Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz – Von der Arbeiterautonomie der 60er Jahre zum kleinbürgerlichen Radikalismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

I. Warum dieser Artikel?

Totgesagte leben länger. Dieser Satz ließe sich auch trefflich auf die autonome Bewegung in der BRD und in ganz Europa, ja weltweit anwenden. Ob bei den griechischen Aufständen 2008, an den Unis Italiens, dem Antifamilieu in Deutschland, bei Kämpfen in Frankreich oder in der Anti-G8-Mobilisierung in Heiligendamm 2007: Die Autonomen erscheinen gerade Jugendlichen – v.a. SchülerInnen und StudentInnen – als radikale Alternative zum Reformismus.

Dabei schien nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ und der kapitalistischen Wiedervereinigung auch die Stunde der Autonomen geschlagen zu haben. Wie für die gesamte Linke stand auch in diesem Spektrum die Frage nach der „Krise der eigenen Bewegung“. Der Autonomen-Kongress 1995 – er sollte für über 10 Jahre der letzte sein – stellte bezeichnenderweise die Frage „Was trennt uns, was verbindet uns?“ ins Zentrum seiner Tagung (1). Allein das zeigt, wie „verunsichert“ die Autonomen hinsichtlich ihre eigenen Existenzberechtigung waren.

Zugleich darf dabei aber nicht übersehen werden, dass in der „autonomen Bewegung“ die Frage, was eigentlich die „Autonomen“ oder „Autonomie“ sind, beständig auftaucht. Ja, es ist geradezu ein Markenzeichen dieser Bewegung, dass diese Frage seit dem Ende der 70er Jahre immer wiederkehrt. Das hat sicher damit zu tun, dass die Autonomen mehr einem Milieu, einer ideologisch in vieler Hinsicht heterogenen Strömung entsprechen und keiner auf einer bestimmten Weltanschauung basierenden politischen Bewegung wie z.B. der Marxismus.

Selbstverständlich sind auch „marxistische“ Organisationen heterogen, lässt sich doch unter diesem Logo alles finden: von konterrevolutionären stalinistischen oder sozialdemokratischen Gruppierungen über viele Facetten des Zentrismus bis hin zu revolutionären, kommunistischen Organisationen.

Trotz enormer Unterschiede haben alle diese Vereinigungen aber ein mehr oder weniger ausführlich dargelegtes Programm, eine Doktrin, politische Dokumente usw., die Außenstehenden eine Vorstellung der selbst proklamierten Ziele und Methoden zur Erreichung ebendieser Ziele ermöglichen. Sie erlauben auch, die Aktivität dieser Gruppierungen an den von ihnen selbst hergeleiteten Vorstellungen zu messen. Im Falle marxistischer Organisationen kommt außerdem hinzu, dass ihre programmatischen Vorstellungen immer auch einen wissenschaftlichen Anspruch erheben. All dies findet sich bei den Autonomen so gut wie nicht.

Dieser Unterschied der heutigen autonomen Gruppierungen zu anderen politischen Strömungen – am wenigsten vielleicht noch zu den AnarchistInnen – lässt die Autonomen politisch so schwer fassbar erscheinen – für andere, aber auch für sich selbst.

Hinzu kommt, dass die Autonomen heute – anders oder jedenfalls in stärkerem Ausmaß als in den 1980er Jahren – von unterschiedlichen, einander entgegengesetzten Strömungen regelrecht zerrissen werden: Anti-Deutsche versus Anti-Imps; „Schwarzer Block“ versus „Pink and Silver“; AnhängerInnen der revolutionären Machteroberung versus AnhängerInnen Holloways; (Post)-Operaisten versus Ablehner der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse usw. usf.

Gerade, weil tiefe Gegensätze die autonome Bewegung schon seit Jahrzehnten durchzogen, erhebt sich die Frage, was die Autonomen eigentlich eint? Können wir überhaupt von einer autonomen Bewegung und deren Kontinuität sprechen?

Natürlich bietet es sich an, in ihr einfach ein soziales, subkulturelles Milieu zu erblicken. Nun wird niemand bestreiten, dass die Autonomen auch ein solches sind. Doch in Wirklichkeit ist diese Antwort äußerst unbefriedigend, wenn es darum geht, die Reproduktion und die Veränderung des Phänomens „Autonome“ über Jahrzehnte zu erklären.

Was verbindet eigentlich die Hausbesetzerbewegung und die Anti-AKW-Bewegung der 80er Jahre mit der Anti-Olympia-Kampagne 1993 oder mit der autonomen Antifa oder autonomem Antirassismus? Sicher gibt es bei diesen Bewegungen personelle Kontinuitäten. Bestimmte Stadtteile, Läden, Zentren, selbstverwaltete Kneipen und Cafés, teilweise auch Uni-Strukturen firmierten jahrelang als Kristallisationspunkt und Infrastruktur. Aber das erklärt noch nicht, was die Autonomen zusammenhält, warum sie über Jahrzehnte sowohl von außen wie auch von innen als eine „Szene“ wahrgenommen werden, was hinter der Abfolge unterschiedlicher Bewegungen und Interventionen eigentlich das Spezifische der Autonomen bzw. der autonomen Politik ausmacht.

Es erklärt erst recht nicht, warum der Einfluss verschiedener autonomer oder ihnen naher Strömungen heute, inmitten der schwersten Krise des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg, auf AktivistInnen zunimmt.

Im Folgenden wollen wir herausarbeiten, was die Autonomen heute wieder attraktiv als scheinbar radikale Alternative zum Reformismus macht. Für uns als MarxistInnen geht es dabei natürlich nicht nur um eine Nachzeichnung dieser Entwicklung, sondern v.a. darum, warum die autonomen Antworten der Vergangenheit so wenig zum Erfolg führen konnten, wie es die heutigen können. Es geht also darum, zu zeigen, warum die „revolutionäre“ Alternative der Autonomie ein Weg in die Sackgasse ist.

Dazu müssen wir – ohne eine Geschichte der Autonomen zu schreiben oder auch nur schreiben zu wollen – auf ihre Entwicklung und auf die Entwicklung ihrer Ideologie eingehen. Wir werden dabei auch herausarbeiten, was unserer Meinung nach das Verbindende, Gemeinsame in der autonomen Bewegung über ihre Fraktionen hinaus ist.

Im nächsten Schritt „Autonomisms und Krise“ beschäftigen wir uns mit den politischen Antworten einiger autonomer Hauptrichtungen auf die gegenwärtige Krise, werden dabei verschiedene Richtungen untersuchen und einer Kritik unterwerfen.

Im vierten Abschnitt beschäftigten wir uns mit der Frage nach dem Klassencharakter der autonomen Bewegung – einer Strömung, die ja im Unterschied zu den linken wie rechten Reformisten, zu SPD und Linkspartei für sich in Anspruch nimmt, anti-kapitalistisch und revolutionär zu sein.

Abschließend gehen wir auf das Verhältnis von Marxismus und Autonomismus ein.

II. Ursprünge und Konzeption des Operaismus

Wer die heutige „Szene“ betrachtet, wird darin nur schwer die geschichtlichen Ursprünge der Autonomen erkennen. Wer denkt schließlich schon an theoretische Hefte und Journale, wer denkt gar an die industrielle Arbeiterklasse, wenn er oder sie die heutigen Autonomen betrachtet?

Der Operaismus (Arbeiterautonomie) ist zu einer minoritären Strömung unter den Autonomen geworden, ja zu einer, die in der Bewegung tw. überhaupt nicht mehr auszumachen ist. Und dennoch geht die autonome Bewegung auf eine politische und theoretische Kritik italienischer Linksintellektueller am Kurs der reformistischen Arbeiterbewegung, vor allem der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), aber auch der Sozialistischen Partei (PSI) und  der Gewerkschaften zurück, die schließlich zur Bildung der ersten autonomen Organisationen führte.

Die Volksfrontpolitik der PCI und ihre Folgen

Die Mitglieder der PCI hatten im Kampf gegen die Nazis und den italienischen Faschismus zweifellos die Hauptlast getragen und spielten eine führende Rolle in der Befreiungsbewegung. Doch ähnlich wie in ganz Europa – insbesondere auch in Frankreich – war die Sowjetunion unter Stalin strikt gegen jeden Kurs, der  den Kampf gegen Faschismus und Besatzung zu einem Kampf um die sozialistische Machtergreifung hätte weitertreiben können (2).

Dieser Kurs wurde von der PCI zwar befolgt, anfänglich jedoch nicht ohne Schwankungen nach links. Mit der Rückkehr Togliattis aus dem Moskauer Exil im März 1944 wurde die Partei stramm auf einen Kurs der Klassenzusammenarbeit mit den Alliierten, den bürgerlichen Parteien und der Regierung Marschall Badoglios ausgerichtet.

Die Regierung Badoglio, dem ehemaligen Generalsstabschef Mussolinis, war im Juli 1943 gebildet worden. Ihre Formierung erfolgte als Reaktion auf die alliierte Landung in Sizilien und das mächtige Anwachsen der anti-faschistischen Bewegung, da die italienische Großbourgeoisie, die Großgrundbesitzer, der Klerus und die Offizierskaste ihre Interessen durch die weitere Herrschaft Mussolinis gefährdet sahen. So hofften die Vertreter der herrschenden Klassen, die gestern noch dem Duce die Verteidigung ihrer Interessen anvertraut hatten, doch noch als Sieger aus dem Weltkrieg hervorzugehen und als – wenn auch spät gekommene – „Antifaschisten“ anerkannt zu werden. V.a. wollten sie so einer drohenden sozialistischen Revolution entgehen.

Dass die Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer diese Politik letztlich erfolgreich umsetzen konnten, verdankten sie freilich auch der tatkräftigen Mithilfe des Stalinismus.

Die Sowjetunion erkannte schon am 14. März 1944 die Regierung Badoglio an – als erstes Land überhaupt! Togliatti „erkämpfte“ die Umbildung der Regierung zur „Regierung der nationalen Einheit“, der die PCI am 22. April 1944 beitrat.

Die Ministerpräsidenten dieser Regierung der nationalen Einheit wechselten zwar mehrmals (Bonomi, Parri, De Gaspari). Die KP bliebt jedoch loyaler Teil dieser Regierung – einer Regierung, welche die Partisanenbewegung entwaffnete, den bürgerlichen Staatsapparat in seinen Grundstrukturen rekonstituierte, die Westanbindung Italiens herbeiführte und den Kapitalismus stabilisierte.

Die PCI hatte als größte Partei der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Lohnabhängigen in Stadt und Land zu demobilisieren und die revolutionären Möglichkeiten zu verraten.

Gedankt hat ihr das die italienische Bourgeoisie jedoch nicht. 1947 wurden Togliatti (Justizminister), Scoccimarro (Finanzen), Pesenti (Schatzminister) und Gullo (Landwirtschaftsminister) aus der Regierung entfernt. Die Christdemokraten brauchten sie als „Partner“ nicht mehr.

Das änderte aber nichts Grundlegendes an der Rolle, die die PCI im italienischen politischen System spielte. Auch als „Oppositionspartei“ war sie u.a. über ihre zahlreichen Posten in kommunalen Verwaltungen fest integriert.

Diese Politik führte u.a. dazu, dass die „offiziellen“ Organisationen der Arbeiterbewegung – neben der PCI auch die kleinere und politische schwächere PSI und die Gewerkschaftsführungen – den täglichen Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnissen der Lohnabhängigen, aber auch veränderten Ausbeutungsmethoden, einer neuen Kapitalzusammensetzung und einer Neuformierung der Arbeiterklasse wenig bis keine Beachtung schenkten.

Dabei erlebte Italien in den 50er und frühen 60er Jahre einen enormen Industrialisierungsschub, der zu einem starken Anwachsen der Zahl der Lohnabhängigen v.a. im Norden und zur Massenmigration von ArbeiterInnen aus dem Süden führte. Für die Gewerkschaften und die Reformisten war dabei, wenn überhaupt, nur der sektorale Lohnkampf – eventuell noch die Frage der Arbeitszeit von Belang. Die betriebliche Organisation der Ausbeutung, das „Fabrikregime“ wurde als „gegeben“ betrachtet.

Die Quaderni Rossi

Dagegen entwickelte sich eine kritische intellektuelle Strömung um Autoren wie Panzieri, einem langjährigen oppositionellen Mitglied des ZK der PSI und Übersetzer des 2. Bandes des Kapitals, um die Zeitschrift „Quaderni Rossi“ (Rote Hefte, QR), die von 1961-65 erschienen. Diese können als theoretische Begründer des Operaismus, der „Arbeiterautonomie“ gelten.

In den „Quaderni Rossi“ entwickeln Panzieri u.a. eine Kritik an PCI und PSI sowie den von ihnen dominierten Gewerkschaften. Ein Kernpunkt dieser Kritik richtete sich gegen die „objektivistische Interpretation“ der technologischen Entwicklung, die sie bei den Reformisten feststellen.

„Man hegt nicht den leisesten Verdacht, daß der Kapitalismus die neue »technische Basis«, die der Übergang zum Stadium der fortgeschrittenen Mechanisierung (und der Automatisierung) ermöglicht hat, dazu ausnutzen könnte, um die autoritäre Struktur der Fabrikorganisation zu verewigen und zu konsolidieren; der ganze Industrialisierungsprozeß ist nämlich angeblich von der »technologischen« Zwangsläufigkeit beherrscht, die zur Befreiung »des Menschen von den Schranken führt, die ihm seine Umwelt und seine physischen Möglichkeiten auferlegen«. Die »Verwaltungsrationalisierung«, der gewaltige Ausbau von Funktionen der »Organisation nach außen hin« werden ebenso in einer »technischen«, »reinen« Form gesehen: die Beziehung zwischen diesen Entwicklungen und den Widersprüchen und Prozessen des Spätkapitalismus (der nach immer komplexeren Mitteln sucht, um seine Planung durchzusetzen), d.h. die konkrete historische Wirklichkeit, in der die Arbeiterbewegung lebt und kämpft, die heutige »kapitalistische Anwendung« der Maschinen und der Organisation – alles das wird zugunsten einer idyllischen technologischen Konzeption völlig übersehen.” (3)

Völlig zurecht kritisiert hier Panzieri die undialektische Sichtweise der technischen Entwicklung durch den italienischen Reformismus (wie der Sozialdemokratie und des Stalinismus überhaupt). Die Einheit des kapitalistischen Produktionsprozesses als Verwertungs- und Arbeitsprozess wird in der Art getrennt, dass der Arbeitsprozess nur als technisches Ordnungssystem aufgefasst wird. In dieser Sicht manifestieren sich im Arbeitsprozess bloß ein technologisches Arrangement und ein Fortschritt, auf dem eine Hierarchie der Fabrikorganisation aufbaut, die einfach dem Stand der Technik entspricht (was, nebenbei bemerkt, auch die Notwendigkeit der Beibehaltung eines bürokratischen betrieblichen Regimes in jeder zukünftigen Gesellschaftsformation und seine Rechtfertigung im „real existierenden Sozialismus“ impliziert).

Falsch an der reformistischen Herangehensweise ist, dass sich der Arbeitsprozess immer auch durch ein Ausbeutungsverhältnis, dass die „Despotie“ der Fabrik sich auch in der konkreten Arbeitsorganisation auf Basis einer bestimmten technologischen Stufe manifestiert.

Marx entwickelt diesen Gedanken sehr klar im ersten Band des „Kapitals“ bei der Diskussion des relativen Mehrwerts, wo er den „zwieschlächtigen Charakter“ der kapitalistischen Leitung im Produktionsprozess betont.

„Die Leitung des Kapitalisten ist nicht nur ihre aus der Natur des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses entspringende und ihm angehörige besondere Funktion, sie ist zugleich Funktion der Ausbeutung eins gesellschaftlichen Arbeitsprozesses und daher unbedingt durch den unvermeidlichen Antagonismus zwischen dem Ausbeuter und dem Rohmaterial seiner Ausbeutung.“ (4)

Und weiter:

„Wenn daher die kapitalistische Leitung dem Inhalt nach zwieschlächtig ist, wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozess zur Herstellung eines Produkts, andererseits Verwertungsprozess des Kapitals, so ist sie der Form nach despotisch.“ (5)

Der frühe Operaisismus will daran anknüpfen und den Kampf der ArbeiterInnen gegen den „Despotismus“ des Fabrikregimes und der kapitalistischen Leitung zu seinem Recht verhelfen. Er tut dies jedoch, indem er den Kampf gegen diesen Despotismus zum eigentlichen Kern der Klassenauseinandersetzung macht.

“Die »neuen« Forderungen der Arbeiterklasse, die in den Arbeitskämpfen artikuliert werden, haben keinen unmittelbaren revolutionären politischen Inhalt und implizieren auch keine automatische Entwicklung in dieser Richtung. Dennoch kann ihre Bedeutung auch nicht auf die einer bloßen ‘Anpassung’ an die jüngsten technologischen und organisatorischen Entwicklungen in der modernen Fabrik zurückgeführt werden, die eine ‘Regelung’ der Arbeitsverhältnisse auf einem höheren Niveau ermöglichten. Sie liefern vielmehr Hinweise auf die zukünftige Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse allgemein und seiner politischen Bedeutung. Diese Hinweise ergeben sich jedoch nicht einfach aus der Kenntnisnahme und aus der ‘Summe’ jener Forderungen, so neu und ‘fortschrittlich’ sie sich auch im Vergleich zu den traditionellen Zielen ausnehmen mögen. Die Verhandlungen über Arbeitszeiten und -rhythmen, über die Höhe der Belegschaft, das Verhältnis von Lohn und Produktivität, usw., neigen natürlich dazu, das Kapital innerhalb des Akkumulationsmechanismus selbst und auf der Ebene seiner ‘Stabilisierungsfaktoren’ anzugreifen. Daß diese Forderungen durch die Kämpfe der Arbeiter in den Schlüssel- und Wachstumsindustrien vorangetrieben werden, ist eine Bestätigung ihres systemsprengenden Charakters. Der Versuch, sie für die engen Ziele eines allgemeinen Lohnkampfes auszunutzen, führte in der Praxis nicht zu einer neuen, umfassenderen Einheit der Klassenaktion, sondern zu ihrem geraden Gegenteil, nämlich zu dem Rückfall in betriebliche Abgeschlossenheit als notwendige Folge der Aushöhlung der potentiellen Elemente politischen Fortschritts.” (6)

In dieser Passage von 1961 sind schon Kernelemente des Operaismus enthalten. Panzieri gesteht zwar zu, dass „die neuen Forderungen“, der Arbeiterklasse „keinen unmittelbar revolutionären politischen Inhalt“ haben; anders als die Gewerkschaftsbürokraten und die reformistischen Parteiführungen richten die QR ihren Blick auf die neuen Arbeiterschichten, v.a. auf die MigrantInnen aus Süditalien, die von der expandierenden Industrie Norditaliens als billige Arbeitskräfte angeworben und von den Gewerkschaften praktisch ignoriert wurden.

Aber Panzieri macht in obiger Passage einen weiteren Schritt, der für die Analyse des Operaismus prägend werden sollte. Den „neuen“ ökonomischen Forderungen der Arbeiterklasse wird ein „systemsprengender Charakter“ unterschoben.

Er behauptet, dass der „Versuch, sie für die engen Ziele eines allgemeinen Lohnkampfes auszunutzen“ eigentlich keinen realen Boden auf Grundlage der spontanen Kämpfe hätte, sondern „von außen“ durch die Gewerkschaftsbürokratie oder andere, die ArbeiterInnen gängelnde Organisationen hineingetragen würden.

Nun werden ernsthafte KommunistInnen nicht abstreiten, dass es auch in ökonomischen Kämpfen Momente der Negation des Kapitalsverhältnisses gibt. So unterbricht natürlich jeder Streik die Produktion von Mehrwert und greift zeitweilig die Verfügung des Unternehmers (oder einer ganzen Unternehmergruppe) über ihren Betrieben an.

Natürlich können und werden solche Kämpfe immer wieder auch politische Frage aufwerfen, z.B. wenn die Unternehmer die Polizei zu Hilfe rufen, wenn der bürgerlicher Staat das Streikrecht einschränkt usw.

Das ist jedoch etwas anderes, als die Sichtweise der Operaisten, die dem ökonomischen Kampf selbst einen systemsprengenden Charakter unterstellen.

Hierin unterscheidet sich diese Sicht, wenn auch am Beginn in z.T. ambivalenter Form, grundlegend von jener des Marxismus.

In der Analyse des Arbeitslohns zeigt Marx, dass die Ausbeutung des Arbeiters im Lohnfetisch scheinbar verschwindet, dass das reale Ausbeutungsverhältnis mystifiziert wird. Warum? Weil es so erscheint, als würde der Kapitalist nicht den Wert der Ware Arbeitskraft, sondern die Arbeit bezahlen, als hätte der Arbeiter den Lohn für den „Wert der Arbeit“ erhalten.

„Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit,  eine bestimmtes bestimmtes Quantum Geld, das für ein bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.“ (7)

Marx weiter: „Was dem Geldbesitzer am Warenmarkt direkt gegenübertritt, ist in der Tat nicht seine Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letzter verkauft ist seine Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr verkauft werden. Die Arbeit ist die Substanz der Werte, aber sie hat keinen Wert.“ (8)

Es scheint so, also würde der Kapitalist dem Arbeiter die gesamte Arbeit zahlen. Die Mehrarbeit, die Ausbeutung verschwindet im Bewusstsein beider, so dass auch im Alltagsbewusstsein unter Ausbeutung nur „zu geringe“ Bezahlung, Billiglohn usw. verstanden wird.

Doch damit nicht genug. Marx stellt auch die Frage, warum sich die „illusionäre“ Vorstellung vom „Wert der Arbeit“ so hartnäckig hält, warum diese nicht einfach durch die täglich erfahrene Ausbeutung, durch den gemeinsamen Kampf usw. durchbrochen werden kann?

„Im Ausdruck:‚Wert der Arbeit‘ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöst, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse.“ (9)

Marx weist nach, dass mit der Lohnform (und damit natürlich immer auch im Lohnkampf) spontan eine Verkehrung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse im Alltagsbewusstsein der Gesellschaft und natürlich auch in jenem der Arbeiterklasse einhergehen muss. Daher ist das „spontane“ Lohnarbeiterbewusstsein, wie es täglich im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unwillkürlich produziert und reproduziert wird, eine Form bürgerlichen Bewusstseins.

Die Forderung nach höherem Lohn, der Lohnkampf als solcher hat daher auch noch keine systemsprengende Qualität, so notwendig und unvermeidlich dieser tägliche Kleinkrieg mit dem Kapital auch ist, wenn die Arbeiterklasse überhaupt ihre Existenzbedingungen wahren will.

Für den Operaismus liegt die Sache aber anders. Die von ihm angeführten Forderungen – Verhandlungen über Arbeitszeiten und -rhythmen, über die Größe der Belegschaft, das Verhältnis von Lohn und Produktivität – sind eigentlich „klassische“ Gewerkschaftsforderungen, ökonomische Forderungen, die sich um die Verkaufs- und Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft drehen. Nun erhebt sie Panzieri zu „systemsprengenden Forderungen“, indem er behauptet, dass sie „das Kapital innerhalb des Akkumulationsmechanismus selbst und auf der Ebene seiner »Stabilisierungsfaktoren«“ angreifen. „Innerhalb des Akkumulationsmechanismus“ bewegt sich aber auch jeder Lohnkampf (ob in einem Betrieb, in einer Branche oder in einer Nationalökonomie). Es geht dabei immer um die Höhe des Mehrwerts, der den ArbeiterInnen abgepresst werden kann. Natürlich kann sich dieser Kampf zu einem politischen Klassenkampf zuspitzen – und MarxistInnen müssen in jedem Fall dafür kämpfen. Aber niemals passiert das „von selbst“. Eine unvermittelt „systemsprengende Qualität“ hat eine ökonomische Forderung für sich eben nicht, sondern immer nur im Rahmen eines Gesamtprogramms. Noch viel weniger trifft das auf die Lohnforderung selbst zu, die von den Operaisten zu einer, wenn nicht sogar zu der zentralen Forderung hochstilisiert wurde.

Hier geht der Operaismus direkt einen Schritt hinter den Marxismus zurück, der eben schon im 19. Jahrhundert forderte, die Fetischisierung des Lohnkampfes z.B. durch die britischen Gewerkschaften durch das revolutionäre Ziel „Abschaffung des Systems der Lohnarbeit“ zu ersetzen.

Es ist typisch für den Operaismus wie auch verschiedene Facetten des linken Syndikalismus, dass eine bestimmte Form des ökonomischen Kampfes – im Fall der Operaisten die Lohnforderung – als “eigentlicher” Klassenkampf hingestellt wird. Ihm wird eine systemsprengende oder jedenfalls qualitativ fortschrittlichere Seite zugesprochen als anderen Auseinandersetzungen (z.B. Kampf um bessere Arbeitsbedingungen). Dass in den letzten Jahren manche oppositionelle Gewerkschafter in Deutschland die operaistische These vom Primat des Lohnkampfes umgekehrt haben und sog. “qualitativen” Forderungen (Arbeitssicherheit, …) eine größere Wichtigkeit bemessen, heißt nur, den Fehler unter  anderem Vorzeichen zu wiederholen.

Akkumulations- und Lohnbewegung bei Marx und bei den Operaisten

Für den Marxismus ist der ökonomische Kampf v.a. eine Reaktion auf vorhergehende Zumutungen des Kapitals, um überhaupt die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeiterkraft zu ihrem Wert sicherzustellen. Im ersten Band des „Kapitals“ weist Marx nach, dass es einen bestimmten Zusammenhang von Akkumulationsbewegung und Lohnhöhe resp. Ausbeutungsrate gibt, dass die Akkumulationsbewegung der bestimmende Pol dieses Verhältnisses ist.

„Das Gesetz der kapitalistischen Produktion, das dem angeblichen ‚natürlichen Populationsgesetz‘ zugrunde liegt, kommt einfach auf dies heraus: Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist nichts als das Verhältnis zwischen der unbezahlten, in Kapital verwandelten Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen zuschüssigen Arbeit. Es ist also keineswegs ein Verhältnis zweier voneinander unabhängigen Größen, einerseits Größe des Kapitals, andrerseits der Zahl der Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge der von der Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern.“ (10)

Marx fasst hier zusammen, was er im Kapital über „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ an anderer Stelle noch prägnanter zusammenfasst:

„Es sind diese absoluten Bewegungen des Kapitals, welche sich als relative Bewegungen in der Masse der exploitablen Arbeitskraft widerspiegeln und daher der eigenen Bewegung der letzteren geschuldet scheinen. Um mathematische Ausdrücke anzuwenden: die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt.“ (11)

Marx verdeutlicht hier nicht nur kategorisch das Verhältnis von Akkumulations- und Lohnbewegung. Er verweist auch darauf, dass dieses Verhältnis an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft verkehrt erscheint. Ein beträchtlicher Teil der bürgerlichen Pseudo-Wirtschaftswissenschaft, der „Vulgärökonomie“ baut seine ganze „Weisheit“ auf dieser Erscheinung auf, dass die Lohnhöhe die Investitionen usw. bestimme – was in der platten neoliberalen Formel endet, dass doch die ArbeiterInnen „Zurückhaltung“ üben sollten, damit „die Wirtschaft“ auch in ihrem Interesse wachse.

Doch auch die Operaisten und Autonomisten sitzen diesem Schein auf! Auch sie drehen dieses Verhältnis regelrecht um. Diese Position geht im wesentlichen auf Mario Tronti, einen anderen Autor der QR zurück.

„Wir haben die Ware Arbeitskraft als eigentlich aktive Seite des Kapitals betrachtet,  als natürlichen Sitz jeder kapitalistischen Dynamik. Sie ist nicht nur Protagonist in der  erweiterten Reproduktion des Verwertungsprozesses, sondern auch in den ständigen revolutionären Veränderungen des Arbeitsprozesses. Selbst die technologischen Veränderungen werden diktiert und durchgesetzt durch die im Wert der Arbeitskraft eingetretenen Veränderungen. Kooperation, Manufaktur, große Industrie sind nur „besondere Methoden der relativen Mehrwertproduktion“, Formen, die von jener Ökonomie der Arbeit  verschieden sind, die ihrerseits die zunehmenden Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals hervorruft. Das Kapital wird immer abhängiger von der  Arbeitskraft; diese muß es deswegen immer umfassender besitzen, ebenso wie es die  natürlichen Kräfte ihrer Produktion besitzt; es muß die Arbeiterklasse selbst zur Naturkraft der Gesellschaft reduzieren. Je mehr die kapitalistische Entwicklung voranschreitet,  desto stärker ist der Gesamtkapitalist darauf angewiesen, die ganze Arbeit innerhalb des  Kapitals zu sehen, muß alle Bewegungen – innere und äußere – der Arbeitskraft kontrollieren, und ist gezwungen, das Verhältnis von Kapital und Arbeit langfristig zu planen,  als Stabilitätsindex für das Gesellschaftssystem. Sobald das Kapital alle Bereiche außerhalb der Produktion im engeren Sinne erobert hat, beginnt sein Prozeß der inneren Kolonisierung; so kann man erst, wenn sich endlich der Kreis der bürgerlichen Gesellschaft  schließt – Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion – recht eigentlich von  dem Beginn der kapitalistischen Entwicklung sprechen. An diesem Punkte gesellt sich  der Prozeß der objektiven Kapitalisierung der subjektiven Kräfte der Arbeit notwendig zu  dem Prozeß der materiellen Auflösung des Gesamtarbeiters und damit des Arbeiters  selbst, insofern er Arbeiter ist: er ist selbst auf eine Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise reduziert und damit eine Funktion des Kapitalisten. Es ist klar, daß die  Integration der Arbeiterklasse in das System zur Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus wird: die Ablehnung dieser Integration durch den Arbeiter hindert das System am  Funktionieren. Es wird nur eine Alternative möglich: dynamische Stabilisierung des Systems oder proletarische Revolution.“ (12)

Die Krise erscheint nicht als notwendige Folge der Akkumulationsbewegung, als notwendiges Resultat der Kapitalbewegung selbst, sondern als „Antwort“ auf die Aktionen der Arbeiterklasse.

Diese kann selbst die Krise herbeiführen oder gar verschärfen, indem sie den ökonomischen Kampf zuspitzt. Es ist daher auch klar, warum die Lohnforderung einen so zentralen Stellenwert beim Operaismus besitzt.

“Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muß das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf. Auf der Ebene des gesellschaftlich entwickelten Kapitals ist die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen, und der politische Mechanismus der eigenen Produktion muß ihnen entsprechen.” (13)

Der Klassenbegriff des Operaismus

Im obigen Zitat Panzieris klingt auch eine wesentlich (industrie-)soziologische Bestimmung des „revolutionären Subjekts“ an. Im Text sind das die „Arbeiter in den Schlüssel- und Wachstumsindustrien“.

In der operaistischen Theorie der 1960er und der frühen 70er Jahre ist es der „Massenarbeiter“, der aufgrund seiner besonderen Stellung im Produktionsprozess der Kern der revolutionären Umwälzung und das Zentrum und der Ausgangspunkt der politischen Organisierung sei.

In den 50er/60er Jahren sei es in Italien zu einer „Neuzusammensetzung“ der Arbeiterklasse gekommen (ein Prozess, der in anderen Ländern, z.B. den USA schon viel früher verortet wird). Diese „neue Zusammensetzung“ hat einen neuen „Typus“ von Arbeiter hervorgebracht, den „Massenarbeiter“. Darunter können wir uns, grob gesagt, den Fließbandarbeiter, den Proletarier in der Fabrik vorstellen, die gemäß „wissenschaftlicher Betriebsführung“ organisiert ist und den einzelnen ArbeiterInnen nur noch sinnentleerte, mechanische Tätigkeiten zuordnet.

“Im operaistischen Denken ist die materialistische Instanz ein entscheidendes Element der ganzen Theorie: man könnte auch sagen, daß gerade das materialistische Interpretationskriterium es erlaubte, historisch-logisch korrekt die Aufeinanderfolge der Arbeiterfiguren in der Geschichte des Kapitalverhältnisses zu rekonstruieren. Indem man als Festpunkt jeder Analyse die Beziehung der Körper zu den Arbeitsinstrumenten nahm, der Denk- und Handlungsweisen zu den Produktionsweisen, der  Subjektivität zur Objektivität, wurde klar, daß die politischen Verhaltensweisen, die Formen, die vom Klassenkampf ausgedrückten Bedürfnisse sich bestimmt haben und sich bestimmen auf der Basis der objektiven Beziehung der Arbeit zum Kapital, des Menschen gegenüber der Maschine. So daß der professionelle Arbeiter angesichts einer nur formalen Subsumption seiner Arbeit unters Kapital für die Wiederaneignung der Produktionsmittel kämpfte, für die Selbstverwaltung der Fabrik – und der Massenarbeiter direkt gegen das physische Bestehen des Kapitals, seine technische Seinsweise, Ausdruck einer nun auch realen Subsumption seiner Arbeit. Der revolutionäre Prozeß definierte und definiert sich also in bezug auf die Arbeiterfigur, die in der kapitalistischen Arbeitsorganisation dominiert oder zur Dominanz tendiert. Die technische Zusammensetzung der Klasse bestimmt genau den Ausschnitt der Klasse, auf den das Kapital den Akkumulationsprozeß zu stützen versucht; die politische Zusammensetzung der Klasse definiert den materiell bestimmten Charakter ihres Antagonismus.“ (14)

Dieses Zitat eines Vertreters der autonomen Richtung verdeutlicht den Unterschied zwischen Marxismus und Autonomismus schon beim Klassenbegriff. Im Marxismus ist der Klassenbegriff – anders als in der bürgerlichen Soziologie – immer einer des Verhältnisses. So scheint der autonome Autor auch zu beginnen, doch führt er das Verhältnis zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse dann alsbald in die Fabrik, aus der dann schließlich eine historisch bestimmte „Arbeiterfigur“ hervortritt, auf die hin sich der „revolutionäre Prozeß definierte und definiert“.

Entscheidend ist hier: Die Arbeiterklasse wird nicht definiert im Verhältnis zur Kapitalistenklasse, also aufgrund ihrer Stellung in einem gesellschaftlichen Produktionsverhältnis, sondern aufgrund ihrer Stellung zu einem bestimmen Produktionsmittel, zum Arbeitsmittel.

