewegung im Osten, die sich erstens gegen den ukrainischen Nationalismus und die Unterdrückung der russischen Sprache wandte, gegen den Terror der FaschistInnen, aber auch richtig verstand, dass eine Ukraine unter dem EU-Imperialismus ihre Industrie und den Bergbau im Osten sowie die Werften am Schwarzen Meer zerschlagen bekommen, also dasselbe Schicksal wie auch andere EU-Neuzugänge erleiden würde.

Dagegen versprach die Fortsetzung der engen industriellen Arbeitsteilung mit Russland der Industrie wenn auch keine goldene Zukunft, so doch ihren Fortbestand.

Diese Gegenbewegung führte auf der Krim zu einer Volksabstimmung für den Anschluss an Russland mit einer Mehrheit von 96,7 % bei einer Wahlbeteiligung von über 80 %. Gleichzeitig besetzten russische Truppen ohne Abzeichen dort alle Schaltstellen der Macht.

Die Ukraine und die UNO halten den Anschluss der Krim für illegal, den Putsch in Kiew und die Absetzung des Parlaments der Krim durch die Kiewer Regierung dagegen für legal. (Bemerkenswerterweise halten sie das vergleichbare Vorgehen bei der Abspaltung des Kosovo von Serbien für legal, während Russland dies wiederum als völkerrechtswidrig einstuft.)

Donbass

Die demokratische Volksbewegung im Osten akzeptierte die Absetzung ihrer gewählten lokalen Vertretungen durch die Putschregierung nicht. Sie fürchteten zu Recht die Pogrome der NationalistInnen zu einer Zeit, als die „Demokratin“ Timoschenko (Tymoschenko) davon sprach, „alle Russen eigenhändig auszurotten“.

Es kam zu Besetzungen von Rathäusern in fast allen Städten im Osten und Südosten. In den meisten gelang es Regierungstruppen, Polizei und FaschistInnen, den Aufstand niederzuschlagen. In Lugansk (Luhansk) und Donezk konnten sich die Aufständischen halten.

In den folgenden Kämpfen gab es um die 10.000 Tote auf beiden Seiten, darunter auch viele Opfer aus der Zivilbevölkerung durch die Regierungskräfte. Dem schrecklichen Pogrom in Odessa fielen mindestens 43 Menschen zum Opfer. Täter waren Killertrupps, die in enger Verbindung zur Putschregierung in Kiew standen. Sie griffen ein Camp der Volksbewegung an, viele flüchteten von dort ins Gewerkschaftshaus. Die FaschistInnen legten Feuer, Menschen verbrannten oder wurden erschlagen. Weder Feuerwehr noch Polizei griffen ein.

Lugansk und Donezk konstituierten sich als „Volksrepubliken“. Sie konnten der scheinbaren Übermacht Kiews trotzen, aus mehreren Gründen: Die Wehrpflichtigenarmee der Regierung war für einen Bürgerkrieg untauglich, viele desertierten. Es musste erst eine Elitetruppe, die Nationalgarde, aufgebaut werden. Die faschistischen Einheiten auf Seiten der Regierung, die von ukrainischen OligarchInnen und aus internationalen Quellen finanziert wurden, provozierten mit ihrem Vorgehen eher Widerstand. Es gab viele Freiwillige aus Russland, aber auch aus anderen Ländern, und militärisches Material, mindestens mit Wohlwollen der russischen Regierung geliefert.

Minsker Abkommen

Als sich die Fronten einigermaßen verfestigt hatten, wurde unter Merkels Führung ein Waffenstillstand vereinbart. Beteiligt waren daran die ukrainische Zentralregierung, die Volksrepubliken, Russland und Frankreich sowie die OSZE. In zwei Abkommen wurde der militärische Status quo festgeschrieben, der bis zum Schluss noch verändert werden sollte: Die Regierung wollte den Flughafen Donezk erobern, die Aufständischen versuchten, Mariupol zurückzugewinnen, und waren letztlich erfolgreich bei der Einkesselung der Regierungstruppen bei Debalzewo (Debalzewe). Die drohende Niederlage dort hatte letztlich zum Einlenken von Kiew geführt.

Neben der Festschreibung des Status quo gab es vage Formulierungen für die Zukunft, die beiden Bürgerkriegsparteien erlaubten, das Gesicht zu wahren, die aber nicht umgesetzt werden konnten.

