Signa und das System René Benko

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das System Benko und mit ihm die Signa-Gruppe stehen vor dem vorläufigen Aus. Die Signa Holding und viele ihrer rund 200 Tochtergesellschaften haben Insolvenz angemeldet. Aber nicht nur der Konzern, sondern letztendlich die gesamte Immobilienwirtschaft ist durch steigende Zinsen und Baukosten ins Stocken geraten. Zugleich drohen die Absicherungen durch überbewertete Immobilien, infrage gestellt zu werden. Doch die Insolvenz kann weit über die Immobilienwirtschaft und den Handel Auswirkungen haben. Denn sie steht sinnbildlich für eine Spekulationsblase des Kapitals, für kurzfristig höhere Renditeerwartungen. Auch wenn die Pleite von Signa nicht vergleichbar ist mit der von Lehman Brothers 2008, so zeigt sie doch die Krisenhaftigkeit der Weltwirtschaft und deren Einfluss in den DACH-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.

Eine kleine Geschichte René Benkos

2021 wurde Benko zum drittreichsten Österreicher mit einem geschätzten Kapitalvolumen von 5,6 Milliaren US-Dollar gekürt. Auch wenn heute weite Teile seiner Unternehmen sich in Insolvenz befinden, so ist nicht davon auszugehen, dass er am Hungertuch nagen wird. Er ist Sinnbild der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Weltwirtschaftskrise von 2007/08, Ausdruck der Finanzialisierung des Immobiliensektors weit über Signa hinaus. Um die Entwicklung nachzuvollziehen, soll kurz ein Blick auf den beruflichen Werdegang geworfen werden. Die Geschichte zeigt, dass es sich beim Kapital nicht um abstrakte Kategorien, sondern wirkliche Entitäten handelt.

Benko stieg Mitte der 1990er Jahre in die Selbstständigkeit ein. Damals plante er Projekte zum Ausbau von Dachböden in hochpreisigen Penthouses gemeinsam mit dem Bauunternehmer Johann Zittera. 2001 gründete er die Firma Immofina Holding, wofür er eine Anschubfinanzierung von 25 Millionen Euro vom ehemaligen Tankstellenbesitzer Karl Kovarik erhielt und ihn beteiligte. Benko selbst kam aus relativ einfachen Verhältnissen. Die Mutter war Erzieherin, der Vater Beamter der Gemeinde. Er wuchs in einer 60 m² Wohnung in Innsbruck auf. Sein Unternehmenskonzept basiert damals wie heute auf zwei grundlegenden Herangehensweisen. Er zielte auf Immobilien mit „Entwicklungspotential“ ab und versuchte, für diese Projekte Fremdkapital einzuwerben oder in vorherigen entwickelte Sicherheiten einzusetzen, um bessere Kreditbedingungen zu erhalten.

Zwischen 2004 und 2010 hatte er dann sein erstes Großprojekt mit der Neuerrichtung des Kaufhaus Tyrol. Bereits im Zuge dessen wurden in verschiedenen Metropolregionen Österreichs und Deutschlands Immobilien erworben und das Unternehmen in Signa Holding (2006) umbenannt.

Bekannt in Deutschland sind sicherlich sein Erwerb der Karstadt Group 2012 – 2013. Hier versprach Benko die Rettung des seit 2009 insolventen Handelskonzerns. Bereits damals machte er deutlich, dass er auch Galeria Kaufhof kaufen wolle. Mit dem Erwerb Karstadts ergänzte Signa neben den Immobilien seine Handelssparte. Gemeinsam mit der Benny Steinmetz Group kaufte er Teile des Karstadt-Eigentums. Das Verhältnis wurde bald wieder aufgelöst, wobei Steinmetz in der Zeit für seinen Korruptions- und Erpressungsskandal bekannt wurde aufgrund des Erwerbs von Erzschürfrechten im Südosten Guineas. 2014 wurden auch Benko und sein Steuerberater zu 12 Monaten auf Bewährung verurteilt („bedingte Haftstrafe“). Denn Letztere hatte 2009 dem ehemaligen kroatischen Premier Sanader 150.000 Euro angeboten, damit dieser ein Gerichtsverfahren in Italien in Benkos Sinne beeinflusst.

Auch die Schweizer Warenhauskette Globus (2020) und das österreichische Möbelhaus Leiner & kika (heute: kikaLeiner) erwarb Signa. 2018 kaufte die Holding dann die Mehrheitsanteile an Galeria Kaufhof und führte 2019 Galeria Karstadt Kaufhof zum zweitgrößten europäischen Warenhauskonzern zusammen. Benko wurde damit zum größten europäischen Warenhausmogul. Auch im Onlinehandel war er aktiv. Mit der Signa Prime und Development wird der Immobiliensektor abgedeckt und aufgeteilt in teure und zu entwickelnde Immobilien. Die Warenhaussparte mietete zumeist bei anderen Signa-Tochterunternehmen die jeweiligen Immobilien.

2019 stieg die Konzerngruppe auch in die Medienbranche ein, als sie die Anteile der Funke Mediengruppe an den österreichischen Zeitungen Krone und Kurier kaufte. Zu Spitzenzeiten beschäftigte Signa etwa 46.000 Angestellte in Österreich, Italien, der Schweiz und Deutschland.

Doch Benko und seine Signa haben sich hier schlussendlich verspekuliert. Die Handelssparte konnte nicht genug Profit abwerfen, um sich zu halten, während die Inflation die Bauvorhaben ins Stocken brachte. Die massive Überbewertung Signas erforderte eine stetige Ausweitung des Portfolios. In diesem Sinne ist die Signa Holding eine eigene „kleine“ Spekulationsblase für Kapitalist:innen primär in der DACH-Region.

Finanzialisierung des Immobiliensektors

Mit Finanzialisierung wird die Entwicklung seitens des Finanzkapitals zur Fokussierung auf Immobilien als Anlage und Absicherung weiterer Kaufoptionen mittels Bewertung der auf Kredit gekauften Immobilien verstanden. Diese müssen dafür eine gesteigerte Rendite abwerfen.

Gerade angesichts der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken wurden solche Entwicklungen befeuert. Der Prozess war widersprüchlicher Weise auch Konsequenz gesunkener Immobilienpreise nach Platzen der Blase des aufgeblähten US-Immobilienmarktes und ihrer weitreichenden Abwertung zu dieser Zeit. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation des Kapitals. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt, auf „Betongold“, also Immobilien als „sichere“ Investitionsmöglichkeit. Während die Big Four (Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien SE) jahrelang in Deutschland den Wohnbereich dominierten, war Signa im Schatten deren aktiv und konzentrierte sich auf Gewerbegebäude.

Wer investiert in Signa?

Weiterhin ist unklar, welche Anteile Benko an der Benko Familienstiftung und ihrer Signa Holding hält. In der Reportage „Der wundersame Erfolg des René Benko“ von Inside Austria wird deutlich behauptet, dass außerhalb der Person René Benko vermutlich niemand weiß, wie viele Unternehmen und welche Besitzanteile zur Signa-Gruppe gehören. Signa als Holdinggesellschaft versuchte, nicht nur günstige Kredite für ihre Vorhaben bei Banken zu erhalten, sondern stellte für Teile der Bourgeoisie eine hoffnungsvolle Renditeerwartung dar. Nicht alle Investor:innen sind an die Öffentlichkeit gelangt, einige erst im Zuge der Panama Papers. Denn die Holdinggesellschaft besteht aus knapp 200 Subfirmen, strukturiert nach Treuhänder:innen, Investor:innen, teilweise aber auch nach Immobilien, Wirtschaftssektoren oder Staaten. Zugleich hat die Signa Holding zwar die Börse gekauft (das Unternehmen besitzt die Immobilie), ist jedoch nie eine Aktiengesellschaft geworden. Dementsprechend hat der Konzern wenig Verpflichtung zur Transparenz. Diese Undurchsichtigkeit ermöglicht es sowohl Investor:innen, teilweise weniger erkennbar zu sein, als auch die Überbewertung des Unternehmens.

Trotzdem gibt es einige bekannte Investor:innen wie den STRABAG-Chef Klemens Haselsteiner, die Peugeot-Familienholding, Ernst Tanner von Lindt & Sprüngli, der Fressnapf-Gründer Torsten Toeller oder der Logistikmilliardär Kühne. Ex-Porschevorstandschef Wendelin Wiedeking zog sich beispielsweise aus Signa zurück und sprach sich öffentlich gegen Investitionen aus wegen intransparenter Unternehmensführung. Ähnlich wie im Wohnungssektor hat Signa also als Gewerbeflächeninvestorin bereitgestanden und Anlagegewinne weit über den durchschnittlichen Kapitalrenditen versprochen. Von der Firmenpleite sind also bedeutend mehr betroffen, als wir aktuell wissen.

Das heißt nicht, dass René Benko unbedingt gegenüber seinen Investor:innen als Blender aufgetreten ist. Hier gab es auch verschiedene Buyouts und Verkäufe in den letzten Jahren, wie Wiedeking und in Teilen Tanner. Medienberichten zufolge gibt es aktuell 94 Gläubiger:innen, die der Signa-Gruppe Geld geliehen haben in einem Volumen von 14 Milliarden Euro – darunter 74 Banken, 8 Versicherungsunternehmen und 12 Fondgesellschaften.

In seiner Handelssparte kann man das schon eher annehmen, denn für abertausende Beschäftigte hat die in kürzester Zeit zum größten europäischen Handelskonzern augestiegene Signa drohende Arbeitslosigkeit und Lohnverzicht bedeutet. Die Beschäftigten im Einzelhandel und das Argument der angeblich aussterbenden Innenstädte dienten ihm auch als Türöffner:innen, um Einfluss auf die Lokalpolitik zu nehmen.

Einflussnahme auf die Politik

Der Signa-Aufsichtsratsvorsitzende Benko ist auch für sein umfassendes Netzwerk bekannt. Er tritt als politisch überparteilich auf, pflegt Kontakte zu verschiedensten Parteien, Ministerien und Staatssekretär:innen. 2017, als Sebastian Kurz österreichischer Kanzler wurde, unterstützte er alle drei Parteien, die Kanzlerkandidat:innen stellten, also FPÖ, ÖVP und SPÖ. Kurz und seine Amigos spielten ihm damals beim Kauf von des kikaLeiner-Flagshipstores in der Wiener Mariahilfer Straße in die Hände, scheinbar, weil sie Interesse am Aufbau des österreichischen Kapitalisten hatten. Kurz nahm ihn auch zu verschiedenen Staatsbesuchen mit.

Auch auf kommunaler und städtischer Ebene war Benko immer wieder aktiv. In verschiedenen Verhandlungen soll er für den Erhalt von Kaufhäusern gegen etwaige Bauvorschriften die Rechte zum Umbau oder Abriss erhalten haben, teilweise auch trotz Denkmalschutzes. Das Argument Rettung der Innenstädte und Arbeitsplätze ist hier gerade für kommunale Politik äußerst wirkmächtig und das auch ganz ohne offene Korruption. In Berlin beispielsweise, wo eine Reihe von Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen existiert, kam es zu regelrechten Kuhhandeln. Sowohl nahm Signa hunderte von Millionen an staatlichen Subventionen an, wie sie im Gegenzug auch den Erhalt eines Teils der Arbeitsplätze für Baugenehmigungen „garantierte“. Zugleich haftet Signa nicht für Teilinsolvenzen, wodurch die meisten Versprechen fromme Hoffnungen blieben.

Enteignet Benko!

René Benko kommt durch sein Unternehmenskonzept weitgehend unbeschadet aus der Pleite heraus, während sein Geschäft auf dem Auspressen von Immobilien, dem Hochtreiben von Immobilienpreisen in europäischen Innenstädten, aber auch Massenentlassungen von Beschäftigten der Handelsunternehmen basierte. Zahlen müssen also hier die einfachen Mieter:innen, kleinen Ladenbesitzer:innen und Arbeiter:innen.

Diese Kosten müssen jedoch vom Kapital getragen werden, weshalb es eine Reihe von Maßnahmen braucht wie die Öffnung der Geschäftsbücher und das Einfrieren der Kapitalanlagen in und um Signa. Die Immobilien müssen verstaatlicht, ihre Verwendung muss durch die Beschäftigten, die Gewerkschaften und die Mieter:innenbewegung kontrolliert und geplant werden. Dabei darf nicht vor dem Privatvermögen Benkos und seiner Nutznießer:innen haltgemacht werden. Zugleich braucht es einen Plan für die Zukunft des in der Krise befindlichen Einzelhandels und eine eventuelle Überführung der Stellen in andere gesellschaftlich notwendige Arbeiten. Denn die Rettung des städtischen Lebens kann nicht die künstliche Aufrechterhaltung der Konsumpaläste bedeuten.




Enteignet Signa!

Stefan Katzer, Infomail 1238, 9. Dezember 2023

Das Weihnachtsgeschäft wird noch einmal ordentlich Geld in die Kassen spülen, doch wie es mit den Kaufhäusern von Galeria Karstadt Kaufhof und den dort Beschäftigten danach weitergehen wird, ist derzeit ungewiss. Nachdem die derzeitige Eigentümerin, die Signa-Holding GmbH, einen Antrag auf ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung gestellt hat, müssen die Beschäftigten erneut um ihre Jobs bangen. Erst 2019 wurden dutzende Filialen geschlossen, haben hunderte Mitarbeiter:innen ihre Jobs verloren. Dabei hatten sie zuvor noch versucht, durch Lohnverzicht ihre Arbeitsplätze zu erhalten – es hat nichts genützt. Und nun also die Nachricht von der Signa-Pleite,  und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof müssen erneut um ihre Jobs bangen.