Im Grunde sitzt hier der Operaismus – wieder einmal – der Fetischisierung durch das Kapitalverhältnis selbst auf. In der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen Klassen tatsächlich auf den ersten Blick als eine Gruppe von Menschen, die sich durch gemeinsame Eigenschaften auszeichnen, z.B. bestimmte Einkommensgruppen, bestimmte Verhaltensweisen (Habitus), gemeinsame Kenntnisse (Wissen, „intellektuelles“ Kapital) u.ä. Im Operaismus geht es methodisch ähnlich zu. Hier ist es nur eine gemeinsame Stellung zur Technologie, zu einem bestimmten Arrangement der Produktionsorganisation, die eine bestimmte „Arbeiterfigur“ hervorbringt.

Aus dem Verhältnis zum Arbeitsmittel erwächst dann auch das „Bewusstsein“. Der „professionelle Arbeiter“ – gemeint ist hier der Facharbeiter – hätte daher immer für die „Selbstverwaltung der Fabrik“ kämpfen wollen, während der „Massenarbeiter“ „gegen das physische Bestehen des Kapitals“ antrete.

Aus dieser Vorstellung folgt auch die Konzentration der frühen autonomen Bewegung nicht nur auf den Lohnkampf, der ja auch dem Kapital „immer mehr wegnimmt“, sondern auch die Begeisterung für Sabotage als Klassenkampfform oder überhaupt für den „Kampf gegen die Arbeit“.

Diesen Zusammenhang von Arbeitsorganisation und vorherrschender Technologie mit der Frage des revolutionären Bewusstseins verdeutlich der Autor noch einmal in seinem Beitrag.

“Die Klassenzusammensetzung des Massenarbeiters stellte das dar, was in der Statistik ein »Kollektiv« ist, also die Basiseinheit der wissenschaftlichen Beobachtung: ein Ensemble homogener Einheiten mit einem bestimmten »Merkmal«. In unserem Fall: ein Ausschnitt der Arbeitskraft, der materiell homogenisiert wird durch eine bestimmte Beziehung zur kapitalistischen Technologie (dem Fließband) und einem daraus folgenden politischen Verhalten: Forderung nach Lohn als Einkommen, Verweigerung der Arbeit, Sabotage.“ (15)

Hier tritt also ein Grundfehler des Operaismus noch einmal deutlich zutage, der weit reichende politische Konsequenzen hat. Für ihn erwächst Klassenbewusstsein aus einer bestimmten Stellung, aus dem „Sein“ des Massenarbeiters, aus dem Sein eines bestimmten „Arbeitertyps“.

Dieses muss nur „unbefleckt“ zum Vorschein kommen. Die Aufgabe der revolutionären Organisation besteht gewissermaßen darin, diesen Prozess anzuschieben und gegen jene anzukämpfen, die ihn zu behindern versuchen.

„Im gemeinsamem Kampf mit den Protagonisten des Kampfes der arbeitenden Klassen selbst die Ziele und die Formen (zu) suchen, mit denen der aktuell geführte Kampf selbst die Richtung auf die bewusste Verwirklichung eines sozialistischen Systems nehmen kann; die Umwandlung der objektiven Kräfte in subjektive, politisch bewusste Kräfte, in einer Perspektive der Überwindung des bestehenden Systems, die die partikularistischen Forderungen, Resultate der unterschiedlichen Ebenen (…) verbindet zu verallgemeinerten hypothetischen Synthesen, die sich der Lebensnerven des Systems bedienen und die aus dem Inneren der Bewegung des Klassenkampfes selbst die Orientierung seiner entwickeltsten Spitzen geben.“ (16)

Diese Formulierungen erinnern frappant an die Texte der Ökonomisten in der russischen Sozialdemokratie, die sich heftig gegen die Position Lenins und seiner Anhänger wandten. Dieser hatte darauf insistiert, dass revolutionäres Klassenbewusstsein nicht organisch aus dem ökonomischen/betrieblichen Kampf der ArbeiterInnen erwachsen könne, sondern von außen, durch eine organisierte revolutionären Kraft – die kommunistische Partei – in die Klasse getragen werden müsse. Die Ökonomisten hingegen erblicken im ökonomischen Kampf und dem sich daraus entwickelnden Bewusstsein schon „proletarisches Klassenbewusstsein“, während Lenin zu Recht darauf bestand, dass es sich dabei um „nur-gewerkschaftliches Bewusstsein“ handelt und handeln kann.

Die Operaisten der 60er Jahre begehen denselben Fehler, allerdings mit einer anderen Stoßrichtung. Während die russischen Ökonomisten den revolutionären Kampf abschwächen wollten, wollten die Operaisten diesen befördern. Den politischen Konsequenzen dieses Fehlers entgehen sie allerdings nicht, obwohl der „Operaismus“ gegen Ende der 60er Jahre einen enormen politischen Zulauf erhält und einen starken organisatorischen Aufschwung nimmt.

Operaismus und Klassenkämpfe der 1970er Jahre

Zunächst führten die konzeptionellen Vorstellung der Operaisten aber in den QR zu einer Differenz über der Frage, ob es sinnvoll sein, überhaupt noch in den bestehenden Organisationen der Arbeiterbewegung, also den reformistischen Parteien, aber auch in Gewerkschaften zu arbeiten oder nicht. 1962, nach Massenstreiks bei Fiat, wo erstmals der „Massenarbeiter“ in Aktion zu sehen war, wurde diese Frage immer wichtiger und führte 1963 zur Spaltung. Die Gruppe um Marco Tronti und Antonio Negri hielt eine Orientierung an den traditionellen Arbeiterorganisationen für immer weniger sinnvoll und gründete schließlich die politisch offensivere Zeitschrift „Classe Operaia“ (Arbeiterklasse, CO), deren erste Nummer 1964 erschien und die politischen Grundlagen des Operaismus weiter ausarbeitete.

Doch dies war erst der Beginn autonomer Organisationen. Ein Teil von Classe Operaia formierte sich ab 1969 als Potere Operaia (Arbeitermacht), die erste operaistische Organisation im eigentlichen Sinn, die rasch auf mehrere tausend Mitglieder anwuchs. Der Operaismus erhielt in dieser Phase Zulauf aus der Arbeiterradikalisierung und der Jugend.

Er beeinflusste auch zum Teil das Denken anderer Organisationen aus der radikalen Linken wie Lotta Continua, Il manifesto und Avanguardia Operaia.

Diese Gruppierungen waren selbst noch klar auf Kernschichten der Arbeiterklasse, den „Massenarbeiter“ orientiert. Dieser war für sie „das revolutionäre Subjekt.“ Sie vertraten überdies einen positiven Bezug zum „Leninismus“ (oder was sie darunter verstanden), zum Maoismus (besonders zur „proletarischen Kulturrevolution“) und zur Notwendigkeit einer „straffen revolutionären Organisation“. D.h. die Operaisten oder vom Operaismus mehr oder weniger stark beeinflusste Strömungen der späten 60er/frühen 70er Jahre verstanden sich also durchaus als Kaderorganisationen.

Ende der 60er Jahre schien ihnen die Entwicklung des Klassenkampfes in Italien Recht zu geben – und zwar im „Vorzeigebetrieb“ des italienischen imperialistischen Kapitalismus, bei FIAT.

Die Fabrik in Turin war mit 170.000 (!) Beschäftigten ein industrieller Gigant. Dabei hatten es die Konzernführung und das Management verstanden, in den 50er Jahren, die „linken“ Gewerkschaften (also die KP-nahe CGIL) massiv zu schwächen und durch offen gelbe Gewerkschaften, die SIDA (Sindicato Italiano dell‘ Automobile) zu ersetzen.

Trotzdem brachen dort 1962 massive Kämpfe aus. Darin spielten die „Massenarbeiter“, d.h. FließbandarbeiterInnen, die zum größten Teil aus Süditalien angeworben worden waren (auch um die linken Gewerkschaften zu schwächen), eine radikale Schlüsselrolle. Die Kämpfe führten in den 60er Jahren zu zwei Resultaten: einerseits konnte sich die CGIL re-etablieren, andererseits stieg auch der Einfluss des Operaismus, der „Arbeiterautonomie“ in der Fabrik. Diese organisierten sich bei FIAT wie in ganz Norditalien in den Basiskomitees CUB (Comitati Unitari di Base).

1968 beginnt die Wirtschaftskrise die italienische Ökonomie zu treffen. Es kommt zu ersten Streiks und Kämpfen gegen die Abwälzung der Krisenkosten bei FIAT, doch stehen diese noch unter Führung und Hegemonie der Gewerkschaftsapparate.

1969 kippt die Sache. Eine zweite Streikwelle beginnt im Frühjahr 1969, als die Beschäftigten von FIAT Turin in einen Solidaritätsstreik mit den von der Polizei belagerten ArbeiterInnen der süditalienischen Kleinstadt Battipaglia traten (bei der Belagerung waren Arbeiter von der Polizei erschossen worden). Die Unruhe der Arbeiter schwoll zu einer breiten Streikbewegung an: zum „roten“ oder „schleichenden Mai“ (maggio striciante).

Die Gewerkschaftsführungen sahen sich jetzt basisdemokratischen Entwicklungen gegenüber. Die ArbeiterInnen tauschten die gewerkschaftliche Streikleitung durch eigene, von Vollversammlungen gewählte, jederzeit abwählbare Delegierte aus. Teilweise wurden die Gewerkschaftsvertreter auf den Vollversammlungen ausgepfiffen oder gar ausgeschlossen. Vor den großen Fabriken fanden wöchentlich öffentliche Vollversammlungen statt, so dass ArbeiterInnen aus der gesamten Umgebung daran teilnehmen konnten.

Diese zweite Kampfeswelle gipfelte am 3. Juli in einem Generalstreik in Turin gegen die allgemeinen Mieterhöhungen in der Stadt.

Es kam zu einer Konvergenz von Studenten- und Arbeiterbewegung. Während Studierende sich als Streikposten betätigten, nahmen ArbeiterInnen an den Demos der StudentInnen teil. Im Rahmen eines Streiks im Juli 1969 beteiligten sich die Bewohner des Turiner Stadtviertels Mirafiori an Zusammenstößen mit der Polizei, was Ausdruck einer gesellschaftlichen Verbreiterung der Forderungen der autonomen ArbeiterInnen war.

Den Höhepunkt erreichten die Streikaktivitäten im Herbst 1969. Eine ganze Streikwelle durchzog Norditalien mit dem Zentrum Turin, genauer der Turiner FIAT-Werke. Dort erwiesen sich die CUBs – anders als noch 1968 – als Organisationsform und betriebliche politische Führung, die im Kampf die CGIL ablösen konnte. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass diese Organisationsform besser geeignet war, neu aktivierte Arbeiterschichten in Bewegung zu setzen, sie zum tätigen Subjekt ihrer Kämpfe werden zu lassen.

Trotz dieser Dynamik, Radikalisierung und Kräfteverschiebung in der Arbeiterklasse offenbarte der Operaismus schon 1969 seine politischen Schwächen in eklatanter Art und Weise:

1.   Die Analyse der Krise durch operaistische Organisationen wie Potere Operaio oder auch die 1969 gegründete Lotta Continua waren falsch und desorientierend. V.a. Potero Operaio interpretierte die Krise als Resultat der Arbeiterkämpfe und als „Antwort des Kapitals“ auf die Klasse!

2.   Auch die Radikalisierung der Arbeiterklasse wurde einseitig und falsch aufgefasst, als wurzle sie in erster Linie in spezifisch italienischen Bedingungen – der Migrationsbewegung aus dem Süden und der damit verbundenen Entstehung des „Massenarbeiters“ – und wäre nicht v.a. Teil und Ausdruck einer internationalen Entwicklung!

3.   Die Operaisten hatten überhaupt keine politische Antwort auf die Krise des italienischen Kapitalismus. Die Regierung war in sich zerstritten, was selbst einen politischen Konflikt in der herrschenden Klasse widerspiegelte, nämlich die Frage, ob es zur „Reform“ der Ökonomie und des Staates  notwendig wäre, die KPI in die Regierung zu integrieren.

4.   Gab es Zusammenstöße der Massenstreiks, der Studentenbewegung, der ArbeiterInnen und Jugendlichen mit dem Staatsapparat. Das bedeutete, dass die Herrschenden an einem toten Punkt angelangt waren, nicht mehr so konnten, wie sie wollten und nach einer Neuordnung des Kräfteverhältnisses und der sozialen Basis ihrer eigenen Regierung suchten. Zugleich waren sie mit einer Arbeiterklasse konfrontiert, die das Land durch eine Reihe von Massenstreiks erschütterte. Kurz gesagt: Italien befand sich in einer vor-revolutionären Situation. Worin bestand nun das Programm der Operaisten  diese vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären zu machen? Welches Programm hatten sie, der Arbeiterklasse einen Weg zur Macht zu weisen? Es existierte nicht!

5.   So erwiesen sich die Operaisten als unfähig und unwillig, 1968 bei den Massenstreiks für die Ausweitung der Streiks zu einem unbefristeten Generalstreik einzutreten! Sie verabsäumten das und erhoben diese Forderung nie! Im Gegenteil: einige von Operaisten fast schon fetischisierte Kampfformen, z.B. das Langsamarbeiten, das angeblich „das Kapital selbst“ angriff, erwiesen sich in dieser Periode zunehmend eher als Bremsklotz, denn als ein Mittel, die Massenbewegung zu bündeln und zu einer politischen Streikbewegung gegen die Regierung zu machen.

6.   Ebenso verabsäumten sie es, die Frage der Arbeiterkontrolle aufzuwerfen, obwohl sie über eine Massenbasis, z.B. FIAT, verfügten. Gerade diese Forderung hätte jedoch eine zentrale Bedeutung dabei gehabt, ausgehend von der spontanen Massenbewegung in den Betrieben und auf der Straße, Organe der proletarischen Doppelmacht aufzubauen und, gestützt auf die Großindustrie, über das ganze Land auszuweiten. So hätten die industriellen Bastionen zum Vorbild für die Bildung von Fabrikkomitees und Arbeiterräten im ganzen Land werden können – und damit zu Kampforganen gegen die Macht der Kapitalisten und des Staates und zu Keimzellen einer zukünftigen, proletarischen Macht.

7.   Ebenso lehnten einige der operaistischen Gruppen oder vom Operaismus beeinflusste Gruppierungen wie Lotta Continua die Forderung nach Vollversammlungen und Wahl von Delegierten ab, da diese die „Initiative der Basis“ behindern könnten. Dieses Pseudoargument zeigt, wie tief der Operaismus und die „radikale Linke“ schon damals „im Milieu“, in dem Fall dem des „Betriebs“ verstrickt war. Ohne gewählte und abwählbare Delegierte von Vollversammlungen hätte sich nie eine alternative, von den ArbeiterInnen kontrollierte Kampfführung landesweit bilden lassen. Die Losung des Generalstreiks hätte eng damit verbunden werden müssen. Mehr noch aber hätten RevolutionärInnen in Italien – gerade 1969 – für einen landesweiten Delegiertenkongress der ArbeiterInnen agitieren müssen.

8.   Ein solche Perspektive hätte die Frage nach dem Generalstreik und dem Kampf für ein Programm der Arbeiterklasse gegen die Krise auf die Tagesordnung gesetzt: ein Programm der politischen Machtergreifung der Klasse. Genau das war und ist dem Operaismus – wie all seinen autonomen Nachfolgern – völlig fremd. Er kennt kein Programm der politischen Machtergreifung und noch weniger kennt er Taktiken gegenüber anderen, in der Arbeiterklasse verankerten Organisationen, um deren Einfluss zu brechen.

9.   So hatten die Operaisten „natürlich“ überhaupt keine Forderungen und keine Taktik gegenüber der angeblich „erledigten“ KP. Sie hatten keine Forderungen an die Gewerkschaften, sie hatten keine Forderung für die ungelösten demokratischen Fragen Italiens oder für die sozialen Probleme der Bauernschaft und des Südens. Damit hatten sie aber auch kein Mittel, um die proletarische Massenbasis der PCI von ihrer Führung zu brechen. Das war zusätzlich fatal, weil die PCI trotz ihrer erzreformistischen Politik in den 70er Jahren weiter die größte und am besten verankerte Partei in der Arbeiterklasse war und – parallel zur rasch wachsenden radikalen Linken – ihren Einfluss ausbauen konnte. Daher wären Forderungen an die Reformisten wie jene nach einem Bruch mit ihrer Koalitionspolitik (z.B. kein Pakt mit der Regierung!) entscheidend gewesen, um deren proletarische Massenbasis für den Kampf und letztlich für die Revolution zu gewinnen.

10. Die Politik der Operaisten, die weder in der Lage waren, ein revolutionäres Programm zur Machtergreifung vorzulegen, noch einen Weg, die Massen von reformistischen/bürgerlichen Führungen zu brechen und für die Revolution zu gewinnen, musste letztlich scheitern – und sie ist gescheitert. Wir halten uns hier nur deshalb so lange an diesem Punkt auf, um zu zeigen, dass es kein vermeintlich glorreiches Zeitalter des „Arbeiterautonomismus“ gibt, dass er schon bei seiner ersten großen historischen Bewährungsprobe – in einer vorrevolutionären Krise – versagt hat.

11. Entscheidend für dieses Versagen war das grundlegend falsche Verständnis des Operaismus und des späteren Autonomismus vom Verhältnis revolutionärer Avantgarde/Partei/Organisation zu den Massen. Im Operaismus sollte der „Massenarbeiter“ die Massen einfach qua seiner Initiative, durch sein Tun „mitreißen“ und die Hindernisse zur deren Revolutionierung, deren passive Elemente und Bindungen an die bestehende Gesellschaft hinwegspülen. Im Marxismus ist das ganz anders. Die Aufgabe der Avantgarde erschöpft sich keineswegs darin, durch besondere Radikalität der eigenen Aktion, durch „Vorstürmen“, andere mitzureißen. Sie muss auch ein politische Strategie, eine Programm vorlegen, das eine Lösung für alle grundlegenden Probleme einer Gesellschaftsordnung beinhaltet – also nicht nur Schritte, Aktivitäten für die „Avantgarde“ oder die „Kämpfenden“, sondern z.B. auch für die Bauernschaft, für weniger klassenbewusste Schichten der Lohnabhängigen. Sie muss diese in einem Programm bündeln, das deutlich macht, dass nur die Arbeiterklasse in der Lage ist, ein solches Programm umzusetzen, also die gesamte Gesellschaft so zu reorganisieren, dass die Bedürfnisse aller Unterdrückten befriedigt werden können; sie muss verdeutlichen, dass sie zur Realisierung eines solchen Programms selbst die politische Macht übernehmen muss.

Vom Massenarbeiter zum „Gesamtarbeiter”

Der Heiße Herbst 1969 hatte wichtige Konsequenzen. Die italienische Regierung und die Unternehmer reagierten auf die Arbeitermilitanz mit einer Reihe von Zugeständnissen. Als Folge der Kämpfe und des Generalstreiks 1969 wurden vergleichsweise hohe Lohnerhöhungen erwirkt, das Lohnniveau näherte sich 1970 an die Nachbarländer Italiens an, weiter wurden die 40-Stunden-Woche und der Abbau von Lohngruppen durchgesetzt. Im Mai 1970 wurde im Parlament ein neues Arbeiterstatut verabschiedet, das einen weitgehenden Kündigungsschutz garantierte sowie gewerkschaftliche Handlungsfreiheit im Betrieb einführte. Die CUB wurden als Vertretungsorgane der ArbeiterInnen politisch anerkannt.

Zugleich fand in den Betrieben eine massive Umstrukturierung statt, die die Arbeitsabläufe so veränderte, dass die in den Kämpfen sichtbar gewordene und gestärkte Kollektivität und Klassenbindung geschwächt wurde. Dabei waren die Unternehmer einigermaßen erfolgreich. Zwar kam es 1973 zu einer neuen Welle von Arbeitermilitanz, aber es war auch klar, dass das Fabrikregime einen Wandel durchlief.

Ein Resultat war, dass die Unternehmer politisch gegen die Militanten in den Fabriken in die Offensive gingen und alles versuchten, deren Strukturen zu zerschlagen und ihre AktivistInnen zu feuern. Das gelang auch, insbesondere Mitte 70er Jahre verloren hunderte AktivistInnen in kleineren oder mittleren Betrieben – oft nach erbitterten Kämpfen – ihre Jobs.

Das ging damit einher, dass andere politische Bewegungen öffentlich viel stärker und dynamischer in Erscheinung traten: die Frauenbewegung, die StudentInnen an den Universitäten und die Hausbesetzerbewegung.

Dies führte dazu, dass sich das Konzept des „neuen Massenarbeiters“ als brüchig erwies und ein anderes „Subjekt“ anstelle der bisherigen „Arbeiterfigur“ zu treten schien – der „gesellschaftliche Arbeiter“.

Theoretisiert wurde diese Entwicklung durch einen Teil der Autonomisten unter Federführung von Toni Negri. Dieser ging davon aus, dass die Krise – wiewohl in wesentlichen Aspekten ungelöst – zu einer „Neuzusammensetzung“ der Arbeiterklasse geführt hätte. Das Kapital wäre gezwungen worden, der Arbeit einen „noch abstrakteren“ Charakter zu geben und seinen gesellschaftlichen Charakter auszuweiten. Der „Massenarbeiter“ hätte diese Tendenz schon angezeigt, aber dieser hätte nur einen bestimmten Teil der Klasse, die ArbeiterInnen in der Metallindustrie betroffen: die Avantgarde. Nunmehr aber hätte dieser Prozess die gesamte Gesellschaft ergriffen. Die neue, dem adäquate „Arbeiterfigur“ wäre der „operaio sociale“, der gesellschaftliche Arbeiter.

Mit der Krise hätten eine Veränderung in der Funktionsweise des Staates, ja aller gesellschaftlichen Bereiche im Bezug zur Arbeit stattgefunden, die diese Bereiche gewissermaßen „fabrikmäßig“ zu organisieren beginne. Alle Arbeit, alle Tätigkeit, ob in der Fabrik, im Büro, an der Uni würde unter das Kapital reell subsumiert. Damit aber hätte auch die Scheidung von produktiver zu unproduktiver Arbeit ihren Sinn verloren.

Mehr noch: Der gesellschaftliche Grundwiderspruch selbst verändert sich – der Widerspruch von Kapital und Arbeit wird zum Widerspruch von Proletarier und Staat.

Damit ändern sich auch die zentralen Forderungen und Kampfformen. Beim Massenarbeiter stand für den Operaismus der Lohnkampf im Vordergrund, als zentrale Form des Klassenkampfes. Das ist nun vorbei, schließlich sind „wir“, ja alle Teil des „gesellschaftlichen Arbeiters“, ob nun Fabrikarbeiter, Hausbesetzer, Feministin, StudentIn usw. usf. Anstelle der Forderung nach Lohn treten Forderungen wie die nach „Aneignung“ oder nach „garantiertem Lohn für alle“ – auch ohne Arbeit!

Dass solche Forderungen und Positionen Brüche mit den aus den Betrieben kommenden Arbeiterautonomen mit sich brachten, war klar. So berichtet Wright in „Den Himmel stürmen“ von einer Kontroverse in der Autonomia – einem heterogenen Verband von autonomen Gruppierungen ab 1973. Eine Gruppe von ArbeiterInnen von Alfa Romeo, kritisierte die Losung nach einem „garantierten Lohn für alle und jeden“ von einem proletarischen Standpunkt aus. Die Sache endete jedoch damit, dass die GenossInnen „isoliert blieben“ und ein „paar Monate später die Autonomia“ verließen. (17)

Das illustriert eine Entwicklung der autonomen Bewegung der 70er Jahre, die mit der Theorie des „gesellschaftlichen Arbeiters“ theoretisiert wurde. Anders als die Operaisten der 60er Jahre traten in den 70ern immer mehr nichtproletarische Schichten ins Zentrum der autonomen Bewegung, Organisierung und Aktion. Die Klassenbasis der Autonomen setzte sich „neu zusammen“ – weg vom Industriearbeiter, hin zum Studenten, zum Hausbesetzer. Revoltierende sub-proletarische oder proletarische Jugendliche oder Arbeitslose, deren Aktionen zur Illustrierung der Theorie vom „neuen Gesamtarbeiter dienten, spielten in der realen autonomen Bewegung demgegenüber eine untergeordnete, bis vernachlässigbare Rolle.

D.h. die soziale Basis der Autonomen verkleinbürgerlichte. Die Autonomen entwickelten ihr auch heute bekanntes Gepräge als Form des kleinbürgerlichen Radikalismus.

Diese Entwicklung ging einher vor dem Hintergrund des Niedergangs des radikalen, kämpferischen Flügels der italienischen Arbeiterklasse in den 70er Jahren. Schon vor der Niederlage 1977/79 hatten die Operaisten und Autonomisten viele ihre betrieblichen Positionen verloren, wurden zunehmend aus den Unternehmen gedrängt, isoliert, zuerst v.a. in den mittleren und kleineren Unternehmen – oft unter Mithilfe der reformistischen Gewerkschaften und Parteien.

Aber die Operaisten erwiesen sich auch politisch unfähig, eine politische Antwort auf das Erstarken der PCI Anfang/Mitte der 70er Jahre zu geben, die ironischerweise auch auf die Reformen oder Zugeständnisse zurückzuführen war, die der italienische Staat zeitweilig aufgrund der militanten Arbeiterkämpfe gewähren musste. In jedem Fall erwies sich, dass die operaistische Vorstellung falsch war, dass das „eigentliche“ Arbeiterbewusstsein spontan in eine militante oder kämpferische Richtung drängte, dass vielmehr bürgerliches und reformistisches Bewusstsein (und damit die darauf fußenden Organisationen) eine materielle Basis in der Klasse hat. Dieser Reformismus kann nur durch geduldigen und entschlossen Kampf gegen die reformistischen Organisationen gewonnen werden, der sich auch der Mittel der politischen Taktik (Einheitsfront etc.) bedient.

Die meisten Autonomen der 70er Jahre schlugen jedoch den umgekehrten Weg ein. Sie sahen die PCI und die Gewerkschaften einfach als nur bürgerliche und repressive Kräfte, die nicht nur mit den Unternehmern oder dem bürgerlichen Staat eng kooperierten, sondern mit ihnen im Grunde zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmolzen waren.

Diese Sicht wurde stellenweise auch noch pseudo-marxistisch zu untermauern versucht, z.B. mit Negris These, dass es in der Krise keine Reformen und ergo keinen Reformismus geben könne. Daraus wurde deduziert, dass „folgerichtig“ die PCI auch keine reformistische Partei sein könne.

Wiewohl solche Positionen sicher durch die reale Politik der PCI – ihre Denunziation von Militanten, die brutale Repression auch in den von ihr regierten Kommunen, v.a. ihre strategische Orientierung auf einen „historischen Kompromiss“ mit der Christ-Demokratie – auch genährt und scheinbar bestätigt wurden, so waren sie politisch auch ein Fallstrick für die Autonomie.

Das Anwachsen von Bewegungen, besetzten Häusern, Stützpunkten an den Unis, aber auch von neuen Kommunikationsmitteln wie z.B. Radiostationen verursachte mehr und mehr Aufruhr bei der herrschenden Klasse, bei der Regierung und der PCI. Eine scharfe Denunziationskampagne gegen die Autonomen, die des „Terrors“ bezichtigt wurden, setzte ein. Die PCI verglich deren Aktionsformen mit denen der Faschisten.

Die Militanz und Kampfkraft der neuen Autonomie, aber auch die Größe und Dynamik erreichten 1977 ihren Höhepunkt. Im Februar und März wurden fast alle Unis Italiens besetzt. Im Frühjahr gehen die Besetzungen weiter, oft von Massendemonstrationen 10.000er begleitet, bei denen es immer zu Zusammenstößen mit der Polizei kommt.

Teilweise werden die Konflikte besonders in KP-dominierten Städten wie Bologna angeheizt, wo es auch zu Kämpfen mit KP-Ordnern kommt. Am 17. März lässt dort die KP zusammen mit den bürgerlichen Parteien auch die „schweigende Mehrheit“ mit 200.000 TeilnehmerInnen aufmarschieren.

„Am 12. März kam es in Rom zu einer Demonstration von über 50.000 Menschen gegen die Verurteilung eines Anarchisten. Diese Demonstration eskalierte in eine der größten Straßenschlachten, die die italienische Hauptstadt jemals erlebt hatte. Dabei praktizierten Gruppen aus dem Strang der »Autonomia operaia organizzata« das von ihnen zuvor propagierte »neue Niveau der Auseinandersetzung«, die bewaffnete Aktion. Während der Demonstration wurden zwei Waffengeschäfte geplündert, unzählige Geschäfte, Cafés und Hotels verwüstet, hunderte von Autos und viele Busse umgestürzt und verbrannt. Büros und Zeitungen der regierenden Christdemokratischen Partei (DC) wurden mit Benzinbomben angegriffen. Der Ablauf dieser Demonstration markierte jedoch einen Wendepunkt in der weiteren Entwicklung der italienischen Autonomia. Viele DemonstrationsteilnehmerInnen fühlten sich durch die Dimension der Militanz überrumpelt und funktionalisiert, dies umso mehr, als der Großteil von ihnen dem militärischen Auftreten der Polizei und deren Racheaktionen nach Ende der Demonstration relativ unvorbereitet und hilflos gegenüberstand.

Die Entwicklung spitzte sich schließlich am 14. Mai bei einer Demonstration in Mailand zu. Gruppen von mit Knarren bewaffneten Jugendlichen griffen die Bullen an und töteten einen. Die Ereignisse führen zu einer verschärften Isolation der organisierten »Autonomia operaia« innerhalb der italienischen Linken. Mit einer zunehmenden Entsolidarisierung und einer massiven staatlichen Repression ging zugleich ein Zerfall des kreativen Strangs der Autonomia einher, der sich, durch staatliche Zugeständnisse begünstigt, in die Drogensubkultur der Großstädte, auf das Land oder in die Radikale Partei (in etwa vergleichbar mit den Grünen) zurückzog. Unter maßgeblicher Mithilfe der PCI, die in ihren Zeitungen die Namen von »Rädelsführern« der Autonomia abdruckte, wurden bis zum Sommer 1977 über 300 Autonome vom italienischen Staat in den Knast gesteckt, »Radio Alice« in Bologna wurde verboten und dessen Sendeeinrichtungen beschlagnahmt. Die staatliche Repression richtete sich gezielt gegen die Strukturen der Bewegung, wie z.B. Buchläden, Verlage, Zeitungsredaktionen usw. Vorwand aller Maßnahmen war die Konstruktion einer »subversiven Vereinigung«, die ein Komplott gegen den italienischen Staat vorbereitet haben sollte.

Weite Teile der Aktivisten aus dem Umfeld der »Autonomia operaia« versuchten, den Zerfall der Bewegung durch eine Steigerung der klandestinen Massengewalt (»Guerilla diffusa«) aufzuhalten und sahen nur noch in der militärischen Konfrontation mit dem Staatsapparat die Möglichkeit zur Entfaltung eines revolutionären Prozesses. »Ganze Vollversammlungen gehen in den Untergrund.« Diese Linie konnte jedoch die schwindende soziale Verankerung der politischen Bewegungen nicht mehr ersetzen. Am 7. April 1979 kam es schließlich zu hunderten von Verhaftungen (darunter auch Negri) gegen die »Autonomia operaia«. Von den 4.000 politischen Gefangenen des Jahres 1981 in Italien gehörten weit über 1.000 dieser Gruppierung an. Die Ereignisse vom 7. April 1979 wurden so zu einer strategischen Niederlage der italienischen »Autonomia operaia«, von der sie sich in den 80er Jahren nicht wieder erholt hat.“ (18)

Zusammenfassung: Was ist Autonomie?

Bevor wir zu den bundesdeutschen und heutigen Autonomen übergehen, wollen wir noch einmal unseren langen Abschnitt zum Operaismus und Autonomismus der 60er und 70er Jahre zusammenfassen und die entscheidenden Merkmale der „Autonomie“ kurz rekapitulieren.

„Die von mir gemeinte Autonomie ist die Klassenautonomie. (…) Autonomie in der doppelten Form: als Klassenbewegung, die Bewegung der Arbeitskraft gegen das Kapital, die Bewegung des Arbeiters als Subjekt der Produktion gegen seine gleichzeitige (Rolle) als Objekt der Verwertung. Aber auch und zugleich über den Fabrikbereich hinausgehend: als Tendenz oder Bewegung der abhängigen Massen gegen den Versuch des Kapitals, diese abhängigen Massen als Objekt der Umsetzung des Mehrwerts in Profit, als Konsumobjekte zu betrachten. In beiden Fällen bedeutet Autonomie den Versuch (…) der Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung sich selbständig von der Kapitalbewegung zu machen (…) Klassenautonomie bedeutet, (…) dass die Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig unabhängig vom ökonomischen Zyklus verläuft. (…) Autonomie bedeutet nicht eine Absage an das Organisationsprinzip, wohl aber eine Absage an irgendeine Organisation, die eine eigenes Organisationsinteresse entwickelt, das nicht mehr das Klasseninteresse ist.“ (19

Aus dem Zitat wie auch den bisherigen Betrachtungen ergeben sich folgende Punkte, welche „die Autonomie“, die autonome Bewegung prägen:

1. Ablehnung der Vorstellung, dass der Klassenkampf, der Befreiungskampf des Proletariats an bestimmte objektive Bedingungen gebunden ist, die nicht willkürlich durchbrochen werden können. Wir haben diesen Fehler schon oben, z.B. bei Tronti und seiner These nachgewiesen, dass die Lohnbewegung die Akkumulationsbewegung bestimme. Agnoli gibt dem eine andere „Beimengung“, wenn er z.B. sagt, „dass die Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig unabhängig vom ökonomischen Zyklus verläuft“.

2. Die Autonomisten/Autonomie gehen davon aus, dass es für die Arbeiterklasse möglich sei, sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft „selbstständig von der Kapitalbewegung“ zu machen. Das ist eine idealistische Flause, die letztlich den Klassencharakter der bürgerlichen Gesellschaft, die Tatsache, dass in dieser das Kapital über die Arbeit herrscht, ad absurdum führt, indem unterstellt wird, dass die Klasse von ihrer Stellung als ausgebeutete schon vor der sozialistischen Revolution (im Grunde sogar vor der Entwicklung einer revolutionären Krise oder Doppelmacht) sich „unabhängig“ von der Dominanz durch die herrschende Klasse machen könne!