Die Jahre seit dem Minsker Abkommen haben zugleich auch die Verhältnisse im Donbass verändert. 2014/15 gab es in den Volksrepubliken durchaus auch linke, fortschrittliche Initiativen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und Industrie wurde diskutiert und teilweise umgesetzt, landwirtschaftliche Kooperativen entstanden – teilweise aus militärischem und wirtschaftlichem Zwang, teilweise mit kleinbürgerlich-linken ideologischen Ansätzen. Heute sind diese linken Initiativen erlahmt und zerstört, einige der linkspopulistischen Führer wie Mozgowoi (Mozgovoy) und Bednow („Batman“) wurden ermordet. In den Republiken selbst gibt es wohl Fragen, wie es weitergeht, und um diese auch Konflikte zwischen den jeweiligen AnführerInnen.

2014 verzichtete die Russische Föderation auf eine direkte, staatliche Integration der Ostukraine, auch wenn sie militärisch leicht möglich gewesen wäre. Das hatte einerseits mit den damals unsicheren inneren Verhältnissen zu tun. Andererseits dient der unsichere Status der Donbassrepubliken als diplomatisches Faustpfand. Für Putin und den russischen Imperialismus stellen sie Kleingeld im Kampf um die Neuordnung der Region dar.

USA gegen Deutschland

Neben dem Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine und dem globalen Konflikt USA gegen Russland gab es eine dritte Front – innerhalb des westlichen Bündnisses. Der deutsche Imperialismus und in seinem Gefolge die EU wollten zwar die Assoziierung der Ukraine, so wie sie das auch sonst in Osteuropa getan hatten: Überschwemmung des Warenmarktes, Integration in die Arbeitsteilung, (Stilllegung großer Teile der Industrie, Aufkauf der interessanten „Kerne“, „verlängerte Werkbank“ zu Niedriglöhnen), Arbeitskräftereservoir. Die Ukraine ist zusätzlich besonders begehrt für ihre großen, z. T. sehr fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen, auf die die deutsche Agrarindustrie gierig schielt.

Aber Deutschland strebte und strebt durchaus gute Beziehungen mit Russland auf wirtschaftlicher Ebene an: Öl und Gas importieren, Maschinen und Autos exportieren. Kurz vor der Ukrainekrise 2014 waren die EU und Russland fast so weit, das Visa-Regime gegenseitig zu erleichtern.

Der US-Imperialismus hegte und hegt andere Interessen. Seine wirtschaftlichen Beziehungen sind sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland schwach. Ihm geht es darum, die militärische Macht Russlands zu brechen, zu verhindern, dass der russische Imperialismus ihm an allen möglichen Ecken der Welt in die Quere kommt.

Zweitens sind die EU und Deutschland auch KonkurrentInnen der USA. Die Störung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ist diesen mindestens genauso wichtig. Heute zeigt das der Kampf der USA gegen „Nordstream 2“. Es war immer auch in ihrem Interesse, die EU uneinig zu halten – oder besser gesagt – es dem französischen und deutschen Imperialismus so schwer wie möglich zu machen, die EU nicht nur wirtschaftlich zu dominieren, sondern auch zu einem eigenständigen imperialistischen Block zu formieren. Konflikte in Osteuropa sind immer geeignet, die baltischen Länder, Polen oder Ungarn gegen Deutschland und die EU zu mobilisieren.

2014 in Kiew stellte sich dieser Konflikt so dar: Die BRD hatte mit dem damaligen Außenminister Steinmeier eine gemeinsame Übergangsregierung unter Einschluss Janukowitschs und der „MaidansprecherInnen“ vereinbart. Die USA forderten die rechtsnationalistischen und faschistischen Banden des „Rechten Sektors“ zum Sturm auf das Parlament auf. Janukowitsch floh. Berühmt wurden die (abgehörten) Worte der US-Beauftragen Victoria Nuland in diesem Zusammenhang: „Fuck the EU“.