Das Geschäftsmodell Signa

Dass die Signa-Holding GmbH jetzt insolvent ist, ist keinesfalls die Schuld der Beschäftigten. Es hängt vielmehr mit der ökonomischen Großwetterlage zusammen, mit steigenden Zinsen und hohen Baukosten. Solange die Zinsen niedrig waren, hat sich das Bauen für die Immobilienhaie noch gelohnt. Darauf war und ist das Geschäft der Signa-Holding GmbH ausgerichtet. Sie ist im Kern kein Handelsunternehmen, sondern verdient ihr Geld vor allem durch ihr Geschäft mit Immobilien. Die Signa-Holding GmbH ist die Dachgesellschaft eines unübersichtlichen Konglomerats unterschiedlichster Unternehmen – darunter auch die Tochter Galeria Karstadt Kaufhof – und  laut Insolvenzantrag an 53 Gesellschaften direkt und an mehreren Hundert Gesellschaften indirekt beteiligt.

Dabei profitierte die Holding in den letzten Jahren vor allem von den stetig steigenden Mieten sowie dem Umstand, dass sich diese positiv auf  die Bewertung von Immobilien und damit auf die Gewinne in einer Unternehmensbilanz auswirken. Aus diesem Grund war es für die Signa-Holding attraktiv, etwa nach der Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof die Mieten für diese neue Tochter deutlich zu erhöhen, ja zu verdoppeln, denn damit stieg zugleich das berechnete Vermögen bzw. der Gewinn der Eigentümer:innen. Dadurch wiederum kamen sie leichter an Kredite, mit deren Hilfe sie ihr Geschäft ausweiteten und neue Immobilien bauen konnten, um noch mehr Mieten zu kassieren, die sie gerne weiter erhöhten, da dadurch ihre Gewinne weiter stiegen, was dazu führte, dass … – das Prinzip sollte nun klar sein.

Dieses Treiben ging recht lange gut aus. Einige Zeit konnte der Unternehmer René Benko, der die Signa-Holding aufgebaut und zwischen 2014 und 2018 auch die heutige Kette Galeria Karstadt Kaufhof übernommen hatte, sich davon ein luxuriöses Leben finanzieren, gerne auch auf Kosten des eigenen Unternehmens. Er ging jagen mit Politiker:innen, flog mit einem eigenen Privatjet durch die Welt und kaufte schöne Villen an schönen Seen. Er zog prestigeträchtige Aufträge an Land, wie etwa den Bau des Elbtowers in Hamburg, und ließ sich gerne mit Politiker:innen ablichten – und diese mit ihm. Geld für seine Geschäfte bekam er dabei auch von zahlreichen Landesbanken, darunter die Hessen-Thüringens, die LBBW in Baden-Württemberg und die Bayern-LB. Wie schon vor der letzten Finanzkrise hofften sie, vom großen Reibach der Immobilienkonzerne selbst profitieren zu können. Es ging mal wieder nach hinten los.

Nach der Pleite von Signa steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Landesbanken einen Teil der von ihnen vergebenen Kredite abschreiben müssen, ihr Geld bzw. das der Steuerzahler:innen somit nicht wiedersehen werden. Denn das Geschäft von Benko und der Signa-Holding lief nur gut, solange die Zinsen niedrig waren. Das hat sich durch Corona, den Ukrainekrieg und die steigende Inflation nun aber geändert. Die Zinsen stiegen rasant an, die Baukosten schossen in die Höhe und auf dem  Immobilienmarkt ging es plötzlich nicht mehr nur aufwärts, sondern sogar etwas bergab. Das alles führte dazu, dass die Signa-Holding einen Teil ihrer Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte. Deshalb nun der Insolvenzantrag in Eigenverwaltung. Die Signa-Holding soll neu strukturiert werden, damit sie ihren Geldgeber:innen möglichst bald wieder Gewinne einbringt.

Enteignet Signa! Entschädigungslos und unter Kontrolle der Beschäftigten!

Die Gewerkschaften und die Beschäftigten von Galeria Karstadt Kaufhof, die zuletzt noch eine Eckpunktevereinbarung hin zu einem neuen Tarifvertrag inklusive Mini-Inflationsausgleichspauschale ausgehandelt hatten, müssen sich nun unverzüglich auf den Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze vorbereiten. Dazu ist es dringend erforderlich, dass die Gewerkschaften endlich damit aufhören, verzweifelte Appelle an die Eigentümer:innen und das Management zu richten, die Interessen der Beschäftigten bei diesem Großreinemachen auch zum eigenen Nutzen der Kapitaleigner:innen bitte zu berücksichtigen. Stattdessen müssen sie selbst einen Kampfplan schmieden, der als letzte Konsequenz auch die Forderung nach einer entschädigungslosen Enteignung beinhaltet. Es muss sichergestellt sein, dass niemand der Beschäftigten bei Galeria Karstadt Kaufhof oder einer sonstigen Tochter der Sigma seine Arbeit verliert, Einkommenseinbußen erleidet oder unter schlechteren Bedingungen weiter arbeiten muss. Wenn dies nur durch Verstaatlichung möglich ist, muss diese Forderung auf den Tisch und unter Kontrolle der Beschäftigten vollzogen werden. Sie müssen es sein, die darüber entscheiden, wie es für sie weitergeht, und nicht diejenigen, deren einziges Interesse darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen. Deren Vermögen sollte stattdessen für die Sanierung konfisziert werden.

Die Tarifrunden im Groß- und Einzelhandel sowie im öffentlichen Dienst müssen mit Protestaktionen bis hin zu Besetzungen und Streiks der Beschäftigten bei Signa verbunden werden. Auf Belegschaftsversammlungen bei Karstadt-Kaufhof und in allen anderen Betrieben der Holding müssen die nächsten Kampfschritte beschlossen werden, um so die Gewerkschaften zum Handeln zu zwingen.




Gebäudeenergiegesetz: Zieht euch warm an!

Jürgen Roth, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Das vom Bundestag noch zu verabschiedende Gesetz bewegt die Republik wie selten ein zweites. In diesem Artikel wollen wir den Charakter dieser Debatten ebenso beleuchten wie die Konturen des Gesetzentwurfs. Schließlich skizzieren wir eine grundlegende Alternative, die sich sowohl über die Grenzen der bisherigen Diskussion als auch über den Dschungel aus Förderungen und Subventionen, Marktwirtschaft und Ordnungspolitik zu erheben versucht, der in breiten Kreisen der Bevölkerung durch seine Intransparenz Unverständnis, Ratlosigkeit, Angst und Wut auslöst.

Primärenergieverbrauch nach Sektoren

Zwischen 2010 und 2020 sanken in der BRD die Treibhausgasemissionen in Mio. t CO2-Äquivalenten von 932 auf 731, um zwischen 2020 und 2022 wieder auf 746 anzusteigen. Lt. Klimaschutzgesetz sollen sie bis 2030 auf 440 fallen.

Gliedern wir den Verbrauch und den Anteil erneuerbarer Energien im Jahr 2022 nach Sektoren auf, so ergeben sich für den Bruttostromverbrauch 550 Mrd. kWh, davon stammen 46,2 % aus erneuerbaren Energien. Der Endenergieverbrauch im Verkehrssektor beläuft sich auf 597 Mrd. kWh, der Anteil der Erneuerbaren beträgt 6,8 %, der für Wärme (und Kälte!) 1.155 Mrd. kWh, bei einem Anteil von 17,4 % aus Erneuerbaren. Somit verbraucht dieser Sektor mehr Primärenergie als die beiden anderen zusammen und ist der mit dem zweitniedrigsten Anteil an erneuerbaren Energien.

Es hört sich also gut an, dass die Bundesregierung den Anteil erneuerbarer Energien bei Gebäuden erhöhen will. Allerdings spart die Gesetzesvorlage klassenpolitisch selbstverständlich im letzten Sektor Industrie, Handel und Dienstleistungen aus und beschränkt sich auf Immobilien- und Wohnungseigentum.

Von den 41 Mio. deutschen Haushalten werden 80 % derzeit mit fossilen Energieträgern beheizt: fast die Hälfte mit Erdgas, 25 % mit Öl und 14 % mit Fernwärme. Richtig angepackte Umgestaltung vorausgesetzt, könnte das Stiefkind Wohnungssektor also durchaus einen merklichen Beitrag zur Klimaneutralität leisten. Doch dazu müsste das Gebäudeenergiegesetz vernünftig konzipiert sein.

Konturen

Ursprünglich sollte der Gebäudesektor erst 2025 gesetzlich erfasst werden. Dies wurde nun auf 2024 vorgezogen. Die „Wärmewende“ beinhaltet, dass ab diesem Jahr Heizungen, die bis 1991 installiert wurden, gegen neue ausgetauscht werden müssen, die zu mind. 65 % mit erneuerbarer Energie betrieben werden, also z. B. mit Wärmepumpen, die Zugang zur Erdwärme verschaffen (geothermisches Prinzip). Bis 2045 sollen dann alle Heizungen diese Auflagen erfüllen und ansonsten ausgetauscht werden.

Eigentlich müssten ab nächstem Jahr 4 Mio. neue Heizungen eingebaut werden, aufgrund zahlreicher Ausnahmen sind es aber „nur“ hunderttausende. Auch hybride Systeme dürfen benutzt werden wie neue Erdgasheizungen, die vielleicht irgendwann später auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Ökologisch gesehen ist der Einsatz von Wasserstoff, selbst wenn er „grün“ erzeugt werden sollte, für Verbrennungszwecke jedoch ziemlicher Unsinn. Aber das stört ja nicht, wenn ein Teil der deutschen Energieindustrie und des Finanzkapitals Rieseninvestitionen in die „Wasserstoffstrategie“ plant und tätigt.

Heilige Kuh Privateigentum

Ende 2020 existierten in der Bundesrepublik 19 Mio. Wohngebäude, davon 2/3 Einfamilienhäuser. Nur 3 Mio. beherbergten 3 und mehr Wohnungen. In Einfamilienhäusern lebten durchschnittlich 3 Personen. Diese sind auch am weitesten von ökologischer Nachhaltigkeit entfernt. Studien zeigen, dass diese erst ab einer Wohnfläche von unter 45 m² pro Kopf erreicht werden kann. Die Zersiedelung vergrößert zudem den Gegensatz zwischen Stadt und Land, verlängert Wege und damit erhöht sie den Energieverbrauch unnötig. Gebäudesanierungen an Einfamilienhäusern drosselten zudem nicht den Energieverbrauch, sondern führten zu erhöhter Innentemperatur (durchschnittlich um 2° C). Das Eigenheim ist also die ökologisch schädlichste Form des Wohnens.

Eine zukünftige sozialistische Gesellschaft wäre aus all diesen Gründen gut beraten, seine Förderung gänzlich einzustellen, auf derartige Neubauten zu verzichten und zu einer Besiedlung nach dem Clusterprinzip überzugehen. Cluster meint hier die gleichmäßige Verteilung von Industrie, Dienstleistung, Handwerk, Gewerbe, Landwirtschaft und Forsten sowie Freizeiterholung und Wohnen etc. Dieses Prinzip verbindet genügend Fläche für rationale Betriebsweisen mit diversen, praktisch überall leicht verfügbaren Angeboten im nahen und mittleren Bereich.

Die ökologisch schädlichste Form des Wohnungsprivateigentums beizubehalten und an ihrem Energieverbrauch herumzudoktern, ist schon Klimafrevel genug, doch wenn schon heiliges Privateigentum, dann richtig. So denken jedenfalls Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck und sein Stab. Darum setzt das Gebäudeenergiegesetz ja auch auf die kleinteilige Einzellösung Heizungstausch und die ebenso individuelle „Verantwortung“ der Immobilienbesitzer:innen. Es grünt so grün, wenn Habecks Flausen blühen! Darum ist in seiner ganzen Anlage das Gesetz weder ökologisch noch sozial.

Koalitionsklima

Auch hier waren Hitzerekorde zu verzeichnen. Kurz nach Kabinettsbeschluss kritisierte die FDP, deren Verkehrsminister Wissing dafür sorgt, dass in seinem Sektor der Anteil erneuerbarer Energien am heftigsten gedeckelt ausfällt, an der Vorlage deren „planwirtschaftliche“ Regulierungswut zu Lasten der Privaten, mangelnde Technologieoffenheit und Überforderung der Haus- und Wohnungseigentümer:innen. Zudem seien Starttermine unklar.

Ende Mai beförderte die Entlassung von Wirtschaftsstaatssekretär Graichen – ein „Amigo“ Habecks – weitere Dissonanzen. In diesen kakophonen Chor fielen dann auch die Abgeordneten Göring-Eckardt (Grüne), Kruse (FDP), der Verband kommunaler Unternehmen und die Gewerkschaft IGBCE ein. Bundesbauministerin Geywitz machte am 2. Teil des Gebäudeenergiegesetzes ein neues Fass auf und kritisierte die zu hohen Auflagen bzgl. Wärmedämmung bei Neubauten (EH40). Nicht etwa, dass sie zu Recht bemängelt hätte, dass diese Regelung die besonders sanierungsbedürftigen Bestandsbauten gänzlich außer Acht ließ, nein, sie meinte, weniger Dämmung bei Neubauten täte es auch (EH 55).

Somit stand es lange Zeit auf der Kippe, ob das Gesetz überhaupt vor der Sommerpause durchs Parlament beschlossen werden konnte. Am 13.6. einigte man sich auf Leitplanken im Kabinett, so dass ab 15.6. die 1. Lesung im Bundestag beginnen konnte.