3. Das ist jedoch keine „zufällige“ Abweichung oder Nebensache, sondern die Grundlage dafür, dass der Autonomismus die „stetige“ Ausweitung von „Freiräumen“, von „angeeigneten“ Zonen/Zentren, das zunehmend „militantere“ Tun, letztlich die Herbeiführung der Krise oder gar der Revolution als rein subjektiven Akt, als reine Folge von Einsicht und „konsequentem“ Handeln versteht.

4. Damit einher geht auch ein anderer Klassenbegriff als jener des Marxismus, wie wir schon beim „Massenarbeiter“ gesehen haben. Noch mehr trifft das auf den „gesellschaftlichen Arbeiter“ zu, der sich aus einem Sammelsurium von Schichten und Klassen zusammensetzt. Die revolutionäre Klasse ist dann auch nicht mehr durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, sondern zum Staat und durch ein Attribut seines Tuns geprägt. Wer gegen ihn kämpft, ist revolutionär. Wer nicht, nicht-revolutionär. Die subjektivistische Sicht der „Autonomie“, der Krise, der Revolution führt also auch zu einer rein subjektivistischen Sicht des „revolutionären Subjekts“.

5. Aus diesem Subjektivismus ergeben sich u.a. folgende wesentliche politische Konsequenzen hinsichtlich der Kampfformen, der Taktik usw., die ebenfalls subjektivistisch und moralistisch und nicht politisch-taktisch bestimmt sind:

a. Fetischisierung bestimmter Kampfziele und -formen bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber anderen;

b. Ablehnung revolutionärer Taktiken gegen Reformismus und Gewerkschaftsführungen;

c. Vernachlässigung bis Ablehnung des politischen Kampfes;

d. Bruch mit dem Leninismus und dem Konzept der leninistischen Partei.

Autonome in Deutschland

Wie wir oben gesehen haben, hat sich die italienische Bewegung hinsichtlich ihrer Klassenbasis von den 60er Jahren bis Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre grundlegend verschoben. Von einer Bewegung mit proletarischer Basis in der Industriearbeiterschaft wurde sie zu einer kleinbürgerlichen Erscheinung mit einer längerfristigen sozialen Stütze unter den Studierenden (z.T. SchülerInnen) und in der Intelligenz.

Um nicht missverstanden zu werden, wollen wir hier kurz vorausschicken, dass wir keineswegs alle StudentInnen, SchülerInnen oder Intellektuellen für „kleinbürgerlich“ halten. Vielmehr setzen sie sich aus Kindern und Jugendlichen aller Klassen zusammen.

Unter den Studierenden ist naturgemäß der Anteil des Bürgertums und des gehobenen Kleinbürgertums deutlich größer als an den Schulen, während umgekehrt die Arbeiterklasse (v.a. deren untere Schichten) sowie die Bauernschaft weit geringer vertreten sind.

V.a. die Klassenlage der Studierenden hat auch insofern einen Übergangscharakter, als die Klassenherkunft keineswegs mit der Klassenzukunft der Studierenden identisch sein muss, also sowohl ein sozialer Aufstieg möglich ist, aber auch (v.a. in den letzten Jahren) eine Tendenz zur Proletarisierung der Tätigkeit zukünftiger AbsolventInnen.

Hinzu kommt, dass unter „den Studierenden“ trotz ihrer Heterogenität ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein als besondere Schicht existiert, was in gewisser Weise auch auf die Intelligenz selbst zutrifft.

Schließlich impliziert der Übergangscharakter und die relativ lange (verglichen mit der Schule oder Berufsschule) relativ selbstständige Tätigkeit auch, dass Studierende oft sehr sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, in gewisser Weise ein „Seismograph“ für gesellschaftliche Probleme und kommende Umbrüche sind, aber von der Gesellschaft insgesamt noch ignoriert werden.

Wichtig ist für unseren Zusammenhang, dass die soziale Stellung dieser Schicht wichtige Ähnlichkeiten mit jener des Kleinbürgertums (oder der lohnabhängigen Mittelschichten) aufweist. Sie stehen zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft – Bourgeoisie und Proletariat – und oszillieren auch ideologisch um sie.

Hinzu kommt, dass diese Schicht – wie das Kleinbürgertum oder lohnabhängige Mittelschichten – insgesamt sehr unterschiedliche politische Formen annehmen kann. Die Grünen z.B. sind eine Partei des gesellschaftlichen Konservatismus gewordenen, gehobene MittelschichtlerInnen, die am liebsten eine Gesellschaft des „sozialen Ausgleiches“ beibehalten möchte, die den Armen ausreichend „Führsorge“ und „Unterstützung“ angedeihen lässt, von den Reichen und Superreichen „Solidarität“, also Mäßigung ihres Gewinnstrebens fordert und selbst ihre Position in der scheinbar aufgeklärten Mitte verewigen will.

Auch die Autonomen waren und sind eine kleinbürgerliche Kraft – aber eine des „rebellierenden“ Kleinbürgers.

Als sie sich in Deutschland in den 80er Jahren zur stärksten Kraft der „radikalen Linken“ entwickelten, zogen sie v.a. ein jugendliches und studentisches Milieu an. Sie waren oft Kinder aus Schichten des städtischen Kleinbürgertums, der lohnabhängigen Mittelschichten, aber auch von FacharbeiterInnen, die studieren konnten.

Ihr radikaler politischer Impetus speiste sich aus ähnlichen Quellen wie jener der StudentInnen der 60er Jahre – der tiefen Ungerechtigkeit des Systems, der Ignoranz gegenüber „neuen“ gesellschaftlichen Problemen, der Überausbeutung der „Dritten Welt“, aus Rassismus und Militarismus des Staates.

Ihre Attraktivität speiste sich aus der autoritären, repressiven Politik der imperialistischen Staaten und der engen Verschmelzung von Monopol und bürgerlicher Politik inklusive der reformistischen Parteien und Gewerkschaften.

Die Autonomen stellten eine führende Kraft dar in der Bewegung gegen den Ausbau der AKWs und der Wiederaufbreitungsanlagen, in der Ökologiebewegung der 80er Jahre ebenso wie in der Hausbesetzerbewegung, im Kampf gegen den schonungslosen Ausbau von Großprojekten (Flughafen Frankfurt), die ohne jede Rücksicht auf die AnwohnerInnen durchgezogen werden sollten.

Sie stellen auch einen aktiven, radikalen Teil in der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung und waren in der Lage, Massendemonstrationen mit bis zu 100.000 Teilnehmern und militante Massenaktionen z.B. in der Anti-IWF-Kampagne Ende der 80er Jahre zu organisieren.

In den 90er Jahren wurden sie zu einer zentralen Kraft im Kampf gegen den Faschismus. Andere leisteten über Jahre kontinuierliche Arbeit gegen Rassismus, insbesondere gegen die Abschiebung von Flüchtlingen. In den letzten Jahrzehnten spielten sie eine Schlüsselrolle in der internationalen Mobilisierung und bei Aktionen gegen „Gipfeltreffen“ imperialistischer und kapitalistische Größen aus Politik und Wirtschaft – bei Anti-IWF oder Anti-G8-Kampagnen bis zur Mobilisierung in Heiligendamm.

Die Attraktivität der Autonomen kommt dabei ohne Zweifel von ihrem Ruf, „radikal“ zu sein. Einerseits radikal in der Ablehnung „traditioneller“ Formen, in der radikalen „Proklamation“, v.a. aber in der Aktion.

Die Autonomen reden nicht nur wie die Reformisten oder viele „radikale“ Linke – sie tun, was sie sagen. Sie sind militant, sie greifen an. Sie kritisieren den Kapitalismus nicht nur, sie greifen ihn an – indem sie seine Symbole abfackeln oder Banken „angreifen“ und entglasen. Diese Attraktivität wird ständig genährt, weil sie geradezu spiegelbildlich ist zur beamtenmäßigen Routine der „Aktionen“ deutscher Gewerkschaften und deren politischer Anpassung an das Kapital.

In dieser Hinsicht hat der Autonomismus eine ähnliche Rolle, wie die Anarchisten gegenüber Reformismus und Revisionismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie sind gewissermaßen eine Strafe für den Opportunismus der offiziellen Arbeiterbewegung.

Allerdings lässt sich ein grundlegender Wandel der Autonomen von den 80er Jahren bis heute feststellen.

a) In den 80er Jahren waren die Autonomen als Kraft mehr oder weniger gebündelt in bundesweiten, tw. internationalen Kampagnen oder Bewegungen, die im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte standen. Die letzte Kampagne – einschließlich entsprechender Organisierungsprojekte – war wohl die Antifa der 90er Jahre. Der dahinter stehende Organisierungsversuch scheiterte mit der Auflösung der AAO-BO.

b) Doch trotz des oft großen Einflusses in Massenbewegungen als deren „militanter“, radikaler Flügel praktizieren die Autonomen in den 80er Jahren immer wieder dasselbe politische Muster. Sie stellen viele der entschlossensten AktivistInnen, aber ihr politischer Einfluss auf die Führung der Gesamtbewegung blieb gering.

Wo sie begannen, taktisch zu agieren (und das war in diesen Massenbewegungen unvermeidlich), führte das nicht zu einer Schwächung von Reformisten oder kleinbürgerlichen Kräften wie den entstehenden Grünen, sondern zu einer inneren Differenzierung bei den Autonomen, die selbst kein gemeinsames Maß für die Bestimmung einer „richtigen“ Bündnisarbeit hatten und qua Selbstverständnis auch nicht erarbeiten konnten.

So leisteten die Autonomen trotz ihres Radikalismus Mobilisierungshilfe für andere oder Vorfeldpolitisierung z.B. für die entstehende Grüne Partei, statt umgekehrt über die jeweilige Kampagne hinaus als handlungsfähige politische Kraft auf den Plan zu treten.

Dieses Muster wiederholt sich bis heute, wenn auch auf geringerem Niveau (z.B. in der Nutzung der Antifa als Vorfeldstruktur für die Grünen, später für die PDS/LINKE).

c) Die autonome Szene zersplitterte seit Beginn der 90er Jahre, also nach der kapitalistischen Wiedervereinigung – als Folge ihrer bis heute bestehenden Unfähigkeit, deren Ursachen, Charakter und Konsequenzen zu begreifen.

d) Die neoliberalen Reformen haben auch eine Rückwirkung auf das autonome Milieu gehabt. In den 80er Jahren konnte sich dieses nicht zuletzt aufgrund vergleichsweise großer „Freiräume“ an den Unis, Geld über Asten etc. zu besorgen, aber auch durch die noch relativ gesicherte soziale Lage von Studierenden und des geringeren Druckes im Ausbildungssystem sozial vergleichsweise leicht reproduzieren.

Doch mit den Angriffen auf soziale Sicherungssysteme und der kapitalistischen Bildungsreform sind auch die Einkommen der Autonomen prekärer und die zeitlichen Ressourcen neben dem Studium geringer geworden.

e) All das hat zu einer größeren Zersplitterung der autonomen Szene geführt, die als Milieu sich befehdender Szenen erscheint, die nur an bestimmten Knotenpunkten der Mobilisierung gemeinsam handeln (z.B. Anti-G8-Mobilisierung).

f) Ein zusätzlicher, gern übersehener Grund für die Krise der Autonomen ist, dass ihnen das gemeinsame Ziel abhanden gekommen ist. Die Autonomen der 70er Jahre oder auch jene der 80er sahen die Revolution als reales, erkämpfbares Ziel. Ihr, wenn auch oft opportunistischer Bezug auf kleinbürgerliche Befreiungsbewegungen war von revolutionärem Optimismus getragen und dem Bewusstsein, mit ihnen in einer Front gegen den Imperialismus zu stehen. Daraus folgte ja auch die politische Sympathie für den bewaffneten Kampf; daraus folge auch ein, verglichen mit heute, politischerer Charakter der Solidaritätsarbeit. Heute glaubt kaum noch ein Autonomer an die „soziale Revolution“ oder die Erreichbarkeit „des Kommunismus“. Sie sind, wenn nicht überhaupt verteufelt, zu „Phrasen“, zu moralischen Größen geworden.

g) Dies alles führt dazu, dass sich die Autonomen weiter zersplittern, weiter in ihrer Heterogenität bleiben werden. Das drückt sich auch darin aus, dass es überhaupt nicht „die Antwort“ der Autonomen auf die Krise gibt. Von Agnolis emphatischem „autonomen Klassensubjekt“, das sich selbstständig von der Kapitalbewegung macht, dessen „Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig abhängig vom ökonomischen Zyklus“ daherkommt, ist bei den realen Autonomen nichts zu beobachten. Im Gegenteil, die „Szene“ blickt auf die Krise wie auf ein Naturereignis.

III. Autonomismus und Krise

Ihre Theoretiker, Ideologen oder Strömungen produzieren allerdings „Antworten“, die tw. so weit voneinander entfernt sind, dass sie überhaupt keine Gemeinsamkeit zu haben scheinen.

Wohl aber lassen sich bestimmte inhaltlich-theoretische Stränge herausarbeiten, die von den „Zusammenhängen“ des autonomen Milieus oder ihm nahe stehenden Netzwerken und Gruppierungen mehr oder weniger beliebig mit anderen Ansätzen (Neo-Gramscianismus, marxistische oder keynesianische Versatzstücke usw.) kombiniert werden.

So haben sich in den letzten Jahren eine Reihe Strömungen (in Deutschland vor allem die „Interventionistische Linke“) gebildet, die autonome Elemente mit reformistischen und rechts-zentristischen Theoremen eklektisch verbinden.

Wir lassen hier alle „anti-deutschen“ oder „anti-nationalen“ Analysen außen vor, weil ihnen jeder emanzipatorische Anspruch abhanden gekommen ist, weil sie – selbst dort, wo sie im Gewand einer „kritischen“ Theorie von Kapital, Staat und Gesellschaft daherkommen – jeden Anspruch auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft aufgegeben haben. Bei aller Differenz des Marxismus zum Autonomismus ist nämlich dem Kommunismus mit so unterschiedlichen autonomen und post- bzw. neo-operaistischen Theoretikern wie Negri oder Halloway bzw. K.H. Roth gemeinsam, dass in der Krise auch ein revolutionäres Potential zur Überwindung  des Kapitalismus gesehen wird.

Wir beschäftigen uns daher mit größeren theoretischen Strängen der autonomen Bewegung, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismus auch mit dem Anspruch analysieren, die politische Perspektive eines sich formierenden revolutionären Subjekts (wie unterschiedlich dies auch sein mag) zu formulieren, das eine Massenkraft ist. Es ist dies einerseits die Schule von Negri/Hardt, andererseits die des Neo-Operaismus, für den stellvertretend wir uns mit K.H. Roth beschäftigten werden, wobei Holloway hier eine gewisse Zwischenstellung einnimmt, die ihn scheinbar radikaler und „anschlussfähiger“ für Teile des militanten Autonomenflügels macht.

Negri, das „Empire“ und die „globalen Rechte“

Mitten in die Krisen- und Zerfallsphase der Autonomen in den 1990er Jahren trat eine neue politische Bewegung auf den Plan: Die Zapatisten. Diese Guerillabewegung, die sich auf die indigene Bauernschaft im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, einem der ärmsten und entrechtetsten des Landes, stützt und in dieser bis heute sozial verankert ist, unterschied sich in einem zentralen Punkt von allen bisherigen Guerillabewegungen. Auch wenn sie im Grunde eine bewaffnete Bauernmiliz darstellt, proklamiert sie, dass es nicht ihr Ziel sei, die politische Macht zu erobern.

Die Zapatisten spielten eine Schlüsselrolle bei der Formierung der anti-kapitalistischen Bewegung um die Jahrhundertwende; sie waren ein zentraler Bestandteil von „Peoples Global Action“ (20), dem libertär-anarchistisch-autonomen Flügel dieser Bewegung.

Auf sie gehen Losungen zurück, die den Geist dieser Bewegung auf den Punkt bringen: „Eine andere Welt ist möglich“ oder „Fragend suchen wir den Weg“.

Am prägnantesten drückt diese Doktrin vielleicht ihre mediale Gallionsfigur, Subcommandente Marcos, aus: „Wir müssen die Welt nicht erobern. Es reicht, sie neu zu schaffen. Heute. Durch uns!“.

Peoples Global Action (PGA) und die Zapatisten erschienen damals als Speerspitze eines neu entstehenden Widerstandes gegen die kapitalistische Globalisierung und den Neoliberalismus. Sie gehörten zu den ersten, die internationale Vernetzungen aufbauten und so zur Formierung von Widerstand beitrugen.

Sie kooperierten außerdem mit anderen Widerstandsbewegungen, die nach den Niederlagen der frühen 90er Jahre wieder offensiv wurden und in den Augen von PGA und den Zapatisten – wenn auch nicht unbedingt in denen deutscher Autonomer – Teil einer globalen Bewegung gegen einen gemeinsamen Gegner waren. In dieser Periode beginnt auch die 2. Intifada. Es formierte sich die bolivarische Bewegung Boliviens mit einer erfolgreichen Kampagne gegen die Wasserprivatisierung; zugleich wuchs auch die MAS. Massengewerkschaften der indischen Bauern oder die indonesische Gewerkschaftsbewegung waren von Beginn an integrale Bestandteile von PGA.

Auffällig an PGA war jedoch – neben der libertären Doktrin und ihrer Verbindung zur autonom-anarchistisch-antikapitalistischen Bewegung in den Metropolen (inkl. der Mobilisierungen gegen die imperialen Gipfel), dass sie eine kleinbürgerliche Massenbasis, v.a. in der Bauernschaft, hat. Politisch-programmatisch gipfelte das neben einer nebulösen Phrasenhaftigkeit vor allem darin, die Schaffung von genossenschaftlicher oder kleiner Warenproduktion als Alternative zum Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium anzupreisen.

Kurz, trotz aller „antikapitalistischen“ Radikalität war die gesellschaftliche Perspektive von PGA und den Zapatisten utopisch und reaktionär.

Für unsere weitere Betrachtungen von größerer Bedeutung ist jedoch eine Frage, die sich die autonome Bewegung oder deren Theoretiker in den 90er Jahren stellten: Wie kann die „neue Entwicklung“, die Entstehung dieser Bewegungen verstanden werden?

Empire

Pünktlich zur Jahrhundertwende versuchten die Autoren Hardt und Negri mit dem Buch „Empire“ eine Erklärung abzugeben. Danach hätte die Gesellschaft in der Globalisierung einen grundlegenden, fundmentalen Wandel durchgemacht. An die Stelle des bisherigen imperialistischen Weltsystems sei das „Empire“ getreten (21). Es geht uns vielmehr darum, den Begriff und die politischen „Lösungen“ Negris und Hardts kurz nachzuzeichnen, weil ihre Schlüsselforderungen auch zu Gemeinplätzen großer Teile der autonomen Bewegung der letzten 10 Jahre geworden sind.

„Den Begriff des Empire charakterisiert maßgeblich das Fehlen von Grenzziehungen: Die Herrschaft des Empire kennt keine Schranken. Zuallererst setzt der Begriff des Empire ein Regime voraus, das den Raum in seiner Totalität vollständig umfasst, oder anders, das wirklich über die gesamte ‚zivilisierte‘ Welt herrscht. Keine territorialen Grenzziehungen beschränken seine Herrschaft. Zum zweiten stellt sich im Empire kein historisches Regime dar, das aus Eroberungen hervorgegangen ist, sondern vielmehr eine Ordnung, die Geschichte vollständig suspendiert und dadurch die bestehende Lage der Dinge für die Ewigkeit fortschreibt. Aus der Perspektive des Empire ist alles so, wie es immer sein wird und wie es immer schon sein sollte. Das Empire stellt, mit anderen Worten, seine Herrschaft nicht als vergängliches Moment im Verlauf der Geschichte dar, sondern als Regime ohne zeitliche Begrenzung und in diesem Sinn außerhalb und am Ende der Geschichte. Zum dritten bearbeitet die Herrschaft des Empire alle Register der sozialen Ordnung, es dringt ein in die Tiefen der gesellschaftlichen Welt. Das Empire organisiert nicht nur Territorium und Bevölkerung, sondern schafft genau die Welt, in der es lebt. Es lenkt nicht nur die menschliche Interaktion, sondern versucht außerdem indirekt über die menschliche Natur zu herrschen. Das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit wird zum Gegenstand der Herrschaft. Das Empire stellt so  die paradigmatische Form von Biomacht dar. Und schließlich bleibt das Empire immer mit Frieden verknüpft – einen ewigen und allumfassenden Frieden außerhalb der Geschichte.“ (22)

Wir wollen uns eine lange Polemik zu offenkundig komisch wirkenden Formulierungen wie z.B., dass „das Empire“ auch nach fast einem Jahrzehnt des „Krieges gegen den Terror“ „immer mit Frieden verknüpft“ sei, sparen. Auch die unterstellten „Besonderheiten“ des „Empire“ gegenüber früheren globalen Regimen – z.B., dass es sich „verewigen“ und „außerhalb der Geschichte“ stellen möchte – ist keine solche „Besonderheit“, wie Hardt und Negri behaupten. Vom Standpunkt einer herrschenden Klasse erscheint oft eine Gesellschaftsformation als „die letzte“ oder als „Ende der Geschichte“. In bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, v.a. solange eine Gesellschaftsformation einen historisch progressiven Charakter hat, kennzeichnet diese Vorstellung in der Regel auch das Bewusstsein aller Klassen.

Wichtiger ist vielmehr, dass Hardt/Negri davon ausgehen, dass das Empire nicht nur ein neues, post-imperialistisches Stadium des Kapitalismus darstelle, sondern gar eine neue Produktionsweise. Diese fuße auf einer grundlegenden Veränderung von Produktion und Distribution im globalen Maßstab einer „bio-politischen“ Produktion. Diesen, von Foucault entlehnten, Begriff weiten Hardt/Negri aus, indem sie sich auf „die positiven Dimensionen von Biomacht konzentrieren“ (23) wollen.

Für Hardt/Negri wird die „Produktion des Lebens“ selbst zur ersten Produktivkraft. Die Trennung von produktiver und unproduktiver Arbeit wäre, wie Negri schon in der Analyse des „gesellschaftlichen Arbeiters“ behauptet, obsolet. Auch der Begriff des Mehrwerts, wie überhaupt die „traditionelle“ Kritik der politischen Ökonomie wäre von der realen Entwicklung überholt.

„Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat. Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun wird es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt. In der Tat liegt die Bestimmung des Werts von Arbeit und Produktion tief im Inneren des Lebens. Die Industrie produziert nur das an Mehrwert, was durch gesellschaftliche Tätigkeit erzeugt wird – und genau aus diesem Grund liegt der Wert, begraben unter einer Unmenge von Leben, jenseits allen Maßes.“ (24)

Und weiter:

„Wenn menschliche Macht unmittelbar als eine autonome, kooperative kollektive Kraft auftritt, ist die kapitalistische Vorgeschichte zu Ende. Anders ausgedrückt: Die kapitalistische Vorgeschichte ist dann zu Ende, wenn soziale und subjektive Kooperation nicht mehr Produkt, sondern Voraussetzung ist, wenn das nackte Leben in den Rang einer Produktivkraft erhoben oder genauer: wenn es als Reichtum der Virtualität erscheint.“ (25)

Wir sind also lt. Hardt/Negri bereits in eine neue Gesellschaftsformation eingetreten, die sich dadurch auszeichnet, dass sich das Empire parasitär die in der Menge (Multitude) konzentrierte Produktivkraft der Gesellschaft aneignet.

Hardt/Negri können zu dieser Schlussfolgerung freilich nur kommen, weil sie von verschiedenen Momenten des kapitalistischen Produktionsprozesses ebenso abstrahieren wie von dessen Unterscheidung gegenüber allen, dem Kapitalverhältnis letztlich untergeordneten, Produktionsweisen (z.B. Formen der kleinen Warenproduktion oder der Subsistenzproduktion). Alles verkommt unterschiedslos im Einheitsbrei einer „Produktion des Lebens“, die – anders als von Hardt/Negri unterstellt – überhaupt nicht spezifisch für eine bestimmte Gesellschaftsformation ist, sondern ganz allgemein in jeder Gesellschaft vorkommt. Sie ist aber für Hardt/Negri deshalb überaus nützlich, weil sie so von verschiedenen Formen von Arbeit/Tätigkeit, von Klassenverhältnissen usw. bequem absehen können, weil alles – einschließlich aller Unterschiede unter den unterdrückten Klassen – in der „Menge“ aufgeht.

Es ist überhaupt nur die „Menge“, welche Dynamik in diese gesellschaftliche Beziehung bringt (analog zur operaistischen Sicht von Kapitalbewegung und ökonomischem Kampf der Arbeiterklasse):

„Wenn das Handeln des Empire dennoch Wirkung zeigt, so hat es diese nicht seiner eigenen Stärke zu verdanken, sondern der Tatsache, dass es auf den Widerstand der Menge gegen die imperiale Macht stößt und vom Rückprall dieses Zusammenstoßes vorangetrieben wird. (…)Mit anderen Worten: Die Wirksamkeit der regulierenden und repressiven Vorgehensweise des Empire hängt letztlich vom virtuellen, konstitutiven Handeln der Menge ab. (…)

Imperiale Macht ist das negative Residuum, das Zurückweichen vor dem Handeln der Menge; sie ist ein Parasit, der von der Fähigkeit der Menge lebt, immer wieder neue Energie- und Wertquellen zu schaffen.“ (26)

Das begriffliche Wirrwarr führt zu einer überraschenden politischen Wendung des gealterten „Revolutionärs“ Negri: Die Menge konstituiere nämlich nicht nur alle Produktivkräfte in ihren Händen. Der Kapitalismus ist auch schon deshalb vorbei, weil die Menge auch gleich eine neue Produktionswiese vorstellt:

„Wie bei allen Erneuerungsprozessen wird auch hier die neu entstehende Produktionsweise den Umständen, von denen es sie zu befreien gilt, entgegengesetzt. Die Produktionsweise der Menge wird der Ausbeutung die Arbeit entgegenstellen, dem Eigentum die Kooperation und Korruption die Freiheit. Sie sorgt dafür, dass sich Körper und Arbeit selbst verwerten, sie eignet sich die produktive Intelligenz mittels Kooperation wieder an und verwandelt Dasein in Freiheit.“ (27)

Hier wird ein grundsätzlicher Bruch mit dem revolutionären Marxismus deutlich. Für diesen besteht gerade eine Spezifik der proletarischen im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution darin, dass die Arbeiterklasse keine ihre gemäße Produktionsweise im Kapitalismus schaffen kann, sondern dass sie zur Schaffung einer sozialistischen Produktionsweise zuerst die Staatsmacht erobern, die Eigentümer der Produktionsmittel enteignen und die Produktion unter seiner Klassenherrschaft reorganisieren muss. Erst nach eine Periode des Übergangs – von Marx „Diktatur des Proletariats“ genannt – ist der Sieg einer neuen, sozialistischen und später kommunistischen Produktionsweise und darauf aufbauenden Gesellschaftsformation möglich.

Anders bei Hardt/Negri. Für sie entsteht die „neue Produktionsweise“ bereits, sie ist „in der Menge“ schon da. Sie muss nur noch die Hülle des „Empire“ abstreifen!

„Die Produktionsweise der Menge eignet sich den Reichtum des Kapitals wieder an und schafft darüber hinaus neuen Reichtum, der sich zusammen mit den Mächten der Wissenschaft und des sozialen Wissens zur Kooperation artikuliert. In der Moderne war Privateigentum oftmals durch Arbeit legitimiert, aber diese Gleichung wird, wenn sie denn überhaupt jemals stimmte, heute völlig annulliert. Privateigentum an Produktionsmitteln ist heute, im Zeitalter der Hegemonie kooperative und immaterieller Arbeit, nur eine längst verfaulte und tyrannische Sache von gestern. Die Produktionswerkzeuge werden in kollektiver Subjektivität sowie in der kollektiven Intelligenz und im kollektiven Affekt der Arbeiter neu zusammengesetzt; Unternehmertum organisiert sich über die Kooperation von Subjekten und über den ‚General Intellect‘. Damit tritt die Organisation der Menge als politisches Subjekt, als posse die Weltbühne. Die Menge, das ist die biopolitische Selbstorganisation.“ (28)

Damit ist der Weg vom „Linksradikalismus“ zum Neo-Reformismus oder Populismus geebnet. Um der Menge ihren Weg zu weisen, haben die beiden dann auch „Schlüsselforderungen“, die in der autonomen Bewegung – ob nun in Kenntnis dieser theoretischen Rechtfertigung oder nicht – zu Allgemeinplätzen geworden sind.

Zum ersten geht es um die „Forderung nach Weltbürgerschaft“ (29). Dahinter steckt die demokratische und unterstützenswerte Forderung nach Bewegungsfreiheit, nach offenen Grenzen, der Abschaffung von Einreisekontrollen und Beschränkungen für MigrantInnen.

Diese Forderungen richten sich an die bestehenden bürgerlichen Staaten und müssen diesen, so weit möglich, abgerungen werden. Im Empire-Jargon kommt diese Forderung jedoch nicht zufällig als „Forderung nach Weltbürgerschaft“ daher, weil für Hardt/Negri den proletarischen, kleinbürgerlichen und anderen MigrantInnen ja keine imperialistischen Staaten, sondern ein „Empire“ gegenübersteht, im bestehenden System also so etwas wie „Weltbürgerschaft“ von der Menge etabliert werden könnte.

Im Gegensatz zu Hardt/Negri sind sich MarxistInnen nämlich der Grenzen der Forderung nach „offenen Grenzen“ oder „Abschaffung aller Einreisebeschränkungen“ bewusst. Sie dienen als Kampfmittel für demokratische Rechte und gegen imperialistische und bürgerliche Grenzregime.

Wir lehnen aber die utopische Vorstellung ab, dass im Rahmen einer imperialistischen Weltordnung ein staatliches System ohne repressive Grenzregimes verallgemeinert werden und auf Dauer bestehen könnte. Vielmehr müssen RevolutionärInnen den Kampf gegen alle Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen für MigrantInnen dazu nutzen, der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten deutlich zu machen, dass diese rassistischen Kontrollen und Grenzregime letztlich nur beseitig werden können, wenn sie mit dem Kampf zum Sturz des Imperialismus verbunden werden. Ein Regime ohne Grenzen wird erst im Sozialismus möglich, also mit Beginn einer Epoche, wo die Staaten selbst verschwinden.

Während  die demokratische Forderung nach Bewegungsfreiheit progressiven Charakter hat, so ist die zweite politische Hauptlosung von Hardt/Negri überhaupt nicht fortschrittlich! Es ist die nach einem „sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle!“.

Hardt/Negri garnieren die Argumentation, die auch zahlreiche Verfechter des „bedingungslosen Grundeinkommens“ auftischen, mit einer zusätzlichen Schrulle. Da die „Produktion“ jetzt die des „Lebens“ selbst wäre, würden Arbeit und Arbeitszeit auch jede „Fixiertheit“, jedes Maß, jede Messbarkeit verlieren.

„Die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Produktion und Reproduktion im biopolitischen Kontext zeigt zudem noch einmal in aller Deutlichkeit die Unermesslichkeit von Zeit und Wert. Im Maße, in dem die Arbeit das Fabrikgebäude verlässt, wird es immer schwieriger, an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten und somit die Produktionszeit von der Reproduktionszeit bzw. die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen.“ (30)

Dumm nur, dass die Kapitalisten – bornierte, aber durchaus praktisch veranlagte Menschen – diese Passagen nicht kennen, so dass ihnen diese vermeintlichen Probleme der Arbeitszeitmessung unbekannt sind. Tja, wo das Kapital tausend Wege kennt, unbezahlte Arbeit gerade in den letzten Jahren massiv auszudehnen, da mag es der Arbeiterklasse zwar ein Rätsel sein, wo die Bezahlung geleisteter zusätzlicher Arbeitsstunden bleibt – von der Messbarkeit der Arbeitszeit, von der Scheidung von Arbeits- und Freizeit weiß sie nur zu gut, dass es sich dabei um keine Fiktion handelt!

Negri setzt seine Verwirrung fort:

„Die Forderung nach einem sozialen Lohn erweitert die Forderung, dass jede für die Kapitalproduktion nötige Tätigkeit durch gleich Kompensation nötige Tätigkeit durch die gleiche Kompensation Anerkennung findet, auf die gesamte Bevölkerung, so dass eine sozialer Lohn letztlich garantiertes Einkommen darstellt.“ (31)

Erstens ist es natürlich Unsinn, dass – wie hier unterstellt – jede Tätigkeit irgendeines Gesellschaftsmitglieds für die Kapitalproduktion gleich nötig wäre. Ansonsten käme man zur offenkundig absurden These, dass die Tätigkeit des beschäftigten Lohnarbeiters gleich viel zur Kapitalbildung beitragen würde wie jene des Arbeitslosen. Wäre dem so, wäre es völlig unbegreiflich, warum die Kapitalisten überhaupt Lohnarbeit beschäftigen und ihre Lohnkosten nicht gleich auf Null reduzieren?!

Zweitens ist These Hardt/Negris wie die aller Grundeinkommens-VerfechterInnen überhaupt nicht so „arbeitslosenfreundlich“, wie sie sich gern präsentiert. Denn: Wovon hängt denn die Nachfrage nach Arbeitskraft durch das gesellschaftliche Gesamtkapital ab? Vom Stand der Akkumulation, von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals. Dieses Kapital beschäftigt dann, sagen wir eine Million ArbeiterInnen bei einer Arbeitswoche von 35 Stunden, um in dieser – angeblich nicht mehr messbaren – Zeit Mehrwert für das Kapital zu schaffen, und zwar dort, wo der Kapitalist es vorschreibt: in der Fabrik und nicht irgendwo „im Leben“.

Sagen wir es gibt 200.000 weitere ArbeiterInnen, die bei bestehendem Geschäftsgang des Kapitals keine Anstellung finden, weil sie nicht gebraucht werden. Die produzieren in ihrer angeblich immer weniger unterscheidbaren „Nicht-Arbeitszeit“ natürlich nicht nur keinen Mehrwert, sie dienen auch als industrielle Reservearmee, indem sie auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten drücken. Zugleich empfinden sie ihre Arbeitslosigkeit als Form der „Nutzlosigkeit“, als „Ausgrenzung aus der Gesellschaft“. Sie sind sicher weit davon entfernt von der Flause, ihre „Lebenstätigkeit“ als gleiche Arbeit wie jene in der Fabrik zu empfinden.