Die Minsker Abkommen als Versuch Deutschlands, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wurden von den USA immer abgelehnt. Nuland damals: „Sie fürchten sich vor Schäden für ihre Wirtschaft, Gegensanktionen der Russen“ und „Wir können gegen die Europäer kämpfen, rhetorisch gegen sie kämpfen … “

Heute wird diese Front z. B. sichtbar, wenn CDU-Chef Merz feststellt, dass eine Einstellung des internationalen Überweisungssystems „SWIFT“ keinesfalls geeignet für Sanktionen sei. Darüber hinaus zeigen sich die inneren Gegensätze der EU letztlich auch in inneren Konflikten der herrschenden Klasse, in Regierung wie in der parlamentarischen Opposition. Die FPD und die Grünen markieren dabei die größten, pro-US-amerikanischen Kriegstreiberinnen, während v. a. die SPD, aber auch CDU/CSU – siehe nur Söders Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine – gespalten sind.

Während die ArbeiterInnenklasse im großen globalen Kampf zwischen der US/NATO-geführten westlichen Allianz unter Einschluss Deutschlands und der EU einerseits und Russlands mit China im Rücken andererseits keine Seite unterstützen darf, stellen die verschiedenen Flügel innerhalb des deutschen politischen Establishments nur unterschiedliche strategische Orientierungen innerhalb der herrschenden Klasse dar.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke sollten vielmehr diese inneren Widersprüche nutzen, um eine schlagkräftige Antikriegsbewegung auf die Beine zu stellen. Frei nach dem Motto von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!




Nachhaltigkeitsprüfung: Die „Grünen“ vor der Kernschmelze?

Markus Lehner, Infomail 1175, 7. Januar 2022

Stromproduktion aus Atom- und Gaskraftwerken ist ökologisch nachhaltig? Was wie ein Witz klingt, soll tatsächlich Bestandteil einer EU-Verordnung werden. Natürlich, und wie aus der Brüsseler EU-Kommission nicht anders zu erwarten, wird der Sachverhalt, um den es bei der Verordnung geht, so unverständlich wie möglich präsentiert – so dass dann Meister der Beschwichtigung wie Olaf Scholz behaupten können, das Ganze werde „maßlos überschätzt“. Tatsächlich geht es aber um einen Knackpunkt des Umbaus der Energiewirtschaft.

Taxonomie-Verordnung

Die „Taxonomie-Verordnung“ soll einen „Rahmen zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“ einrichten und ändert auch entsprechende Bilanzvorschriften. Diese Mitte 2020 in Kraft getretene Verordnung definiert nur einen allgemeinen Rahmen für die Vereinheitlichung von nationalen Kriterien zur Kennzeichnung „ökologisch nachhaltiger“ Investitionen. Sie wurde damals mit „qualifizierter Mehrheit“ von Europäischem Rat (Gremium der EU-Staats- und RegierungschefInnen, nicht zu verwechseln mit EU-Ministerrat und Europarat) und Parlament beschlossen – und hat seinerzeit auch kaum Kontroversen hervorgerufen. Allerdings wurde in dieser Verordnung in Artikel 23 der Kommission die „Befugnis für den Erlass delegierter Rechtsakte“ zur Konkretisierung der „technischen“ Bestimmung dessen gegeben, was denn nun konkret nachhaltig im Sinne der verschiedenen, in der Verordnung genannten ökologischen Kriterien ist. Und – Überraschung, Überraschung: Für die dann von der Kommission herausgebrachten Durchführungsbestimmungen gibt es enorme Hürden für eine Ablehnung durch EU-Mitgliedsstaaten oder -Parlament (z. B. mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 % der EU-Bevölkerung; beim normalen Gesetzgebungsverfahren kann mit 4 Mitgliedsstaaten mit mindestens 35 % der Bevölkerung eine Sperrminorität erreicht werden).

Und eben in dieser „technischen Regelung“ zur Durchführung der Taxonomie-Verordnung hat die Kommission jetzt – unter vielem anderen – auch Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als „nachhaltig“ eingeordnet. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Vorhabens kann auch für die diversen grünen MinisterInnen nicht überraschend kommen: Angesichts der „Green Deal“-Pläne über die von der EU aufgelegten Investitionsfonds wurde darauf gedrängt, speziell die Nachhaltigkeitskriterien für Klimaschutzziele vorab, noch bis Ende 2021, zu definieren – die restlichen Umweltbereiche sollen dann bis Ende 2022 bearbeitet sein. Schon hier liegt ein beträchtliches, systematisches Problem: An sich wurde die Taxonomie-Verordnung einst auf die Nachhaltigkeitsdefinitionen des Rio-Prozesses ausgelegt, die weit über eine Verengung der Umweltkrise nur auf die Klimakatastrophe hinausgingen.