Geywitz und Habeck hatten dann zur Abwechslung mal eine gute Idee. Sie wollen das Gebäudeenergiegesetz mit kommunaler Wärmeplanung koppeln. Aber auch diese Absicht wird von der Realität konterkariert.

Die kommunale Wärmeplanung steht nämlich lt. Umfrage des Deutschen Städtetags vielerorts noch am Anfang. Lediglich 4 % von 119 befragten Kommunen befinden sich bereits in der Umsetzung. Sie soll ab 2026 für Großstädte und ab 2028 für die restlichen Gemeinden vorliegen. Allein die Planungs- und Beratungskosten pro Gemeinde werden auf bis zu 200.000 Euro geschätzt, notwendiges zusätzliches Personal nicht mit eingerechnet. Schuldenbremser Lindner wird’s nicht freuen, aber der ist ja vielleicht dann nicht mehr zuständig. Angesichts der Klimakrise erinnert das Agieren des Kabinetts Scholz an einen Komödienstadl. Andere Länder wie Dänemark sind da Jahrzehnte weiter.

Konservative Kritik

Diese Art Kritik am Gesetz spielt insofern einen Doppelpass mit der AfD, als die Überforderung mancher Kleineigentümer:innen etwas Richtiges anspricht, weil viele durchaus der Schuh drückt. Dabei geht es nicht nur um Finanzen, sondern um undurchsichtige und bürokratische Förderungsregelungen sowie Ratlosigkeit, welche Alternativen zur alten Heizung die besseren sind. Auf Wasserstoff aus Marokko oder vom Arabischen Golf warten oder doch die teurere Wärmepumpe bestellen, die möglicherweise – es hängt ja von der verfügbaren Erdwärme ab – nichts bringt? Und wann kann das Installations- und Heizungsgewerbe überhaupt liefern?

Die zweite Hauptkomponente dieses Rechtsdiskurses – mangelnde Technologieoffenheit – haben wir oben bereits widerlegt (Wasserstoffhype). Sie stimmt schlicht und einfach nicht. Außerdem verschweigt die Klimarechte, dass die Ampelkoalition ihre „Bedenken“ im Gesetz für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung aufnimmt, dem zufolge die geplante „Wärmewende“ mit anderen Sektoren „verrechnet“ werden kann. So steht die Förderung von 147 Autobahnprojekten ganz oben auf dem Zettel.

Linke Bedenken

DIE LINKE hebt sich diesmal wohltuend von diesem Diskurs ab. Sie weist darauf hin, dass zentrale Ungerechtigkeiten im Gesetz erst gar nicht vorkommen. Schließlich lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung zur Miete. Die Kosten für eine neue Heizung können Vermieter:innen jährlich in Höhe von 8 % auf die Miete im Rechnungsposten Modernisierungsumlage draufsatteln – abzüglich der staatlichen Förderung. Doch diese ist nicht degressiv, also sozial gestaffelt. Zudem ist es für die Eigner:innen günstiger, keine zu beantragen und sich den unsäglichen Papierkram, der überdies ein ganzes Heer staatlich Bediensteter beschäftigen wird, zu ersparen. Während nämlich die staatlichen Zuschüsse zeitlich begrenzt laufen, werden die bis zu 8 % Mietzuschlag auf Immobilienlebenszeit eingesackt und erhöhen so die Wohnungsrente.

DIE LINKE fordert also zu Recht die Abschaffung der Modernisierungsumlage, eine sozial gerechte Finanzierung und planvolles Vorgehen in Gestalt einer ökologisch sinnvollen „Wärmewende“ unter Berücksichtigung von Fernwärme. Doch eine grundsätzliche Kritik an der Energiepolitik der Bundesregierung mit ihrem ebenso skurrilen wie ineffektiven Mischmasch aus Regulierungen, neoliberaler Umverteilung von unten nach oben und populistischem Festhalten an fossilen Energieträgern unterm Deckmantel Technologieoffenheit formuliert sie nicht. Grundsätzlich hegt sie keine Einwände am Regelwerk aus Förderhöhen, Einkommensgrenzen und Mieter:innenschutzklauseln, akzeptiert Subventionen und Marktmechanismen.

Für eine sozialistische Wärmewende!

Statt über Marktanreize einen Übergang ungeplant und unkoordiniert vor sich hinlaufen zu lassen und die Verantwortung fast vollständig auf die Immobilienbesitzer:innen zu übertragen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Plan für eine echte Wärmeverbrauchsreduktion als Teil einer integrierten Energiewende aller Sektoren. Statt Ausschüttung von Direktinvestitionen mit ihren Ungerechtigkeiten und ihrem bürokratischen Aufwand braucht es eine Finanzierung durch progressive Besteuerung aller Einkünfte.

In einem dichtbesiedelten Land wie Deutschland drängt sich an erster Stelle der verpflichtende Ausbau von kommunalen Fernwärmenetzen auf. Wo dies sich gesamtgesellschaftlich nicht rechnet, bieten sich individuelle Lösungen an wie Wärmepumpen, aber auch Solarthermie (Erzeugung von Wärme im Unterschied zur Photovoltaik, die Strom aus Sonnenenergie erzeugt). Ausbau von Fernwärme im Verbund mit kommunalen Wasserspeichern (Brauch- und Trinkwasser getrennt!) genießt darüber hinaus den Vorteil, dass die Abwärme aller Sektoren genutzt werden (Anschlusszwang, Wärmetauschanlagen) sowie Wasserheizung mit überschüssigem erneuerbaren Strom erfolgen kann – jedenfalls vorrangig vor seinen anderen möglichen Speicherarten (chemisch, Druckluft).

Natürlich muss dieser Plan Hand in Hand gehen mit Ausbau der Stromnetze und -speicher, Kollektivierung des Verkehrs (ÖPNV, kommunale Taxis) und seiner Umstellung auf erneuerbare Energien (Stromleitung, Biomethan). Schließlich gelingt die Wärme- ebenso wenig wie die Energiewende nur, wenn die Netzbetreiber:innen und Stromproduzent:innen sowie fossilen Großkonzerne entschädigungslos enteignet werden ebenso wie jene Immobilienbesitzer:innen, die sich Anschlusszwang und Erneuerung widersetzen. Das gilt auch für Firmen der Bau- und Ausrüstungsindustrie, die die Umsetzung dieses Plans, nicht technisch bedingt, unnötig verzögern.




Konversion der Autoindustrie – eine Frage des Plans

Leo Drais, Neue Internationale 273, Mai 2023

Von der Fläche her ist es die größte Fabrik der Welt – das VW-Werk bei Wolfsburg. Ursprünglich gebaut von den Nazis, finanziert mit Geld, das die NSDAP von den verbotenen Gewerkschaften raubte. Nach dem Krieg wurde aus dem Kraft-durch-Freude-Wagen der Volkswagen. Außer dem geänderten Namen sah der VW Käfer genauso aus wie in Hitlers Massenmotorisierungsträumen. Wirklichkeit wurde das, was mal als Größenwahn galt – jedem Mann ein Auto, das Land zerschnitten von Asphalt – spätestens ab den 1960er Jahren, Nachkriegswestdeutschland beerbte Nazideutschland.

Geerbt wurde ein zerbombtes Land. Die Städte in Schutt und Asche boten Gelegenheit, gründlich aufzuräumen. Straßen breit machen, weg mit den lästigen Schienen und ab damit unter die Erde. Die Straßenbahn wurde zur U-Bahn, der Platz für die autofreundliche Stadt war frei. Die Kinder zäunte man ein, wo sie den zum Dosenfleisch gewordenen deutschen Mann der 1960er Jahre bei seinen PS-Spielen nicht störten. Der Spielplatz war geboren und wo sonst noch etwas Grün frei war, da passte doch viel besser ein Parkhaus hin.

Der Käfer wurde zum Symbol des Wiederaufbaus und machte das Vergessen leichter. Wer denkt schon an Auschwitz, wenn man so wunderbar gedankenverloren durch die grünen Wälder braust?

Auch das war Hitlers Erbe, der die Idee von Ford geklaut hatte: Man kette den Menschen ans Fließband, wo er sich für den Konzern oder den Staat abrackert, aber nach Feierabend darf er in seinem in Raten abzuzahlenden Automobil allen Frust auslassen, alles vergessen, Spaß haben, Freude am Fahren, ein bisschen den Wind schnuppern, der ihn glauben lässt, er sei frei.

Ideologisiertes, mystifiziertes – Blech

Dabei ist diese Freiheit doch eigentlich nur auf den rechten Fuß beschränkt, der auf das Gaspedal steigt und dessen Besitzer:in bei 180 auf der Autobahn orgiastisch denkt: „Danke FDP!“ („Danke Union, Danke AfD.“) Außerhalb dessen ist sie für die meisten Fiktion, weder wo die Arbeiter:innenklasse lebt (zur Miete oder im „Eigenheim“ der Bank), noch wo sie arbeitet (am Fließband oder Bildschirm), ist sie frei. Es ist eine gefakte bürgerliche Freiheit, die sonst eigentlich nur für die Bosse und Reichen existiert.

Heute gibt es in der BRD fast 50 Millionen PKW, aber keineswegs 50 Millionen Autobesitzer:innen. Zweit- und Drittwagen verzerren die Statistik. In keinem anderen europäischen Land sind Wohlstand und Individualität, und seien sie auch nur scheinbar, ideologisch so sehr mit dem Auto verbunden. Das „Wirtschaftswunder“, das nichts anderes war als die Erneuerung des deutschen Kapitalismus dank der Zerstörungen des Krieges, bedeutete eine Neuausrichtung des deutschen Kapitals. An der militärischen Eroberung der Welt war man gescheitert, starke Bankkonzerne hatte man im Vergleich zu den USA oder Großbritannien nicht, aber wo man mitspielen konnte, war in der Industrie. Die Fabriken waren zerstört. Während die USA, Frankreich und Großbritannien mit veralteten Maschinen im Rückstand waren, hatten deutsche Konzerne bitter ironisch den Vorteil des Neustarts. Das Know-how erbte man aus den Kriegsfabriken und von der Konkurrenz.

Politisch hatte man als Verlierer des Krieges und als gespaltenes Land nichts zu melden, aber für den Neustart des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt war das Auto wie gemacht. Es war ein Massenkonsumgut, Produktion und Produkt ständig und hochgradig technisch revolutionierbar, Letzteres damit prädestiniert für hohe immer neue Profite.

Von Anfang an ist dieses neue Flaggschiff der deutschen Industrie aufs Engste mit dem Staatsapparat verschränkt. Immerhin ist im imperialistischen Stadium des Kapitalismus die Konkurrenz der Konzerne auch die der Staaten. Immerhin muss das Produkt unter das Volk gebracht werden, muss Deutschland der Welt zeigen, wie Wiederaufbau geht. Am offensichtlichsten ist diese Verbindung natürlich an der Entwicklung des Fernstraßennetzes und dem Freiräumen der Städte für das Auto ablesbar (und an der Verstümmelung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs auf der Schiene). Darüber hinaus profitiert die Autoindustrie aber bis heute und bis zum Abwinken von massiven staatlichen Subventionen, die sich nur in Namen und Programm unterscheiden. Mal heißen sie Abwrackprämie, mal Umweltbonus (für E-Autos, die dann mit Kohlestrom fahren).Entsprechend war und ist jeder Verkehrsminister (bisher alles bekennende Cismänner) diesen Konzernen nicht nur verpflichtet, sondern stets selbst ein leidenschaftlicher Autofahrer gewesen. Volker Wissing peitscht 144 Autobahnprojekte durch, die Grünen kriegen als Trostpflaster Solaranlagen neben die Fahrbahn gestellt.

Vernunft am Steuer?

Und da sind wir, in der Gegenwart einer verkehrspolitischen Dystopie, in der die Stadt stinkt und lärmt und vollgestopft ist mit Blech, in der das Land vernarbt ist von Asphalt und der Bahnhof von Mittelnirgendwo stumm vor sich hin verfällt. Völlig unzureichende Klimaziele werden weit verfehlt. Die Mobilitätswende ist in allen Mündern, passiert aber nicht in der Realität.

Denn für die Autoindustrie und ihren Verkehrsminister bedeutet sie: Erneuerung der Fahrzeugflotte durch übergewichtige E-Autos, E-Fuels in den SUV. VW (Volker Wissing) fährt nach Brüssel und dem EU-Verbrenner-Aus in die Karre. VW plant ein E-Autowerk auf dem Acker gleich hinter der heutigen (Alb-)Traumfabrik. Sie sind die, über die Macht verfügen. Wenn wir als Klimabewegung, linke Gewerkschafter:innen oder Antikapitalist:innen ernsthaft über eine Verkehrswende sprechen, müssen wir uns überlegen, wie wir diese brechen können.

Das wird entscheidend sein. Die fossilen Kapitale und ihre politischen Vertreter:innen beweisen jeden Tag, dass sie kein Interesse an einer echten Verkehrswende hegen. Sie können es auch gar nicht und heucheln es nicht einmal vor. Eine echte Verkehrswende hätte so wenig wie möglich, so viel wie nötig die Schiene als Rahmen. Im Kapitalismus ist das unmöglich. Selbst eine relevante Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fände doch immer noch unter der Voraussetzung permanenter Ausweitung der Produktion, des Wachstums statt. Schon jetzt sind die Hauptgüterkorridore des Schienenverkehrs in Deutschland überlastet. In einem Gesellschaftssystem, dass sich stärker als jemals zuvor in der Konkurrenz verwirklicht, kann Vernunft keine Rolle spielen. Was gesamtgesellschaftlich völlig irrational ist – z. B. die Verkehrspolitik der letzten 100 Jahre – macht nur Sinn für die Bosse, Aktionär:innen und Politiker:innen VWs, Daimlers und BMWs. Eine echte Verkehrswende umzusetzen, wäre ihr Klassenverrat. Es würde bedeuten, die größte Profitquelle und damit Machtbasis Deutschlands zu ersticken, ihren eigenen Reichtum zu gefährden.