Lt. Hardt/Negri wäre das im Grunde nur ein falsches Bewusstsein dieser Arbeitslosen. Ja, mehr noch, sollten die Kapitalisten von der Million Beschäftigter 200.000 wegen schlechten Geschäftsgangs entlassen und so die Arbeitslosenzahl auf 400.000 vermehren, so empfehlen sie nur: sozialer Lohn für alle!

Stillschweigend akzeptieren sie damit, dass das Kapital bestimmt, wie viele ArbeiterInnen in Lohn und Brot stehen. Dieser Umstand, hinter dem sich die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit verbirgt, wird schöngeredet durch den Unfug, dass „jede Tätigkeit“ der Kapitalproduktion gleich sei! Massenarbeitslosigkeit, prekäre Arbeit, Unterbeschäftigung werden damit ebenso schöngeredet wie jeder Unterschied zwischen der Tätigkeit von LohnarbeiterInnen und kleinen Warenproduzenten, also auch ein Klassenunterschied, verwischt wird.

Schließlich kommt aber noch das vollständige Unverständnis darüber hinzu, was überhaupt Lohnarbeit ist, nämlich die Preisform des Werts der Ware Arbeitskraft. Dieses Unverständnis wird auch dadurch genährt, dass die Arbeitszeit für „unmessbar“ erklärt wird.

Dass die LohnarbeiterInnen überhaupt in der Lage sind, für ihre Ware Arbeitskraft einen Preis zu erzielen, der den Reproduktionskosten ebendieser Ware entspricht, hängt wesentlich von der Kampfkraft der Klasse, ihre Organisiertheit und Geschlossenheit ab. Hohe Arbeitslosigkeit, Aufsplitterung der Arbeitsverhältnisse usw. schwächen die Kampfkraft. Daher darf die Arbeiterklasse niemals eine gleichgültige Haltung zu diesen Fragen haben, sondern muss für Mindeststandards der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft (z.B. Mindestlohn), für Beschäftigung der gesamten Klasse, für Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeitsfähigen eintreten!

Bevor wir zum letzten „Heilmittel“ von Hardt/Negri übergehen, müssen wir noch darauf hinweisen, dass – anders als beide unterstellen – eben nicht jede Arbeit, die in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft verrichtet wird, gleichermaßen gesellschaftliche Arbeit ist. Ein Beispiel dafür ist die Subsistenzproduktion, also Produktion nicht für den Bedarf anderer, sondern zur eigenen Reproduktion.

Ein anderes Beispiel ist die private, eben nicht vergesellschaftete Hausarbeit. Diese geht natürlich in die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft mit ein. Unsere Losung ist aber keinesfalls die nach einem „Lohn für Hausarbeit“, „Bürgerinnengeld“ o.ä. Das würde vielmehr zu einer Verfestigung der privaten Hausarbeit führen, zu einer Verfestigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung von Mann und Frau. Die fortschrittliche Parole der revolutionären Arbeiterbewegung ist vielmehr, den Kampf um gleiche Arbeitsbedingungen und Beschäftigung für proletarische Frauen mit dem Kampf um die Vergesellschaftung der Hausarbeit zu verbinden.

Kommen wir aber zum letzten Heilmittel von Hardt/Negri, zum „Recht auf Wiederaneignung“. Das erinnert auf den ersten Blick an die Losung der Enteignung, der Verstaatlichung, ja an die Machtergreifung. Doch Vorsicht! Was in den autonomen Pamphleten, Kampagnen usw. zu einer Mantra geworden ist, ist etwas anderes, viel Nebulöseres: „das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion.“ (32) Klar, wozu soll sie auch unbedingt etwas in Besitz nehmen, wenn ihr lt. Hardt/Negri ohnedies schon die Produktionsmittel gehören, nicht nur ihre Arbeitskraft, da „die Menge nicht nur Maschinen benutzt, sondern auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine wird, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind.“ (33)

Der Marxismus versteht unter Aneignung der Produktionsmittel, dass den Kapitalisten ihr Monopol an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln entrissen wird. Die Forderung meint nichts anderes als die Enteignung der herrschenden Klasse durch das Proletariat.

Die Formulierung von Hardt/Negri bricht damit. „Aneignung“ kann zwar auch noch die Enteignung eines Kapitalisten bedeuten. Sie kann aber ebensogut die „Wiederaneingnung“ des Produktionsmittels „Körper“ oder der Wohnung (z.B. durch Hausbesetzung) bedeuten.

Diese Veränderung des Inhalts der „Aneignung“ hat im autonomen Milieu den Siegeszug dieser Losung nicht gebremst, sondern begünstig, weil es einem kleinbürgerlichen Milieu erlaubt, seinen eigenen Anstrengungen zur „Aneignung“ des eigenen Kopfes/Körpers die höheren Weihen des Kampfes um eine „Aneignung“ der gesellschaftlichen Produktionsmittel zu verleihen, den Unterschied zwischen dem proletarischen Klassenkampf und „Aneigungs“-Aktionen autonomer Kleinbürger verwischt.

Hardt/Negri und die Krise: Nichts Neues

Das oben Gesagte macht auch verständlich, warum Negri und Co. wenig Erhellendes zur aktuellen Weltwirtschaftskrise sagen oder sagen können. Für Hardt/Negri ergibt sich die Krise im Empire nämlich folgendermaßen:

„Ausbeutung heißt nun, dass die Kooperation enteignet wird und die Bedeutungen sprachlicher Produktion für ungültig erklärt werden. Als Konsequenz daraus kommt es innerhalb des Empire fortwährend zu Widerstand gegen die Ausbeutung, so dass es an allen Knotenpunkten zu Krisen kommt. Mit der postmodernen Totalität kapitalistischer Produktion weitet sich auch die Krise aus; sie sozusagen der Kontrolle inhärent.“ (34)

Die Krise ist nicht nur permanent, sie ist vor allem Resultat des Agierens der „Menge“. In dieser Hinsicht behält das „Empire“ das subjektivistische Krisenverständnis des Operaismus/Autonomismus der 60er Jahre bei.

Wenig originell erblickt Negri in der aktuellen Krise die Tatsache, dass der „Kapitalismus in seiner neo-liberalen Form an Ende sei.“ (35)

Darüber hinaus interpretiert er die Krise ganz aus der Sicht von „Empire“. Auf die Frage „Kann so die vom unproduktiven, spekulierenden Finanzkapital ausgelöste Krise überwunden werden?” antwortet er:

“Das Finanzkapital ist keineswegs unproduktiv, im Gegenteil, sehr produktiv. Das Problem ist, dass es unfähig ist, die gesellschaftliche Produktivität zu verstehen. Der industrielle Kapitalismus hat diese noch sehr gut verstanden. Er wusste, wie die Arbeitszeit einzuteilen, wie die Arbeiterkasse auszubeuten ist. Er hatte ein genaues Maß vom Anteil notwendiger Arbeit und Ausbeutung der Arbeit. Das Finanzkapital hat die Verbindung zum Ort der Arbeit verloren und damit das Maß von gesellschaftlicher Arbeit. Das hat den Finanzkapitalismus in Schwierigkeiten gebracht. Es müssen politische Formen der Vermittlung zwischen Finanzkapital sowie gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichem Reichtum gefunden werden.” (36)

Und weiter: „Wir sind mit einer zunehmenden immateriellen, kognitiven und kooperativen Arbeit konfrontiert, einer selbstständigen und selbstverwertenden. Anders als die klassische materielle Arbeit, die auf Arbeits- und Produktionsmittel angewiesen war, die das Kapital zur Verfügung stellte, ist die heutige immaterielle und kognitive Arbeit unmittelbar produktiv, befreit vom Unterordnungsverhältnis, das die materielle Arbeit kennzeichnete, damit zugleich aber auch von Sicherheiten, die noch der Fabrikarbeiter kannte. Eine breite Schicht ist heute gezwungen, in völlig anderen räumlichen und zeitlichen Kontexten unter enorm prekären Bedingungen zu arbeiten. Dieses produktive Subjekt eignet sich selbst die Arbeitsmittel an, ist variables und zugleich fixes Kapital. Über die Finanzialisierung wird versucht, diese fixen Kapitale zusammenzuhalten.

Das Maß des gesellschaftlichen Reichtums hängt heute nicht mehr vom klassischen Wertgesetz ab. Und über diese Tatsache sind die Kapitalisten ebenso erstaunt und irritiert wie die Linke.“ (37)

Er führt den oben dargelegten Gedanken aus, indem er einen grundlegenden Wandel der unterstellt, einen Wandel, der dazu führt, dass die Krise gar nichts mit Überakkumulation von Kapital, Profitratenentwicklung usw. zu tun hat. Statt dessen liege das Problem vielmehr darin, dass Kapitalisten und Linke die Überholtheit des „klassischen Wertgesetzes“ nicht erkannt hätten. Eine solche „Analyse“ trägt mehr zur Verdunkelung realer Zusammenhänge, denn zur ihrer Erhellung bei.

Doch was sagt uns Negri über den Widerstand und die politische Perspektive?

„Dazu gehört die Verweigerung der Arbeit oder Widerstand gegen die Arbeit, die in der kapitalistischen Organisation der Produktion stets Sklaverei ist. Der Kapitalismus ist verletzlicher geworden. Eine rebellierende Peripherie greift schon das Zentrum der Macht an. Und das Empire hat die Peripherien multipliziert, sie befinden sich nun auch in den Metropolen. Eine Rebellion wie in den Banlieues von Paris trifft ins Herz des Empire.“

„Und wie soll das der Multitude gelingen?“, fragt der Journalist vom Neuen Deutschland.

„Wo es Masse gibt, gibt es Energie. Schauen wir auf die globalisierungskritische Bewegung, die Sozialforen: Die hier engagierten jungen Leute sind nicht weniger revolutionär als die Bolschewiki. Sie reißen Mauern und Grenzen ein, die der Kapitalismus aufgerichtet hat. Das ist heute der Klassenkampf. Oder schauen wir nach Lateinamerika, wo sich soziale Bewegungen mit den Regierenden verbinden und neuartige Transformationen wagen. Man muss den Bruch organisieren, ähnlich wie einst die Sowjets, aber in einer andersartigen, pluraleren und differenzierteren Welt. Insubordination, Rebellion, Insurrektion sind legitim. Das Recht auf Widerstand ist ein Grundrecht.“ (38)

Hier kommt Negri wenig darüber hinaus, als dass sich die Multitude zusammentun und kämpfen muss. Er gibt sich dabei „militant“, gehen doch die Rezepte bis zur Insurrektion, zum Aufstand. Auch an den von Negri gern verwendeten Übertreibungen fehlt es nicht. So richtig die Unterstützung der Rebellion in den Banlieues von Paris war, so falsch ist die Annahme, dass diese „ins Herz des Empire“ trafen. Vielmehr wäre die spannende Frage die, wie solch spontane Rebellionen von (sub)proletarischen Schichten mit dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse insgesamt verbunden werden können, wie der Chauvinismus der französischen Arbeiterbewegung hätte durchbrochen werden können usw., um wirklich einen Stoß ins „Herz des Empire zur führen?!

Auch bei folgender Frage kommt Negri über die Rezepte aus „Empire“ keinen Millimeter hinaus: „Was sind die Interessen der Multitude? Globale Bürgerrechte, bedingungsloses Einkommen, Wiederaneignung des Gemeinsamen, des Gemeinwesens und Demokratisierung der Weltgemeinschaft.“ (39)

Statt der „revolutionären Perspektive“ tischt Negri ein reformistisches Allerwelts-programm auf. Der Autonome endet als neo-reformistischer Quacksalber.

John Holloway: Keine Macht für niemand reloaded

John Holloway ist in den letzten Jahren zu einem der Haupttheoretiker der Autonomen und des Post-Operaisismus geworden. Auch hierzulande bekannt geworden ist er durch sein Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“, ein geradezu programmatischer Titel für einen großen Teil der weltweiten autonomen Bewegung, besonders in den anglo-amerikanischen Ländern, aber auch in Lateinamerika.

Holloway sieht sich in der autonomen Theorietradition, deren Kraft er darin erblickt, dass „sie ausdrücklich vom Subjekt, von der Arbeiterklasse ausgeht. Sie nimmt für sich in Anspruch eine Theorie des Kampfes zu sein, nicht aber eine Theorie der Rahmenbedingungen von Kämpfen, worauf die Hauptströmung des Marxismus hinausläuft. Als treibende Kraft der sozialen Entwicklung sieht sie den Kampf der Arbeiterklasse.“ (40)

In dieser Schrift wirft er Negri und seinem Buch „Empire“ vor, einer politischen Versuchung erlegen zu sein, die ihn vom „Autonomismus“ entfernt habe und in die Nähe des „orthodoxen“ Marxismus getrieben hätte. Wie kommt er zu diesem eigenartigen Vorwurf?

Hardt und Negri würden sich das Subjekt der Befreiung (die Multitude) wie auch den „Klassenkampf“ insgesamt als etwas „Positives“ vorstellen. Das hätte er mit der „Hauptströmung des Marxismus“ (also allen außer dem Autonomismus in Holloways Verständnis) gemein. Was meint Holloway damit?

„In der Vergangenheit war es üblich, sich den Klassenkampf als Kampf zwischen Kapital und Arbeit vorzustellen, wobei Arbeit als Lohnarbeit, abstrakte Arbeit, verstanden wurde und die Arbeiterklasse oftmals als Klasse der Lohnarbeitenden definiert wurde. Aber diese Auffassung ist falsch. Lohnarbeit und Kapital ergänzen sich gegenseitig, Lohnarbeit ist ein Moment des Kapitals. Es gibt in der Tat einen Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital, aber es ist ein relativ oberflächlicher Konflikt. Es ist ein Konflikt über die Höhe der Löhne, die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsbedingungen: Alle diese Konflikte sind wichtig, aber sie setzen die Existenz des Kapitals voraus. Die wirkliche Bedrohung für das Kapital kommt nicht von der abstrakten Arbeit, sondern von der nützlichen Arbeit oder dem kreativen Tun, denn es ist das kreative Tun, das in radikalem Gegensatz zum Kapital, d.h. zu seiner eigenen Abstraktion, steht. Es ist das kreative Tun, das sagt, „nein, wir werden nicht tun, was das Kapital befiehlt, wir werden tun, was wir für notwendig oder wünschenswert erachten“. (41)

Lt. Holloway wäre der gesamte „Hauptstrom des Marxismus“ eine „Bewegung der abstrakten Arbeit“:

„Seit der Frühzeit des Kapitalismus hat die abstrakte Arbeit ihren Kampf gegen das Kapital, ihren Kampf um bessere Bedingungen für die Lohnarbeit organisiert. Im Zentrum dieser Bewegung befindet sich die Gewerkschaftsbewegung mit ihrem Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. In der klassischen Literatur des orthodoxen Marxismus wird dies als ökonomischer Kampf betrachtet, der durch den politischen Kampf ergänzt werden muss. Der politische Kampf wird durch Parteien organisiert, die die Erlangung der Staatsmacht zum Ziel haben – sei es durch parlamentarische Mittel oder bewaffneten Kampf. Die klassische revolutionäre Partei beabsichtigt selbstverständlich, die Gewerkschaftsperspektive zu überwinden und eine Revolution anzuführen, die die abstrakte Arbeit, die Lohnarbeit abschaffen wird. Aber in Wirklichkeit ist (oder war) sie innerhalb der Welt der abstrakten Arbeit gefangen. Die Welt der abstrakten Arbeit ist eine Welt des Fetischismus, eine Welt, in der gesellschaftliche Verhältnisse als Dinge existieren. Es ist eine Welt, die von Geld, Kapital, dem Staat, den Parteien und Institutionen bevölkert ist, eine Welt voller falscher Stabilitäten, eine Welt der Identitäten. Es ist eine Welt der Trennung, in der das Politische vom Ökonomischen, das Öffentliche vom Privaten, die Zukunft von der Gegenwart, das Subjekt vom Objekt getrennt ist, eine Welt, in der das revolutionäre Subjekt ein sie (die Arbeiterklasse, die Bauernschaft) ist, nicht ein wir. Der Fetischismus ist die Welt der Bewegung, die auf dem Kampf der Lohnarbeit, der abstrakten Arbeit aufbaut und von diesem Fetischismus gibt es kein Entrinnen: Es ist eine Welt, die unterdrückerisch und frustrierend und furchtbar, furchtbar langweilig ist. Es ist auch eine Welt, in der der Klassenkampf symmetrisch ist. Dass sich abstrakte Arbeit und Kapital gegenseitig ergänzen, spiegelt sich in der grundlegenden Symmetrie zwischen dem Kampf der abstrakten Arbeit und dem Kampf des Kapitals wider. Beide drehen sich um den Staat und den Kampf um Macht über andere; beide sind hierarchisch, beide streben nach Legitimität in ihrem Handeln an Stelle anderer.“ (42)

Wir wollen hier einige Zeit bei diesen Passagen verweilen, weil sei durchaus bezeichnend für bestimmte „kritische“ anti-marxistische und autonome Argumentationsmuster sind.

Holloway beginnt mit einer großen Generalabrechnung mit dem „orthodoxen Marxismus“. In der Vergangenheit wäre es „üblich“ gewesen, sich den Klassenkampf „falsch“ oder „relativ oberflächlich“, als Kampf zwischen Klassen vorzustellen. Schuld darin sind die „orthodoxen Marxisten“ wie aber auch die gesamte bisherige Arbeiterbewegung aller Couleur, die den ersten Satz des „Kommunistischen Manifests“, dass alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, wohl gründlich missverstanden haben müssen.

Auch hätten sie „die Arbeit“ als „Lohnarbeit“ verstanden und die Arbeiterklasse als Klasse von Lohnarbeitern definiert. Die Frage, ob die Geschichte des Kapitalismus nicht tatsächlich vom Kampf dieser beiden Hauptklassen der Gesellschaft geprägt ist oder nicht, kümmert Holloway erst gar nicht. Ebenso wenig macht sich Holloway Gedanken darum, dass die Arbeit der ausgebeuteten Klasse im Kapitalismus, des Proletariats, Lohnarbeit ist und sein muss. Er tut einfach so, als würde die Tatsache, dass die „orthodoxen“ und sonstigen MarxistInnen und noch eine ganze Menge anderer Menschen diese Tatsache als Realität zur Kenntnis nehmen, gegen den Marxismus sprechen.

Er glaubt dann allen Ernstes, noch ein weiteres Geschütz gegen die Marxisten auffahren zu können: dass sämtliche Konflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital „die Existenz des Kapitals“ voraussetzen!

Weil aber Kapital und Arbeit einander bedingen, weil die beiden Hauptklassen der Gesellschaft einander antagonistisch gegenüberstehen und „sogar“ wechselseitig durchdringen, meint Holloway, eine Widerlegung der „falschen Sicht“ des Klassenkampfes gefunden zu haben.

Dabei liegt die Stärke von Marx und Engels genau darin, dass sie die Triebfeder für die Entwicklung des Klassenkampfes nicht außerhalb vom, sondern im Kapitalverhältnis selbst gefunden haben – und damit auch die Notwendigkeit der krisenhaften Zuspitzung und revolutionären Lösung dieses Kampfes, der Machtergreifung der Arbeiterklasse.

Es ist bezeichnend für die Methode Holloways, dass er im ersten Zitat „den orthodoxen Marxisten“ unterschiebt, den Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital im wesentlichen ökonomisch gefasst zu haben, also ob die Arbeiterbewegung nicht schon sehr früh auch begonnen hätte, sich als politische Bewegung zu formieren.

Im zweiten Zitat gibt Holloway auf seine Weise zwar zu, dass es verschiedene Flügel der Arbeiterbewegung gab, dass einige nur den gewerkschaftlichen Kampf, anderen wiederum als politische Parteien den Kampf um die politische Macht führen wollten, ein Teil davon sogar auf revolutionäre Weise und mit dem Ziel, das System der Lohnarbeit abzuschaffen.

Doch, was soll’s?! Was bedeuten schon solche Unterschiede, wenn alle in „der Welt der abstrakten Arbeit“ gefangen sind? Den ganze Geschichte der Arbeiterbewegung, alle grundlegenden Differenzen, ja die Verfolgung unterschiedlicher Klassenziele durch Reformismus und revolutionären Kommunismus wird zur Nebensache, seit Herr Holloway endlich die Ursache alles Übels der bisherigen Bewegungen, einen einzigen – unterstellten – „Denkfehler“ entdeckt hat.

Doch er begeht einen für idealistische Denker typischen Fehler. Er betrachtet die „Welt des Fetischismus“ nicht als eine Welt, in der z.B. Politik und Wirtschaft als getrennt erscheinen müssen. Würde er so vorgehen, also die materiellen Grundlagen dieser Trennung zur Kenntnis nehmen, wäre sofort klar, dass es überhaupt nichts nützt, diese Trennung einfach nicht mehr zu denken. Sie würde natürlich weiter bestehen. Die Trennung von wirtschaftlichem und ökonomischem Kampf kann nicht willkürlich überwunden werden, sondern es bedarf dazu eines bewussten taktischen und strategischen Agierens der Klasse – und damit auch einer politischen Führung.

Holloway fällt in seiner „Kritik“ des „orthodoxen Marxismus“ weit hinter Hegel und Marx zurück. In der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (43) übernimmt Marx den Hegelschen Gedanken, dass in der bürgerlichen Gesellschaft (anders als in der Feudalgesellschaft) Staat/Politik und Privates/Wirtschaft/Familie als getrennte Sphären auseinander fallen und als einander entgegengesetzte Sphären erscheinen müssen – allerdings mit der wichtigen, wirklich kritischen Wendung, dass (anders als in Hegels Vorstellung) nicht der Staat das treibende Moment dieser Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft ist, sondern die Ökonomie.

Wichtiger noch als diese Herleitung ist, dass Marx und Engels aus der „Trennung“ von Ökonomie und Politik, von wirtschaftlichem und politischem Kampf keineswegs folgern, dass bloß abstrakt deren „Überwindung“ angesagt ist.

Die Trennung von Ökonomie und Politik bedeutet, dass die Arbeiterklasse auch den ökonomischen Kampf systematisch verfolgen muss – und zwar nicht, weil sie in „der abstrakten Arbeit“ gefangen ist, sondern weil ihr dieser Kampf aufgezwungen ist, wenn sie überhaupt ihre Existenz sichern will.

Zum anderen insistieren Marx und Engels in der Polemik mit den Anarchisten, aus deren Mottenkiste Holloway einen Teil seiner Argumente abgeschrieben haben dürfte, darauf, dass die Arbeiterklasse weit davon entfernt, die politische Kampfmittel bloß als „Fetisch“ oder „identitär“ zu sehen, den Kampf um die Ausweitung demokratische Recht führen muss, aktiv an Wahlkämpfen teilnehmen soll usw.

Schließlich zeigen Marx und Engels auch, dass die Trennung von Ökonomie und Politik in letzter Konsequenz auch nur eine scheinbare ist, dass sich hinter den ökonomischen Kämpfen deren polischer Charakter verbirgt und dass es Aufgabe von RevolutionärInnen ist, diesen politischen Charakter auch bewusst zu machen. Im „Kapital“ schreibt Marx zu diesem Aspekt seitenlang in der Diskussion des Kampfes um den 10-Stunden-Tag, den er als einen Sieg der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse charakterisiert. Folgten wir Herrn Holloway, der gern so tut, als hätten die Gedanken, die er nicht näher bestimmten  „orthodoxen Marxisten“ unterschiebt, mit Marx nichts zu tun, so müssten wir zum Schluss kommen, dass der alte Marx grob irrte, hätten wir es doch nur mit einem „relativ oberflächlichen“ Konflikt zu tun.

Holloways „Alternative“

Die wirkliche Bedrohung für das Kapital kommt nicht von der abstrakten Arbeit, sondern von der nützlichen Arbeit oder dem kreativen Tun, denn es ist das kreative Tun, das in radikalem Gegensatz zum Kapital, d.h. zu seiner eigenen Abstraktion, steht.“ (44)

Und weiter zum „anti-kapitalistischen“ Kampf Holloways:

„Dies ist ein Kampf, der mit der Symmetrie bricht, die den Kampf der abstrakten Arbeit charakterisiert hat, ein Kampf der sich grundlegend asymmetrisch zum Kampf des Kapitals verhält und der sich an dieser Asymmetrie erfreut: Sachen auf eine andere Art und Weise zu machen, andere gesellschaftliche Verhältnisse aufzubauen, ist ein Leitprinzip.

In dieser Neuzusammensetzung des Klassenkampfes sind wir das revolutionäre Subjekt. Wir? Wer sind wir? Wir sind eine Frage, ein Experiment, ein Schrei, eine Herausforderung. Wir brauchen keine Definition, wir weisen alle Definitionen zurück, denn wir sind die anti-identitäre Kraft des kreativen Tuns und setzen uns über jede Definition hinweg. Nenne uns Multitude wenn Du magst, oder, besser noch, nenne uns Arbeiterklasse, aber jeder Versuch einer Definition ist nur insofern sinnvoll als wir mit dieser Definition brechen. Wir sind heterogen, wir sind dissonant, wir sind unsere eigene Bestätigung, die Verweigerung fremder Bestimmung über unsere Leben. Wir sind daher die Kritik der Repräsentation, die Kritik der Vertikalität und jeder Form von Organisation, die uns Verantwortung für unsere Leben nimmt. Hört die Stimmen der ZapatistInnen, der argentinischen Piqueteros, der Indigenen in Bolivien, der Menschen der sozialen Zentren in Italien: das Subjekt, das sie allzeit in ihren Äußerungen benennen, ist „wir“ und es ist eine Kategorie, die über wirkliche Kraft verfügt.“ (45)

In dieser Passage lassen sich vier Kernelemente der Doktrin Holloways und einer ganzen libertären Strömung der Autonomen festmachen:

a) Das revolutionäre Subjekt sind „wir“, sind diejenigen, die sich darin zusammenfassen. Ob Bauern/Bäuerinnen, ArbeiterInnen oder StudentInnen – die Klassenlage des Subjekts spielt letztlich keine Rolle.

b) Was an diesen unterschiedlichen Kämpfen revolutionär sein soll, ist, dass sie „asymetrisch“ wären zu den „Fetischen“, zur „abstrakten Arbeit“, zum Kapital, zum Staat. Als „revolutionär“ gilt hier also, was vom Großteil der Menschheit gerade nicht als revolutionär verstanden wird. Gemeinhin versteht man unter einer Revolution den gewaltsamen Übergang der politischen Macht, der Herrschaft von einer gesellschaftlichen Klasse zu einer anderen. Nicht so bei Holloway, seine Revolution ist „asymetrisch“, sie stürzt die bestehende Herrschaft nicht, ja das Ziel allein schon gilt ihr als Teufelswerk, als „orthodoxe“, autoritäre Bewegung. In Wirklichkeit ist das eine Phrase eines zu spät gekommenen Anarchisten, deren eigentlicher Inhalt darin besteht, dass die Revolution gar keine ist.

„Unsere Revolution kann folglich nicht als Vorbereitung für ein großes Ereignis in der Zukunft verstanden werden, sondern nur hier und jetzt als Erschaffung von Rissen, Fissuren oder Brüchen im Gewebe der Herrschaft, von Räumen oder Momenten in denen wir deutlich sagen, „nein, wir werden nicht hinnehmen, dass das Kapital unsere Leben gestaltet, wir werden tun, was wir für notwendig oder wünschenswert erachten“. Wenn wir uns umsehen, können wir sehen, dass diese Räume oder Momente der Weigerung und Erschaffung überall existieren, vom lakandonischen Urwald bis zur vorübergehenden Weigerung und Erschaffung eines Ereignisses wie diesem. Revolution, unsere Revolution, kann nur als Ausweitung und Multiplikation dieser Risse, dieser Blitze der Weigerung und Erschaffung, dieser vulkanischen Ausbrüche des Tuns gegen die Arbeit verstanden werden.“ (46)

Holloway beschreitet hier also einen ähnlichen Weg wie Negri (trotz all seiner Polemik gegen „das Positive“ der Multitude). Die neue Gesellschaft existiert für Holloway nämlich ähnlich wie Negris Multitude schon – in den „Rissen“, überall, wo wir Momente der „Weiterung und Erschaffung“ ins Werk setzen.

Das zentrale „Kampfmittel“, das Holloway vorschlägt, ist die Verweigerung und das vom Kapitalverhältnis nicht inkorporierte, erschaffende „Tun“. Dieser Vorschlag ist weder neu, noch originell, sondern anarchistischen Vorstellungen entlehnt. Auch im Anarchismus und seine Ablehnung der „Politik“ steht letztlich eine politische Strategie, die darauf basiert, dass die „Verweigerung“ eines gesellschaftlichen Zwangsverhältnisses dieses Zwangsverhältnis außer Kraft setzen würde.

So haben die Bakunisten u.a. anarchistische Strömungen des 19. Jahrhunderts die Teilnahme an Wahlen u.a. politischen Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Argument abgelehnt, dass eine Beteiligung an der bürgerlichen Demokratie der „Anerkennung des Staates“ gleichkommen würde.

Marx und Engels machen sich über diese Schrulle lustig, indem sie einfach darauf verwiesen, dass der Staat als Zwangsinstrument eine reale Macht darstellt, dass das politische Terrain der Auseinandersetzung existiert und zwar unabhängig davon, ob ich es „anerkenne“ oder nicht.

Auch auf das Argument der AnarchistInnen, dass die Arbeiterklasse durch die Beteiligung an Wahlen und die Ausnutzung der bürgerlichen Demokratie für ihre Agitation und ihre Forderungen doch nur Kampfmittel aus der bestehenden Gesellschaft entlehne, diese also damit „anerkenne“, antwortet Engels trocken, dass die AnarchistInnen doch einmal darlegen sollten, aus welcher Gesellschaft, wenn nicht aus der bestehenden die Arbeiterklasse ihre Kampfmittel nehmen solle? Er fordert die Anarchisten auf, zu erklären, warum die Arbeiterklasse freiwillig auf Kampfmittel verzichten solle, die in dieser Gesellschaft existieren, warum sie z.B. die Beteiligung an Wahlen nicht als Agitationsmittel gegen die Bourgeoisie verwenden soll.

So wie der Anarchismus gegenüber den politischen Kampfmitteln der bürgerlichen Gesellschaft verfährt Holloway gegenüber dem ökonomischen Kampf und überhaupt gegenüber dem Klassenkampf von Lohnarbeit und Kapital.

Die Arbeiterklasse solle von diesem Kampf Abstand nehmen, zugunsten des „Nein“. In Wirklichkeit läuft dieser Vorschlag also darauf hinaus, dass die Arbeiterklasse freiwillig auf Kampfmittel und Ziele – z.B. Massenstreiks für Lohnerhöhungen, im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen usw. – verzichten oder diese zumindest geringer schätzen soll als die „Ausweitung und Multiplikation von Blitzen“, also „Freiräumen“ außerhalb des Lohnarbeit-Kapital-Verhältnisses!

Das ist der Rat eines bürgerlichen Scharlatans, keines „Kämpfers“! Die Ratschläge und die ganze Doktrin eines Holloway sind direkt den Interessen der Arbeiterklasse entgegengesetzt, sie sind direkt anti-revolutionär.

c) Zustimmen können wir Holloway eigentlich nur darin, dass seine „Revolution (…) folglich nicht als Vorbereitung für ein großes Ereignis in der Zukunft verstanden werden“ kann.

Ein „großes Ereignis“ wird mit dieser Strategie sicher nie zustande kommen. Vielmehr werden hier vorübergehende „Nischen“ (selbstverwaltete Betriebe, bäuerliche Subsistenzwirtschaft, Tauschbörsen, besetzte Häuser) schöngeredet. Es wird unterstellt, dass solche Projekte nur stetig verteidigt, ausgeweitet und schließlich verallgemeinert werden müssten und „das Neue“ würde so entstehen.

Holloway spult den Film des Revisionismus noch einmal ab, indem er unterstellt, dass sich im Monopolkapitalismus immer mehr „Nischen“ der Kleinproduktion bilden und diese zu einer neuen Gesellschaft führen würden.

d) Um „das Neue“ in Gang zu setzen, schlägt Holloway der Arbeiterklasse und den Unterdrückten auch eine bestimmte „Organisation“ ihres Kampfes vor:

„Wir sind daher die Kritik der Repräsentation, die Kritik der Vertikalität und jeder Form von Organisation, die uns Verantwortung für unsere Leben nimmt.“

Also, Proletarier, weg mit jeder Form der „Repräsentation“, weg mit der „Vertikalität“!

Was bedeutet das real? Es bedeutet, dass die Arbeiterklasse, die Bauern, die städtische Armut auf wirklich jede Form der Massenorganisation zu verzichten hätte!

Er bricht damit auch mit den früheren Operaisten oder Autonomen, die die Notwendigkeit einer straffen revolutionären Organisierung durchaus anerkannten.

Diese „Medizin“ des Herrn Holloway, die er gegen die „abstrakte Arbeitsbewegung“ empfiehlt, ist Gift für die Unterdrückten und Ausgebeuteten.

Keine unterdrückte Klasse der kapitalistischen Gesellschaft kann auch nur ihre Existenzbedingungen verteidigen, wenn sich nicht organisiert auftritt, ihre Masse, ihre große Zahl als Machtmittel wirksam werden lässt.

Das trifft natürlich noch vielmehr auf jede Aktion zu, die die Machtfrage aufwirft, z.B. einen unbefristeten Generalstreik oder einen Aufstand. Hier werden Millionen in Bewegung gesetzt, um bestimmte politische Ziele zu erreichen.

Sie können ihren Kampf aber nur aufrechterhalten und zum Sieg führen, wenn sie organisiert sind. Ein Generalstreik braucht Verbindung zwischen den einzelnen Betrieben, städtischen Zentren etc. Er braucht Koordination. Er braucht Verbindung und politische Führung z.B. zur Abwehr von Streikbrechern, faschistischen Stoßtrupps, Polizeiübergriffen etc.

All das heißt, dass die einzelnen Belegschaften „Repräsentationen“ brauchen, dass es Delegierte, „Vertikalität“ braucht. Ansonsten fällt die ganze Aktion rasch in sich zusammen. Ja es braucht, nebenbei bemerkt, auch „Formen der Organisation, die uns Verantwortung für unser Leben nimmt“ , also eine Arbeitsteilung innerhalb der Kampfbewegung, so dass nicht jede(r) alles tun muss. Selbst die von Holloway hoch gelobten Beispiele wie besetzte Betriebe in Arbeiterselbstverwaltung oder die Zapatisten wären in Wirklichkeit schon längst am Ende, wenn sie die ihnen unterschobene Holloway-Doktrin befolgen würden.