Bekanntlich ist die Klimakrise nur eine – und nicht einmal die schlimmste – von den 9 planetaren ökologischen Bedrohungen, wie sie etwa die Rockström-Kommission auflistet (Artensterben, Versauerung der Ozeane, Müllprobleme, … ). Diese werden in der EU-Verordnung durchaus auch aufgelistet – und es wird auch festgestellt, dass „nachhaltig“ nicht nur bedeutet, dass eine Technologie bei einem Bereich verträglich ist, sondern sie auch nicht in den anderen Bereichen umweltzerstörerisch sein darf. Artikel 17 der Verordnung stellt ironischerweise in Bezug auf das Kriterium der „erheblichen Beeinträchtigung der Umweltziele“ als negatives für Nachhaltigkeit fest, dass eine nachhaltige Technologie nicht durch „langfristige Abfallbeseitigung eine erhebliche und langfristige Beeinträchtigung der Umwelt verursachen darf“. Mit einem Wort: Atomenergie mit ihrem sehr, sehr langfristigen Müllendlageranforderungen kann auch nach dieser Verordnung eigentlich nie und nimmer nachhaltig sein. Durch den Trick, für die Durchführungsverordnung aber nur alle Artikel und Absätze der Grundverordnung für die Definition heranzuziehen, die etwas mit Klimaschutz zu tun haben, kann man diese Klippe gerade noch umschiffen – unter völliger Aushöhlung des Nachhaltigkeitsbegriffs, der ja gerade eine ganzheitliche Betrachtung von ökologischen Wechselwirkungen beinhaltet. In einem Jahr, wenn dann die anderen Umweltaspekte Berücksichtigung finden, werden die Milliarden aus den EU-Investitionsfonds schon in die „nachhaltige“ Atomindustrie geflossen sein. Statt die sehr viel billigere Stromerzeugung mit Wind- und Solar-Technologien auszubauen, werden die Mittel weiterhin in das Milliardengrab Atomenergie geschüttet.

Atomindustrie – Nachhaltigkeit der besonderen Art

Dabei ist die Atomindustrie in ihrem Gesamtproduktionszyklus von Uranbergbau über -anreicherung, Kraftwerksbetrieb, Stufen von Zwischenlagerung oder „Wiederaufbereitung“ bis zum wahrscheinlich unlösbaren Problem der Endlagerung das gerade Gegenteil von „nachhaltig“. Ökologisches Grundproblem ist natürlich die beim radioaktivem Zerfall entstehende ionisierende Strahlung unterschiedlichster Intensität, die für alle organischen Lebensformen je nach Dosis existenzbedrohlich ist. Die Nutzung schwerer radioaktiver Isotope zur Energiegewinnung (Massendefekt) erfordert eine Anreicherung derselben, wie sie in der Natur z. B. in Gesteinsformationen nie vorkommt. Der dabei in Gang gesetzte Prozess erzeugt nicht nur als End-/Müllprodukt lebensbedrohliches Spaltmaterial oberhalb der Grenzwerte, sondern auch bei allen Zwischenstufen. Gerade die „kurzlebigen“ Spaltprodukte beim Uranzerfall, wie Caesium-137 (Betastrahler, 30 Jahre Halbwertszeit), sind bei Kontamination der Umwelt ab einer Konzentration von 600 Becquerel (Kernzerfall pro Sekunde) nachhaltig gesundheitsgefährdend (laut Strahlenschutzverordnung). Nach dem Unfall in Fukushima 2011 hat die japanische Akademie der Wissenschaften eine Karte der Messwerte zu Cs-137 herausgebracht, nach der ein großer Teil der östlichen Provinzen Japans einen Bodenwert mit Belastungen über 2.500 Bq aufweist. Ähnliche Überschreitungen von Grenzwerten für bestimmte Lebensmittel wurden weitflächig, bis Hawai, festgestellt. Das jetzt übliche Herunterspielen der Fukushimakatastrophe (die vielen Toten seien ja vor allem auf den Tsunami zurückzuführen) verkennt völlig die nachhaltige und großflächige Schädigung der Umwelt – mitsamt daraus resultierender Gesundheitsfolgen für Mensch und Tier. Abgesehen davon sind inzwischen auch Klimafolgen als Konsequenzen radioaktiven Fallouts, z. B. durch die Wirkung auf Mikroorganismen, nachgewiesen.