Enteignung und …

Ihre Macht zu zerbrechen, heißt, ihnen ihren Besitz wegzunehmen, über den die größten Aktionär:innen nach Belieben kommandieren, die Welt mit Autos bewerfen können. Es heißt, Quandt, Porsche, die Qatar Holding und so weiter entschädigungslos zu enteignen und die riesigen industriellen Kapazitäten der Autofabriken für sinnvolle Zwecke zu verstaatlichen. Das ist natürlich leicht gesagt und weit weg und mit heutigen legalen Mitteln gar nicht zu verwirklichen. Der Staat schützt Eigentum. Die Freiheit für Privatbebesitzen ist doch die eigentliche bürgerliche Freiheit.

Durch einen äußeren Druck der Klimabewegung alleine wird so eine Verstaatlichung kaum passieren, wie das Beispiel Ende Gelände zeigt, das die Enteignung RWEs fordert. Wir sehen die Möglichkeit realistischer in den Fabriken selbst. Wenn die Beschäftigten von VW sagten, wir bauen diese Masse an Autos nicht mehr, sie dafür streikten, dann würde sie auch nicht mehr gebaut werden.

Anlässe für die Arbeiter:innen in den Autowerken, ihre Arbeiten selbst in die Hand zu nehmen, gibt es genug. In jedem Warnstreik steckt das schon als winziger Keim. Zudem sind die Jobs in der Autoindustrie keineswegs auf ewig sicher. Durch Produktivitätssteigerung, Standortverlagerungen und E-Auto werden sie sowieso immer neu in Frage gestellt. Zudem wird für einen übersättigten Markt produziert. Die Geschichte von Opel Bochum beweist, wie schnell die Tore für immer zugesperrt werden können, ebenso die vielen Werksschließungen von Zulieferbetrieben in den letzten Jahrzehnten, etwa GKN Zwickau oder Mahle Alzenau.

Im Kampf gegen diese Schließungen, aber auch schon in jeder Nulltarifrunde offenbart sich dann auch immer die zweifelhafte Rolle der IG Metall, genauer ihrer Führung. Seit Jahrzehnten ist sie eine aus selbstgefälligen, privilegierten Eigeninteressen getriebene treue Partnerin der Autobosse. Werksschließungen werden mit abgewickelt, Leiharbeiter:innen zugunsten der Kernbelegschaften ausverkauft, Tarifrunden lieber abgebrochen bevor sie mit unbefristeten, flächendeckenden Erzwingungsstreiks eskalieren. Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Mit dem etablierten Teil der Umweltbewegung inszeniert sie unverbindliche Klimapolitik in der Ampeltraumfabrik. Vor den radikaleren Teilen der Bewegung warnt sie, statt ihre Forderungen positiv aufzugreifen.

Sie ist eines der größten Hindernisse für eine schnellstmögliche soziale, ökologische Konversion der Autoindustrie. Wenn die Klimabewegung die Autoarbeiter:innen gewinnen will, muss sie die Rolle der IG-Metall-Bürokratie verstehen und sich daran beteiligen, eine Opposition gegen sie aufzubauen – für eine demokratische Reorganisation der Gewerkschaften, für Arbeitskämpfe die von den Belegschaften selbst kontrolliert werden, für politische Streiks und für Betriebsbesetzungen – für Konversion statt Werkschließungen, für die Verteilung der Arbeit auf alle ohne Lohnverlust.

 … demokratische Planwirtschaft!

Es ist alles eine Frage der Kontrolle. Wer hat das Sagen in der IG Metall? Eine abgehobene Führung, die mit im Aufsichtsrat sitzt, oder aus der Belegschaft heraus gewählte Kolleg:innen, die sich vor dieser rechtfertigen müssen? Der Kampf um Opel Bochum zeigte Funken von dieser Selbstermächtigung. Ihm fehlten jedoch die betrieblichen Organe wie Streikkomitees, um daraus ein Feuer zu entfachen, ganz zu schweigen davon, dass die Solidarität aus anderen Fabriken fehlte, die fest in den Händen der IG-Metall-Bürokrat:innen lagen.

Aber auch: Wer hat die Kontrolle über das, was produziert wird? Auch wenn VW und Co. enteignet und verstaatlicht sind, stellt sich diese Frage. Die Deutsche Bahn beispielsweise gehört komplett dem Staat und ist trotzdem unzuverlässig, außer wenn es um Gehaltserhöhungen für den Vorstand geht. VW gehört zu zwanzig Prozent dem Land Niedersachsen.

In der Idee der demokratischen gewerkschaftlichen Selbstkontrolle liegt auch die der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion, die Planwirtschaft der Konzerne selbst in die Hand zu nehmen. Denn nicht anders produzieren sie intern. Unternehmen in der Größe von VW und Co. können gar nicht anders, als sich eine langfristige Strategie zurechtzulegen.

Das Problem dabei ist nicht der Plan, sondern, dass er unter dem Gesichtspunkt maximaler Profite geschrieben wird, ebenso wie das Problem mit der DDR-Planwirtschaft darin bestand, dass sie diktatorisch den Interessen der Honeckerclique unterworfen war.

Eine demokratische Planwirtschaft bedeutet demgegenüber die Möglichkeit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, also möglichst so zu produzieren, dass Produkte lange halten und am Ende ihrer Lebenszeit komplett wiederverwertet werden können (während heute einem Unternehmen die Ware egal ist, sobald sie verkauft ist … bis auf, dass ein Auto nicht ewig halten soll, irgendwann soll ja wieder ein neues verkauft werden). Sie bedeutet, dass die, die heute in der Autoindustrie arbeiten, gemeinsam mit der gesamten Arbeiter:innenklasse die Entscheidungbefugnis darüber bekommen, was und wie viel produziert wird: Straßenbahnen und Busse statt Autos, ohne den Arbeitsdruck einer 40-Stundenwoche oder eines drakonischen 5-Jahres-Plans von oben.

Im Gegensatz zum Zerrbild des real existierenden Sozialismus, der sich doch immer nur im Wettbewerb zum kapitalistischen Westen begriff, würde ein wirklich demokratischer – eine lebendige Rätedemokratie – in ihrem Plan die Idee verfolgen: so wenig wie möglich, so viel wie nötig, damit die Bedürfnisse befriedigt werden, was auch für Mobilität und Verkehr gilt. Die Zeitersparnis durch neue Maschinen würde weniger Arbeitszeit für alle bedeuten. An die Stelle der individualistischen Freiheit des Gaspedals könnte eine kollektive Freiheit treten: Selbst entscheiden, was produziert wird, wie man so leben will, dass es für alle Sinn macht, auch für die Generationen, die es noch gar nicht gibt, deren Chance auf ein gutes Leben die Autoindustrie von heute sabotiert.

Alles utopisch?

Es mangelt in der Klimabewegung nicht an Fantasie, wie die Welt anders, solidarischer aussehen könnte. Viele haben in den letzten Jahren die Erfahrungen von gemeinsamen Aktionen und riesigen Demos gemacht, in Waldbesetzungen erlebt, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlen könnte. Allein die Macht von Staat und Kapital war so nicht zu brechen. Unter den Arbeiter:innen der Autoindustrie wiederum ist ein Potential – ein Know-how – darüber vorhanden, wofür diese Fabriken besser genutzt werden könnten, wie die Produktion umgebaut werden kann.

Zudem haben sie – wenigstens von ihrer Position her – tatsächlich die Möglichkeit, die Herrschaft der Autobosse, Wissings und Autodeutschlands in Frage zu stellen, zu brechen. Wenn Umweltaktivist:innen diese Potentiale erkennen und zusammen mit den fortschrittlichsten Kolleg:innen in der Verkehrsindustrie ein Programm entwickeln würden, das einen Weg zu einer ökologischen, sozialen – also  antikapitalistischen – Konversion zeichnet, dann könnte aus dieser Allianz heraus vielleicht wirklich gegen die Wissings, Zetsches und Blumes gewonnen, aus Träumen eine konkrete Utopie werden ohne Zukunftsangst, Asphaltwüsten und in Blech verpackte Menschen, und an ihrer Stelle eine Freiheit treten, die nicht Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen und unseren Lebensgrundlagen bedeutet.




„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löh-ne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen et-was von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Alten-pflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zu-sammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pfle-gefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nie-der?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ einge-setzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entwe-der hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaf-fen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Frei-zeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme spezi-ell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutsch-land. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und da-nach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Men-schen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Bei-spiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Solidarität mit Brokkoli: Springer enteignen!

REVOLUTION, unsprünglich veröffentlicht auf http://onesolutionrevolution.de/, Infomail 1209, 6. Januar 2023

Das frisch angebrochene Jahr 2023 versucht es direkt in seiner ersten Woche gleich mal damit, in die Charts der absurdesten Twitter-Tage zu kommen: Der rechtskonservative Chefredakteur der Springer-Tochter WeltN24 Ulf Poschardt ist wohl am 05.01. auf seinem Streifzug durch Twitter nach „rotgrüner umerziehungsfolklore“1 auf das Video-Statement unseres Genossen Brokkoli gestoßen. Mit einem lächerlich-populistischen Tweet versucht er nun seine Armee aus rechten Trollen, Incels und Polizei-Fanboys auf uns zu hetzen2.

Das Videostatement, auf das sich Ulf bezieht, haben wir gemeinsam mit Genoss_innen des „Revolutionären Bruchs“ veröffentlicht. Darin rufen wir dazu auf, auf der gleichnamigen Konferenz um die Frage des Antirassismus zu diskutieren, da die Berliner Linkspartei sich im Wortlaut zwar oft antirassistisch gibt, praktisch als Teil der Berliner Landesregierung aber Abschiebungen bewilligt und migrantischen Communites das Demonstrationsrecht verweigert. Über 600 Menschen waren in Berlin im letzten Jahr von Abschiebungen betroffen. Sogar das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Verbot von nächtlichen Abschiebungen wurde immer wieder missachtet. Durchgeführt werden diese Abschiebungen von einem Polizeiapparat, dessen struktureller Rassismus schon lange kein Geheimnis mehr ist und der seinen blutigen Höhepunkt in der Ermordung von Oury Jalloh und Mouhamed Dramé gefunden hat. Diese Polizei will der Senat nun mit Elektro Tasern und einer neuen Racial-Profiling-Wache am Kotti ausstatten. Für den rechtskonservativen Ulf ist das natürlich kein Problem. Er sieht das Problem eher darin, dass Brokkoli einen ACAB-Hoodie trägt und den Palästinenser_innen ein Selbstbestimmungsrecht zugesteht.

Im Mai letzten Jahres wurde in Berlin anlässlich des Nakba-Tages (ein Gedenktag zur Vertreibung von über 700 000 Palästinenser_innen) ein gerichtliches Demonstrationsverbot erlassen. Die geplanten Demonstrationen wurden pauschal als antisemitisch verunglimpft und das, obwohl die Veranstalter_innen sich mehrmals klar gegen Antisemitismus auf ihren Aktionen positioniert haben. In der Debatte um das Demonstrationsverbot wurde dabei immer wieder auf rassistische Stereotype von „emotionalisierten Arabern“ (ähnlich wie wir sie aktuell in der Debatte um das Böller-Verbot hören müssen) Bezug genommen. Damals wie heute verurteilen wir diese rassistische Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Ulf verdreht diese Kritik in seinem Tweet zu einem angeblichen „linken Antisemitismus“. Hätte er seinen Job als Journalist vernünftig gemacht und mal kurz auf unserer Homepage recherchiert, wäre er jedoch schnell auf unsere ausführliche Resolution zum Thema Antisemitismus3 gestoßen und hätte ebenfalls in unserem Programm nachlesen können, dass wir für einen binationalen, säkularen und sozialistischen Staat im Nahen Osten eintreten, indem alle Menschen unabhängig von ihrer Religion in Frieden und Gleichberechtigung miteinander leben können4.

Gründliche Recherche und Quellenbelege scheinen jedoch nicht das Steckenpferd von Ulf Poschardt zu sein. So wurde er bereits im Jahre 2000 als Chefredakteur beim Magazin der Süddeutschen Zeitung gekündigt, weil er dort gefälschte Interviews und Storys ungeprüft veröffentlicht hatte5. Ulf scheint es vielmehr als den Kern seiner journalistischen Tätigkeit zu verstehen, auf Twitter Aufmerksamkeit durch seine chauvinistischen Kommentare zu generieren. Seine Feinde sind dabei wahlweise Klimaaktivist_innen, Corona-Schutzmaßnahmen, Geflüchtete oder die öffentlich-rechtlichen Medien. Aufrechte Aktivist_innen setzt er dabei mit der islamistischen Terrormiliz Boko Haram gleich, indem er sie mit „Wokoharam“ betitelt6. Er selbst versteht seinen „Journalismus“ auf Twitter dabei als „Kulturkampf“7 gegen „politisch korrekte Aktivisten“. Es geht ihm also darum, Linke mit welchen an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen auch immer im Sinne seines Kulturkampfes zu verunglimpfen. Wie so häufig muss der Vorwurf des Antisemitismus auch bei Ulf als Projektionsfläche herhalten. So inszeniert er sich als kritikloser Verteidiger einer Polizei, die sich mit faschistischen Chatgruppen einen Namen gemacht hat: Kein Wort über deren antisemitische Inhalte aber stattdessen große Empörung über einen Hoodie. Wir fragen uns dabei, wie es eigentlich um Ulfs Treue gegenüber dem Rechtsstaat bestellt ist, wenn er Einschränkungen des Versammlungsrechts, Angriffe auf die Meinungsfreiheit und Verwässerungen des Rechts auf Asyl kritiklos verteidigt.