Wir sehen also, dass die gesamte Arbeiterbewegung aus gutem Grund die kleinbürgerlich-reaktionäre Organisationsfeindlichkeit und die damit verbunden „Prinzipien“ ablehnt.

Dabei wurde von RevolutionärInnen nie bestritten, dass sich jede Form der (Massen)organisationen „verselbstständigen“, sich von ihren ursprünglichen Zwecken entfernen, verbürokratisieren oder verbürgerlichen kann. Das Mittel dagegen ist aber nicht eine abstrakte Entwicklung angeblicher „Prinzipien“, die das verhindern könnten, sondern der Kampf für Arbeiterdemokratie und eine revolutionäre Politik in diesen Organisationen.

So treten wir eben nicht für die Fiktion einer „Nicht-Repräsenanz“ oder „Nicht-Vertikalität“ ein, sondern für die direkte Kontrolle der RepräsentantInnen durch die Basis, deren Rechenschaftspflicht, deren Wähl- und Abwählbarkeit.

Der Verzicht auf „Repräsentation“ und „Vertikalität“ an und für sich läuft darauf hinaus, der Arbeiterklasse den Verzicht auf jede Form wirksamer Klassenorganisation oder Widerstand zu predigen. Er läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse im Zustand permanenter individueller Atomisierung zu halten, also darauf, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu verewigen!

Hier kommt auch Holloways programmatischer Buchtitel, „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ zu sich selbst. Er läuft darauf hinaus, dass sich die Welt nicht verändert, sondern bleibt, wie sie ist, dass die Macht in den Händen derer bleibt, die sie haben – in den Händen der herrschenden Klasse.

Exkurs: Die „Zeit der Forderungen ist vorbei“ und die Aufstände der Jugend

Die gegenwärtige autonome Bewegung in ihrer Gesamtheit ist sicher weit davon entfernt, einfach der Doktrin Negri oder Holloway zu folgen, auch wenn viele einen mehr oder weniger eklektischen Mischmasch aus diesen Theorien/Konzeptionen zur Untermauerung ihre Ansichten verwenden oder von diesen o.ä. Gedanken beeinflusst sind. So kommt kaum eine autonome Diskussion ohne den Negrischen Dreiklang von „Recht auf Bewegungsfreiheit“, „Recht auf Grundeinkommen“ und „Recht auf Aneinigung“ aus.

Andere autonome Mobilisierungen meinen, ihren „subversiven“ Charakter durch das Kokettieren mit der eigenen Harmlosigkeit noch herausstreichen zu müssen, so z.B. der Berliner May Day 2009, wo es auf die Frage, wie „Wie weiter!“ heißt:

“Naja – nach dem 1. Mai kommt dann erstmal der 2. Mai. Hallo Alltag. Und dann kommt ja noch die Krise, mit ihre Lügen und Konjunkturpaketen usw. – wie auch immer – unser Mayday Experiment ist ein Baustein in unserem Ringen um eine andere Gesellschaft, um eine andere Politik und eine solidarische Kultur. Mit aller Entschlossenheit voranstolpern! Gegen den Alltag der uns auffrisst, zusammen für eine solidarische Gesellschaft streiten. Das machen wir nicht erst seit Gestern – mal mit Spaß tanzend und mal zäh ringend. Wo Solidarität praktisch werden kann, wo lustvoll die Macht prekarisiert wird, wo wir widerstehen und wo wir Lust am Kollektiven bekommen – dort sind wir! Und jetzt schon freuen wir uns auf den Tag, an dem wir sagen können: Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus!” (47)

Es gibt jedoch auch einen anderen Flügel, der sich „militant“, „radikal“, „anti-kapitalistisch“ und „revolutionär“ gibt, z.B. verschiedene Antifa-Gruppen.

Deren politische Sympathie liegt vor allem bei den Kämpfen, die unmittelbar militanten Charakter haben. Teilweise sind das bewaffnete, nationale Befreiungskämpfe wie in Kurdistan oder im Baskenland (weniger in Palästina, weil sie dort schon nicht mehr in der Lage sind, zwischen dem gerechtfertigten und unterstützenswerten Charakter eines nationalen Befreiungskampfes und dem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Charakter der aktuellen Führung dieses Kampfes zu unterscheiden).

Zum anderen und vor allem geht es um Aufstände oder Emeuten der Jugend, wie z.B. in Griechenland Ende 2008 oder in den französischen Banlieues.

Zweifellos ist es ein positives Zeichen dieser Gruppierungen, dass sie den unterstützenswerten und berechtigten Charakter dieser Aufstände der Jugend und insbesondere der migrantischen Jugend erkennen und mit ihnen solidarisch sind. Richtig an der Beschäftigung mit diesen Aktionen und Kämpfen ist auch, dass sie in der kommenden Krisenperiode häufiger auftreten werden und daher auch mehr Beachtung durch revolutionäre Organisationen erfordern. Das unterscheidet diese Autonomen durchaus wohltuend von den reformistischen, tw. auch rechts-zentristischen Gruppierungen, die diesen Emeuten ablehnend und ignorant gegenüberstehen und stillschweigend hoffen, dass der jüngste Krawall im Banlieue oder in einem beliebigen Vorort auch der letzte sein möge.

Aber diese autonome Richtung geht weiter, indem sie diesen Emeuten und Aufständen eine bestimmte Interpretation gibt, die – wie wir sehen werden – von der Holloways oder Negris weniger weit entfernt ist, als sie selbst denken.

Im Sammelband „Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ (48), der eine Reihe interessanter Analysen der staatlichen und rassistischen Zurichtung der Banlieues, der Hintergründe und des Verlaufs der Aufstände enthält, kommt eine Autorin zu folgenden Schluss:

„So symbolisieren die Emeutes sowohl die strikte Weigerung, sich am politischen Spiel zu beteiligen, als auch das Fehlen einer sozialen Utopie, die den tiefen Graben zwischen linken Gruppierungen verschiedenster Provenienz aus den Ghettos überbrücken könnte. Und doch sind die Emeutes alles andere als sprachlos. Sie formulieren ein klares Nein gegen die herrschenden Verhältnisse.“ (49)

Deutlicher formuliert Marius von der Lubbe im selben Band, was er für das Zukunftsweisende der Emeuten hält:

„Die Modernität der Aufstände lag darin, den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen zu haben und sie nicht nachzuahmen, kein bloß mythisches Kräfteverhältnis angerufen, sondern ein reelles geschaffen zu haben, dieses Kräfteverhältnis selbst zu sein. Es stimmt natürlich, dass der Staat kaum ins Wanken geriet, auch wenn die Angst zeitweise die Seite wechselt.“ (50)

In ihrem Aufsatz warnt Ingrid Artus an anderer Stelle zwar vor einem kritiklosen „Abfeiern“ der Emeuten. Sie fasst aber ihre politische Botschaft so zusammen, dass sie ein „klares Nein gegen die herrschenden Verhältnisse“ seien. Nun kann darunter viel verstanden werden. Wenn ein „Nein“ zum Rassismus der Regierung, zu den sozialen Zuständen usw. gemeint ist, so ist das sicher zutreffend. Unter „herrschenden Verhältnissen“ kann freilich auch mehr verstanden werden. Marius von der Lubbe tut dies auch und geht einen deutlichen Schritt weiter, wenn er den aufständischen Jugendlichen unterstellt, dass die „den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen hätten“. Hier schwindelt sich nur der Autor etwas vor, weil er die Frustration über und die Ausgrenzung aus dem bestehenden politischen Betrieb und die daraus folgende Ablehnung desselben mit einem „Begreifen“, also einem Bewusstsein seiner Ursachen und Mechanismen verwechselt.

Ebenso falsch, aber für Autonome bezeichnend, ist die Auslassung von der Lubbes über das „Kräfteverhältnis“. Erstens ist ein Kräfteverhältnis schon begrifflich eine Relation zwischen zwei Kräften. Eine soziale Kraft/Gruppe/Aufständische kann daher zwar eine Kraft, niemals aber selbst ein Verhältnis sein. Dieser begriffliche Irrtum kommt aber nicht von ungefähr.

Wenn von der Lubbe nämlich wirklich das Kräfteverhältnis betrachten würde, in dem die Jugendlichen in den Banlieues oder in Griechenland agierten, so müsste er feststellen, dass die Aufstände eine Reaktion auf eine bewusste rassistische Provokation der französischen Regierung unter Sarkozy bzw. der Polizeirepression in Griechenland (Ermordung eines 16jährigen Jugendlichen) waren. Sie waren also Reaktionen auf vorhergehende Angriffe.

Der Widerstand hat dieses Kräfteverhältnis verschoben; er hat gezeigt, dass sich die Jugendlichen wehren wollen und können und die Unterdrückung zu einer politischen Frage für die gesamte Gesellschaft machen können.

Dass die Jugendlichen in den Banlieues keine „soziale Utopie“, keine Forderungen, keine Ziele, keine Organisation hatten, dass es keine revolutionäre, proletarische Kraft gab, die sie führen konnte, erwies sich jedoch in den Kämpfen als eine grundlegende Schwäche, als eine Ursache dafür, dass „der Staat kaum ins Wanken geriet“.

Der Gedanke von der Lubbes wird nicht dadurch besser, dass ihn andere Autonome abschreiben und mit eigenen Fehlern „ergänzen“:

„Während der Revolten verzichteten sie auf Formen politischer Repräsentation, stellten keine ‚konstruktiven‘ Forderungen sondern artikulierten ihren Unmut über ihre Lebenssituation indem sie sich ein paar ‚Freudenfeuer‘ genehmigten. Die Botschaft war eindeutig: ‚Es geht uns beschissen, wir haben die Schnauze voll!‘ Die Kraft der Aufstände lag darin, den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen zu haben und sie nicht nachzuahmen. An kein mythisches Kräfteverhältnis appelliert, sondern auf der Straße ein reelles geschaffen zu haben, es selbst zu sein. In den Angriffen auf Polizeistationen, Schulen, Öffentlichen Nahverkehr und Privatautos gaben sie ihrer Wut Ausdruck. Zwar fehlte ihnen eine revolutionäre politische Perspektive, jedoch haben sie begriffen, dass sie sich auf niemand anders verlassen können, als auf ihre eigene Stärke und die ihrer Klasse. Und die Revolten in Frankreich und Griechenland waren nur die Vorboten kommender Aufstände. (…)

Während die jeweiligen Bündnisse meist klassische Forderungen nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, bessere Lernbedingungen und mehr Geld aufstellten, manifestierte sich auf den Straßen und in den bestreikten Schulen die Lust auf konkrete Akte der Verweigerung. In einigen Städten kam es zu Besetzungen öffentlicher Gebäude, Sachbeschädigungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Lektionen, die uns die französischen und griechischen Jugendlichen erteilt haben, sollten wir für den kommenden Schulstreik beherzigen: Nicht mehr so sehr auf seriöse politische Forderungen zu setzen und sich Medien und Politik als ‚konstruktiver‘ Gesprächspartner anzudienen, sondern auf den unvereinnehmbaren, subjektiven und wilden Widerstand. Denn ihr Interesse an unseren Schulstreiks und Forderungen ist geheuchelt. In ihrem System gibt es für uns und unsere Bedürfnisse keinen Platz. Alles was zählt ist unsere Wut.“ (51)

Dieser „Verzicht auf Formen politischer Repräsentation“, mit der auch ein Holloway gut leben könnte, soll nun auch in Berlin nachgeahmt werden. Eine „revolutionäre politische Perspektive“ fehlt zwar, doch was macht das schon, wenn man sich ein paar Freudenfeuer genehmigt und ansonsten begriffen hat, dass man sich nur auf die eigene Stärke, auf die „eigene Klasse“ verlassen kann.

Wer „die eigene Klasse“ der StudentInnen Griechenland sei, lässt das Flugblatt lieber im Dunkeln. Klar, denn sonst würde sich herausstellen, dass in Griechenland und auf der ganzen Welt die entscheidende soziale Kraft eben nicht „die Jugend“, sondern die Arbeiterklasse ist, dass es in Wirklichkeit ein politischer Betrug an ebendieser revoltierenden Jugend ist, sie in der Illusion zu lassen, dass nur „ihre Stärke und die ihrer Klasse“ die Gesellschaft aus den Angeln heben könnte. Die aufständische Jugend kann sich eben nicht „nur auf sich“ verlassen, sie muss sich mit der Arbeiterklasse verbünden und sich in den Befreiungskampf der Arbeiterklasse einreihen. Nur so kann sie ihre Interessen, ihre Forderungen gegen die herrschende Klasse durchsetzen.

Dazu müssen diese Forderungen auch formuliert werden – sowohl gegenüber den Herrschenden, denen sie abgerungen werden müssen, wie auch für die Teile der Gesellschaft, die den Kampf der Jugend, sei es in Griechenland, sei es in den Banlieues, sei es im Bildungsstreik unterstützen sollen. Warum sollen z.B. ArbeiterInnen den Bildungsstreik unterstützen, wenn die Forderungen nicht einmal klar benannt werden? Oder sollen die Proleten auf’s Geratewohl Aktionen ganz unabhängig von ihren eigenen unterstützen? Wer das ernsthaft von der Arbeiterklasse verlangt, zeigt vor allem, dass es in seinem politischen Denken, für die Arbeiterklasse keinen Platz gibt!

Überhaupt ist es natürlich Unsinn, das Aufstellen von Forderungen davon abhängig zu machen, was die Herrschenden zu einem bestimmten Zeitpunkt „ernst nehmen“. Das ist schließlich keine Frage einer über den Klassen stehenden „Vernunft“, sondern eine des Kräfteverhältnisses, der Stärke der Bewegung. Und auch diese wird in der Regel nur stark sein können, wenn sie klare Forderungen hat, um die herum sie die SchülerInnen und Studierenden mobilisieren kann.

Doch das ist den Autonomen zu unsicher. Das könnte ja „vereinnahmt“ werden oder in reformistisches Fahrwasser geraten, womöglich von „Formen politischer Repräsentanz“ (worunter alles – vom Streikrat über den Rätekongress bis zum bürgerlichen Parlament – fällt) geraten. Statt dessen setzt das Flugblatt auf den angeblich  „unvereinnehmbaren, subjektiven und wilden Widerstand“.

Hier kommt eine alte autonome und anarchistische Schrulle zum Vorschein, der wir im Artikel schon mehrmals, darunter auch bei Holloways „Negativität“ begegnet sind. Es geht darum, dass bestimmte Formen der Organisation, der Aktion, der Aktivität, des Kampfes gesucht werden, die aus sich heraus vom System nicht vereinnehmbar wären.

Im Anarchosyndikalismus waren das „die Gewerkschaft“ und der „ Generalstreik“, die eine freie Föderation von Kommunen herbeiführen sollten. Diese Instrumente galten als „an sich“ revolutionär und „unvereinnahmbar“. Dieselbe Qualität dichten nun die Autonomen der rebellierenden Jugend an.

Anders der Marxismus. Für ihn gibt es keine Kampfform, keine Organisation, keine Forderung, die „an sich“ revolutionär ist, die nicht missbraucht, pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt werden könnte. Im Gegenteil: dem Marxismus ist die Suche nach solchen „Prinzipien“ fremd, weil auch die beste Organisationsform, die beste Parole usw. sich immer im Klassenkampf, d.h. in einer konkreten politischen Auseinandersetzung bewähren muss, weil ihre „Unvereinnahmbarkeit“ nur durch den Kampf und die richtige Strategie und Taktik, durch eine revolutionäre Kampfführung behauptet werden kann.

Gerade, wenn wir unseren Blick auf die griechischen Aufstände werfen, zeigt sich, dass die ganze Sicht der Autonomen überhaupt nicht zu den von ihnen gewünschten Resultaten führt. Im Flugblatt wird die große Errungenschaft der griechischen Bewegung so dargestellt, als wäre das Wichtigste der Bruch mit der „Repräsentanzvorstellung“.

In Wirklichkeit war das Wichtigste an den Aufständen der Jugend, dass sie Massencharakter hatten, mit Massenstreiks von ArbeiterInnen, v.a. im Öffentlichen Dienst und im Transportsektor einhergingen und eine vorrevolutionäre Periode einläuteten.

Die Hauptfrage war also, wie die Arbeiterklasse zum Kampf um die Macht, für die sozialistische Revolution mobilisiert und gewonnen werden kann. Diese Frage taucht bei den Autonomen bezeichnenderweise erst gar nicht auf. Ihre Hauptsorge gilt der „Unabhängigkeit“ und „Unvereinnahmbarkeit“ der StudentInnen und SchülerInnen!!!

Die Sorge dieser „Revolutionäre“ geht nicht nur am Hauptproblem gänzlich vorbei, sie ist auch politisch falsch. Die StudentInnen, die Jugendlichen können letztlich keine unabhängige Rolle von einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft spielen, sie müssen vielmehr von einer dieser beiden Klassen, gewollt oder ungewollt, „vereinnahmt“ werden. Die Jugend, die „nur auf ihre Kraft“ vertraut, ist eine Fiktion, eine Fiktion, die letztlich nur der Bourgeoisie dient. Und diese Fiktion der „Unvereinnahmbarkeit“, der „Nichtrepräsentanz“ war leider nicht nur ein Problem eines Flugblattes Berliner Autonomer. Es war ein reales Problem der Dominanz des Anarchismus unter der griechischen Jugend, die zu einer Desorganisation des Kampfes führte und ein Hindernis war für die Gewinnung der Jugend für ein revolutionäre, proletarische Perspektive.

Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

Unter diesem Titel formulierte ein anderer Autor der autonomen, post-operaistischen Linken, K.H. Roth, seine Perspektiven (52). Im Folgenden werden wir uns näher mit seinen 2008 verfassten Thesen, die Mitte 2010 als umfangreicheres Buch erscheinen sollen, beschäftigten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens versucht Roth, eine Gesamtsicht und Analyse der Krise wie auch der durch sie eröffneten politischen Möglichkeiten zu geben. Roths Text ist trotz der zahlreichen Differenzen, die wir im folgenden ausführen werden, an etlichen Stellen interessant, anregend und fordert zur weiteren Diskussion heraus.

Hinzu kommt, dass sein Text in weiten Teilen der autonomen, operaistischen oder mit ihr verbundenen Linken diskutiert wird – also bei der Antifa, bei Wildcat oder in der Interventionistischen Linken.

Schließlich präsentiert K.H. Roth im Unterschied zu den bisher diskutierten Autoren ein Anti-Krisen-Programm, das er als „Übergangsprogramm“ zu einer anderen Gesellschaft verstanden wissen will.

Ursachen der Krise

In den ersten Abschnitten skizziert Roth den Verlauf der Krise und vergleicht sie mit bisherigen Krisen- und Entwicklungsperioden des Weltkapitalismus. Im Abschnitt „Wesentliche Eigenschaft der Krise“ stellt er korrekt fest, des es sich „erstens um eine Krise der weltweiten Überakkumulation des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen und Metamorphosen“ handelt. „Diese Überakkumulation geht zweitens mit einer massiven globalen Unterkonsumtion einher. (…)Dennoch wurde (…) drittens in den entwickelten Zentren des Weltsystems das Wechselspiel von Überkapazitäten und Unterkonsumtion zeitweilig durch die Finanzpolitik des billigen Gelds und der billigen Kredite kompensiert, aber dies vermochte den Ausbruch der Krise nur um ein paar Jahre hinauszuzögern.“ (53)

Während diese allgemeine Vorstellung in vielen Punkten korrekt ist, so wollen wir hier auch wesentliche Unterschiede zur Analyse Roths kurz darstellen.

1. Er konstatiert zwar in seinen einleitenden Bemerkungen richtig, dass eine weltweite Überakkumulation des Kapitals den eigentlichen Grund der Krise ausmacht, aber er konterkariert diese Darstellung im zweiten Abschnitt über die „vorhergegangenen Zyklen“ (und deren eigenwillige Einteilung):

„Ein weiterer entscheidender endogener Faktor war die Potenzierung der technologischen Herrschaft des Kapitals. Der »Kondratieff« des Zyklus 1973-2006 verhalf dem Kapital durch massive technische Innovationen zur Steigerung der Profitraten, indem er – bei fortschreitend sinkenden relativen Lohnraten – die organische Zusammensetzung des Kapitals in strategischen Bereichen verringerte: Umwälzung und Standardisierung der Transportketten durch den Container, Umwandlung der Kommunikationsstrukturen durch Informatik und Informationstechnologie, Mikrominiaturisierung und Roboterisierung der Produktionsanlagen und Umstellung der Maschinenparks auf numerisch gesteuerte Aggregate. Bis jetzt liegen keine gesicherten Daten über die im vergangenen Zyklus erreichte Steigerung der Ausbeutungsraten durch die weitere Verdichtung der Arbeitsprozesse, die Einführung der neuen technologischen Instrumente der reellen Subsumtion, die Indienstnahme und Verwertung der subjektiven Kreativität der Ausgebeuteten sowie die arbeitsorganisatorische Totalisierung betrieblicher Herrschaft (»total productive management« usw,) vor. Wir können aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich die dem Umverteilungsprozess entzogene Produktivkraft des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters im vergangenen Zyklus mit jährlichen Steigerungsraten zwischen 2,5 und 3,0 Prozent mindestens verdoppelt hat.“ (54)

Hier geht Roth also davon aus, dass es zu einer Verringerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und damit einhergehend zu einer Steigerung der Profitraten im Zyklus 1973 – 2006 gekommen wäre, den er auch als „Kondratieff“-Zyklus charakterisiert. Wir haben diese falsche, anti-marxistische Theorie in einer früheren Ausgabe des RM ausführlich kritisiert.

Auffällig ist nicht nur der Eklektizismus von Roth, sondern auch die Tatsache, dass er ohne empirische Belege, die Verringerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals einfach annimmt. Er selbst gibt das zu, wenn er darauf verweist, dass es keine gesicherten Daten auf diesem Gebiet gäbe.

Mitnichten! Wir haben in einer Reihe von Artikeln (55) nachgewiesen, dass es sehr wohl eine Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals in dieser Periode gab – trotz „neuer Technologien“ und erhöhter Ausbeutungsraten. Und nicht nur wir, auch Robert Brenner hat z.B. in seinem Buch „Boom and Bubble“ (56) die These von Roth eindrucksvoll widerlegt.

2. Roth stellt fest, dass mit der Globalisierung eine Expansion des Weltmarktes und auch die Schaffung globaler Produktionsketten einherging.

„Der Aufbau globaler Netzwerkunternehmen, deren Wertschöpfungsketten von zumeist in den Metropolen gelegenen Entwicklungs-, Design- und Marketingzentren gesteuert werden, war möglich geworden: Die segmentierten Arbeitsprozesse konnten über die Weltregionen mit den niedrigsten Ausbeutungsraten verteilt und miteinander verknüpft werden.“ (57)

So weit so gut. Roth macht jedoch den Fehler, dass er daraus zu sehr auf eine Vereinheitlichung der Arbeiterklasse in den imperialistischen Zentren und in der Peripherie schließt, was auch damit zu tun hat, dass er keinen klaren Imperialismus- und Monopolbegriff kennt.

3. Roth legt zwar zurecht große Aufmerksamkeit auf den Aufstieg Chinas als kapitalistische Macht und das Verhältnis China-USA. Er erwähnt aber überhaupt nicht die Formierung eines imperialistischen EU-Blocks unter deutsch-französischer Führung. So kommt die Einführung des Euro als wichtige Weltwährung, die sich anschickt, dem Dollar Konkurrenz zu machen, gar nicht vor, wie überhaupt die Verschärfung der innerimperialistischen Konkurrenz bei ihm keine große Bedeutung hat.

Hier liegt ein – für operaistische Traditionen – nicht untpyischer, aber grundlegender Fehler vor: nämlich nicht das aktuelle Entwicklungsstadium des imperialistischen Weltsystems, also eine politische und ökonomische Totalität zum Ausgangspunkt zu machen, sondern sich auf eine iw. ökonomische Krisenanalyse zu beschränken.

Soweit die Hauptpunkte unserer Kritik an seiner Analyse der Krise. Roth selbst beschließt folgendermaßen:

„Die große Krise wurde erst durch das seit 1938 in Europa beginnende und ab 1940 auch die USA erfassende internationale Wettrüsten und die Rüstungswirtschaften des zweiten Weltkriegs überwunden. Dieser katastrophale Ausgang der Krise war keineswegs ‚gesetzmäßig‘ vorgezeichnet. Deshalb sollte er uns in der Auseinandersetzung mit der sich jetzt ausbreitenden Weltkrise klar machen, dass unsere Aufgabe darin besteht, Wege zur Krisenüberwindung vorzuschlagen und mit durchzusetzen, die den Weg in einen neuen Weltwirtschaftskrieg verbauen und zugleich als Hebel zur sozialistischen Transformation des Weltsystems genutzt werden können.“ (58)

In dieser Intention liegt zweifellos eine Stärke von Roths Text, verglichen mit Negri und erst recht mit der politischen Bettelsuppe eines Holloway oder der „radikalen“ Autonomen, deren Programm vor allem darin besteht, nichts zu fordern.

Roth will hier bewusst einen anderen Weg gehen und sowohl das Subjekt einer „sozialistischen Transformation“ ausmachen wie auch – und das unterscheidet ihn positiv von den anderen autonomen/post-operaistischen Autoren – ein Programm entwickeln.

Globale Proletarisierung

Folgerichtig ist der nächste große Abschnitt seines Textes der „globalen Proletarisierung“ gewidmet. „Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir uns darüber verständigen, wer in der Lage sein könnte, einen Weg der Krisenüberwindung durchzusetzen, der nicht erneut in die kapitalistische Barbarei führt, sondern eine sozialistische Transformationsperspektive freimacht. Dies können nur diejenigen Klassern und Schichten sein, die der kapitalistischen Akkumulations- und Regulationsmaschinerie ihr Arbeitsvermögen feilhalten oder entäußern müssen, um leben zu können: Die Eigentumslosen der Welt, aus denen das sich ständig wandelnde Multiversum der Weltarbeiterklasse hervorgeht.“ (59)

Wer aber ist dieses Multiversum?

„Die Weltarbeiterklasse wird nicht durch die doppelt freie Lohnarbeit dominiert, sondern stellt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vielschichtiges Multiversum dar, innerhalb dessen die großindustrielle Lohnarbeit eine wichtige und zeitweilig auch politisch hegemoniale Rolle spielte, aber nie die Aussicht hatte, die übrigen Segmente des Proletariats zu absorbieren und / oder in eine reine industrielle Reservearmee verwandelt zu sehen. Die globale Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter konstituiert sich bis heute in einem Fünfeck von Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit, kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft, von selbständiger Arbeit (Kleinbauern, Kleinhandwerker und Kleinhändler, scheinselbständige Wissensarbeiter), industrieller Lohnarbeit und unfreien Arbeitsverhältnissen aller Schattierungen (Sklaverei, Schuldknechtschaft, Kuli- bzw. Kontraktarbeit, militarisierte und internierte Zwangsarbeit bis hin zu den ihrer Freizügigkeit beraubten Arbeitsarmen der Metropolen, etwa den Hartz IV-Empfängern).“ (60)

Kurz, das „Multiversum der Weltarbeiterklasse“ umfasst verschiedene Klassen!

Es geht hier keinesfalls darum, die Bedeutung nicht-proletarischer Klassen wie z.B. der subsistenzbäuerlichen Familien, deren Größe Roth auf 2,8 Milliarden Menschen (davon allein 700 Millionen in China) veranschlagt, oder der städtischen Armut (lt. Roth ca. eine Milliarde) gering zu schätzen. Nur ein Narr könnte sagen, dass die Arbeiterklasse den Nöten der Mehrheit der Menschheit nicht größte Aufmerksamkeit zu widmen hätte, zumal gerade die Subsistenzbauern und die städtische Armut von der Krise besonders hart getroffen werden.

Aber Roths grundlegender Fehler und Bruch mit dem Marxismus besteht darin, dass er die unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bauernschaft im „Multiversum“ verwischt. Roth konstatiert richtig die Entwicklung von Widerstand und Kampfbereitschaft:

„Nicht erst seit dem Übergang zur Krise beobachten wir eine deutliche Zunahme von Kämpfen und Revolten, in denen die Akteurinnen und Akteure solidarisch für einander eintreten, egalitäre Verhaltensweisen entwickeln und sich zunehmend weigern, die sozialen Kosten der Krise auf sich zu nehmen.“ (61)

Und weiter unten:

„In allen diesen Eruptionen schärft sich ein wachsendes Krisenbewusstsein, das sich mit der Parole ‚Wir bezahlen Eure Krise nicht‘ zu homogenisieren beginnt. (…)

Alles in allem ist aufgrund der Krise ein weiterer globaler Proletarisierungsschub zu erwarten, der von der heraufziehenden neuen Welle der Massenerwerbslosigkeit in den bisherigen Krisenzentren USA, Europa und Ostasien ausgeht. Erneut werden Millionen von Menschen sozial abstürzen. Wie werden sie reagieren? Die proletarischen Familien, die sie umgebenden sozialen Gruppen und die vielschichtigen Segmente des proletarischen Multiversums haben unterschiedliche Optionen, sobald sie nichts mehr zu verlieren haben: Sie können revoltieren, um sich ihr Existenzrecht zu sichern und eine egalitäre Gesellschaft zu erkämpfen; sie können aber auch den Prozess der individuellen, familiären und sozialen Selbstzerstörung beschreiten, indem sie etwa die patriarchale Gewalttätigkeit restaurieren oder ethnische Konflikte aufladen, um ihr Überleben auf Kosten anderer proletarischer Gruppen zu sichern.“ (62)

Schon hier deutet sich an, was wir auch bei der Betrachtung seines Forderungsprogramms sehen werden. Roth stellt sich gar nicht die Frage, was eigentlich das Klassenprogramm des Proletariats gegen die Krise ist, wie es die Bewegung vereinheitlichen kann, wie es die Bauern und Armen um sich scharen kann.

Roth bleibt vielmehr auf der Ebene, die Forderungen des „Multiversums“ zu sammeln und darzustellen. Daher kann er keine Perspektive und kein strategisches Kampfziel bestimmen, sondern einfach nur verschiedene – progressive wie regressive – „Optionen“ anbieten.

Für KommunistInnen ist die Frage, welche „Option“ der Entwicklung der Unterdrückten – Widerstand/Revoltieren/Revolution oder Regression – sich durchsetzt, abhängig davon, welche politischen Programme und Strategien sich unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten durchsetzen, ob es gelingt, die Führungskrise des Proletariats zu lösen und eine revolutionäre Klassenführung zu schaffen.

Bei Roth hängt das hingegen von Prozessen ab, die außerhalb des bewussten Eingreifens von RevolutionärInnen liegen, und davon, ob sich die Tendenzen zur „Vereinheitlichung des Multiversums“ und dessen Homogenisierung durchsetzen oder nicht.

Doch das ist – vom Standpunkt des Marxismus – keineswegs die entscheidende Frage. Die globale Krise kennt sowohl vereinheitlichende wie auch spaltende und zersetzende Tendenzen für die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse. Entscheidend ist nicht, ob die Krise mehr in diese oder jene Richtung drängt (klar ist aber, dass sie die zersetzenden Tendenzen in der Arbeiterklasse z.B. durch Anstieg der Massenarbeitslosigkeit verschärft), sondern ob es einer revolutionären Avantgardepartei gelingt, die Klasse im Widerstand gegen die Angriffe zu vereinen und zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das ist auch der eigentliche Sinn eines Übergangsprogramms, wie es von der frühen Kommunistischen Internationale oder von Trotzki entwickelt wurde:

„Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. (…)

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. Die Lösung dieser strategischen Aufgabe ist jedoch undenkbar ohne die sorgfältigste Aufmerksamkeit gegenüber allen Fragen der Taktik, selbst den geringfügigen und partiellen.

Alle Teile des Proletariats, alle seine Schichten, Berufe und Gruppen müssen in die revolutionäre Bewegung hineingezogen werden. Was die Besonderheit der gegenwärtigen Epoche ausmacht, ist nicht, daß sie die revolutionäre Partei von der prosaischen Arbeit des Alltags befreit, sondern daß sie erlaubt, diesen alltäglichen Kampf in unauflösbarer Verbindung mit den Aufgaben der Revolution zu führen.“ (63)

Für Trotzki ist also das Übergangsprogramm ein Programm zur proletarischen Machtergreifung, das zu seiner Umsetzung eine bewusste, zur Partei und Internationale geformte Avantgarde der Klasse braucht.

Für Roth ist das anders. Das Programm ist bei ihm kein Mittel, kein Weg zur Machtergreifung, sondern eine „Vision“.

„Aus allen diesen Gründen benötigt die emanzipatorische Perspektive eine analytisch ausgewiesene Vision der Gesellschaftstransformation, die mit unmittelbar greifenden Aktionsprogrammen verknüpft ist. Damit die Krise weder in eine Reformperspektive zur »Erneuerung des Kapitalismus“ noch in die drei möglichen Varianten der Barbarei führt – innere Selbstzerstörung, Bürgerkrieg und kapitalistischer Weltwirtschaftskrieg als Vorstufe neuer Großkriege -, sollte die Perspektive der proletarischen Selbstemanzipation auf zwei Handlungsebenen verteilt werden, damit diese ineinander greifend wirksam werden: Erstens in einen Handlungsrahmen zur radikalen Zuspitzung der anlaufenden antizyklischen Reformprogramme, und zweitens davon ausgehend in eine Programmatik zur Initiierung eines Projekts der revolutionären Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsformation.“ (64)

Das zeigt sich auch noch einmal im Inhalt seines Programms. Roth fordert die Zuspitzung der Parole „Die Kapitalvermögensbesitzer sollen für die Krise bezahlen“. Das ist für sich genommen richtig, es ist aber typisch für Roth und die Autonomen, wie er die „Zuspitzung“ formuliert:

„Diese massive Umverteilung des Reichtums von oben nach unten strebt keineswegs eine systemimmanente Stabilisierung des Krisenzyklus an, aber sie macht sich das Bestreben der keynesianischen Reformökonomen zunutze, die Schere zwischen Überakkumulation und Unterkonsumtion durch die Steigerung der Masseneinkommen zu schließen und dadurch den Krisenzyklus zu überwinden. Denn zwischen den Lebens- und Konsumtionsbedürfnissen der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter und der volkswirtschaftlichen Größe der „Massenkaufkraft“ besteht ein unüberwindlicher qualitativer Unterschied, der den Eigentumslosen im Prozess ihrer Homogenisierung die Chance eröffnet, die antizyklische Krisenpolitik der jetzt an die wirtschaftspolitischen Schalthebel gelangenden Machtgruppen über sich hinauszutreiben. Dafür sind weltweit koordinierte Massenaktionen, aber auch eine weltweit vernetzte Informationskampagne erforderlich, die jegliche institutionelle Anbindung an die Projekte und Parteien einer systemimmanent bleibenden antizyklischen Politik der Krisenüberwindung vermeidet.“ (65)

Auffällig und typisch ist der allgemeine, vage Charakter der Formulierungen. Den ArbeiterInnen biete sich die Chance, „die antizyklische Krisenpolitik der jetzt an die wirtschaftspolitischen Schalthebel gelangenden Machtgruppen über sich hinauszutreiben“. Doch wie? Mit welchen Forderungen? Wie sollen sie das sicherstellen? Hier bleibt Roth vage. Er spricht von „koordinierten Massenaktionen“ oder von der Vermeidung „institutioneller Anbindung“. Er gibt nur allgemeine Ratschläge, kein Programm, auf dessen Grundlage die ArbeiterInnen handeln könnten. So fehlen hier grundlegende Übergangsforderungen wie jene nach Offenlegung der Finanzströme, Kontrolle von Produktion und Verteilung durch die Arbeiterorganisationen usw. usf.