Der Uranbergbau gehört zu den umweltbelastendsten Arten des Bergbaus überhaupt – auch was seine CO2-Bilanz betrifft. Der Aufschluss des Gesteins, das Uranerze immer nur in kleinen Mengen enthält, erfordert massiven Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel, hinterlässt Wüstenlandschaften und Halden voller radioaktiv und chemisch belasteter „Reststoffe“. Dies geht wohl nicht in die Nachhaltigkeitsbilanzen hierzulande ein, da diese Art von Bergbau vor allem in Afrika, Kasachstan oder indigenen Regionen Nordamerikas betrieben wird.

Widerstand gegen Uranabbau

Bei dem Bruch eines Uranabraumbeckens am Rio Puerco, New Mexico, kamen 1979 tausende von native Americans ums Leben – ein Atomunfall, von dem kaum die Rede ist. Es ist folgerichtig, dass derzeit der Abbau der wohl größten Uranvorkommen weltweit am Widerstand von indigenen Bewegungen scheitert. So wurde in Grönland die linkssozialistische „Inuit Ataqatigiit“ gerade deswegen an die Regierung gewählt, da sie das Uranbergwerk Kvanefjeld eines australisch-chinesischen Konsortiums verhindern will. Wie die grönländische Regierung nachwies, würde dieses Bergwerk nicht nur die CO2-Bilanz Grönlands um 45 % erhöhen (und das in einer Region, die gerade im Zentrum des Klimawandels steht), sondern auch eine große Menge radioaktiven Thoriums in die umgebenden Fjorde freisetzen. Dazu kommt, dass der betreffende Bergbaukonzern zu einem ganzen Netz von Konzernen gehört, die Grönland für Öl- und Gasplattformen erschließen wollen – auch dies ist nun alles erstmal gestoppt.

Ganz ähnlich ist auch die autonome Regierung des zu Kanada gehörenden Territoriums Nunavut (6 mal so groß wie Deutschland) vorgegangen. Hier wurde eines der größten Uranbergbauvorhaben des französischen Atomkonzerns Areva gestoppt. Wahrscheinlich werden die „NachhaltigkeitsexpertInnen“ der EU die Inuit noch überzeugen müssen, dass Uranbergbau enorm wichtig für den Klimaschutz ist! Oder die EU-Konzerne sind noch mehr denn je auf das autoritäre Regime in Kasachstan angewiesen, das gerade vom „Erzfreund“ Putin vor Massenprotesten gerettet wird. Denn der Staatskonzern Kazatomprom ist mit „Hilfe“ vieler internationaler InvestorInnen (alles jetzt ökologisch nachhaltig) derzeit für ein Drittel des weltweiten Abbaus von Uranerzen verantwortlich – die wahrhaft nachhaltige Stütze für ein autoritäres und korruptes System, das sich um die Umweltzerstörungen des schon seit den Atomwaffentests schwer mitgenommenen Landes wenig schert. So viel zur Unabhängigkeit der Energieversorgung von Putin & Co. beim Setzen auf Atomstrom!

Nicht viel besser steht es bei den Produktionsanlagen zur Anreicherung des spaltbaren Uran-235 und der anschließenden Herstellung von Brennelementen. Sowohl beim Zentrifugieren von Uranhexafluorid als auch bei der Verschmelzung von Uran(IV)-Oxid mit der Brennelementekeramik entstehen in hohem Maße Treibhausgase, die an die Atmosphäre abgegeben werden. Außerdem beweisen mehrere schwere Störfälle, wie der beim Brennelementewerk Tokaimura 1999 in Japan, dass auch dieser Produktionsschritt Kernspaltungsenergie zur Hochrisikotechnologie macht.