Das Ekligste an der von Ulf angestoßenen Debatte ist jedoch, mit welcher Verachtung und welchem Hass einem politisch aktivem Jugendlichen, der klar politisch Stellung bezieht, begegnet wird. Dass Jugendunterdrückung ein tief verankertes Phänomen in kapitalistischen Gesellschaften ist, sieht man hier darin, dass einem Jugendlichen nicht zugestanden wird, eine eigene politische Meinung zu haben. Nein, er sei „vor die Kamera gezerrt“ worden oder sei „in der Pubertät“. Umso mehr bestätigt uns das darin, dass es richtig ist, sich in einer unabhängigen Jugendorganisation, ohne Bevormundung, unter Jugendlichen selbst zu organisieren.

Die Heftigkeit mit der die Debatte aktuell auf Twitter geführt wird, unterstreicht einmal mehr, wie viel Angst Vertreter_innen der bürgerlichen Klasse wie Ulf haben, wenn wir Jugendliche uns trauen, unsere Stimme zu erheben. Es offenbart zugleich ihre Schwäche, wenn sie ein kurzes harmloses Videostatement mit allen dreckigen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen müssen. Solidarität mit Brokkoli! Dieser Angriff hätte jede_n aufrichtige_n Aktist_in von uns treffen können, denn er richtet sich nicht spezifisch gegen Brokkoli, sondern gegen eine Jugend, die nicht länger bereit ist, dem Kapital dabei zuzuschauen, wie es unseren Planeten zerstört. Bitte teilt und verbreitet dieses Statement! Insbesondere Gliederungen der Linksjugend solid, sollten sich in der Verantwortung sehen, sich in dieser Frage zwischen Ulf und dem „Revolutionären Bruch“ zu positionieren. Lasst Ulf mit seinem Versuch „Revolution“, den „Revolutionären Bruch“ und die Linkspartei zu diskreditieren nicht durchkommen! Kommt zur Konferenz am 14. Januar und lasst uns gemeinsam diskutieren, was wir dem Hass und der Verachtung der herrschenden Klasse und ihrer Medien entgegenzusetzen haben.

Abschließend möchten wir jedoch noch ein paar Worte der Dankbarkeit an Ulf richten: Zuerst einmal vielen Dank für die kostenlose Werbung. Eine größere Reichweite als du sie uns geschenkt hast, hätten wir mit unseren bescheidenen finanziellen Mitteln nicht generieren können. Ebenfalls sind wir dir dafür dankbar, dass du uns mit der Hetze deines Springer-Verlages, die bereits Rudi Dutschke ins Grab brachte, erneut an einen wichtigen Umstand erinnerst: Dieses rechte, antidemokratische und imperialistische Hetzblatt gehört enteignet und unter demokratische gesellschaftliche Kontrolle gebracht!

Endnoten

1 https://twitter.com/ulfposh/status/1611299976495366145?cxt=HHwWgoDQ2dSyvtwsAAAA

2 https://twitter.com/ulfposh/status/1610921238586880000?cxt=HHwWgMDTsZuVktssAAAA

3 https://onesolutionrevolution.de/was-ist-antisemitismus-und-wie-kann-er-bekaempft-werden/

4 https://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2017/07/Programm2018.pdf

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Ulf_Poschardt

6 https://uebermedien.de/67936/was-ulf-poschardt-zuzutrauen-ist-und-was-nicht/

7 https://twitter.com/niggi/status/1490099359307948035




Eckpunkte eines Programm gegen Preissteigerung und Energiekrise

Leo Drais/Martin Suchanek, Neue Internationale 267, September 2022

Die massiv steigenden Lebenshaltungskosten, die kommende Rezession, der Krieg und das Rollback bei der Energiepolitik stehen in einem inneren Zusammenhang. Doch an der gesellschaftlichen Oberfläche scheinen sie in Widerspruch zueinander zu stehen. So fragen sich Klimaaktivist:innen, ob die Forderungen nach Deckelung der Strom- und Gaspreise für die Lohnabhängigen nicht den Ausbau der Energieerzeugung aus fossilen Brennstoffen befördern. Andererseits denken viele Lohnabhängige an steigende Preise und unsichere Versorgung, wenn sie das Wort „Energiewende“ hören.

Dieser Gegensatz tritt nicht zufällig zu Tage. In der bürgerlichen Wirtschafts- und Umweltpolitik stellt er sich tatsächlich als solcher dar. In der kapitalistischen Marktwirtschaft geht es schließlich nicht darum, möglichst gute Produkte zu erzeugen, sondern Profit zu erwirtschaften. Und dabei sind Energie, Umwelt, Klima, aber auch die menschliche Arbeitskraft vor allem Kostenfaktoren. Die viel gepriesene Entlastung der Massen taucht daher immer als untergeordnetes Ziel auf, weil sie natürlich einen Abzug vom Gesamtprofit bedeutet – erst recht in Zeiten sinkender Profitraten, verschärfter Konkurrenz und angesichts der nächsten Rezession.

Analog wird auch der Kostenfaktor Klima- und Umweltschutz betrachtet. Der vollmundig versprochene Green Deal der EU-Kommission und der Bundesregierung versucht, wie alle bürgerlichen, also auf dem Boden des Kapitalismus verbleibenden Konzepte, die Quadratur des Kreises.

Der Gegensatz zwischen Sicherung der Lebensbedingungen der Massen und Energiewende ist jedoch durchaus aufhebbar – allerdings nur im Rahmen eines Kampfes für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. An dieser Stelle können wir kein umfassendes, detailliertes Programm zu allen Fragen von Inflation und Klima präsentieren, wohl aber einige Eckpunkte skizzieren.

1. Sicherung der Lebensbedingungen der Ausgebeuteten

Angesichts eines sozialen Tsunamis, der Millionen in Deutschland und Milliarden auf der Welt zu überrollen droht, muss der Kampf um die Sicherung der Einkommen der lohnabhängigen und bäuerlichen Massen an erster Stelle stehen. Das inkludiert sowohl Forderungen zur Sicherung der Einkommen wie die gleitende Skala der Löhne, die nach existenzsichernden Mindestlöhnen, Renten und Arbeitslosengeld, als auch die nach Deckelung von Preisen. Letztere Maßnahmen würden z. B. ein Einfrieren der Preise für Energie, für Mieten und Lebensmittel beinhalten.

Maßnahmen zur Sicherung der Kaufkraft reichen jedoch nicht, wenn die Versorgung mit essentiellen Produkten nicht sichergestellt werden kann. Sogar in Ländern wie Deutschland findet ein makaber Disput darüber statt, ob der Staat bei Knappheit zuerst die Versorgung der privaten Haushalte sichern muss oder die Unternehmen vorgehen sollen. Noch viel extremer fällt das Problem in vielen halbkolonialen Ländern aus, die über weit weniger Ressourcen verfügen, bei steigenden Weltmarktpreisen die Versorgung zu sichern.

2. Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten

Die Versorgungsproblematik verweist darauf, dass die Verteilung eines knappen Gutes eine globale Frage des Klassenkampfes aufwirft. Die Lohnabhängigen müssen im Bündnis mit anderen, von der Krise an den Rand gedrückten Schichten (Bauern, Bäuerinnen, Teile der Mittelschichten und des städtischen Kleinbürger:innentums) Kontrollorgane schaffen, die die Umsetzung von Maßnahmen (Preiskontrollen, automatische Lohnanpassung) wie auch die Versorgung der Massen sichern. Im Falle von Energieknappheit, die es in zahlreichen Ländern der sog. Dritten Welt nicht erst seit dem Ukrainekrieg gibt, müssen Kontrollorgane der Arbeiter:innenklasse und andere Unterdrückter die Prioritäten der Verteilung festlegen.

3. Die Reichen müssen zahlen! Enteignet die Profiteur:innen!

Dass wir als Konsument:innen die Preissteigerungen zahlen sollen, weiß mittlerweile fast jedes Kind. Gleichzeitig verkauft die Regierung die Verlängerung der Braunkohleverstromung, die eigentlich ohne die Sanktionspolitik gegen Russland gar nicht nötig wäre, als „demokratische“ Übergangslösung, die natürlich auch wir zahlen sollen. Und die Unternehmerverbände trommeln für den Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomkraft.

Solche Scheinlösungen des Kapitals müssen wir entschieden zurückweisen. Die Reichen, die Profiteur:innen der Krise müssen für die steigenden Lebenshaltungskosten aufkommen. Sie müssen durch eine drastische Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen zur Kasse gebeten werden. Eine Übergewinnsteuer kann dazu ein erster Schritt sein.

Um die Energiekrise, die Preisexplosion zu bekämpfen und zugleich eine wirkliche Wende in der Energiepolitik einzuleiten, müssen die großen Konzerne enteignet werden. Das darf nicht nur Pleitegeier wie Uniper betreffen, wobei auch dort eine entschädigungslose Enteignung allemal günstiger wäre, als Milliarden für den Kauf von Aktien zu verballern. Um einen geplanten, von den Arbeiter:innen als Beschäftigten und Konsument:innen kontrollierten und forcierten Aus- und Umstieg der Energieerzeugung zu schaffen, müssen sämtliche Großbetriebe der Branche entschädigungslos enteignet werden.

4. Einheitsfront aller Organisationen der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten zur Durchsetzung der Forderungen

Schon um die Forderungen zur Existenzsicherung der Bevölkerung durchzusetzen, braucht es eine gewerkschaftliche, betriebliche sowie in den Wohnvierteln verankerte politische Massenbewegung. Sie muss von der Arbeiter:innenklasse getragen und geführt werden und das gesamte Arsenal des Klassenkampfes nutzen: Massendemonstrationen, Blockaden, Besetzungen, vor allem aber die Waffe des politischen Streiks bis hin zum Generalstreik.

Nur so werden sich unsere Ziel umsetzen lassen. Angesichts der drohenden Katastrophe sind alle Organisationen der Arbeiter:innenklasse, der Linken, der gesellschaftlich Unterdrückten in der Pflicht, mit ihrer Politik des Zaudern, des Stillhaltens, der sozialpartnerschaftlichen Kuschelrunden zu brechen. Diese „Strategie“ führt in den Abgrund – und zwar für Millionen.

Um erfolgreich zu sein, wird es aber auch nicht reichen, wenn die gemeinsame Aktion auf Abkommen zwischen den Führungen beschränkt bleibt. Dann besteht immer die Gefahr, dass kleinbürgerliche oder reformistische Kräfte und vor allem die Gewerkschaftsbürokratie die Mobilisierung nicht nur kontrollieren, sondern auch nach Gutdünken jederzeit abblasen können.

Um dies zu verhindern, die Mobilisierung zu verbreitern und bisher Unorganisierte einzubeziehen,

brauchen wir Aktionskomitees in den Betrieben und Wohnvierteln, also demokratische Kampforgane der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten.

5. Enteignung, Arbeiter:innenkontrolle und demokratische Planwirtschaft

Die aufgeworfenen Fragen verweisen auch in eine bestimmte, gesellschaftliche Richtung. Die Enteignung der Energiekonzerne und deren Zusammenlegung unter Arbeiter:innenkontrolle schafft eine wichtige Voraussetzung für die Neuorganisation des gesamten Sektors. Sie verweist zugleich auf die gesamte Gesellschaft. Schließlich wird der Bedarf an Energie durch die Organisation der Produktion und Reproduktion in ihrer Gesamtheit bestimmt. Die Enteignung kann daher nicht bei einem Wirtschaftszweig haltmachen, sondern muss die Kommandohöhen von Finanz, Industrie, im Handel und Transport umfassen – und zwar nicht nur in einem Land, sondern weltweit.

Dies erfordert den revolutionären Sturz des Kapitalismus und die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse. Die Kampforgane, die gegen Inflation, Krise und für die Sicherung der Lebenshaltungskosten notwendig sind, können bei einer Zuspitzung der Auseinandersetzung – z. B. bei einem Generalstreik oder bei Massenrevolten wie in Sri Lanka – zu Organen der zukünftigen Rätemacht und einer revolutionären Arbeiter:innenregierung werden.

Eine vollständige, in sich stimmige ökologische Wende kann schließlich nur durch die sozialistische Revolution herbeigeführt werden und im Rahmen einer rätedemokratisch organisierten Planwirtschaft vorangetrieben werden. Sie könnte die Produktion und Reproduktion im Interesse der Gesellschaft und der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit im Rahmen einer ökologischen Kreislaufwirtschaft reorganisieren. Den Kampf dafür können, ja müssen wir heute schon aufnehmen. Die Krise des Kapitalismus und die offenkundige Unfähigkeit der herrschenden Klasse, auch nur eines der großen Probleme der Menschheit zu lösen, erlauben dabei, die Verteidigung unserer unmittelbaren Interessen mit dem Kampf für eine Zukunft frei von Ausbeutung und Unterdrückung zu verbinden.