Seine zweite „Radikalisierung“ lässt jedoch noch viel mehr zu Wünschen übrig. Sie lautet: „Neue Weltwährung und Wiedereinführung fester Wechselkurse“. Während er sich oben noch gegen das „Herumdockern“ am System verwahrt hat, schlägt er jetzt selbst eine neue Weltwährung vor, ein reformistisches Megaprojekt!

Solche Forderungen zeigen, wie wenig Roths Programm mit einem revolutionären Übergangsprogramm zu tun hat, welches das Proletariat zum Kampf um die Macht vorbereiten und führen soll. Statt dessen kommt ein komplett utopischer Vorschlag, nämlich die Durchsetzung einer „neuen Weltwährung“ – in einer Periode, da gerade die ökonomischen Grundlagen für die das bestehen einer unumstrittenen Weltwährung mit den Niedergang der US-Hegemonie und verschärfter innerimperialistischer Rivalität verschwinden.

Roth fährt fort mit seinem dritten großen Block zur „Zuspitzung“ des Anti-Krisenprogramms: „Demokratisierung der wirtschaftlichen Restrukturierungsprogramme“. Dadurch sollen „basisdemokratisch gewählte Repräsentationen der Arbeiterinnen und Arbeiter in die anlaufenden Redimensionierungs- und Restrukturierungsprozesse der großen Wirtschaftszweige eingeschaltet werden“ und „Lernprozesse in Gang kommen, die von Anfang an global vernetzt sind und als Vorbereitung auf die kollektive Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebens- und Reproduktionsprozesse“. (66)

Auch hier kommt der reformistische Grundton dieser „Zuspitzung“ klar zum Ausdruck. Es wird gleich gar kein Anti-Krisenprogramm der Arbeiterklasse formuliert. Forderungen wie die nach Verstaatlichung der Banken und Konzerne, die selbst in einem reformistischen Programm vorkommen können, fehlen gänzlich, ebenso wie alle Forderungen nach Programmen gesellschaftlich nützlicher Arbeiten. Auch die Losung der Arbeiterkontrolle fehlt oder ist „bestenfalls“ unklar formuliert, kann doch das „Einschalten“ von RepräsentantInnen der ArbeiterInnen alles Mögliche bedeuten von der Mitbestimmung bis zu Kontrolle.

Doch wer sich vom „Sofortprogramm“ Roths enttäuscht sieht, der wird mit seinem „Transformationsteil“ auch nicht glücklich werden.

„Durch die Forcierung und Zuspitzung der antizyklischen Reformprogramme soll der Weg für einen revolutionären Transformationsprozess freigemacht werden: Sie ermöglicht kollektive Lernprozesse, die das Massenbedürfnis nach einem Umbruch in Richtung Selbstemanzipation und gesellschaftlicher Autonomie hervorbringen. Denn der Übergang zum Sozialismus hat nur dann eine Chance, wenn er weltweit zu einem dominierenden Massenbedürfnis herangewachsen ist. Dieser Prozess benötigt Zeit – sicher mehrere Jahre. Aber auch der Transformationsprozess selbst wird sich über Jahrzehnte hinziehen, bevor der point of no return erreicht ist, an dem die Selbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten über die von ihnen angeeigneten Produktions- und Reproduktionsgrundlagen egalitäre und basisdemokratische Strukturen erzeugt hat, die eine Restauration von Klassenherrschaft unmöglich machen.“ (67)

Was hier als „revolutionärer Transformationsprozess“ ausgegeben wird, ist ein Etikettenschwindel. Es ist eine Perspektive der längerfristigen Reform. Das wird noch deutlicher, wenn man Roths drei „Vorbedingungen“ der Transformation betrachtet:

1. „Umstellung der Gewerkschaften auf das Vertrauensleutekörpermodell, Entbürokratisierung und Abbau der Co-Manager-Gehälter ihrer Leitungsgremien; basisdemokratische Umgestaltung der Kommunalparlamente und -verwaltungen als erste Schritte einer allgemeinen und von unten nach oben fortschreitenden Entstaatlichung.“

2. „die Steuereinkommen schwerpunktmäßig auf die kommunalen Strukturen umzuleiten (Modell Schweiz, wo 60 Prozent der Gesamtsteuern in die Kommunen gehen)“

3. „radikale Senkung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Anhebung und Homogenisierung der Arbeitseinkommen“ (68)

So, legt Roth allen Ernstes dar, käme es zu einer „Entstaatlichung“!

„Auf diesen elementaren Grundlagen der aufeinander aufbauenden kommunalen und regionalen Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebensprozesse werden schließlich Strukturen der gesellschaftlichen Autonomie entstehen, die nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Manager-Eliten verabschieden, sondern auch das Aufkommen einer neuen Experten- und Bürokratenkaste verhindern. Parallel dazu werden sich die kommunalen Sozialisierungsprozesse auf regionaler, subkontinentaler und kontinentaler Ebene miteinander verbinden.“ (69)

Und weiter: „Die transnationalen Gewerkschaften sollten sich beim Übergang zu Selbstverwaltungsföderationen auf alle diejenigen Wirtschaftsbranchen konzentrieren, die weltweit operieren und über die regionalen Produktions- und Reproduktionssysteme hinausreichen, die regionalen Rätedemokratien beliefern und die Gegenmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Schlüsselsektoren des Weltsystems etablieren.“ (70)

Das gipfelt schließlich in der „Gründung einer Weltföderation der Autonomien“ nach einem langwierigen „Transformationsprozess“, ohne dass das Proletariat die politische Macht ergreifen oder den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen müsste!

Der bürgerliche Staat kommt nämlich in den Ausführungen von Roth erst gar nicht vor. Wozu auch? Schließlich müssen die Kapitalisten ja nicht enteignet und mit Gewalt von ihren Positionen vertrieben werden. Bei Roth werden sie einfach irgendwann „verabschiedet“, während Gewerkschaften und Selbstverwaltungsföderationen (assoziierte Kommunen) anfangen, ganze Wirtschaftsbranchen neu zu regeln.

Der autonome Tiger endet hier als reformistischer Bettvorleger. Um das zu unterstreichen, legt Roth auch noch seine Vorstellung einer revolutionären Organisation, der „globalen Assoziation für Autonomie“ vor:

„Nach langem Zögern habe ich mich dazu durchgerungen, eine organisatorische Vorwegnahme dieses Konzepts durch eine weltweit vernetzte Assoziation vorzuschlagen, die auf allen drei Ebenen gleichzeitig aktiv wird. Es soll sich dabei nicht um eine Kaderorganisation mit Avantgardeanspruch handeln, sondern um einen freien und basisdemokratisch verfassten Zusammenschluss von Menschen, die das hier vorgelegte Konzept kritisiert, korrigiert, überarbeitet, erweitert und sich sodann zu eigen gemacht haben, um seine Nützlichkeit im Dialog mit dem proletarischen Multiversum zu testen. Die sich dabei ergebenden Erfahrungs- und Lernprozesse werden zu einer fortlaufenden Korrektur des Modells führen. Sobald das proletarische Multiversum den Übergang zur globalen Autonomie unumkehrbar zu machen beginnt, wird sich diese Assoziation wieder auflösen.“ (71)

In Roths Programm wie in seiner Organisationsvorstellung tritt der Unterschied zum Marxismus deutlich hervor:

a) Revolutionäre Möglichkeiten ergeben sich nicht am Reißbrett, wie bei Roth, nach einem langen „Transformationsprozess“. Sie ergeben sich durch die krisenhafte Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus. Sie müssen daher in diesen Perioden oder Situationen ergriffen und gelöst werden. Wird das versäumt, gibt es keinen „langen Transformationsprozess“, sondern einen Sieg der bürgerlichen Konterrevolution.

b) Die revolutionäre Umwälzung ergibt sich nicht als Abschluss langwieriger, schrittweiser Transformationsprozesse, sondern beginnt mit der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt im Interesse der Ausgebeuteten reorganisiert werden kann.

c) Die Aufgabe der revolutionären Partei erschöpft sich nicht im Dialog und Zusammenschluss, wie jene der „Assoziation“, sondern besteht darin, die Klasse zur Revolution zu führen. Anders als Roths „Assoziation“ löst sich diese nicht auf, nachdem ein „Übergang zur globalen Autonomie“ unumkehrbar geworden sei (obwohl die politisch-militärischen Apparate der Bourgeoisie weiter bestehen!!). Die Notwendigkeit der revolutionären Partei hört erst dann auf, wenn die Periode des Übergangs zum Sozialismus, der Herrschaft der Arbeiterklasse beendet ist, also mit dem endgültigen Sieg der proletarischen Weltrevolution.

IV. Leninismus und Autonomismus

Wenn wir die autonomen Autoren zur Krise betrachten, so zeigt sich, dass ihre Analysen, Perspektiven, Vorschläge weder besonders originell, noch wegweisend sind. Programmatisch haben sie entweder nichts (Holloway), einige Zauberformeln (Negri) oder eine maues reformistisches Programm zu bieten (Roth).

Dennoch sind die Autonomen in den letzten Jahren eher stärker denn schwächer geworden. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht bei den Autonomen selbst, sondern vielmehr in der Krise und Verrottetheit des Reformismus – sei es der einer sozialdemokratischen oder einer ehemals „kommunistischen“ Partei oder jener der Gewerkschaftsbürokratie.

Es gibt er auch eine zweite, mit der aktuellen Krisenperiode eng verbundene Ursache – die soziale Deklassierung und Perspektivlosigkeit, die der Kapitalismus v.a. der Jugend bietet. Das verleiht dem „unintegrierbaren“ Gestus und der zur Schau getragenen Militanz der Autonomen nicht nur Attraktivität, sondern z.T. auch Plausibilität.

Doch die Alternative ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit ist der autonome Weg nicht minder ein Weg in Sackgasse und Niederlage wie jener des Reformismus – und zwar v.a. in Situationen, in denen sich der Klassenkampf verschärft und revolutionär zuspitzt.

Die Tatsache, dass autonome Kräfte teilweise eine wichtige Rolle bei Mobilisierungen spielen und eine Zusammenarbeit mit ihnen notwendig ist, ändert nichts daran, dass RevolutionärInnen den Autonomismus einer schonungslosen Kritik unterziehen müssen. Nur so ist es möglich, die besten und kämpferischsten Jugendlichen und ArbeiterInnen, die in ihm eine Alternative zum Reformismus erblicken, für ein wirklich revolutionäres Programm zu gewinnen.

Wie wir gesehen haben, stützt sich die heutige autonome Bewegung v.a. auf dem Kleinbürgertum ähnliche Schichten, v.a. auf Studierende. Aber auch politisch hat ihre ganze Doktrin über alle Schattierungen hindurch einen kleinbürgerlichen Charakter, sie ist eine Spielart des kleinbürgerlichen Radikalismus.

Das zeigt sich an der Weigerung vieler Gruppierungen, systematisch in der Arbeiterbewegung zu arbeiten, und darin, allgemein Forderungen, Strukturen und Organisation abzulehnen. Politik verkommt dabei zu einem im Grunde moralischen Gestus, zu „revolutionärer Gesinnung“. Zugleich wird der schwankende Charakter der Autonomen, der ihnen wie jeder kleinbürgerlichen Politik eigen ist, aber auch dort deutlich, wo sie sich an Taktik, Forderungen und „Programme“ heranwagen. Dann endet der revolutionäre Anspruch nur allzu leicht im ungewollten Wiederkäuen reformistischer Konzepte.

Zwischen Marxismus und Autonomismus gibt es daher keinen bloß graduellen Unterschied, sondern einen grundlegenden Gegensatz – wie eben zwischen proletarischer und kleinbürgerlicher Politik allgemein.

a) Verständnis des Kapitalismus und seiner Gesetzmäßigkeiten

Für MarxistInnen ist der Kapitalismus eine Gesellschaftsformation, die vom Klassengegensatz von Kapital und Arbeit geprägt ist. Es sind die inneren Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise, die  Krisen hervorbringen, den Klassenkampf verschärfen und schließlich zum Sturz dieser Gesellschaftsformation durch die proletarische Revolution treiben.

Für die Autonomen und Operaisten hingegen ist es genau umgekehrt, es ist die unterdrückte Klasse/Schicht/Gruppe, die – unabhängig von Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation und der politischen und wirtschaftlichen Lage – durch ihre eigene Aktion die Verhältnisse zuspitzt.

b) Klassenbegriff und Subjektbegriff

Der Klassenbegriff der Autonomen/Operaisten ist daher erstens immer nicht-dialektisch. Die Arbeiterklasse wird nicht wie beim Marxismus im Verhältnis zu anderen Klassen, nicht hinsichtlich ihrer Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess bestimmt, sondern als soziologische Entität. Es variiert nur der Name der Entität – Massenarbeiter, gesellschaftlicher Arbeiter, Volk (bei den Anti-Imps der 80er), Multitude, Multiversum …

Zweitens ist der autonome Klassenbegriff subjektivistisch. Revolutionäres Subjekt ist, wer revolutionär handelt und zwar möglichst „unvereinnahmbar“. Daher können – je nach autonomer Schule – auch nicht-proletarische Klassen oder Schichten ebenso revolutionär sein wie das Proletariat.

Für den Marxismus hingegen ergibt sich der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse aus ihrer Stellung im Produktionsprozess. Zugleich erkennt der Marxismus, dass die Stellung der Arbeiterklasse als Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen auch eine systematische Verkehrung des Bewusstseins hervorbringt. Das spontane Arbeiterbewusstsein ist ein bürgerliches und dieser Fetisch kann nur durch die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus mit der Avantgarde der Klasse durchbrochen werden. Damit die Klasse von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden kann, bedarf es der Formierung einer revolutionären Partei.

c) Revolutionsverständnis

Für die Autonomen kann die Revolution jederzeit (oder nie) passieren, sie ist letztlich ein bloßer Willensakt des autonom konstituierten revolutionären Subjekts. Das revolutionäre Subjekt ist daher letztlich nichts als eine Ansammlung autonomer, bürgerlicher Individuen, die sich eben entschließen, die Revolution zu machen. Es gibt daher auch keine bestimmte Revolutionsvorstellung, keine Notwendigkeit einer Übergangsperiode und natürlich auch nicht einer revolutionären Avantgarde und Partei.

Für den Marxismus hingegen setzt die Revolution eine gesellschaftliche Krise voraus, die – in Lenins Worten – impliziert, dass sowohl die herrschende Klasse nicht mehr wie bisher herrschen kann, als auch die unterdrückte Klasse nicht mehr bereit ist, so zu leben wie bisher. Die Revolution ist also an objektive, vom bloßen Willen der Unterdrückten unabhängige Bedingungen gebunden.

Zugleich jedoch geht der Marxismus davon aus, dass das Klassenbewusstsein in der proletarischen Revolution im Unterschied zur bürgerlichen Revolution eine qualitativ größere Rolle spielt, weil die Arbeiterklasse im Kapitalismus eben nicht schon Strukturen einer sozialistischen, der kapitalistischen Produktionsweise überlegenen, Ökonomie entwickeln kann. Nur, wenn die Arbeiterklasse die politische Macht ergreift und in ihren Händen die Produktionsmittel hat, kann sie diese Umwälzung bewusst durchführen.

Um aber eine solche bewusste Umwälzung der Gesellschaft herbeiführen zu können, müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zu einer Kampfpartei formieren. Nur unter ihrer Führung können, die weniger bewussten Teile der Arbeiterklasse und andere, nicht-ausbeutende Klassen zu einer siegreichen Revolution geführt werden.

Für den Autonomismus spielt all das keine Rolle. Bei Roth wird man allmählich eine „Assoziation“ schaffen, bei Holloway „Risse“ und bei Negri hat die neue Produktionsweise, die der Menge, eigentlich schon gesiegt …

Bei den subjektivistischen Autonomen spielt das revolutionäre Bewusstsein, die Entwicklung der Arbeiterklasse zum bewussten revolutionären Subjekt eine viel geringere, bloß zufällige und eigentlich vernachlässigbare Rolle. Für den Marxismus hingegen ist das revolutionäre Bewusstsein, die bewusste Klassenführung eine unterlässliche, eine notwendige Bedingung der sozialistischen Revolution und des Übergangs zum Sozialismus.

d) Sozialismus als „Option“ oder als Notwendigkeit?

Für die Autonomen ist der Sozialismus eine „Option“, eine bloße Möglichkeit. Sie bewegen sich damit auf demselben Terrain wie ein großer Teil der bürgerlichen Sozialwissenschaft, die durchaus zugesteht, dass die Menschheit auch eine sozialistische Richtung „wählen“ könnte, ebenso gut aber bis in alle Ewigkeit für Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft und bürgerliche Demokratie votieren könne.

Für den Marxismus ist der Sozialismus hingegen eine Notwendigkeit, auf dessen Errichtung die inneren Widersprüche des Kapitalismus selbst drängen. Darauf baut die kommunistische Bewegung letztlich ihr revolutionäres Programm, ein Programm, das eigentlich nur einen Weg weist, wie die Menschheit die von ihr geschaffenen produktiven Möglichkeiten realisieren kann, die der Kapitalismus längst nicht mehr weiterentwickelt und zunehmend unterminiert.

Weil die Autonomen kein Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und der Mittel zu ihrer Lösung haben, sind ihre Sozialismusvorstellungen, ihre „Programme“ usw. auch immer wirr und beliebig. Daher auch das Schwanken der autonomen Bewegung von euphorischer Revolutionsstimmung zur tiefen Depression, ja nach politischer Konjunktur.

Der revolutionäre Kommunismus hingegen schöpft seinen geschichtlichen Optimismus nicht aus kurzfristigen Stimmungen oder aus dem unvermeidlichen Auf und Ab von Bewegungen. Sein Optimismus fußt auf der Gewissheit, dass sein Programm nichts mit willkürlicher Weltverbesserung zu tun hat, sondern nur dem zum bewussten Durchbruch verhilft, wohin die gesellschaftliche Entwicklung selbst strebt: zum Kommunismus.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Geronimo, Glut und Asche, Reflexionen zur Politik der Autonomen Bewegung, Münster 1997, S. 147

(2) Zur konterrevolutionären Rolle des Stalinismus bei der Herstellung der Nachkriegsordnung vergleiche auch die Analyse von Workers Power, unserer britischen Schwesterorganisation, aus den 1980er Jahren. Workers Power, Die Expansion des Stalinismus nach 1945, in: Aufstieg und Fall der Stalinismus, Broschüre der Gruppe Arbeitermacht, Berlin, Oktober 2009, Seite 13-24.

Zur Politik des Stalinismus in Italien: Fernando Claudin, Die Krise der Kommunistischen Bewegung, Bd 2. (Von der Komintern zur Kominform), S. 47 – 75, Berlin 1978

(3) Panzieri, Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, QR, Nr. 1, 1961

(4) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 350

(5) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 351

(6) Panzieri, Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, QR, 1, 1961

(7) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 557

(8) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 559

(9) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW, 23, S. 559

(10) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 469

(11) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 468

(12) Mario Tronti, Fabrik und Gesellschaft, in: Quaderni Rossi , Nr. 2, 1962   (dtsch. in Mario Tronti, Arbeiter und Kapital, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1974, S. 17-40

(13) Mario Tronti, Lenin in England, in: Classe Operaia , Nr. 1, 1964   (dtsch. in: Primo Moroni/Nanni Balestrini: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien, Berlin: Assoziation A, 2002, S. 86-93

(14) Roberto Battaggia, Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen

(15) Ebenda

(16) Alquati, Documenti sulla lotta die classe alle FIAT, zitiert nach Birkner/Flotin, (Post-)Operaismus, Juni 2006, S. 18/19

(17) Steve Wright, Den Himmel stürmen, Eine Theoriegeschichte des Operaismus, 2005, S. 173

(18) Geronimo, Feuer und Flamme, Zur Geschichte der Autonomen

(19) Agnoli, Langer Marsch, Februar 76

(20) Zu einer ausführlichen Darstellung von „Peoples Global Action“ und unserer Kritik siehe: LRKI (Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, Vorläufer der Liga für die Fünfte Internationale), Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg. Ursprünge und Perspektiven einer Bewegung, Berlin, 2001, S. 34-39

(21) An dieser Stelle wollen wir uns eine grundlegende Kritik dieser Konzeption sparen, da wir diese schon in einem früheren Artikel dargelegt haben. Siehe dazu: Rodney Edvinsson/Keith Harvey, Empire: Jenseits des Imperialismus?, in Revolutionärer Marxismus 33, S. 5-56

(22) Hardt/Negri, Empire, Frankfurt/Main 2002, S. 12/13

(23) Ebenda, S. 41

(24) Ebenda, S. 373

(25) Ebenda, S. 374

(26) Ebenda, S. 368/369

(27) Ebenda, S. 415

(28) Ebenda, S. 417

(29) Ebenda, S. 403-7

(30) Ebenda, S. 409

(31) Ebenda, S. 410

(32) Ebenda, S. 413

(33) Ebenda, S. 413

(34) Ebenda, S. 392

(35) Negri, Interview im Neuen Deutschland, 12.12.09

(36) Ebenda

(37) Ebenda

(38) Ebenda

(39) Ebenda

(40) Holloway, Schritt in die falsche Richtung oder Mephisto statt Franz von Assisi, veröffentlicht auf: http://www.wildcat-www.de/material/rhe8holl.htm

(41) Holloway, Wir sind die Krise der abstrakten Arbeit, http://www.grundrisse.net/grundrisse18/john_holloway.htm

(42) Ebenda

(43) Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 201-336

(44) Holloway, Wir sind die Krise der abstrakten Arbeit

(45) Ebenda

(46) Ebenda

(47) May Day 2009, http://maydayberlin.blogsport.de/propaganda/

(48) Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009

(49) Ingrid Artus, die Novemberrevolte, in: Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009, Seite 47

(50) Marius von der Lubbe, Ihr könnt uns nicht mehr umbringen – wie sind schon tot, in: Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009, Seite 178

(51) Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Flugblatt zum Bildungsstreik, November 2009, Unterstützer des Aufrufs: Antifaschistische Jugendaktion Kreuzberg [AJAK], Antifaschistische Initiative Reinickendorf [AIR], Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin [arab], Antifaschistische Linke Berlin [ALB]

(52) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

Zusammenfassung der ersten Ergebnisse – Stand: 21.12.08, http://www.wildcat-www.de/aktuell/a068_khroth_krise.htm

(53) Ebenda

(54) Ebenda

(55) L5I, Revolutionärer Marxismus Nr. 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur Marxistischen Imperialismus- und  Krisentheorie, Berlin/Wien, August 2008

(56) Robert Brenner, Boom & Bubble, Hamburg 2003

(57) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

(58) Ebenda

(59) Ebenda

(60) Ebenda

(61) Ebenda

(62) Ebenda

(63) Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (Übergangsprogramm), in: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 86/87

(64) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

(65) Ebenda

(66) Ebenda

(67) Ebenda

(68) Ebenda

(69) Ebenda

(70) Ebenda

(71) Ebenda




„Empire“: Jenseits des Imperialismus?

Eine Kritik an Negris und Hardts „Empire“

von Rodney Edvinsson und Keith Harvey, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Warum wird eine verschwommene Beschreibung von Ökonomie, Politik und Kultur der gegenwärtigen Ära des globalen Kapitalismus zum Kassenschlager? Obwohl Antonio Negri und Michael Hardt ‚Empire‘ eigentlich als postmodernistische Studie über internationale Beziehungen präsentieren, bietet das Buch eine umfassende, wenn auch obskure Darstellung der Wirtschaft, Politik und Kultur der gegenwärtigen Periode. Tatsächlich ist sein Horizont so umfassend, dass es, ironisch gesprochen, als postmodernistische ‚Meta-Erzählung‘ bezeichnet werden kann. Weil es die Ursprünge, die Entwicklung von und den Widerstand gegen ein System von Ausbeutung und Unterdrückung diskutiert, ist es natürlicherweise von Interesse für Marxisten. Dies umso mehr angesichts des unerwarteten Widerhalls innerhalb der antikapitalistischen Bewegung.

Angesichts dieser Popularität wäre es falsch, ein solches Buch zu ignorieren, da es eine ernste Attacke auf den revolutionären Marxismus darstellt. Obwohl es für seinen Begriff von Imperialismus Unterstützung in marxistischen Darlegungen sucht und mit marxistischer Politökonomie kokettiert, um die Entwicklung des modernen Kapitalismus zu erklären, stellt es einen Großangriff auf den historischen Materialismus dar. Es verspottet den dialektischen Materialismus und behandelt Hegel mit speziellem Hass, seine Erkenntnistheorie (Epistemologie) und Seinslehre (Ontologie) seien völlig subjektivistisch. Die Autoren entleeren die Arbeitswerttheorie ihres wissenschaftlichen Inhalts und ersetzen sie durch idealistischen Klimbim.

Im Unterschied zum Marxismus stützt es sich bezüglich des Wesens des bürgerlichen Staates auf bürgerliche Soziologie (besonders Weber) und bedient sich bei den französischen Strukturalisten und Postmodernisten der 1960er Jahre, um die Mechanismen sozialer Kontrolle im Kapitalismus zu erklären. Es widersetzt sich nicht nur der Identifizierung des produktiven Kerns der Arbeiterklasse als des Subjekts sozialer Veränderung und leugnet, dass die organisierte Arbeiterbewegung das Zentrum des Widerstandsprozesses sein sollte. Es verwirft darüber hinaus komplett den Klassenbegriff und bevorzugt stattdessen die amorphe „Menge“ („Multitude“).

Das Empire-Buch richtet sich gegen alle Konzepte von repräsentativer Führung im politischen Kampf (z.B. die Partei) und vertraut auf eine spontaneistische Entwicklung vom politischem Bewusstsein der durch den Kapitalismus Ausgebeuteten und Unterdrückten. Schließlich verkündet es trotz des Radikalismus seiner Analyse nur ein reformistisches Minimalprogramm – in bewusster Opposition zu einem revolutionären und auf den Aufstand ausgerichteten Modell des Widerstands gegen den Kapitalismus.

Das 21. Jahrhundert war diesem Buch nicht günstig gestimmt. Es wurde im Jahr 2000 veröffentlicht, kurz bevor das Kapern der US-Präsidentschaftswahlen durch George W. Bush es der Lobby von Öl und Rüstungsindustrie erlaubte, eine innen- und außenpolitische Richtung einzuschlagen, die die zentrale These des ‚Empire‘ gründlich zerrieben hat.

Eine neue Weltordnung

Negri und Hardt behaupten, dass die Epoche des Imperialismus in den 1970er und 1980er Jahren zu Ende gegangen war und durch die Ära des ‚Empire‘ ersetzt wurde. Das Empire ist charakterisiert durch viele Eigenschaften, aber wesentlich dafür ist das Ende eines globalen Kapitalismus, der durch blanke imperialistische Expansion unter dem Banner von nationalem Eigeninteresse gekennzeichnet ist (1). An seine Stelle tritt ein neues System, kontrolliert durch multilaterale Institutionen des globalen Regierens.

„Unsere grundlegende Hypothese ist deshalb, dass Souveränität eine neue Form angenommen hat, sie eine Reihe nationaler und supranationaler Organismen umfasst, die eine einzige Herrschaftslogik eint. Diese neue globale Form der Souveränität ist es, was wir Empire nennen“ (S.10).

Dies beinhaltet den „Niedergang der Souveränität von Nationalstaaten“, die der Eckfeiler des Imperialismus (besonders des europäischen) war, der „über fremde Territorien Herrschaft ausübte“ (S.10).

Imperialismus wird dadurch definiert, dass er „eigentlich die Souveränität europäischer Nationalstaaten über deren eigene Grenzen hinaus aus (dehnte)“ (S.10), während „das Empire kein territoriales Zentrum der Macht (etabliert), noch auf von vorneherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken (beruht)“ (S.11).

Die neuen Formen und Bewegungsmomente imperialer Politik sind untermauert durch die „Verwirklichung des Weltmarktes“ und dadurch einer „neuen Stufe in der kapitalistischen Produktionsweise“, in der das Modell, gemäß dem Staaten der „Ersten“ Welt die „Dritte“ beherrschen, durch eine Welt ersetzt wird, in der die „Erste“ in der „Dritten“ zu finden sei und umgekehrt.

In der Ära des Empire nach dem Kalten Krieg könne es keine imperialistische Macht mehr geben, die die Hegemonie über andere ausübt.

„Viele siedeln die letzte Entscheidungsgewalt, die über die Globalisierungsprozesse und die neue Weltordnung herrscht, in den USA an. (…) Mit unserer grundlegenden Hypothese, wonach eine neue, imperiale Form der Souveränität entstanden ist, widersprechen wir gleichwohl (…). Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines imperialistischen Projekts, und tatsächlich ist heute kein Nationalstaat (dazu) in der Lage. Der Imperialismus ist vorbei. Keine Nation kann in dem Sinne die Weltführung beanspruchen, wie die modernen europäischen Nationen das taten“ (S.11-12). (2)

Sie fahren fort, „dass es wichtig wäre, festzustellen, wie das, was vormals Konflikte und Konkurrenz unterschiedlicher imperialistischer Mächte waren, in wesentlicher Hinsicht ersetzt wurde: durch eine Art einzige Macht, die alle überdeterminiert, ihnen eine gemeinsame Richtung und ein gemeinsames Recht gibt, das entschieden postkolonial und postimperialistisch ist. Das ist der Ausgangspunkt unserer Untersuchung: ein neues Rechtsverständnis oder vielmehr eine neue Art, wie Autorität auftritt, eine neue Weise, wie Normen und andere Zwangsmittel des Rechts geschaffen werden, um Vertragstreue zu garantieren und Konflikte zu lösen“ (S.25).

Dieses Buch wurde in der Periode nach dem Golfkrieg geschrieben und wurde beendet vor den Endstadien der Balkankriege der 1990er Jahre. Es ist stark von George Bushs Proklamation einer neuer Weltordnung von 1990 und dem ‚humanitären‘ ideologischen Touch von Clintons Intervention in Somalia beeinflusst.

Aber Negri und Hardt versuchen, diese Ideologien der US-Außenpolitik der frühen 1990er Jahre in einen viel größeren Rahmen zu setzen – den Ursprung und die Entwicklung der politischen und juristischen Konstitution der Vereinigten Staaten, angefangen mit der amerikanischen Revolution. So hoffen sie zu beweisen, dass die Ideologie der „Neuen Weltordnung“ zusammen mit den weitreichenden Veränderungen auf dem Weltmarkt seit den 1970ern eine logische Fortsetzung eines einzigartigen Konzepts von Politik, Demokratie und Staat ist, wie es in der nordamerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist, das die USA besonders geeignet macht, um den Übergang vom Imperialismus zum Empire voranzutreiben.

Negri und Hardt verwenden einen großen Teil von ‚Empire‘, um die Herkunft und Entwicklung des Begriffs der ‚Souveränität‘ im bürgerlichen (modernen) politischen Denken zurück zu verfolgen. Sie argumentieren, dass – angefangen von der Renaissance – zwei sich widersprechende Formen von Souveränität beobachtet werden können. Die erste sieht die Souveränität in einer transzendenten Macht, die den Frieden über einer Gesellschaft des Kampfes jeder gegen jeden sichert (Hobbes) oder die Ordnung als Resultat eines Sozialvertrags innerhalb der Zivilgesellschaft aufrecht erhält, auf dessen Grundlage Macht aufwärts delegiert wird (Rousseau).

Die zweite Tradition, die bei den französischen revolutionären Demokraten vor dem Thermidor zu finden ist und auf die Gründungsväter der USA nach der Niederlage jener überging, brach mit „der Tradition der modernen Souveränität“ und leitete Souveränität stattdessen aus der republikanischen Form von Demokratie her. In diesem Arrangement entsteht Ordnung nicht dadurch, dass das Volk Macht einem Souverän überträgt, sondern „aus einem Arrangement innerhalb der Menge, aus einer demokratischen Interaktion der miteinander vernetzten Mächte“. Dies wird verkörpert in einer Verfassung, die die Gewaltenteilung und ein System von Kontrolle und Ausgleich sicherstellt und „die Macht in den Händen der Menge belässt.“ (S.173). Daher residiert Souveränität nicht allzeit an einem Platz, sondern „wird ausgeübt innerhalb eines weiten Horizonts von Aktivitäten“.

„Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung feiert diese neue Vorstellung von Macht ganz unverhohlen. Die menschliche Emanzipation von jeglicher transzendenten Macht gründet auf der Macht der Menge, sich eigene politische Institutionen zu geben und eine Gesellschaft zu bilden“ (S.177).