Betrieb und Entsorgung

Dies gilt natürlich umso mehr für den Betrieb der Kraftwerke selbst. Auch wenn die Strahlenbelastung ihrer Umgebung im „Normalbetrieb“ sicherlich in vertretbaren Grenzbereichen liegen mag, so gab und gibt es genug „Störfälle“, bei denen es zu schwerwiegenden Kontaminationen gekommen ist. Dies betrifft nicht nur die Beinahekatastrophen von Harrisburg oder Sellafield – auch bei kleineren Unfällen kam es während der Jahrzehnte des Betriebs zum Austritt von radioaktiven Materialien. Da inzwischen zumindest in Europa die Grenzwerte für zulässige Strahlungsdosen verschärft wurden, ist der Betrieb von Kernkraftwerken mit derart viel Sicherungstechnologie versehen, dass Atomstrom die bei weitem teuerste Art der Energiegewinnung darstellt. Außerdem weiß jede/r IngenieurIn, dass es kein technisches System gibt, das „absolut sicher“ ist, weshalb jeweils immer mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit gearbeitet werden muss. Die Annahme eines „größten anzunehmenden Unfalls“ (GAU), der innerhalb beherrschbarer Grenzen angesetzt werden könnte, war daher immer schon eine gewagte Hypothese. Diese wurde durch die Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima eindeutig falsifiziert. Bei beiden sehr gut untersuchten Unfällen traten derart unvorhersehbare Probleme auf, dass man nur im Nachhinein schlauer ist, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft. Natürlich ist man inzwischen sehr viel weiter, aber ein neues „Unvorhersehbar“ ist immer möglich – nur dass das bei einem Atomunfall immer mit gewaltigen Konsequenzen für Mensch und Umwelt verbunden ist.

Das größte Nachhaltigkeitsproblem der Atomenergie bildet aber sicherlich das Entsorgungsdilemma. Dies fängt schon mit der Lagerung von abgebrannten Brennelementen in den AKW selber an bzw. bei deren Transport zu den zentralen Zwischenlagern oder Wiederaufbereitungsanlagen. Gerade der „frische“ Atommüll enthält die gefährlichsten, hochradioaktiven Spaltprodukte und muss extrem geschützt werden. Die Umgebung der für den europäischen Brennelementezyklus so zentralen Anlagen von Sellafield und La Hague ist ein reges Zeugnis für dieses Problem. Dort werden Abwasserbelastungen mit Strahlendosen gemessen, die die in den Strahlenschutzverordnungen festgelegten Grenzwerte um das 26- bzw. 7-fache überschreiten. Dazu kommt eine in mehreren Untersuchungen festgestellte erhöhte Strahlenbelastung im Meer im weiten Umkreis um diese Anlagen – dies übrigens auch mit Auswirkungen auf für das Klima wichtige Mikroorganismen im Ozean. Aber auch die Zwischenlager für „abgeklungene“ Brennelemente, wie sie derzeit vor allem in aufgelassenen Bergwerksstollen existieren, bergen enorme Probleme. Bekannt ist etwa das Drama um Asse II, wo 126.000 Fässer radioaktiver und chemischer Abfälle für „Jahrzehnte“ zwischengelagert werden sollten. Aber schon nach wenigen Jahren kam es zu einem „unerklärlichen“ Einsickern von zehntausenden Litern Salzlauge. Der Atommüll muss daher „geborgen“ und in ein anderes Zwischenlager verfrachtet werden: Kostenpunkt 3,35 Milliarden Euro. Angesichts der Kriterien für ein „Endlager“, das mehrere Millionen Jahre stabil beiben müsste, haben bisherige geologische Untersuchungen wenig Erbauliches zu Tage gebracht. Es steht zu befürchten, dass wie bei der Asse Atommüll für Jahrhunderte von Zwischenlager zu Zwischenlager transportiert werden muss – oder eben, wie immer häufiger, einfach nach Afrika abgeschoben wird.

Rechnet man die Gesamtkosten von Atomstrom inklusive Mülllager, Transport-, Wartungskosten, Sicherungsmaßnahmen und der riesigen Anschubsubventionen, so kommen realistische Schätzungen inzwischen auf einen Preis von 37,8 Cent pro Kilowattstunde. Im Vergleich liegen die realen Kosten bei Onshore-Windanlagen bei 8,8 Cent (Forum Ökologisch-Soziale Markwirtschaft). An die VerbraucherInnen direkt werden natürlich andere Strompreise weitergegeben – die Kosten, die für die Stromkonzerne bei Kohle- und Atomstrom vom Staat übernommen werden, werden dann eben über Steuern von StromkundInnen eingetrieben. Damit reduzieren sich die Gestehungskosten für die kWh aus AKWs und Gaskraftwerken enorm und scheinen sogar geringer als die für Strom aus erneuerbaren Energien. Deren Subventionen wurden perverser Weise auch noch über die EEG-Umlage an die Masse der VerbraucherInnen weitergereicht. Der dann möglich gewordene kWh-Preis aus „Strommix“ (der Preis an der Strombörse ergibt sich aus dem teuersten noch verkäuflichen Stromangebot) bringt damit den Stromkonzernen satte Extragewinne.