Deutsche Wohnen und Co enteignen: ein Jahr nach dem erfolgreichen Volksentscheid

Wilhelm Schulz, Arbeiter:innenmacht Berlin und aktiv im DWE-Kiezteam Reinickendorf-Wedding, Neue Internationale 267, September 2022

Vor knapp einem Jahr wurde im politischen Berlin stark an den Verhältnissen gerüttelt. 59,1 % der abstimmenden Berliner:innen votierten für die Enteignung und Verstaatlichung großer Immobilienkonzerne. Doch liegt die Macht über das „Wie weiter?“ in den Händen des Berliner Senats. Die Initiative belässt es mehrheitlich dabei, dass die Unterstützer:innen des Volksentscheids eigenständig daraus schlussfolgern, dass Senat und Staat kein Interesse an der Umsetzung der Enteignung großer Akteur:innen des Immobilienkapitals hegen. Sie weigert sich, diesen Klassenstaat als Hüter des Privateigentums zu entlarven. Dies ist ein Spiel mit dem Feuer, ist doch die Gefahr der Demoralisierung und des Rückzugs ins Private groß und tritt eine Radikalisierung nicht automatisch ein, wie die Geschichte mehrfach bewiesen hat.

Der Weg zum Status quo

Die Sammelphasen des Volksentscheids zeigten dessen Massenpotenzial. Mindestens 1.500 Aktivist:innen waren regelmäßig auf den Straßen und in den Mietskasernen unterwegs, um für die Enteignung großer Immobilienkonzerne zu werben. Hunderttausende Flugblätter, Zeitungen, Unterschriften und Gespräche wurden ausgetauscht. Doch die praktische Perspektive, die wir an den Haustüren den Mieter:innen mitgaben, war auf eine Unterschrift und Stimmabgabe begrenzt. Bestenfalls konnten sie in diesem oder jenem Kiezteam aktiv werden. Zu keinem Zeitpunkt war die DWE-Mehrheitsposition darauf ausgelegt, kampffähige Massenorganisationen der Mieter:innen aufzubauen. Solche Maßnahmen böten die Chance, auch gegen den Willen des Senats die Enteignung unter Kontrolle der Mieter:innen durch militantere Aktionsformen zu erreichen wie massenhafte Besetzungen und Zurückhaltung der Miete (kollektiver Mietboykott).

Kurzum hat die Initiative diese Möglichkeit einstweilen verpasst. Doch hätte dies eine andere Haltung gegenüber ihren Bündnispartner:innen erfordert. So hätten Parteien wie DIE LINKE, Gewerkschaften, Berliner Mieterverein und Berliner Mietergemeinschaft aufgefordert werden müssen, gemeinsame Versammlungen ihrer Mitglieder im Sinne des Aufbaus einer gemeinsamen kampffähigen Struktur mit uns zu organisieren. Das wiederum hätte praktische Herausforderungen für diese und inhaltliche Konfrontationen mit ihnen bedeutet. Andererseits hätte den Mieter:innen deutlich gemacht werden müssen, dass die Enteignung harte Überzeugungsarbeit voraussetzt, um ihrerseits Massenaktionen zu initiieren, die die versprochenen Ziele zu erreichen fördern.

Mit dem erfolgreichen Votum am 26. September 2022 lag der Spielball der Enteignung im Spielfeld des neuen Senats aus SPD, Grünen und Linken, in dem nur DIE LINKE den Volksentscheid voll unterstützte. In den Sondierungs- und anschließenden Koalitionsverhandlungen verriet sie aber ihre Prinzipien aus Angst, durch die FDP als Juniorpartnerin aus der Koalition gedrängt zu werden. Der Mitgliederentscheid der LINKEN Berlin fiel eindeutig für eine Regierungsbeteiligung aus, auch wenn das Nein-Lager anwuchs (Initiative Zusammen für eine linke Opposition). Es verpasste bislang, offen sichtbar zu werden und um die Führung der Partei zu fechten.

Die Expert:innenkommission

Ergebnis war eine Kommission, die binnen der ersten hundert Tage der Koalition einberufen wurde und anschließend binnen eines Jahres dem Senat einen Vorschlag zur Abstimmung vorlegen soll. In langen anschließenden Strategiedebatten beugte sich DWE zähneknirschend, aber mit deutlicher Mehrheit der Perspektive des Senats, da ein „voreiliger“ Bruch nicht vermittelbar sei. Als Arbeiter:innenmacht argumentierten wir gegen eine Beteiligung am Gremium, das keine Enteignungs-, sondern eine Verschleppungskommission sei. DWE stellte auf unser Drängen hin Forderungen an diese auf, die jedoch durch bürokratische Manöver abgeschwächt wurden. Diese waren (1) öffentliche Sitzungen, (2) Diskussion des „Wie“ und nicht des „Ob“ der Enteignung und (3) keine Beteiligung der Immobilienlobby. Daneben stand die im Raum, dass DWE 59,1 % der Sitze in der Expert:innenkommission einnehmen solle. Faktisch wurde nichts davon umgesetzt.

Parallel dazu begann die Initiative, mit LINKEN und Grünen in Verhandlungen zu treten. Das Ziel war eine gemeinsame Liste von Expert:innen. Doch letztere spielten ein gefährliches Doppelspiel und vereinbarten hinter dem Rücken der Initiative mit der SPD eine gemeinsame Liste, die das Nein-Lager in der Expert:innenkommission vergrößerte. So bestellte die SPD beispielsweise drei CDU-nahe Professor:innen und Richter:innen ein. Auch die angeblich neutrale Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin (SPD, Bundesjustizministerin a. D.) erstritt ein Stimmrecht in der Kommission, setzte neben der Frage der Sozialisierung noch „Alternativen“ auf die Tagesordnung und ist nun die 13. Expertin in einem eigentlich 12-köpfigen Gremium, das paritätisch zusammengesetzt ist[1].

Zudem finden die Treffen in der Regel im geschlossenen Rahmen statt. Abgeordneter Buchner (SPD) fasst das inoffizielle Ziel der SPD-Abgeordnetenhausfraktion trefflich zusammen: „Der Volksentscheid interessiert in einem Jahr eh keine Sau mehr“. Trotz einer Schelte für diese Linie auf dem Berliner SPD-Landesparteitag, bei dem Geisel, Giffey und Saleh abgemahnt wurden, ist es wahrscheinlich, dass sich die Senatsfraktion gegen die eigene Partei durchsetzen wird, solange diese keinen internen Kampf organisiert.

Historische Beispiele des Scheiterns

In DWE wird nicht davon ausgegangen, dass es ein einheitliches Votum für Vergesellschaftung und Enteignung gibt, sondern der Senat weiterhin eine Entscheidung gegen die Umsetzung forcieren kann. Sein und der Kommission Ziel ist also, dem Volksentscheid den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Dabei gibt es bereits historische Vorbilder. Aufgrund der revolutionären Stimmung beschloss der Rat der Volksbeauftragten am 18. 11.1918, alle reifen Industrien sofort zu sozialisieren. Die MSPD setzte sich jedoch damit durch, zuerst eine Sozialisierungskommission mit namhaften Politiker:innen und Ökonom:innen einzusetzen.

Im ersten Anlauf wurden Eckpunkte zur Vorbereitung der Sozialisierung der reichsweiten Industrie und Gesetzentwürfe zur Verstaatlichung der Fischerei und des Versicherungswesens erarbeitet und im Februar 1919 ein Gesetz zur Sozialisierung des Kohlebergbaus beschlossen. Die sozialdemokratisch geführte Regierung und der bürgerliche Staatsapparat behinderten die Arbeit der Kommission und verweigerten die Umsetzung der Sozialisierung, weshalb diese ihre Arbeit im April 1919 aus Protest niederlegte.

Im zweiten Anlauf der Sozialisierungskommission wurde ein Bericht 1920 vorgelegt. Darin schlug  eine Fraktion eine Transparenz zur Festlegung der Preise, das Selbstkostenprinzip und eine schrittweise Verstaatlichung vor. Die zweite Fraktion forderte die sofortige Verstaatlichung und Kautsky sah „[…] die Ausgestaltung des Trägers der zukünftigen Kohleorganisation als einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vor, in der alle an der Kohlewirtschaft Beteiligten anteilmäßig vertreten sein sollten.“. Die Arbeit der Kommission wurde von der Industrie maßgeblich behindert. Die zweite Kommission wurde 1923 ohne konkrete Ergebnisse aufgelöst. Dieses Beispiel zeigt, dass das Motto „Kooperation statt Konfrontation“ gegenüber den Unternehmen mit einer Verstaatlichung nicht vereinbar ist, aber auch die Rechtsform einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) auf Grund ihres klassenübergreifenden staatsnahen Charakters zumindest große Risiken beinhaltet.

Ähnlich das Schiedsverfahren um die Frage des Ausbaus des Bahnhofs in Stuttgart. 2006 beschloss der Landtag in Baden-Württemberg einen entsprechenden Plan mit dem Projektnamen „Stuttgart 21. 2010 entstand eine Massenbewegung gegen die Bauarbeiten. Es lagen viele Indizien vor, dass den Kosten von 9 Milliarden Euro und Umweltschäden keine ausreichende Verbesserung der Infrastruktur gegenüberstand. Ende 2010 wurde ein Schiedsverfahren unter dem Vorsitz von Heiner Geißler begonnen. Hier frisierten die Unternehmen systematisch die Ergebnisse, um Kosten und Schäden niedrig zu rechnen und gleichzeitig den Nutzen des Projekts zu übertreiben. Auf Grund dessen wurde ein Kompromiss für einen Teilausbau vorgeschlagen. Die Protestbewegung selbst hielt später fest, dass es sich um einen strategischen Fehler gehandelt hatte, dieses Schlichtungsverfahren zu akzeptieren. Es schwächte einerseits die Protestbewegung und Kampfkraft erheblich und anderseits legitimierte es die Regierungspolitik. Selbst der Kompromissvorschlag wurde nicht umgesetzt und das Projekt S21 wurde wie geplant durchgeführt.

Das beweist: Bürgerliche Institutionen (selbst bzw. gerade unter SPD-Führung) sind weder willens noch imstande, eine Sozialisierung durchzuführen. Das strategische Augenmerk von DWE auf diese Institutionen statt auf den Aufbau unabhängiger Gegenmacht gerät zur Sackgasse.

DWE: aus der Geschichte gelernt?

All das ist in der Initiative nicht unbekannt, aber ihre Öffentlichkeitsarbeit schweigt dazu. Sie nimmt also die Demoralisierung der Volksentscheidsbefürworter:innen in Kauf, hofft lediglich auf einen Funken, der quasi aus dieser Niederlage im Zorn entspringen soll. Jedoch setzt die dominante Perspektive nach wie vor auf Verschiebung der staatlichen Möglichkeitsspielräume statt Organisation von unten – Gegenmacht. DWE entwickelt sich zu einer Art Enteignungslobby. Für diese Perspektive bedarf es einiger Strateg:innen und gut platzierter Interventionen. Mobilisierungen und Organisierungen sind günstigenfalls Beiwerk. Somit verpufft die Schlagkraft, die den Volksentscheid erst möglich machte. Diese langsame Agonie scheint eine strategische Neuorientierung auf Gegenmacht gegen Staat und Kapital, auf Selbstorganisierung und Kontrolle des Wohnraums durch Mieter:innenorganisationen immer schwerer zu machen.

Auch wenn wir denken, dass es unmöglich ist, Wohnen aus der kapitalistischen Verwertungslogik herauszulösen, ohne den Kampf gegen die gesellschaftliche Totalität zu führen, bietet diese Perspektive doch die einzige realistische Möglichkeit der erfolgreichen Enteignung, Wohnraumkontrolle und des Übergangs zum Sturz für den Kapitalismus.

Für uns stellt als nächster Zwischenschritt die Orientierung auf einen Gesetzesvolksentscheid als Mittel und Plattform für die Propagierung des Aufbaus von Gegenmacht- und Kontrollorganen eine bessere Antwort aufs strukturelle Problem der Initiative dar. Die Chance für sein Zustandekommen erscheint gering, jedoch sind objektive Situation der Mieter:innen und Aussichtslosigkeit anderer lindernden Maßnahmen gute Voraussetzungen für den Meinungsumschwung!


[1]
Unter diesem Link findet ihr Informationen seitens der Expert:innenkommission: https://www.berlin.de/kommission-vergesellschaftung/




Nahrungsmittelmittelknappheit, Preissteigerungen und die drohende Hungerkatastrophe im globalen Süden

Jan Hektik / Martin Suchanek, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärften die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leidet an Mangelernährung.

Seit 2020, also seit Beginn der Pandemie und der mir ihr verbundenen globalen Rezession, verschärft sich die Lage gerade der Ärmsten der Armen. Dafür gibt es eine Reihe einander verstärkender Ursachen.

1. Preissteigerungen der Agrarrohstoffe und Agrarprodukte

Schon im ersten Jahr der Pandemie lässt sich infolge von Produktionsausfällen, Lieferengpässen und erhöhten Transportkosten ein massiver Anstieg der Weltmarktpreise für zentrale Agrarrohstoffe wie Saatgut und Düngemittel feststellen. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn explodierten sie. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022.

Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

2. Sinkende Einkommen und Pauperisierung

Die Wirtschaftskrise 2020/21 ging in vielen Ländern mit massiven Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse wie auch der Bauern/Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums einher.