Darüber hinaus ist diese US-gemäße Form von Souveränität expansiv, umfassend und offen, was sie unterscheidet „von anderen, rein expansionistischen und imperialistischen Formen der Expansion“, die ausschließend sind und andere Mächte, die ihnen gegenübertreten, zerstören. „Diese imperiale Expansion hat weder etwas mit Imperialismus zu tun noch mit denjenigen Staatsgebilden, die auf Eroberung, Plünderung, Völkermord, Kolonisierung und Sklaverei ausgerichtet sind. Im Gegensatz zu solchen Imperialismen geht es dem Empire darum, das Modell der Netzwerkmacht auszuweiten und zu festigen.“ (S. 178)

Schließlich ist der Friede im Kern der Expansion des Empire nicht ein Friede, der einer Gesellschaft des Kampfes jeder gegen jeden aufgezwungen wird, sondern ein Friede, der der Gesellschaft immanent ist.

Was diese Beschreibung sehr klar enthüllt, ist die Unfähigkeit ihrer Autoren, zu unterscheiden zwischen der emanzipatorischen Begrifflichkeit der liberalen amerikanischen Revolutionäre mit ihrer Betonung von Gleichheit der Menschen, universellen Rechten und individueller Freiheit einerseits und andererseits den praktischen Realitäten der Politik einer im Entstehen begriffenen und noch fragmentierten Bourgeoisie, die aber schon ihr Führungsrecht über die neu formierte Nation als die Repräsentantin des ‚Volkes‘ beansprucht. Kurz: sie haben keinen Begriff von Liberalismus als Ideologie.

Weit entfernt davon, dass die US-Verfassung ein Ausdruck einer zweiten und ‚horizontaleren‘ Konzeption von Souveränität ist als das der Gesellschaftsvertragstheoretiker, ist sie eine systematische Anwendung der auf Gesellschaftsvertrag fußenden Theorie von der eingeschränkten Regierung, wie sie von John Locke als Rechtfertigung der ‚Glorious Revolution‘ in England von 1688 konzipiert wurde. Wo jedoch Locke den Kompromiss zwischen Krone und Parlament theoretisieren musste, im wesentlichen ein Kompromiss zwischen der neuen herrschenden Klasse und dem immer noch bedeutenden sozialen Gewicht der alten herrschenden Klasse, mussten Jefferson und Co. mit den Spannungen zwischen der Notwendigkeit einer zentralen Gewalt und den unterschiedlichen internen sozialen Strukturen der verschiedenen Teilstaaten fertig werden. Die spezifische Neuerung der resultierenden Verfassung, ihr Föderalismus, war das Ergebnis.

Wenn wir die Unabhängigkeitserklärung (1776), die ursprünglichen Artikel der Konföderation, die Verfassung von 1787, die sie ersetzen, und die Menschenrechtsdeklaration (Bill of Rights) von 1789, die sie ergänzen, vergleichen, sehen wir notwendigerweise Unterschiede von Betonung und Schwerpunktsetzung zwischen egalitären Ansprüchen, lokaler Autonomie, Graden der Repräsentation und den Imperativen einer geeinten Zentralregierung. Indem ihnen nicht nur das Konzept von Ideologie, sondern auch der Dialektik fehlt, sehen Negri und Hardt hier zwei verschiedene Verfassungsmodelle statt eines Modells, das die Widersprüche der zeitgenössischen politischen und sozialen Strukturen verkörpert.

Der folgende Nachvollzug der Entwicklung dieser zwei angeblich verschiedenen Modelle durch Negri und Hardt ist ein Zeugnis ihres „Einfallsreichtums“ in der Interpretation der unangenehmen Realitäten der US-Geschichte. Ihre Methode ist es im Wesentlichen, allen Augenschein, der ihrer Charakterisierung des ‚horizontalen‘ und ‚einschließenden‘ Wesens der US-Verfassung widerspricht, einfach als Ausrutscher zu behandeln.

Allerdings sind die Autoren nicht ignorant gegenüber der wirklichen Geschichte von US-Völkermorden gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern, der hässlichen Geschichte der Sklaverei von Afro-AmerikanerInnen oder den blutigen Kriegen, die von US-Regierungen gegen andere Länder geführt wurden. Wie lässt sich dann diese Geschichte mit der ‚Idee‘ versöhnen?

Erstens mussten die UreinwohnerInnen Amerikas von der ursprünglichen Verfassung ausgeschlossen werden, weil sie nicht in das Verfassungskonzept absorbiert werden konnten, und eliminiert werden mussten, um den Raum zu öffnen; sie waren die „negative Begründung der Verfassung“ (S.182).

Während die Afro-AmerikanerInnen in die Verfassung eingeschlossen waren, wurden sie geringer bewertet als Weiße (wie an der Zahl von Schwarzen gesehen werden kann, die für gewählte Repräsentanten notwendig war gegenüber von Weißen). Dies erkennen Negri und Hardt als Widerspruch an, der „den ideologischen Anspruch auf offene Räume entwertet“, ganz zu schweigen von der „freien Zirkulation, Vermischung, und Gleichheit“ (S.183).

Die brutale staatliche Repression von Arbeiterklasse, der politischen Linken und der Gewerkschaften in der Periode zwischen 1890 und 1918 war ein weiteres Schließen des „offenen inklusiven Raums“ der Verfassung. (3)

Als Resultat dieses inneren Konfliktes mussten sich die USA am Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen zwei Orientierungen entscheiden. Entweder konnte sie den Weg in Richtung der völligen Übernahme des traditionellen Imperialismus nach europäischem Vorbild nehmen, wie dies Theodore Roosevelt vertrat, oder die Herangehensweise von Woodrow Wilson, dem Präsidenten während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, die das Buch beschreibt als „internationalistische Friedensideologie, um die konstitutionelle Vorstellung von der Netzwerkmacht weiter zu verbreiten“ (S.186).

Beide Präsidenten verstanden, dass der heftige Klassenkrieg und die Macht der großen US-Trusts eine interne Lösung für das Schrumpfen des demokratischen Bewegungsspielraums verhinderten, so dass „sich der amerikanische Progressismus nach außen hin verwirklichen musste“ (S.186).

Aber während Theodore Roosevelt „die Barbaren zivilisieren“ wollte, erstrebte Wilson eine neue Weltordnung auf der Grundlage der Ausdehnung des konstitutionellen US-Projekts, mit der „Vision eines Friedens als Ergebnis eines neuen weltweiten Mächtenetzwerks“ (S.187). Negri und Hardt erkennen, dass dies seinerzeit ein utopisches Projekt war.

Konfrontiert mit dem fortwährenden Widerspruch zwischen der realen Geschichte und ihrer Idealisierung der US-Verfassung und der Tatsache, dass die Regierungspolitik gegenüber den amerikanischen UreinwohnerInnen, den Schwarzen, das Eintreten für die Monroe-Doktrin und die US-Handlungen während des Krieges in Vietnam dazu führten, dass „Länder auf der ganzen Welt (…) mittels imperialistischen Techniken beherrscht und ausgebeutet“ (S.190) wurden, machen Negri und Hardt einen gewissen Rückzieher:

„Vielleicht sollte man das, was wir als Ausnahmen von der Entwicklung imperialer Souveränität dargestellt haben, zusammengenommen als ganz reale Tendenz auffassen, als Alternative innerhalb der amerikanischen Verfassungsgeschichte“ (S.188 f.).

Natürlich nur vielleicht! Denn unbeirrt fahren sie fort: „aus Sicht der USA (…) lässt sich der Vietnamkrieg als letzter Moment der imperialistischen Tendenz betrachten und damit als Übergangspunkt hin zu einem neuen Verfassungsregime. Der Weg des Imperialismus europäischer Art war nun ein für allemal versperrt, und fortan würden die USA wieder zu einer angemessenen imperialen Herrschaft zurückkehren und zugleich eine solche neu entwerfen müssen“ (S.190).

Und die Macht, die diesen Wandel hervorgerufen hat, findet sich angeblich im Widerstand der Völker sowohl in Vietnam als auch in den USA, die kräftig die „Prinzipien der konstitutionellen Macht“ bejaht hätten. Dieser Übergang aus den 1970ern eröffnet die vierte Phase der US-Verfassungsgeschichte: das „globale Projekt der Netzwerkmacht“ (S.191), das im Ende des Kalten Krieges und dem Golfkrieg gipfelte.

„Die wirkliche Bedeutung des Golfkriegs liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass die USA die einzige Macht waren, die für internationale Gerechtigkeit sorgen konnte, und zwar nicht aus eigenen nationalen Erwägungen heraus, sondern im Rahmen des globalen Rechts“ (S.192).

Woodrow Wilsons Zeit ist gekommen, wenn auch in der eigentümlichen Verkleidung als George Bush senior. Eine kritische Facette der Herrschaft des Empire war in die US-Außenpolitik der 1990er eingebettet.

„Die imperiale Ordnung lässt sich jedoch nicht durch die bloße Wirksamkeit rechtlicher Sanktion und die zu deren Durchsetzung erforderliche militärische Macht legitimieren. Dies bedarf vielmehr der Setzung internationaler Rechtsnormen, welche die Macht des hegemonialen Akteurs dauerhaft und legal begründen“ (S.192).

George Bush erbte eine Ehrfurcht gebietende Aufgabe: „Nach dem Ende des Kalten Krieges sollten die USA diesen komplexen Entstehungsprozess einer neuen internationalen Rechtsordnung sichern und ihr Rechtswirksamkeit verleihen. (…) Noch einmal sei betont, dass (die US)- Verfassung imperial und nicht imperialistisch ist: sie ist imperial, weil sie im Gegensatz zum Imperialismus, der stets darum bemüht ist, seine Macht linear auf geschlossene Räume auszuweiten und die unterworfenen Länder zu besetzen, zu zerstören und der eigenen Souveränität zu unterwerfen, auf dem Modell beruht, einen offenen Raum neu zu organisieren und unablässig auf unbegrenztem Raum vielfältige und singuläre Netzwerkbeziehungen neu zu schaffen“ (S.193 f.).

So wurde am „Ende der Geschichte“ die Schlacht zwischen der wesentlich offenen, grenzenlosen, einschließenden und globalen Konzeption von politischer Souveränität aus der US-Verfassung und der hässlichen, gewalttätigen, nationalen und imperialistischen Praxis der US-Regierungen schließlich vom Geist der amerikanischen Gründungsväter gewonnen!

So wenig diese Argumentation überzeugt, so liegt die tatsächliche Widerlegung von ‚Empire‘ nicht so sehr in der Geschichte der US-Außenpolitik als vielmehr in deren Gegenwart. Die humanitäre Rhetorik und der Rückgriff auf UNO-Legitimation für US-Aktionen waren sehr kurzlebig. Der Gebrauch von supranationalen Institutionen, um US-imperialistische Interessen zu betreiben, erwies sich in der Mitte der 90er Jahre als zu problematisch und beschränkend und wurde letztlich nach dem 11. September aufgegeben, als die USA zu einer ungeschminkt unilateralen, nationalen Grundlage für ihre Außenpolitik zurückkehrten.

Weit davon entfernt, dass nationalstaatlich basierte imperialistische Ansprüche auf die äußere Welt überflüssig geworden wären, kehrten sie umso heftiger zurück. Die USA suchen keine koloniale Wiederinbesitznahme (‚Nationsbildung‘ im Sprachgebrauch des Weißen Hauses), aber sie vermeidet alle Versuche der Etablierung einer globalen juristischen Gewalt oder von Institutionen, um ihre Handlungen zu legitimieren, jeden Begriff von ‚globalem Recht‘, der nach Negri und Hardt das Herz des imperialen Projekts sei.

In ihrem globalen ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ verweigert das Weiße Haus tatsächlich die Anerkennung der Souveränität von Nationalstaaten – außer für sich selbst! Es überwindet nicht das Konzept der nationalstaatlichen Souveränität zugunsten einer Totalität von globalen Rechten, sondern reserviert sich einfach selbst das Entscheidungsrecht darüber, wie viel Souveränität welcher Staaten es als legitim anerkennt. Entsprechend erklärt es seine eigene Freiheit der Aktion, um in die Angelegenheiten aller anderen Staaten zu intervenieren mit der Begründung, seine eigenen ’nationalen‘ Interessen zu schützen.

Frances Fukuyama hat eine bessere Einschätzung der US-Verfassungsgeschichte als die Autoren von ‚Empire‘: „Die Amerikaner neigen dazu, keine andere Quelle von demokratischer Legitimität zu sehen als die des konstitutionellen demokratischen Nationalstaates“ (Los Angeles Times). Jede internationale Organisation kann in den Augen der USA nur dann Legitimität gewinnen, wenn die Machtbefugnisse nach oben hin verhandelt wurden und jederzeit einseitig annulliert werden können.

Wenn irgendwelche imperialistischen Mächte tatsächlich eine organische Tendenz dazu haben, Souveränität nach oben weg vom Nationalstaat zu delegieren, dann sind es die kontinentaleuropäischen. Ironischerweise sehen Negri und Hardt Europa als mit dem Kainsmal aggressiver Kolonisation auf der Stirn gebrandmarkt. Tatsächlich aber zwang die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges die herrschenden Klassen von Deutschland und Frankreich dazu, einen weiteren interimperialistischen Krieg zu vermeiden, der auf Grundlage „der ungezügelten Ausübung von nationaler Souveränität“ entstehen könnte. In diesem Sinn ist das paneuropäische Projekt dieser Nationalstaaten zu verstehen, das tatsächlich ein Versuch ist, den Nationalstaat auf eine regionale Ebene zu heben. Aber das führte die europäischen Mächte dazu, weitaus aktiver als die USA an die ‚internationale Gemeinschaft‘ zu appellieren, um diplomatische oder militärische Aktionen zu legitimieren und zu versuchen, einen internationalen juristischen Rahmen für deren Durchführung aufzubauen.

Negri und Hardt nehmen die US-Rhetorik von der ‚Neuen Weltordnung‘ beim Wort. Aber als die 1990er voranschritten, vergrößerte sich auch der Abstand zwischen der ökonomischen und politischen Macht der USA und der ihrer Rivalen. Mit der Zeit gab ihr dies das Vermögen, die Notwendigkeit von multilateralen Antworten auf die Probleme der Zeit nach dem Kalten Krieg beiseite zu fegen.

Immer öfter werden die Vereinten Nationen übergangen, sogar lächerlich gemacht und andere imperialistische Mächte eingeschüchtert oder ignoriert. Konflikte in Bezug auf Handels- und Umweltregulierungen haben sich vermehrt, nicht verringert. Auch wenn einige konfliktlösende Institutionen intakt bleiben (WTO), sind sie Schauplätze wachsender Antagonismen, während andere an den Rand gedrängt (z.B. UNO) oder neue abgelehnt werden (ICC, der internationale Strafgerichtshof).

Diese Entwicklungen sind insbesondere wichtig, als sie die zentrale Idee der Konstitution des Empire widerlegen, den Übergang „vom traditionellen internationalem Recht, das festgelegt wurde durch Vereinbarungen und Verträge, hin zur Definition und Konstitution einer neuen souveränen, supranationalen Weltmacht.“ (4)

Negri und Hardt glauben, dass die juristische Legitimation für diese imperiale Macht nicht einfach in den globalen multilateralen Institutionen wie den Vereinten Nationen liegen kann oder, wenn sie dies momentan tut, so ist dies nur Teil eines Übergangs zu einer neuen imperialen Ordnung des Rechts. Dies muss so sein, nachdem diese Organisationen selbst vertragsbasierte Mechanismen sind, die auf dem System des Nationalstaates beruhen. Dagegen wäre:

„Der Ursprung der imperialen Normativität (…) aus einem neuen Apparat entstanden, einem wirtschaftlich-industriell-kommunikativen Apparat – kurz: einem globalen biopolitischen Apparat“ (S.54).

Daher würden gesellschaftliche Produktion und juristische Legitimation nicht getrennte Dinge sein, die eine die Basis und das andere der Überbau, sondern beides wäre vermischt: Ökonomie und Politik in Kombination. In ‚Empire‘ ist nicht klar, wie die spezifischen ideologischen oder legalen Komponenten des imperialen Rechts aussehen werden. Aber klar ist, dass es in Richtung supranationale Ideologien geht. Nachdem der globale Kapitalismus ’nahtlos‘ zusammengefügt ist, die Unterschiede zwischen „Erster“ und „Dritter“ Welt hinfällig sind und der Nationalstaat bedeutungslos geworden ist, kann es keine Frage nach Legitimation für Gewalt oder Intervention durch Bezug auf partikulare, egoistische oder beschränkte Interessen mehr geben. Dies würde bedeuten, die Tatsache zu verkennen, dass es im Empire keine ‚externe‘ Welt mehr gibt, in die hinein sich eine andere Entität selbst projizieren kann.

Aber schon vor dem 11. September war klar, dass der US-Imperialismus immer mehr Abstand von einer Welt nahm, die auf multilateralen Verträgen basiert und einen globalen, quasi juristischen Rahmen für seine Handlungen und die anderer Staaten anzuerkennen sich weigerte. Schon beim Amtsantritt zog Bush die Unterstützung der Verträge von Kyoto zurück, die auf eine globale Regulierung von Emissionen abzielten. Seine Regierung fuhr fort, die Vereinten Nationen durch Verweigerung von Beitragszahlungen zu erpressen. Das Weiße Haus intrigierte erfolgreich, um den Vorsitzenden der internationalen Kommission für die Inspektion von Chemiewaffen aus dem Amt zu drängen.

Nach dem 11. September brach die Bush-Administration sogar noch entschiedener mit dem Multilateralismus. Eine neue Doktrin der ‚Prävention‘ wurde ausgerufen, die besagt, dass die USA sich das Recht nehmen, souveräne Staaten zu besetzen und ihre Regierungen zu stürzen, wenn sie sie als feindlich gegenüber US-Interessen ansehen.

Alle früheren größeren Interventionen durch US-Streitkräfte im Ausland waren noch gerechtfertigt worden als basierend auf dem Prinzip der ‚kollektiven Selbstverteidigung‘, z.B. durch regionale Organisationen wie die Südostasienpaktorganisation (SEATO) oder die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Die geplante Invasion im Irak stellt eine noch nie da gewesene Zurückweisung von internationalen legalen Konventionen dar, die solche amerikanischen Präsidenten wie Woodrow Wilson, Franklin Roosevelt und andere unterzeichnet hatten und die von Negri und Hardt als Beispiele für die Doktrin des Empire angeführt werden.

Während des Sommers 2002 erzeugte die Bush-Administration enormen Druck, um Dutzende von Regierungen dazu zu bringen, gegen Maßnahmen nach Artikel 98 zu opponieren, um zu verhindern, dass irgendwelche beschuldigten US-Bürger an den internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden könnten. Ein neues Gesetz, das American Servicemembers‘ Protection Act, ermächtigt zum Gebrauch von militärischer Gewalt, um Beschuldigte aus den USA oder von Verbündeten aus der Haft durch den Gerichtshof, der sich in Den Haag, in den Niederlanden, befindet, zu befreien!

Tatsächlich war diese Weigerung einer Hegemonialmacht, ihre Bürger dem Recht anderer Länder zu unterwerfen, auch ein Kennzeichen des römischen Imperiums und des britischen Empire. (5)

Kürzlich erklärten die USA, dass sie beabsichtigten, die Verhandlungen über den UNO-Plan, eine Konvention gegen Folter durchzusetzen, neu zu eröffnen. Internationale Beobachter sind O.K. im Irak oder in China, aber das Protokoll, das momentan diskutiert wird, könnte einer internationalen Kommission auch erlauben, US-Praktiken zu untersuchen. Auch US-Gefängnisse könnten dann einer internationalen Inspektion unterzogen werden.

Schließlich ist das Pentagon besorgt darüber, dass die Terrorismusverdächtigen, die ohne Gerichtsverfahren und Rechte auf dem Marinestützpunkt Guantanamo und in Afghanistan gefangen gehalten werden, durch eine internationale Menschenrechtskommission besucht werden könnten. Tom Berry bemerkte dazu: „Dieses Protokoll würde nicht nur unsere souveränen Rechte verletzen, Gefangene hart anzufassen oder zu foltern, sondern würde das Recht dazu auch für unser 50- Staaten-System einschränken. Wenn Amerika eine neue außenpolitische Initiative konzipiert, beruft man sich gewöhnlich auf die gottgegebenen US-geschützten Rechte von Freiheit und Freizügigkeit, aber niemandem, wie auch immer, wird es erlaubt sein, uns zur Rechenschaft zu ziehen“.

Berry hat kürzlich die Gesamtheit der Bush-Doktrinen treffend zusammengefasst in der Formel ‚Amerika zuerst‘. Dieses Credo ist zugleich isolationistisch und „internationalistisch“ in dem Sinn, dass die USA einerseits frei gehalten werden von verwickelten Verträgen und Verpflichtungen und andererseits, dass die Administration notwendigerweise ihren großen Prügel und die große Brieftasche im Ausland ausspielen muss, weil ihre nationalen Konzerninteressen weltumspannend sind.

„Amerika zuerst bedeutet die Ausübung von Macht uneingeschränkt von Gesetzen oder Normen. Amerika ist der selbst ermächtigte Exekutor, der ultimative Richter von gut und böse, der einsame Polizist. Als Supermacht gewährleisten wir nicht, dass Gesetze aufrechterhalten werden. Vielmehr stehen wir selbst über dem Gesetz.“ (6)

Unglücklicherweise für Negri und Hardt ist der Übergang zu einer Weltordnung auf der Grundlage von supranationalen Institutionen zum Stillstand gekommen bzw. hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die USA projizieren sich immer mehr in eine externe Welt, um ihre eigenen beschränkten Prioritäten und Interessen einer Welt aufzuzwingen, die sehr verschieden von ihr selbst ist. (7)

Wir sind unmittelbar Zeuge der Verallgemeinerung der besonderen Beziehung, die die USA in den letzten 150 Jahren mit Lateinamerika hatte. Seit Präsident Monroe erklärt hatte, dass die Region der ‚Hinterhof‘ der USA sei, fühlte sich Washington berechtigt, anderen imperialistischen Mächten jegliche Einflussnahme zu untersagen, die nationale Souveränität beiseite zu schieben durch Invasionen (z.B. Kuba, Nicaragua, Haiti, Grenada) gewählte Regierungen zu unterminieren oder zu stürzen – in Zusammenarbeit mit reaktionären einheimischen Kräften (z.B. Guatemala, Chile).

Heute meinen die USA, was gut für Lateinamerika ist, sei gut für den ganzen Planeten. Das Weiße Haus sieht keine Notwendigkeit, die Einflusssphären anderer imperialistischen Mächte oder die Souveränität anderer Nationen zu respektieren. Die vernünftige Erklärung dafür ist „nationales (d.h. Monopol-) Interesse“. Sahen sich die USA unmittelbar nach dem Kalten Krieg noch als ‚erste unter gleichen‘, sehen sie sich jetzt als etwas Besseres als der Rest.

Es ist die Methode von Negri und Hardt, die sie zu verstehen hindert, wie das Partikularinteresse eines einzelnen Nationalstaates sich für die ganze Welt verallgemeinern kann. Für sie wird der Nationalstaat irrelevant durch die „Vollendung des Weltmarktes“, während tatsächlich vor allem ein Nationalstaat vor allen anderen die treibende Kraft hinter dieser ‚Vollendung des Weltmarktes‘ war.

Mit Hilfe der Dialektik können wir verstehen, wie der Weltmarkt sowohl mehr ist als die Summe seiner einzelnen nationalstaatlichen Teile, wie er gleichzeitig eine Funktion von Konkurrenz und Konflikt zwischen Nationalstaaten sein kann, in der einige mehr prosperieren als andere.

Kurz gesagt: Negri und Hardt hätten die fruchtbare Methode der ungleichen und kombinierten Entwicklung verwenden sollen, um die gegenwärtigen internationalen Beziehungen zu studieren!

Imperialismus als Weltwirtschaft

Verfehlen es Negri und Hardt, die Existenz eines postimperialistischen Modells von globaler politischer Souveränität zu beweisen, was ist dann mit ihrem Versuch der Herleitung einer postimperialistischen politischen Ökonomie?

Hier übernehmen sie am meisten Bruchstücke des Marxismus, aber unglücklicherweise plündern sie die falsche marxistische Quelle – Rosa Luxemburg.

Sie stimmen der Marx`schen Theorie des Kapitalismus zu, weil sie richtigerweise den inneren Zusammenhang zwischen dem Kapital und der ihm innewohnenden Tendenz zur Ausdehnung und Überwindung von Grenzen betont. Sie argumentieren dann aber fälschlicherweise, dass Marx den Impuls zu dieser Expansion in der Unfähigkeit gesehen habe, den gesamten produzierten Mehrwert innerhalb des Kapitalkreislaufs selbst zu realisieren. Sie meinen, Marx ginge davon aus, dass die „einzig wirksame Lösung für das Kapital darin besteht, außerhalb des eigenen Bereichs zu suchen und nichtkapitalistische Märkte zu entdecken, auf denen Waren zu tauschen sind und deren Wert realisiert werden kann“ (S.236).

Ihrer Meinung nach lieferte Rosa Luxemburg den theoretischen Rahmen dafür in ihrer Theorie des Imperialismus. Luxemburg ging von einer Kritik an den Marx’schen Reproduktionsschemata im Band II von ‚Das Kapital‘ aus, von denen sie behauptete, dass sie die gefährliche Illusion begünstigten, dass ein stabiles gleichgewichtiges Wachstum in einer geschlossenen kapitalistischen Wirtschaft möglich wäre. Bemerkenswert an ihrer Präsentation von Luxemburg ist, dass Negri und Hardt nicht die Kritik dieser Theorie in Betracht ziehen, die durch Bucharin, Grossmann und viele andere seither geleistet wurde.

Man muss Rosa Luxemburg zugute halten, dass sie nach 1902 versuchte, die revisionistische Behauptung zurückzuweisen, Band II von Marxens Kapital würde beweisen, dass der Kapitalismus endlos zu reproduzieren fortfahren könnte, solange die richtigen Proportionen zwischen den verschiedenen Abteilungen der kapitalistischen Produktion beachtet würden; kurz, dass es keine inhärente Tendenz des Kapitalismus zum Zusammenbruch gäbe.

Sie beharrte darauf, dass der Kapitalismus zum Untergang verurteilt ist, dass der Imperialismus das letzte Stadium des Kapitalismus sei, aber um dies zu „beweisen“, ging sie davon aus, mit ihren revisionistischen Gegnern darin überein zu stimmen, dass Band II tatsächlich das bewiese, was diese behaupteten. Anders als sie schloss sie jedoch, dass Marxens Reproduktionsschemata falsch wären und lehnte sie deshalb als ‚blutleere Fiktionen‘ und ‚leblose Abstraktionen‘ ab, die von logischen Fehlern durchdrungen seien.

Sie begann ihre Kritik an Marx, indem sie sich dieselbe Frage stellte wie Marx selbst in Band II: Wie kann der gesamte produzierte Mehrwert realisiert werden; kurz, wo ist der Markt für die Waren, die diesen Gesamtmehrwert verkörpern, der akkumuliert wird und in die erweiterte Akkumulation eingeht?

Sie behauptete, dass es in Marxens Schemata, in denen nur Arbeiter und Kapitalisten vorkamen, keinen Markt für und keine Konsumenten derjenigen Waren geben könne, die den Teil des Mehrwerts verkörpern, der nicht für die individuelle Konsumtion der Kapitalistenklasse, sondern für Kapitalakkumulation vorgesehen ist (d.h. für die Beschäftigung von mehr Arbeitskraft und Maschinen im nächsten Zyklus der Produktion). Daher beschuldigte sie Marxens Schemata, eine ‚blutleere theoretische Fiktion‘ zu sein, da, wenn der Kapitalismus keinen Markt für seine erweiterte Reproduktion (die das Wesen des Kapitalismus ist) herstellen könne, es einen nichtkapitalistischen Markt geben müsse, was der Ursprung von Imperialismus und seiner Expansion sei.

Aber Luxemburg lag hier falsch. Marx entwarf seine Schemata, um die Möglichkeit zu demonstrieren, dass Kapitalisten und Arbeiter einen ausreichenden Markt für die Realisation des Gesamtmehrwerts liefern, einschließlich des Teils, der für die Akkumulation bestimmt ist. Die Antwort von Marx auf die Frage von Luxemburg war einfach: die Kapitalistenklasse stellt den Markt für die zusätzlichen Mittel von Produktion und Konsumtion direkt und indirekt selbst her, die in Abteilung I (Produktionsmittel) und Abteilung II (Konsumtionsmittel) produziert werden.

Die Unternehmer der Abteilung II brauchen und kaufen zusätzliche Produktionsmittel aus der Abteilung I, die Kapitalisten der Abteilung I nutzen das so erzielte zusätzliche Surplus teilweise, um mehr Arbeitskräfte zu kaufen. Die ArbeiterInnen geben ihre Löhne für zusätzlich in Abteilung II hergestellte Verbrauchsgüter aus.

Alles, was notwendig ist, damit dies funktioniert, ist, dass das korrekte Verhältnis zwischen dem Output von Abteilung I und II gewahrt wird. Luxemburg kannte die Antwort von Marx, aber lehnte sie ab, weil sie sagte, dass dies das Problem bloß in die Zukunft verschob und dadurch behauptete, dass der Kapitalismus unbegrenzt vorangehen könne. Sie verstand nicht Marxens dialektische Methode und was dabei die spezielle Rolle von Band II ist. Luxemburg und die Revisionisten verwechselten Marxens Schemata mit dem real existierenden Kapitalismus. Die Revisionisten hielten sie für eine korrekte Beschreibung, Luxemburg für eine leblose Fiktion, die die tatsächliche Entwicklung des Imperialismus nicht beschreiben könne.

Dagegen waren sie ein unverzichtbarer theoretischer Schritt in seiner Analyse zum konkreten Kapitalismus hin, ein Schritt, den Marx nie für eine genaue Darstellung des Kapitals in der Totalität seiner konkreten Bewegung gesehen hat. Er wollte die Möglichkeit von erweiterter Reproduktion unter allen konkreten Umständen demonstrieren, aber nicht ihre Unvermeidbarkeit.

Marx abstrahiert in seinen Schemata von all denjenigen konkreten Elementen, die zum unvermeidlichen Zusammenbruch der Akkumulation führen – besonders vom Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals und dem tendenziellen Fall der Profitrate, was er nicht vor Band III mit einbezog.

Tatsächlich war Luxemburgs eigene Erklärung für die Expansion des Kapitalismus in keiner Weise eine Antwort, wie Bucharin nachwies. Sie behauptete, dass die nichtkapitalistischen Produzenten erst ihre Güter an die Kapitalisten verkaufen müssten, um ihrerseits die Waren von ihnen kaufen zu können, die den für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwerts verkörpern; kurz, es muss Tausch zwischen Kapitalisten und Nichtkapitalisten vorliegen. Aber in diesem Fall ändert der nichtkapitalistische Charakter dieser ‚dritten Personen‘ nichts am Problem, da auf der Ebene der Zirkulationssphäre, auf der sich das Problem stellt, der kapitalistische oder nichtkapitalistische Charakter des Käufers irrelevant ist. Tatsächlich endet Luxemburg dabei, zuviel zu beweisen. Weil die Existenz eines nichtkapitalistischen Markts das Problem, das sich ihr stellte, nicht löste, musste ihre Schlussfolgerung sein, dass kapitalistische Akkumulation überhaupt nicht funktionieren kann!

Warum kramen Negri und Hardt eine im Marxismus längst diskreditierte Imperialismus-Theorie wieder hervor, um ihre Argumentation zu begründen? Nicht, weil sie ein Fünkchen logischer oder empirischer Konsistenz besäße, sondern in ihr eigenes Schema passt: dass der Imperialismus sich externalisiert, bis er alles erreichbare „Andere“ aufgesogen hat, indem er für sein Überleben die Verwandlung der nichtkapitalistischen Länder in kapitalistische betreiben muss. An diesem Punkt muss sich eine Metamorphose des Imperialismus in etwas anderes ereignen.

Für Luxemburg war dieses Andere entweder Sozialismus oder Barbarei, entweder eine fortschrittliche Überwindung der Widersprüche auf der Basis der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, oder ein Rückfall.

Für Negri und Hardt dagegen werden die Widersprüche der imperialistischen Stufe auf der Basis des Privateigentums überwunden und führen daher zu einer fortschrittlicheren, postimperialistischen Form des Kapitalismus.

„Gleichwohl muss man doch sagen, dass die Errichtung des Empire einen Schritt nach vorn markiert…Das Empire ist also in dem Sinne besser, in dem Marx darauf bestand, dass der Kapitalismus besser sei als die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen, die ihm vorausgingen…Entsprechend können wir heute sehen, wie das Empire die grausamen Regime moderner Macht wegwischt und sich dabei das Potenzial der Befreiung verstärkt“ (S.57). (8)

Folgerichtig lehnen Negri und Hardt die Verteidigung von Nationen ab, selbst wenn dies ein „Instrument der Verteidigung gegen die Beherrschung durch ausländisches und/oder globales Kapital“ (S.58) ist. Sie sehen die Verteidigung des ‚Lokalen‘ als bedeutungslos an, angesichts der Durchdringung des ‚Globalen‘, die diese Unterscheidung irrelevant macht. Offensichtlich sind sie auch in diesem Punkt ‚Luxemburgisten‘. Man kann dem Empire nur von innen widerstehen – mit einer Totalisierung des Widerstandes. Daher ist die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Staaten in einem qualitativen Sinn ausgelöscht worden. (9)

Die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kapitale verschwinden ebenfalls. Eine wirklich globale Macht formiert sich, im Unterschied zum alten Imperialismus, der auf der Souveränität von Nationalstaaten beruht. Lenins Prinzip, dass Imperialismus zum Weltkrieg führt, der die Welt an den Rand der Barbarei bringt, gilt nicht mehr im Empire. Dieses könne eine friedlichere Beziehung zwischen den alten imperialistischen Mächten herstellen. Auch wenn Gewalt und kleinere Kriege eine fortgesetzte Rolle spielen, um die Unterdrückten der Herrschaft des Empire zu unterwerfen, so sind dies eher Polizeiaktionen als Kriege zwischen vergleichbar starken Mächten.

Dieses ganze Szenario beruht jedoch auf der falschen Ausgangstheorie von Luxemburg. Ohne diese haben unsere Theoretiker nichts, womit sie die innere Natur und Widersprüchlichkeit der imperialistischen Etappe des Kapitalismus ‚erklären‘ könnten; nichts, was auf eine postimperialistische Etappe des globalen Kapitalismus hinweisen könnte. Sie versäumen es, zu beweisen, dass der Kapitalismus über den Imperialismus hinausgehen muss, um zu überleben, weil sie mit Luxemburg bei einem Scheinproblem aussteigen. Wenigstens versuchte Luxemburg, die Zusammenbruchstheorie (letztes Stadium des Kapitalismus) gegen revisionistische Versuche zu beweisen, dass der Kapitalismus unendlich fortschreiten könnte, aufrecht zu erhalten. Negri und Hardt dagegen stimmen letztlich mit den Revisionisten darin überein, dass sich der Kapitalismus endlos reproduzieren könne.