EU-Subvention für Atom- und Gasstrom

Es ist damit klar, dass die „Nachhaltigkeitsdefinition“ der EU-Durchführungsverordnung genau dafür da ist, dass dieses Subventionsgeschäft für Atom- und Gasstrom weiterhin möglich bleibt. Dies entspricht den Interessen der Konzerne nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Ländern, die jetzt erst aus der Kohleverstromung auszusteigen beginnen. Was damit insbesondere verhindert wird, ist, dass die systematische Benachteiligung von erneuerbaren Energien bei der Preisbestimmung beendet wird. Das Subventionsgeschäft für ökologisch fragwürdige Kraftwerkstechnologien kann munter weitergehen und der Ausbau erneuerbarer Energien für die gesamte EU wird wie schon die letzten Jahrzehnte viel zu langsam vorangehen. Atomenergie mag nicht so schädlich für das Klima sein wie Kohle und Gas, aber zur wesentlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen trägt eine solche Politik der Verzögerung des Umbaus der Energiewirtschaft nicht bei.

Grüner Offenbarungseid

Die Partei der Grünen hat alle diese Punkte – von der Nichtnachhaltigkeit der Atomindustrie, der finanziellen Benachteiligung der erneuerbaren Energien, der Notwendigkeit eines Atomausstiegs zur Beschleunigung des Umbaus der Energiewirtschaft etc. – immer als Kernelemente ihres ökologischen Programms vor sich hergetragen. Nunmehr als tragende Säule einer Bundesregierung, in der sie die MinisterInnen u. a. für Umwelt, Klimaschutz/Wirtschaft, Auswärtiges stellt, müsste man daher erwarten, dass sie diesen schmutzigen Deal der EU-Kommission zu gunsten der Stromkonzerne mit aller Macht verhindern wird. Tatsächlich hat Klima- und Wirtschaftsminister Habeck darauf hingewiesen, dass mit dieser Verordnung droht, dass die französische Energiewirtschaft die dieses Jahr anfallenden enormen AKW-Wartungskosten als „Klimaschutzinvestitionen“ verrechnen kann und damit eben die dafür vorgesehenen Milliarden aus dem „Green Deal“ nicht tatsächlich für den Ausbau von erneuerbaren Energien verwendet.

Damit hat er zumindest ausgeplaudert, um welchen Deal es hier tatsächlich geht: Frankreich und Osteuropa können weiter auf Kernenergie setzen, wenn sie schon immer mehr aus der Kohle aussteigen müssen, während Deutschland Erdgas als „Brückentechnologie“ hin zur Wasserstoffverstromung bekommt („Brückentechnologie“ ist eh nur ein Gütesiegel dritter Klasse für Nachhaltigkeit). Mehr als deutlich wird damit, dass Scholz und Macron hier wohl unter Umgehung der Grünen einen „akzeptablen“ Kompromiss gefunden haben, gegen den es unter den europäischen Regierungen wenig Opposition gibt (bisher nur: Österreich, Dänemark, Portugal und Luxemburg). Darauf deuten auch die Beschwichtigungen aus den rechten Teilen der SPD-Fraktion und der FDP hin, die darauf drängen, dass man die Verordnung hinnimmt oder sich enthält. Für die Grünen wäre das ein Offenbarungseid, wo sich dann die Frage stellt, was sie als Öko-Partei in so einer Regierung noch zu suchen hätten.

Es ist notwendig, die Proteste gegen die EU-Taxonomie-Verordnung zu verstärken und die Konsequenzen für das Weiter so in der ökologisch katastrophalen bestehenden Stromwirtschaft in Europa aufzuzeigen. Dabei müssen wir als SozialistInnen aber auch klarmachen, dass eine auf den Markt (der Stromkonzerne) ausgerichtete Politik des Umbaus der Stromwirtschaft gar keine anderen Resultate erwarten lässt. Notwendig wäre vielmehr eine europaweite entschädigungslose Enteignung der Stromkonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und VerbraucherInnen mit dem Ziel eines europaweiten Plans zum Umbau einer klimagerechten Stromwirtschaft!




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.