In den Ländern des globalen Südens existierten in der Regel überhaupt keine sozialen Sicherungsmaßen für die Lohnabhängigen (wie z. B. Kurzarbeiter:innenregelungen). Zugleich führte die Rezession aber in vielen Ländern zu einem Rückgang des Outputs und weltweit zu einem massiven der geleisteten Arbeitsstunden (rund 8 % im Jahr 2020!). In den imperialistischen Ländern verhinderten staatliche Regelungen, die die Lohnabhängigen bei Kurzarbeit in Beschäftigungsverhältnissen hielten, einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. In den meisten Halbkolonien, die sich keine Lockdowns leisten konnten oder wollten, war zwar der unmittelbare Produktionsrückgang geringer, dafür breiten sich seither Stagnation und weiterer Niedergang aus. Anders als in der Krise 2008/2009 absorbierte auch der informelle Sektor die freigesetzten Arbeitskräfte nicht.

Die Folge: massive Verarmung, ja Pauperisierung großer Bevölkerungsmassen in den Halbkolonien. Ein beträchtlicher und stetig wachsender Teil des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft muss mittlerweile sein Leben unter den Reproduktionskosten fristen. In vielen vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern haben wir es faktisch mit einer direkten, offenen Verelendung zu tun.

Hinzu kommt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise die Bevölkerung des globalen Südens besonders stark trifft.

Während in den Industrieländern die Menschen zwischen 12 und 30 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, sind es für die Massen des globalen Südens rund 50 bis 100 %. Wenn Nahrungsmittel teurer werden, bedeutet das zu hungern und, dass für  andere essentielle Güter wie Gesundheit, Wohnen, Schulbildung der Kinder nichts mehr übrig bleibt. Wo kleine Bauern/Bäuerinnen davon betroffen sind, kann dies dazu führen, dass sie sich Saatgut oder Düngemittel nicht mehr leisten und ihr Land nicht bebauen können. Elend und Ernährungskrise nehmen so weiter zu.

3. Imperialistische Ausbeutung und Schuldenkrise

Die Strukturen der Weltwirtschaft verschärfen die gesamte Krise gerade in der sog. Dritten Welt auf mehrfache Weise. So monopolisieren die großen zumeist westlichen Konzerne oder einzelne Staaten den Weltmarkt. Nestlé zum Beispiel kontrolliert einen Großteil der weltweiten Trinkwasservorräte und zwingt systematisch in Afrika Menschen dazu, sein Wasser zu kaufen, indem es sich dagegen einsetzt, dass öffentlich zugängliche Trinkwasserquellen erschlossen werden. Weiterhin wird ein Großteil vom Wasser und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Tierzucht verwendet, vor allem für die Fleischproduktion in den imperialistischen Ländern.

Krise und Knappheit bilden dann auch eine Quelle von Extraprofiten aufgrund eines etablierten Monopols oder Oligopols. Hinzu kommt, dass steigende Preise auch spekulative Möglichkeiten eröffnen.

Noch wichtiger ist freilich, dass die Pandemie und die mit ihr verbundene Weltwirtschaftskrise auch den Weltmarktzusammenhang erschüttert haben. Lieferketten wurden durchbrochen, Transportkosten stiegen, die Produktion geriet ins Stocken. Die zunehmende Konkurrenz und Blockbildung hat außerdem Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes schon vor dem Ukrainekrieg verstärkt. Nun zielen die Sanktionen des Westens darauf ab, Russland vom Weltmarkt zu isolieren. Dessen Gegenreaktion und Drohungen (z. B. „feindliche“ Länder von Lebensmittellieferungen auszuschließen) erhöhen nur die Krisenhaftigkeit und treiben zugleich die Preise in die Höhe.

Die USA wie auch in geringerem Ausmaß die EU-Staaten oder China können natürlich noch eigene Reserven mobilisieren. Generell versuchen sie, die Kosten der Krise auf andere abzuwälzen. Das beginnt schon damit, dass die globale Produktion ohnedies auf die Bedürfnisse des Kapitals der dominierenden, imperialistischen Länder und deren Märkte zugeschnitten ist. So lohnt sich auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion im großen Stil vor allem in Bezug auf diese Länder, was zur Folge hat, dass die Agrarflächen der halbkolonialen seit Jahrzehnten mehr und mehr für den Export aufkommen und immer weniger zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, die über weit weniger oder gar keine Kaufkraft verfügt. Für die kapitalistische Produktion zählt aber nicht das Bedürfnis an sich, sondern nur das zahlungskräftige – mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung der armen Länder.

Einen letztlich noch viel stärkeren Hebel bilden freilich das Finanzkapital und die Kontrolle über das Weltfinanzsystem durch die imperialistischen Kernländer. In der Krise versucht beispielsweise die USA-Zinspolitik, Kapital auf den US-Markt zu lenken. Das erfolgt aber notwendigerweise auf Kosten anderer Staaten. Es ist kein Zufall, dass Länder wie Argentinien und die Türkei, also auch sog. Schwellenländer, extrem von einer Finanzkrise geplagt sind. Im Grunde trifft das aber den gesamten globalen Süden.

Die Abhängigkeit von den Bewegungen des globalen imperialistischen Finanzkapitals hat sich in den letzten Jahren infolge des massiven Anwachsens der Staatsverschuldung in fast allen Ländern massiv verschärft. Mehreren wie Argentinien, Pakistan sowie einer ganze Reihe afrikanischer Länder droht faktisch der Staatsbankrott. Manche wie Sri Lanka sind zahlungsunfähig.

Wie letzteres Beispiel verdeutlicht, verbinden sich in einer solchen Lage Mangel an Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern mit Hyperinflation.

4. Dürre, Extremwetterlagen und Klimawandel

Die Ausplünderung des globalen Südens und die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit durch Raubau an der Natur entfalten vor diesem Hintergrund verstärkt ihre bedrohliche Dynamik.

Beispielsweise in Indien lässt sich der Einfluss durch den Klimawandel gut beobachten. Vor der großen Hitzewelle hoffte die Regierung des Landes, die Landwirtschaft anzukurbeln, um davon zu profitieren, dass Ukraine und Russland aus dem Markt fallen. Aber infolge der besagten Hitzewelle, übrigens der größten seit 1910 (!), muss sie nun selbst mit der Nahrung haushalten und Exporte stoppen – was wiederum andere Länder der sog. Dritten Welt trifft.

Doch Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche, von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls verschwinden. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Widerstand

Die aktuelle Situation, die in vielen Ländern der halbkolonialen Welt von Inflation, massiver Verarmung, Lebensmittelknappheit geprägt ist, kann und wird auch zu Massenprotesten verschiedener Art führen. Schon in den letzten Jahren brachen auch aufgrund der extrem prekären Lebensmittel- und Landfrage zahlreich Revolten, oft verknüpft mit demokratischen Bewegungen, aus – sei es in Ländern wie Äthiopien oder Sudan, Sri Lanka oder Kasachstan. Auch die Wahl linkspopulistischer Politiker in Lateinamerika – Boric in Chile oder Gustavo Petro in Kolumbien – verdeutlichen, dass die Massen nach einer Alternative zu Neoliberalismus und imperialistischer Ausplünderung suchen.

Die Formen, die die Bewegungen gegen Preissteigerungen, Hunger, Verelendung annehmen, werden sicherlich von Land zu Land sehr verschieden sein – seien es spontane Emeuten oder auch Massenstreiks. In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass sie entweder direkt auf massive Repression durch reaktionäre, despotische Regime stoßen wie in vielen afrikanischen Ländern oder in Sri Lanka. Oder aber linke, populistische oder reformistische Führungen werden im Kampf gegen die Reaktion und den Imperialismus auf halbem Weg stehenbleiben, die Hoffnungen der Massen enttäuschen und so die Gefahr heraufbeschwören, dass die rechte Reaktion eine Stabilisierung im Sinne der herrschenden Klasse durchsetzt.

Daher besteht die Aufgabe von Revolutionär:innen nicht nur darin, sich an den Aktionen gegen die Preissteigerungen, Hunger, Verelendung entschlossen zu beteiligen. Vor allem müssen sie eine Perspektive weisen, ein Aktionsprogramm zur Lösung der Krise entwickeln und darum eine revolutionären Arbeiter:innenpartei und Internationale aufbauen. Wir können hier weder ein vollständiges Programm vorlegen noch vermögen die folgenden Punkte, spezifische, nationale Aktionsprogramme zu ersetzen. Aber wir können kurz zentrale Forderungen skizzieren, die für praktisch alle Ländern gelten und von der internationalen Arbeiter:innenbewegung und Linken unterstützt werden müssen.

– Soforthilfe ohne Bedingungen für Millionen

Millionen Menschen droht der Hungertod, Hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt. Dabei fehlt es weltweit nicht an Nahrungsmitteln, wohl aber an der Versorgung eines großen Teils der Weltbevölkerung. Die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Sicherung der Existenz dieser Menschen richtet sich sowohl an die Staaten, wo sie leben, wie auch an die imperialistischen Länder, die diese seit Jahrhunderten ausbluten. Während jährlich hunderte Milliarden für Rüstung und Militarismus verschleudert werden, müssen Hilfsgüter mühsam durch Spenden aus der Bevölkerung organisiert oder jeder Cent den Herrschenden der Welt abgebettelt werden. Dieser Skandal, dieser Irrsinn muss beendet werden! Die imperialistischen Staaten müssen gezwungen werden, diese Mittel aufbzuringen.

– Schuldenstreichung der Dritten Welt

Ohne Streichung der Schulden der halbkolonialen Länder wird früher oder später jede eigenständige, nicht vom Finanzkapital des Westens oder Chinas dominierte „Entwicklung“ unmöglich. Die Schulden an den IWF, internationale Finanzinstitutionen oder im Rahmen von Chinas „Neuer Seidenstraße“ müssen gestrichen werden. Sämtliche Bedingungen im Rahmen der sog. Strukturanpassungsprogramme des IWF müssen aufgekündigt werden.

Wir rufen die Länder des globalen Südens auf, die Schuldenrückzahlung bei den imperialistischen Institutionen einzustellen. Wir wissen aber auch, dass die mächtigen Staaten der Welt einen solchen Akt nicht hinnehmen, sondern versuchen werden, diese Länder mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen. Es braucht daher eine entschlossene Solidaritätsbewegung gerade in den imperialistischen Zentren, die ihrerseits solche Angriffe auf unterdrückte Länder bekämpft.

– Bekämpfung der Inflation

Gegen Preissteigerungen stellt der Kampf um die automatische Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation, die gleitende Skala der Löhne, eine zentrale Losung dar. Diese muss ihrerseits mit der Forderung nach Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch die Arbeiter:innenklasse verbunden werden.

Darüber hinaus bedarf es in vielen Ländern eines Mindestlohns und -einkommens für Erwerbslose, die die Reproduktion der Massen sichern. So wie wir die Entschuldung der Länder des globalen Südens fordern, müssen wir auch die  der großen Masse der Arbeiter:innen in Stadt und Land sowie der armen Bäuer:innen durchsetzen.

Frauen, die die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen und oft einen Großteil der Beschäftigen in Lebensmittelhandel und -produktion bilden, würde eine Schlüsselrolle in Kontroll- und Kampfkomitees zukommen.

In Ländern, wo die Preissteigerung die Form der Hyperinflation annimmt, die fast täglich oder wöchentlich Lohnerhöhungen auffrisst und wo das Geld selbst so rasch an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr wahrnehmen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Es braucht nicht nur Preiskontrollkomitees, sondern direkte Eingriffe in die Verteilung lebenswichtiger Güter für die Bevölkerung. Arbeiter:innenkomitees müssen die Verteilung kontrollieren und die Versorgung der Städte direkt mit den agrarischen Produzent:innen organisieren, um den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Solche Maßnahmen, die in den freien Markt eingreifen, müssen in dieser Situation sinngemäß auch auf andere essentielle Güter angewandt werden.

– Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Massen

Um das Elend zu stoppen und sichere Existenzbedingungen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen durchzusetzen, muss die Agrarproduktion gemäß den Bedürfnissen der Massen umstrukturiert werden. Das erfordert zwingend die entschädigungslose Enteignung des Agrarkapitals, ob aus den imperialistischen Staaten oder den jeweiligen Ländern, sowie des Großgrundbesitzes. Auf dieser Basis können Agrarbetriebe unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt, Genossenschaften gegründet oder auch die Aufteilung des Landes unter landlose und Kleinbauern/-bäuerinnen durchgeführt werden.

– Enteignung des Großkapitals und demokratische Planung

Die Umstrukturierung der Landwirtschaft muss jedoch Hand in Hand gehen mit einer Reorganisation der Produktion in den Städten gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen, der Landwirtschaft, der Geflüchteten und pauperisierten Massen sowie des Schutzes natürlicher Ressourcen. Dazu bedarf es eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle sowie der entschädigungslosen Enteignung des Großkapitals, der Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser. Auf dieser Grundlage kann und muss ein Notplan etabliert werden, um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu sichern.

– Kampf um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung

Auch die jüngste Erfahrung zeigt einmal mehr, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, auch nur eines der großen Probleme der Menschen zu lösen. Umso hartnäckiger wird sie aber versuchen, ihre eigene Herrschaft (und jene des Imperialismus) gegen die Arbeiter:innenklasse, die Bäuer:innenschaft, rassistisch und national Unterdrückte durchzusetzen – wenn nötig mit Repression durch Polizei, Geheimdienst oder Militär.

Der Kampf für ein Aktionsprogramm gegen Hunger und Verelendung kann sich auch deshalb nicht auf gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe oder demokratische Proteste beschränken. Auf einer bestimmten Stufe muss er sich zu einem um die Macht entwickeln, um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die solche Maßnahmen auch umsetzen kann. Damit eine solche Bewegung den unvermeidlichen reaktionären Widerstand der Herrschenden und die Repression durch ihren Staatsapparat brechen kann, müssen wir selbst Räte in den Betrieben und Stadtteilen, Stadt und Land aufbauen sowie eigene Selbstverteidigungsorgane, eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmiliz sowie Soldat:innenräte, um die Masse der Mannschaftsränge, der einfachen Soldat:innen auf die Seite der Revolution zu ziehen.

Die revolutionäre Machteroberung und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauer:innenregierung würden nicht nur einen entscheidenden Schritt bei der Bekämpfung von Armut und Hunger, sondern jeder Form von Unterdrückung und Ausbeutung darstellen. Zugleich dürfen sie sich nicht auf die sozialen und politischen Umwälzungen in einem Land beschränken, sondern müssen von Beginn an auf die Internationalisierung der Revolution, die Unterstützung des Kampfes in anderen Ländern setzen. Gerade um die vom Imperialismus abhängige Entwicklung zu durchbrechen, braucht es eine Ausweitung der Revolution und die Bildung regionaler Föderationen revolutionärer Arbeiter:innenstaaten als Schritte zur sozialistischen Weltrevolution.




Embargo russischen Erdöls: PCK Schwedt als Kollateralschaden?

Jürgen Roth, Neue Internationale 255, Juli/August 2022

Seit den 1960er Jahren fließt russisches Erdöl vom Südural über 5.000 km nach Ostdeutschland, aber u. a. auch Tschechien, Ungarn, Bulgarien und in die Slowakei. Am Ende des Nordastes der „Drushba“ (Freundschaft) genannten Pipeline befindet sich das PCK Schwedt in Nordostbrandenburg, zu DDR-Zeiten Petrolchemisches Kombinat. Doch auch Leuna in Sachsen-Anhalt wurde aus ihr versorgt.

Ölembargo

Von ehemals 8.000 Arbeitsplätzen im Jahr 1990 sind noch 1.200 übriggeblieben. Weitere 2.000 Arbeitsplätze in der Region hängen von der Schwedter Raffinerie ab, die Berlin und Brandenburg zu 90 % und Westpolen zu 50 % mit Kraftstoffen versorgt, daneben aber auch Grundstoffe z. B. für Kunststoffverarbeitung erzeugt. Der Süden der ehemaligen DDR hängt in ähnlicher Weise am Tropf der Leunaer Raffinerie. Während diese dem französischen Ölkonzern Total gehört, befindet sich das PCK als GmbH mehrheitlich in der Hand des russischen Staatsölkonzerns Rosneft.

Zwar musste die EU nach heftigem Einspruch v. a. Ungarns just ihre Embargopläne herunterschrauben, doch die Bundesregierung hält weiterhin stur am Auslaufen der Importe bis zum Jahresende fest. Die EU hatte ursprünglich nur einige osteuropäische Länder vom Lieferstopp ab Anfang 2023 ausgenommen, lässt nun aber den Transport über Pipelines ausdrücklich länger zu und schränkt „nur“ den auf dem Seeweg ein, was aber auch auf erbitterten Widerstand z. B. Griechenlands stößt. Selbst hochrangige US-Diplomat:innen gaben ihre Bedenken gegen das ursprünglich geplante Embargo bei der EU-Kommission zu Protokoll. Biden fürchtet wohl höhere Kraftstoffpreise im eigenen Land so kurz vor den Zwischenwahlen im November. Saudi-Arabien, weltweit größter Erdölexporteur und einer der engsten US-Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich nämlich gegen ein Ölembargo Russlands ausgesprochen und weigert sich, seine Fördermenge zu erhöhen.

Doch Bundeswirtschaftsminister Habeck ficht das nicht an. Auf einer PCK-Betriebsversammlung am 9. Mai mimte er den Weichspüler: Er versprach den Beschäftigten eine Zukunft mit Öl aus anderen Ländern auf dem Seeweg über Rostock und Gdansk. Expert:innen gehen davon aus, dass angesichts der dortigen Umschlagskapazitäten nur höchstens 60 % des „schwarzen Flüssiggolds“ für Schwedt kompensiert werden könnten – bei höheren Transportpreisen. Eine Verarbeitung anderer als der sibirischen Rohölqualität ginge zudem mit Umstellungsmaßnahmen in den Cracktürmen der Raffinerie einher. Rosneft gesteht zwar auch die Möglichkeit der Verarbeitung anderer Sorten zu, doch zu welchem Preis für die Allgemeinheit der Steuerzahler:innen? Leuna z. B. scheint bereits ein größeres Volumen norwegischen Rohöls akquiriert zu haben. Unklar bleibt ferner, ob der Ausstieg aus russischen Lieferungen ohne Weiteres erfolgen kann, ohne die langfristig vertraglich georderten Abnahmequoten zu bezahlen.

Für den Superminister stellt sich auch die Frage der Enteignung des Rosneftanteils in Form einer Treuhandanstalt.

Reaktionen: SPD …

Für Brandenburgs SPD-Ministerpräsidenten Woidke stellte Habecks Auftritt ein „gelungenes Signal“ dar. Schwedts Bürgermeisterin und Parteigenossin, Annekathrin Hoppe, macht sich dagegen Sorgen angesichts der geringen Menge, die aus Rostock kommen soll. Belieferung aus Gdansk, so die polnische Regierung, solle erst erfolgen, wenn die BRD ganz auf russische Importe verzichtet habe. Beim besten Willen ist nicht zu erkennen, wie das PCK mit einer Auslastung unter 70 % marktwirtschaftlich überleben kann. Da nützen auch Finanzhilfeversprechen des grünen Bundesministers nicht, zumal sie einerseits für den Übergang zur neuen, angedachten Eigentumsstruktur verwendet werden und die kritische Auslastungsgrenze nicht überwinden helfen können.

… DIE LINKE

Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter warnt deutlicher. Er hält das Ölembargo für eine Entscheidung gegen den Osten Deutschlands und fordert die Landesregierung auf, für eine Beschäftigungsgarantie der 3.200 Arbeitsplätze und beim Bund dafür einzutreten, dass es nicht zu höheren Preisen für Benzin, Diesel, Kerosin und Heizöl in Ostdeutschland führe. Und für Westpolen? Dem Fraktionsvorsitzenden kann man zwar bezüglich seiner Befürchtungen zustimmen, doch ist seine Haltung weder sozialistisch noch sozial, sondern provinziell beschränkt.

Im Landtag forderte DIE LINKE darüber hinaus, per Beschluss festzustellen, Habecks Auffassung nicht zu teilen, die Bundesregierung aufzufordern, ihre Haltung zu überdenken und sich bei der EU für eine Verlängerung der Fristen wie im Falle Ungarns und der Slowakei einzusetzen – zumindest für die ostdeutschen Bundesländer. Die Landtagssitzung erfolgte vor dem oben erwähnten EU-Kompromiss. Schnellstmöglich solle PCK in staatliche Treuhandschaft überführt und fit gemacht werden für den Ausstieg aus fossilen Brenn- und Rohstoffen.

Kritik

Auch die Landtagsfraktion verrennt sich also in den ostdeutschen Provinzialismus ihres Vorsitzenden, statt das Ganze wenigstens in einen zumindest bundesweiten Kampf gegen Teuerung und Energiekrise einzubetten. Dagegen müssen wir ihr beipflichten, was Verstaatlichung und ökologischen Umbau betrifft. Doch warum eine Treuhandanstalt? Hat nicht diese Eigentumsform die DDR-Industrie zugrunde gerichtet und stellte eine Art Staatsbesitz im Übergang zur Privatisierung bzw. Abwicklung dar? Wird sich nicht die neue Betriebstreuhandmehrheitsanteilseignerin schnellstmöglich nach einer „anständigen“ Firma umschauen, die PCK aufkauft und zum Zweck seines rentablen Betriebes auf Beschäftigungsgarantien pfeift?

Wir brauchen stattdessen Zweierlei: erstens Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Klassenorganisationen über PCK und ausnahmslos alle großen Unternehmen im Energiesektor: Gas, Öl, Kohle, Strom, Netzbetrieb und Erneuerbare; zweitens deren sofortige Verstaatlichung zum Nulltarif – entschädigungslos! Das wäre sowohl sozial wie Vorstufe für eine wirkliche Transformation. DIE LINKE in Brandenburg unterscheidet sich kaum von „Garantieversprechen“ in Sozialplänen, wie sie SPD und Gewerkschaftsbürokratie seit Jahr und Tag abgeben.

Deutlicher, aber letztlich auf ähnlicher Linie, geht Ko-Fraktionschef Dietmar Bartsch im Bundestag gegen die Embargopläne der Bundesregierung zu Werke. Er fordert einen „Schutzschirm für Ostdeutschland“, damit „die Strategie von Putin, den Westen zu spalten, eben nicht aufgeht.“ In der Tat könne die Bereitschaft der Bevölkerung, außenpolitische Maßnahmen mitzutragen, langfristig durchaus abhängig sein von innen- und sozialpolitischer Stabilität, gerade wenn sich der Krieg wahrscheinlich länger hinziehe.

Wir haben bereits an anderer Stelle deutlich gemacht, warum wir grundsätzlich gegen ein Embargo seitens imperialistischer Staaten sind, sogar wenn es sich gegen einen Aggressor richtet, der ein Land überfällt. Und das Embargo trifft auch nicht Waffen, sondern grundlegende Güter des unmittelbaren Lebens. Wir treten im Übrigen nicht deshalb gegen den Boykott ein, weil er die BRD und EU womöglich härter trifft als Russland, sondern weil er ein Mittel des Kampfes um Einflusssphären zwischen imperialistischen Mächten ist, in dem Fall der BRD und ihrer Alliierten,  und diesen Kampf notwendigerweise weiter verschärft.

Aus gänzlich anderen Motiven wandte sich dagegen die Brandenburger AfD-Landtagsfraktion gegen das Embargo. Alles soll beim Alten bleiben, damit es sich Deutschland nicht für alle Zukunft mit Putins Großreich verscherze.

Bartsch vertritt indes eine lupenreine sozialchauvinistische Position, die der Arbeiter:innenklasse mit ein paar Brosamen, die ihre Verelendung „sozialer“ gestalten sollen, seinen Hurrapatriotismus schmackhaft machen will.

Embargo im grünen Rock

Auch aus ökologischer Sicht ist der Ausstieg aus dem russischen Erdgas aberwitzig. Schließlich soll es durch ökologisch schädlichere „Alternativen“ ersetzt werden: Kohle und möglicherweise Weiterbetrieb der AKWs. Grundsätzlich richtig bleibt deshalb der Verweis der Brandenburger Landtagslinksfraktion auf den Ausstieg aus fossiler Energieerzeugung. Doch über diese vage Weisheit kommt sie nicht hinaus. Sie hätte stattdessen auf die an den Standorten ehemaliger DDR-Kombinate wie Leuna, Schwarze Pumpe und Schwedt entwickelten Patente und ihre weiteren Ergänzungen verweisen können, die z. B. in Gestalt der Wasserstoffstrategie für den ökologischen Umbau eine bedeutende Rolle spielen könnten.

Das Know-how der Beschäftigten hier, aber auch in den Braunkohlekraftwerken wie Jänschwalde wird eine unverzichtbare Rolle für einen organisierten Ausstieg spielen (Power to Gas, Wärmespeicherung, CO2-Abscheidung CCS usw.), vorausgesetzt diese legen die Patente offen, um die besten und miteinander kompatiblen technischen Lösungen für den Übergang herauszufinden und mittels Arbeiter:innenkontrolle in einer verstaatlichten Branche in Kraft zu setzen.

Ein solcher Ausstieg mag „radikalen“ Umweltschützer:innen wie denen vom „Aufstand der letzten Generation“ nicht schnell genug gehen. Jüngst unterbrachen zwei von ihnen den Ölfluss der Drushba-Pipeline an der Pumpstation Glantzhof im uckermärkischen Strasburg. Sie wollten „in den Notfallmodus umschalten“, eine „Lebenserklärung“ von Habeck erhalten, dass in Deutschland keine neue fossile Infrastruktur geschaffen wird. „Wenn wir jetzt auf erneuerbare Energien umsteigen, machen wie uns unabhängig von Diktaturen wie Russland oder Katar.“

Radikal sind nur solche Stunts. Lammfromm ist ihr Vertrauen in „unsere“ Demokratie. Für einen echten Ausstieg, eine wirkliche, organisierte Energiewende mit allem Drum und Dran braucht es eine Planwirtschaft, nicht eine EEG-Umlage aus den Taschen der Masse der Stromkund:innen unter Verschonung der Großkonzerne. Die vage Hoffnung, damit das Kapital zum Ausstieg aus kostengünstigen Energieträgern zu locken, hat dazu geführt, dass 100 Mrd. kWh zeitweilig überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien nicht ins Netz eingespeist wird, genug, um die Gasspeicher sofort zu füllen, wenn man daraus Methan herstellte. Träger eines solchen rationalen, umfassenden und integrierten Planes kann aber nur die Arbeiter:innenklasse sein. Insbesondere ihre Fachkräfte in der Energiewirtschaft müssen dafür sorgen, dass wir im Winter nicht frieren, im Dunkeln sitzen und uns nur noch zu Fuß und auf dem Fahrrad fortbewegen können. Kosten? Für Krieg und neue, fossile, aber schlechtere Infrastruktur ist natürlich genug Geld da, Habeck sei Dank. Wir sollten diesen Bock nicht wie unsere beiden „aufständischen“ Aktivist:innen mittels leerer Appelle zum Gärtner machen.