Was für sie passiert, ist, dass das ‚Äußere‘ erobert wurde. Alles ist heute ‚innerhalb‘ des Kapitalismus. Der Kapitalismus löst die Widersprüche, die durch das Aufsaugen der Welt entstanden sind, durch Akkumulation auf einer intensiveren Ebene. Hier treffen sie (S. 237 f.) eine Unterscheidung zwischen formaler und realer Subsumtion der Arbeit, eine von Marx übernommene Begrifflichkeit. Die formelle Subsumtion der Arbeit besteht in quantitativer Ausdehnung von Arbeit, einem Prozess, der vor allem die Form der Ausdehnung der Grenzen des kapitalistischen Marktes annimmt, d.h. einer Form der extensiven Akkumulation. Reale Subsumtion dagegen resultiert aus einer Intensivierung der Kapitalakkumulation. Für Negri und Hardt macht es den Übergang von Imperialismus zu Empire aus, wenn die reale Subsumtion die dominierende Rolle zu spielen beginnt. Sie erläutern jedoch nicht genau, wie denn dies erklären kann, dass das Empire das überwinden kann, was nach ihnen die Krise des Imperialismus ausmacht – das Fehlen eines nichtkapitalistischen Sektors.

In Lenins Imperialismustheorie, seiner Definition in fünf Punkten, ist der nichtkapitalistische Sektor weder notwendige Voraussetzung von Kapitalismus noch von Imperialismus. Kapitalismus kann als geschlossenes System existieren. Imperialismus kann eine Beziehung zwischen Kapitalismus und einem nichtkapitalistischen Wirtschaftssystem sein, aber er kann sich auch manifestieren im Zusammenprall von einem stärkeren und einem schwächeren Kapitalismus. Imperialismus ist kein Weg, das Problem der Realisierung des Mehrwerts zu lösen, sondern neue Felder der Kapitalakkumulation zu finden, vor allem in der Form des Kapitalexports.

Kapital kann auf Kosten nichtkapitalistischer Organismen expandieren, aber auch auf Kosten anderer Kapitale oder durch deren Einverleibung; daher läuft die Tendenz zu Konzentration und Zentralisation parallel zum Prozess der Zerstörung der nichtkapitalistischen Formen. Imperialismus ist eine Kombination dieser beiden Phänomene. Ob dies mit Hilfe militärischer Eroberung erreicht wird oder ob es möglich ist, formal unabhängige Länder auszubeuten, was Lenin ‚Halbkolonien‘ nennt, hängt völlig von den Umständen und Mächtegleichgewichten ab.

Das Argument, dass der Kapitalismus zu einem Stadium der intensiveren Akkumulation übergegangen sei, weil er die ganze Welt erobert hat, ist ebenso anzweifelbar. Der Zusammenbruch des Stalinismus hat ein Drittel der Welt für eine weitere extensive Akkumulation geöffnet und viele kapitalistische Länder der „Dritten“ Welt dazu gezwungen, sich weiter für imperialistisches Kapital zu öffnen. Das ganze Niveau von Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern in nichtimperialistische Gebiete hat sich in den 1990ern dramatisch erhöht, also gerade in dem Zeitraum, in dem angeblich das Empire geboren wurde. In diesem Sinne wäre es richtiger davon zu sprechen, dass die 1930er, 1950er oder 1960er Jahre Perioden geringerer extensiver Akkumulation waren als die 1990er!

Es gibt keine Notwendigkeit, dem von ‚Empire‘ empfohlenen Weg zu folgen, um die Veränderungen und Sprünge in der Entwicklung des Imperialismus der letzten 100 Jahre zu erklären. Die Schlussfolgerung von Negri und Hardt, dass der Imperialismus sich in das Empire verwandeln musste, das auf der Basis von multilateralen Agenturen einer ‚protoweltweiten Regierungsfähigkeit‘ herrscht und interimperialistische Widersprüche unterdrückt, fließt aus ihrer vereinfachenden Gleichsetzung von Imperialismus mit dem altmodischen europäischen Kolonialismus.

Wenn man ihre Analyse verwirft, so heißt dies nicht, dass keine wichtigen Veränderungen innerhalb des Imperialismus vor sich gegangen wären. Nach der Wirkung von zwei Weltkriegen und einer tiefen Depression in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden bestimmte Merkmale des Imperialismus sicherlich abgeschwächt. Es gab eine gewisse Verringerung der Hegemonie des Finanzkapitals gegenüber Industrie und Handel, zwischenimperialistische Rivalitäten ließen nach und es kam zu einer langen Boomphase. All dies war das Ergebnis gewaltiger Kämpfe und des Zwangs zur Veränderung, wenn das kapitalistische System überleben sollte. Während dieser Periode erlangte der US-Imperialismus offensichtlich eine Vormachtstellung gegenüber den niedergehenden europäischen Imperialismen. Er fand es aber trotzdem notwendig, seine Ziele durch den Aufbau globaler Agenturen zur Überwachung von Weltmarkt und Weltpolitik zu verfolgen: GATT, IWF, Weltbank, die UNO und ihre Unteragenturen. Wenn das Empire je nahe daran war, realisiert zu werden, dann war dies in der Periode zwischen 1945 und 1973.

Was wir seither unter dem Namen Globalisierung erleben, ist nicht der Übergang in eine postimperialistische Periode, sondern ein Sich wieder geltend machen zahlreicher wesentlicher Merkmale des Imperialismus, wie sie im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert erschienen waren, aber in der Periode nach dem 2. Weltkrieg ausgesetzt oder untergeordnet waren.

Globalisierung ist eine Phase innerhalb des Imperialismus und eine Intensivierung davon. Es ist die jüngste Phase der imperialistischen Epoche und reicht zurück in die 1980er, als die USA eine politische und ökonomische Offensive mit dem Ziel starteten, ihre Hegemonie über die „3. Welt“ und ihre imperialistischen Rivalen wiederherzustellen. Sie wurde charakterisiert durch eine Verbreiterung und Vertiefung der Dominanz des Finanzkapitals auf dem ganzen Planeten. Sie verbreiterte die imperialistische Herrschaft, indem nichtkapitalistische Regionen wie UdSSR, Osteuropa, China, die vorher ihrem Zugriff entzogen waren, durchlässig wurden und nach 1989 wieder einverleibt werden konnten.

Es war eine Vertiefung insofern, als die Beschränkungen für die Mobilität und die Formen des Finanzkapitals, wie sie aus der Periode zwischen 1928 und 1945 ererbt wurden, Schritt für Schritt und grundlegend verändert werden; die Hindernisse für Handel und Investitionen im Süden für die multinationalen Konzerne des Nordens wurden niedergerissen; bestehende internationale Wirtschaftsinstitutionen (IWF, Weltbank) wurden endgültig transformiert in reine Zwangsvollstreckungsagenturen, neue wurden gebildet (WTO), um die aggressiven Feldzüge der Multis für ihre Privateigentumsansprüche zu unterstützen; der Einfluss des Big Business auf Regierungen wurde enorm gestärkt; schließlich waren Aktienboom und Schuldenausdehnung die Achse von ‚Wohlstandsschöpfung‘ und der Motor einer fieberhaften Runde von Konzentration und Zentralisation des Kapitals.

Es ist eine legitime Frage, wie die neue Phase des Imperialismus am besten zu kennzeichnen sei. Eine Möglichkeit wäre, den ‚alten‘ Imperialismus, wie ihn Lenin beschrieben hatte, als einen auf Nationalstaaten basierten zu beschreiben, im Gegensatz zu einer neuen Phase eines ‚globalisierten Imperialismus‘. Natürlich ist dies, wie bei jedem Schlagwort, eine Verkürzung, da der Nationalstaat weiterhin eine zentrale Rolle spielt, und andererseits die Globalisierung kein neues Phänomen ist. Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass die alte Periode eher eine der Expansion des Nationalstaates war, während heute eher die Tendenz zum Entwachsen aus der nationalstaatlichen Form zu sehen ist, wie z.B. bei der Europäischen Union, ohne dass sich tatsächlich so etwas wie ein globaler Staat herausbilden würde. Die Schlüsselrolle, die hierbei der US-Imperialismus spielt, ist zum Teil gerade dadurch begründet, dass die USA selbst eine modernere Staatsformation waren, die nie auf ‚Nationalität‘ beruht hat, und deren historisches Wachstum über einen ganzen Kontinent nur mit episodischen Konflikten mit anderen, vorher existierenden Staaten verbunden war.

Die Phase des globalisierten Imperialismus kann durch folgende Merkmale charakterisiert werden, die teilweise eine Aktualisierung der 5-Punkte-Definition des Imperialismus durch Lenin sind:

• Vertiefung der Kapitalisierung und Industrialisierung der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens – gesellschaftliche Reproduktion, Zirkulation, Informationsverarbeitung, Reproduktion von menschlichem Leben und Fähigkeiten etc., vorangetrieben durch eine Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien (IT). Dies ist die sog. dritte industrielle Revolution, zu deren Auswirkungen auch ein signifikanter Anstieg weiblicher Beschäftigung, ergo eine Erosion patriarchaler Strukturen und eine Privatisierung des öffentlichen Sektors gehören. Der industrielle Sektor bleibt jedoch der Motor der Ökonomie, da der Kapitalismus nicht zu einer vollständigen Kapitalisierung der dem menschlichen Leben eigenen Produktivkräfte – Kenntnis und Geschick – fähig ist.

• Tendenz zu einer vertieften Globalisierung der Produktivkräfte und Verwischung von Grenzen. Diese ‚zweite Welle der Globalisierung‘ nach der ersten zu Beginn des Imperialismus wurde gesellschaftlich durch eine größere Deregulierung des Kapitalflusses und technologisch durch die IT-Revolution möglich, die es der globalen Ökonomie erlaubt, in Realzeit zu funktionieren, als eine de facto Produktionseinheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Öffnung der „3. Welt“ für das imperialistische Kapital sind Konsequenzen einer gescheiterten Strategie der Entwicklung ‚abgeschottet‘ von der Weltwirtschaft, was seinerseits dem Imperialismus ermöglichte, den Rest der Welt zu dominieren. Jedoch ist Globalisierung nur eine Tendenz. Eine vollständig globalisierte kapitalistische Ökonomie wird aufgrund der Widersprüche im Kapitalismus nie erreicht werden. Eine Konsequenz davon ist, dass parallel dazu eine Regionalisierung abläuft, die ihrerseits die Globalisierung zum Teil unterminiert.

• Bewegung weg vom Fordismus, wie er unter dem nationalstaatlich basierten Imperialismus vorherrschte, zu einer flexibleren Arbeitsorganisation, zur ‚lean production‘, und dazu, den Arbeitern sowohl mehr „Autonomie“ zu geben als auch ausgeklügeltere Formen der Kontrolle über sie zu entwickeln. Fordismus verschwindet nicht komplett, besonders in den neu industrialisierten Gebieten, aber mit der immer umfassenderen Automatisierung von Routinearbeit stirbt er langsam ab. Die Tendenz zu stets gesteigerter materieller Konzentration von produktivem Kapital im Großbetrieb kommt zum Stehen, ebenso wie die Dequalifizierung der ArbeiterInnen, zumindest in den entwickelten Teilen der Weltwirtschaft. Auslagerungen und eine größere Betonung spezialisierter Qualifikation sind zwei der Konsequenzen. Gleichzeitig stehen dem vertiefte Zentralisation des Kapitals auf globaler Ebene, eine Fusionsmanie, nachdem die IT-Technologie die Kontrolle über den Arbeitsprozess ermöglicht, wo immer er ausgeführt wird, und die Formung solcher globalen Einheiten kostengünstig durchführen lässt, in Nichts nach. Schließlich verwickelt sich dieser Prozess durch die Anarchie des Marktes in Widersprüche, die das Potenzial von Flexibilität und Verantwortungsdelegation an die Arbeitenden unterminieren. Die menschlichen Fähigkeiten lassen sich nicht vollständig kapitalisieren.

• Das Monopolkapital entwickelt sich weg von einer Phase, in der es vor allem auf die Monopolisierung nationaler Märkte gegründet war, zu einer, wo die Monopolstellung auf ganzen Kontinental-, ja sogar weltweiten Märkten, unverzichtbar wird. Die großen globalen Konzerne entkoppeln sich teilweise vom angestammten nationalen Markt, sind in der Lage, einen Staat gegen den anderen auszuspielen und unterminieren so die alte Form des keynesianischen ‚Staats-Monopol-Kapitalismus‘, zumindest periodisch, solange zwischenimperialistische Rivalitäten nicht eskalieren.

• Bankenkapital, Kapitalexport, Aktienmärkte, Versicherungen, Anleihemärkte, Pensionsfonds und andere Formen des Finanzkapitals der verschiedenen Nationalwirtschaften fusionieren in einem globalisierten Finanzmarkt, der die verschiedenen Formen und Ursprünge des Kapitals verwischt. Auch hier waren Deregulierung und IT-Technologie entscheidend. Ein solcher Finanzmarkt erlaubt die Mobilisierung von Kapital auf einer globalen Ebene und eine vertiefte Durchdringung der imperialisierten Welt durch imperialistisches Kapital. Gleichzeitig erhöhen diese Märkte die Instabilität der gesamten Weltwirtschaft und erzeugen das Gespenst eines globalisierten Finanz-GAUs.

• Schwächung des Nationalstaates, Tendenz zur Formierung von kontinentalen und globalen Organen zur Kontrolle der Weltmärkte, im Gegensatz zu alten Formen des Imperialismus, der vor allem auf der Ausdehnung von Nationalstaaten der herrschenden Mächte gegründet war. Zwischenimperialistische Rivalitäten dagegen werden auf eine höhere Ebene gehoben und unterminieren die Möglichkeit der Formierung eines globalen Staates. Sie verschieben sich von Konflikten zwischen Nationalstaaten zu solchen zwischen Kontinentalblöcken oder supranationalen Staatsgebilden. Aufgrund der vielfach gesteigerten Destruktivkräfte bedeutet ein moderner ‚globaler Krieg‘ im Gegensatz zu den zwei ‚Weltkriegen‘ die Bedrohung der Auslöschung der Menschheit als ganzer.

Die Beziehung von Negri und Hardt zur Postmoderne

‚Empire‘ ist ein Werk des Postmodernismus, aber eines, das sich auf den Marxismus bezieht, sobald die Autoren meinen, dass postmoderne Gedanken sich als ungenügend erweisen. In ihrer grundlegenden Behandlung der Frage der Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft sind sie jedoch eindeutig Schüler von Foucault. Dessen Werk bezeichnet den Weg von der ‚Disziplinargesellschaft‘ in die ‚Kontrollgesellschaft‘. Erstere ist eine Gesellschaft, in der Herrschaft über Apparate ausgeübt wird, die Verhalten regeln. Dies schließt Institutionen wie Gefängnisse, Fabriken und Schulen ein.

Die ‚Kontrollgesellschaft‘ ist eine, in der die Mechanismen von Herrschaft immer demokratischer werden, aber ebenso in den Köpfen und Körpern der Beherrschten internalisiert sind. Kontrolle ist „immer stärker immanent und auf die Köpfe der Bürger verteilt“ (S.38) und beruht weniger oder gar nicht auf extern auferlegten Normen. „Machtausübung findet durch maschinische Systeme statt, die direkt auf die Köpfe wirken (Kommunikationssysteme, Informationsnetzwerke etc.), die Körper organisieren (Sozialsysteme, kontrollierte Aktivitäten etc.) und einen Zustand autonomer Entfremdung (vom Sinn des Lebens, vom Wunsch nach Kreativität) herbeiführen“ (S.38).

Das ist es, was Negri und Hardt unter der biopolitischen Natur von Macht verstehen. „Biomacht ist eine Form, die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert und schließlich neu artikuliert. Die Macht über das Leben der Bevölkerung kann sich in den Maß etablieren, wie sie ein integraler und vitaler Bestandteil eines jeden individuellen Lebens wird, den die Individuen bereitwillig aufgreifen und mit ihrem Einverständnis versehen weitergeben“ (S.38 f.). (10) In der Kontrollgesellschaft sind alle wechselseitigen Beziehungen des Kapitalismus – wirtschaftlich, politisch, kulturell – vollständig realisiert und kombiniert. Daher ist die Zivilgesellschaft im Staat aufgesogen. Alle Zwischenformen der Verhandlung oder Vermittlung von Macht und Gewinnung von Legitimation (z.B. kontraktbasierte Regeln) sind zum Untergang verurteilt. „Die Legitimierung der internationalen Ordnung stellt sich nicht mehr durch Mediatisierung her, sondern muss unmittelbar durchgesetzt werden, inmitten der Vielfalt“ (S.40).

Negri und Hardt meinen jedoch, dass Foucault es nicht verstand, die Biomacht in der Produktion zu begründen. Während er versuchte, „Auffassungen des historischen Materialismus…hinter sich zu lassen, die das Problem der Macht auf der Ebene des Überbaus behandelten, von der realen Basis, von der Produktion getrennt“ (S.42), hatte Foucault ihrer Ansicht nach keinen Begriff davon, was das System als Ganzes antreibt; als Strukturalist betrachte er nicht die Dynamik im Systemganzen. Er verharre im ‚Diskurs‘ und sehe keine Notwendigkeit der Aufdeckung eines von der Erscheinung verschiedenen Wesens.

Negri und Hardt behaupten, dass spätere Postmodernisten wie Deleuze und Guattari in dieser Hinsicht Foucault auf eine Art verbesserten, die „materialistische Positionen erneuert und mit der Frage nach der Produktion des gesellschaftlichen Lebens fest verbunden ist“ (S.43). (11) Aber auch ihre Sicht von Produktion und sozialer Reproduktion ist immer noch ‚chaotisch, unbestimmt‘. Ein besseres Verständnis der Beziehung von Biomacht und gesellschaftlicher Produktion würden wir bekommen „mit Arbeiten einer Reihe zeitgenössischer marxistischer Autoren aus Italien, die die biopolitische Dimension als neues Moment der produktiven lebendigen Arbeit und ihrer Entwicklung in der Gesellschaft behandeln. Sie verwenden Begriffe wie ‚Massenintellektualität‘, ‚immaterielle Arbeit‘ und das Marx’sche Konzept des ‚allgemeinen Intellekts‘ „ (S.43).

Diese Autoren erkennen eine Tendenz, dass Arbeit immer mehr immateriell wird. „Die zentrale Rolle bei der Produktion des Mehrwerts, die früher der Arbeitskraft der Fabrikarbeiter, dem ‚Massenarbeiter‘, zukam, spielt heute überwiegend die intellektuelle, immaterielle und kommunikative Arbeit“ (S.43). Trotzdem bleiben für Negri und Hardt „wesentliche Verkürzungen“, weil in diesen Theorien die Begriffe auf einer abstrakten Ebene bleiben. „In diesen Arbeiten wird das Eingelassensein der Produktion in den biopolitischen Kontext fast ausschließlich als Problem der Sprache und der Kommunikation präsentiert“ (S.44).

Negris und Hardts Bestreben ist es, alle drei Aspekte der immateriellen Arbeit zu integrieren: „als kommunikative Arbeit in der industriellen Produktion, die neuerdings in Netzwerken der Information verknüpft ist; als interaktive Arbeit im Umgang mit Symbolen und bei der Lösung von Problemen; und als Arbeit bei der Produktion und Manipulation von Affekten“ (S.44).

Auf diesem Weg kommen Negri und Hardt bei ihrem Verständnis des globalisierten Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als dem produktiven Herz der biopolitischen Welt an: „Die großen transnationalen Konzerne schaffen in gewisser, entscheidender Weise das grundlegende Geflecht von Verbindungen in der biopolitischen Welt“ (S.46). Dabei ist die Kommunikationsindustrie entscheidend, denn „Kommunikation ist nicht nur ein Ausdruck der Globalisierung, sondern organisiert deren Lauf“ (S.47). (12)

In dieser Weltsicht sind Macht und Legitimation der Weltordnung nicht ‚außerhalb‘ der Produktion angesiedelt. Sie entstehen nicht aufgrund von „vormals existierenden internationalen Vertragswerken, noch ersten, embryonal entwickelten supranationalen Organisationen…“ (S. 47 f.), sondern „zumindest teilweise aus der Kommunikationsindustrie, also der Transformation der neuen Produktionsweise in eine Maschine: ein Subjekt, das sein eigenes Bild der Autorität produziert“ (S.48). Diese Legitimation „beruht auf nichts außerhalb seiner selbst“ (S.48).

So weit kombinieren Negri und Hardt also eine postmodernistische Sicht der Macht mit einem ‚marxistischen‘ Versuch, diese in der Natur des modernen Kapitalismus zu begründen, statt die Analyse auf der Ebene von ‚Zeichen‘ und ‚Diskursen‘ über diese Zeichen zu belassen. Wir werden später sehen, wie erfolgreich ihr Versuch ist, die Natur des modernen Kapitalismus zu erklären. Hier sollten wir nur bemerken, dass sie in allen anderen Aspekten ihres Werks dem Marxismus und seiner Methode gegenüber feindlich eingestellt sind.

Sie reservieren einen besonderen Hass für die Dialektik und versuchen, den ‚Materialismus‘ davor zu ‚retten‘. (13)

Sie begrüßen den postmodernistischen „Angriff auf die Dialektik als der zentralen Logik von moderner Herrschaft, Ausschließung und Kommandierung sowohl durch ihre Verbannung der Vielzahl von Unterschieden durch Reduktion auf binäre Entgegensetzungen als auch ihre darauf folgende Subsumtion dieser Gegensätze in einer monistischen Einheit…Das postmodernistische Projekt muss nicht-dialektisch sein.“ (14) Die philosophische Hauptkritik des Postmodernismus am Marxismus ist dessen Eintreten für die Dialektik. Die Attacke auf die Dialektik wird auf zwei Ebenen geführt. Erstens gegen die Dialektik als Methode zum Verständnis einer Welt im Prozess ihrer Veränderung; zweitens gegen die Sicht, dass Dialektik eine innere Eigenschaft der objektiven Welt ist, außerhalb des Denkens. Wie sie sagen: „Wirklichkeit und Geschichte…sind nicht dialektisch, und keine noch so idealistischen rhetorischen Verrenkungen können sie der Dialektik anpassen“ (S.144).

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten die ‚Revisionisten‘, Marx von Hegel und dessen Dialektik zu säubern und an dessen Stelle Kant zu setzen. Negris und Hardts postmarxistisches Projekt versucht dasselbe mit Spinoza anstelle von Kant. Was in beiden Fällen bekämpft wird, ist der dialektische Begriff von notwendigen inneren Widersprüchen des Kapitalismus, die, wenn zugespitzt, dazu tendieren, das System von innen her zur Explosion zu bringen.

Spinoza ist vor allem wegen seiner pantheistischen Idee, dass Gott überall, ‚immanent‘ in der Welt ist, bekannt. Es gibt nur eine Substanz auf der Welt, Gott oder Natur sind nur verschiedene Attribute derselben Substanz. Dies kann als primitive Form des Materialismus gesehen werden, da es annimmt, dass die Natur durch sich selbst erklärt werden kann und nicht durch etwas Transzendentes, über ihr stehendes. Dies war natürlich in der Zeit, in der Spinoza lebte, eine revolutionäre Idee – im 17. Jahrhundert!

Was viele gegenwärtige Autoren, die vom Postmodernismus beeinflusst sind, an Spinoza anzieht, sind die Ideen von Immanenz und Unmittelbarkeit. In ihrer Lesart von Spinoza hat das Subjekt einen unmittelbaren Zugang zur objektiven Realität; tatsächlich sollte kein Unterschied gemacht werden zwischen Natur und Subjekt. Das Subjekt ist die Natur und umgekehrt. Daher kann das Subjekt auch kein ‚falsches Bewusstsein‘ seiner Bedingungen haben: Was du siehst, ist, was es gibt. Sie lehnen den Versuch ab, hinter die Erscheinung auf eine tiefere, zugrunde liegende Realität zu blicken, was diese Unmittelbarkeit zwischen Subjekt und Natur widerlegen würde. Materialistische Dialektik leugnet nicht, dass Ideen, Subjekte und die objektive Welt zur selben materiellen Realität gehören. Aber dies heißt nicht, dass es keine Unterschiede innerhalb dieser Welt, z.B. verschiedene Ebenen von Existenz und Priorität zwischen Subjekt und Objekt gibt.

Entsprechend der Dialektik hat das Subjekt die Möglichkeit zur Erkenntnis des Objekts. Sie steht damit im Gegensatz zu Kant, der es für sinnlos hielt, über das ‚Ding an sich‘ zu sprechen, da wir es nur erkennen können, so wie es uns erscheint.

Doch diese Zurückweisung Kants bedeutet nicht, dass das Subjekt einen unmittelbaren Zugang zum Objekt oder anderen Subjekten hat. Nur durch einen dialektischen Prozess der Vermittlung kann das Subjekt einem genauen Verständnis des Objekts näher und näher kommen, indem die erste Wahrnehmung gegen die Realität getestet wird, durch weitere Untersuchung ein entwickelterer Begriff der Wirklichkeit erreicht und wieder an der Realität getestet wird. Diese Herangehensweise wird in der Naturwissenschaft leicht verstanden, wo die Sinne künstlich erweitert werden und die Modelle in der Realität im Experiment getestet werden. Dieser Prozess der Approximation in der Erkenntnis des Objekts kann jedoch leicht auf andere Bereiche übertragen werden, ohne zu glauben, dass eine vollständige Erkenntnis, eine volle Übereinstimmung von Subjekt und Objekt je erreicht wird. Dies ist unmöglich in einer Welt, die durch beständige Veränderung gekennzeichnet ist. Ein Ding ist niemals sich selbst gleich, auch wenn wir so handeln müssen, als sei dies so.

Die von Spinoza inspirierten Postmodernisten dagegen beschuldigen die Dialektik, dass sie im Subjekt etwas der Natur transzendentes, nicht immanentes sehen, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen. Während ein Neo-Kantianer sagt, dass wir nichts hinter der Erscheinung erkennen können, also kein „Ding an sich“, meint der Neo-Spinozist, dass die Realität die Erscheinung ist, dass das „Ding an sich“ dasselbe sei wie das „Ding für uns“. In beider Sicht wird ein wesentlicher Aspekt der Dialektik als bedeutungslos verworfen: die Anerkennung einer verborgenen ontologischen Tiefe in der Realität, einer widersprüchlichen Logik unterhalb der Oberfläche.

Wir können sehen, wohin dies bei Negri und Hardt politisch führt: sie sind zufrieden damit, eine zusammenhanglose Vielzahl von Prozessen zu betrachten, ohne irgend einen Zusammenhang darin aufzeigen zu können, der sie befähigen würde, eine allgemeine Strategie zur Veränderung der Welt zu formulieren. (15)

Eine andere Quelle der Konfusion, die aus dieser Beweihräucherung der Erscheinung herrührt, ist ihre Weigerung, klare Unterscheidungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wie auch zwischen ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau zu treffen. „Gesellschaftliche Produktion und Legitimation dürfen deshalb nicht als primär und sekundär, noch als Momente von Basis und Überbau angesehen werden. Sie stehen vielmehr in einem Verhältnis absoluter Parallelität und Vermischung, sie entsprechen einander in einer biopolitischen Gesellschaft“ (S.55).

Dieses Durcheinanderwürfeln von Basis und Überbau führt sie z.B. dazu, zu sagen: „Das Empire ist also in dem Sinn besser, in dem Marx darauf bestand, dass der Kapitalismus besser sei als die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen, die ihm vorausgingen“ (S.57). Auch wenn sie hier Marx anführen, um ihre Behauptung zu unterstützen, gibt es hier einen klaren Unterschied zu seiner Methode. Marx sah die kapitalistische Produktionsweise als progressiver als frühere, eben weil es eine neue Produktionsweise war. Er fand, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig war, um die neuen Produktivkräfte der industriellen Produktion zu entwickeln, unabhängig von den grausamen Handlungen der entstehenden herrschenden Klasse oder des Staates, der der neuen Produktionsweise zur Entstehung verhalf.

Die neue Weltordnung, die sich in den 1990ern gebildet hat, ist keine neue Produktionsweise, sondern eine Fortsetzung der kapitalistischen. Eine Parallele könnte höchstens zur Analyse des Imperialismus gezogen werden, die Lenin und Luxemburg jedoch offensichtlich nicht als eine fortschrittlichere Gesellschaftsformation ansahen, auch wenn sie fortschrittliche Elemente in der Entwicklung der Produktivkräfte und der verstärkten Vergesellschaftung der Produktion sahen, die die Transformation in den Imperialismus begleiteten.

Der einzige Weg, hier Verwirrung und apologetisches Herangehen an den Kapitalismus zu vermeiden, ist, klar herauszuarbeiten, was progressiv und was reaktionär ist. Dies ist nur durch klare Unterscheidung zwischen den Entwicklungen auf der technologischen Ebene und den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen möglich – eben das, was Negri und Hardt leugnen.

Die Informationsrevolution

Hardt und Negri schreiben: „Es hat sich heute allgemein durchgesetzt, die Aufeinanderfolge ökonomischer Paradigmen seit dem Mittelalter in drei unterscheidbare Abschnitte zu unterteilen, von denen jeder durch die Dominanz eines Wirtschaftssektors geprägt ist: ein erstes Paradigma, in dem Landwirtschaft und die Gewinnung von Rohstoffen die Ökonomie beherrschten, ein zweites mit der Industrie und der Herstellung haltbarer Güter in herausragender Stellung, das gegenwärtige Paradigma, in dem das Anbieten von Dienstleistungen und der Umgang mit Information im Zentrum der ökonomischen Produktion stehen. Die dominante Position geht demnach vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor der Produktion über. Ökonomische Modernisierung bezeichnet den Übergang vom ersten zum zweiten Paradigma, von der Vorherrschaft der Landwirtschaft zur Dominanz der Industrie. Modernisierung heißt Industrialisierung. Den Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma, von der Herrschaft der Industrie zur beherrschenden Stellung von Dienstleistungen und Information, kann man als Prozess ökonomischer Postmodernisierung oder besser Informatisierung bezeichnen“ (S.291). (16)

Für Hardt und Negri ist das Netzwerk – als neue organisatorische Form – das Herzstück der ‚Informatisierung‘. „Die erste räumliche, geografische Auswirkung des Übergangs von der industriellen zur informatisierten Ökonomie besteht in einer dramatischen Dezentralisierung der Produktion (…) Stückzahl und Effizienz stehen nicht mehr in direktem Verhältnis zueinander; tatsächlich wurde das Denken in großen Stückzahlen in vielen Fällen ein Hindernis (…) Informationstechnologien machen Entfernungen immer weniger entscheidend. Arbeiter in ein und demselben Produktionsprozess können von isolierten Orten aus wirkungsvoll kommunizieren und kooperieren, ohne Rücksicht auf die Entfernung. Die Kooperation der Arbeiten im Netzwerk bedarf keines territorialen oder physischen Zentrums (…) Die Dezentralisierung und globale Diffusion von Produktionsprozessen und Standorten, die die Postmodernisierung oder Informatisierung der Ökonomie kennzeichnen, sind von einer Zentralisierung der Kontrolle über die Produktion begleitet. Die zentrifugale Bewegung der Produktion gleicht ein zentripetaler Trend des Kommandos aus“ (S. 306 ff.)

Hierin gibt es sicherlich wahre Elemente, aber das Ende der industriellen Gesellschaft zu erklären, wäre bei weitem zu voreilig. Natürlich hat sich die Gesellschaft in bestimmten Aspekten über den „Industrialismus“ hinaus bewegt, aber es sollte doch zwischen dem ersten und letzten Monat der Schwangerschaft unterschieden werden. Es gibt tatsächlich viel Verwirrung darüber, was solche Begriffe wie ‚Dienstleistungsgesellschaft‘ oder ‚Wissensgesellschaft‘ bedeuten.

Für einige bedeutet ‚Dienstleistungsgesellschaft‘, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte im tertiären Sektor beschäftigt ist. Tatsächlich ist der Dienstleistungssektor in den letzten 30 Jahren beachtlich gewachsen. Dies jedoch hauptsächlich, da das Kapital in Gebiete expandiert ist, die bisher vor allem durch den bürgerlichen Staat, die patriarchale Familie oder kleinbürgerliche Betriebe organisiert wurden. Die Welle der Privatisierungen muss im Zusammenhang gesehen werden mit der Notwendigkeit für das Kapital, neue Gebiete für seine Akkumulation zu finden. (17)

Eine andere Erklärung für die Ausweitung des Dienstleistungssektors ist die Tendenz zum Outsourcing. Aufgaben, die früher innerhalb des Industriebetriebes integriert waren – Einkauf, Finanzverwaltung, Werbung, Datenverarbeitung, Reparaturen, Beratung, juristische Dienste, etc. – und die daher in die Beschäftigung des industriellen Sektors eingingen, werden nun in formell unabhängigen, als Dienstleistung klassifizierten Betrieben ausgeführt.

Großkonzerne bilden heute oft Finanzholdings, deren einzige Aufgabe es ist, das Eigentum an Hunderten von Beteiligungsfirmen zu verwalten – eine Aufgabe, die im Rahmen der ‚Finanzdienstleistungen‘ klassifiziert wird. Daher wurde der Sektor der ‚Geschäftsdienstleistungen‘ in den letzten Jahrzehnten enorm aufgeblasen; in den USA wuchs sein Anteil an der Gesamtbeschäftigung von einem Prozent 1960 auf sieben Prozent im Jahr 2000 und ist hier einer der am schnellsten wachsenden Bereiche. (18)

Außerdem beinhaltet der Begriff ‚Dienstleistungen‘ einen ziemlich unscharfen Bereich von Tätigkeiten. Es ist in gewisser Weise eine Art Rest-Kategorie, die alles umfasst, was nicht Agrikultur oder Industrie ist. Einige Länder, wie die USA, fassen Reparaturen, die Versorgung mit Gas, Strom und Wasser unter ‚Dienstleistungen‘, während diese anderswo als ‚Industrie‘ gelten. Auch sind Sektoren wie Groß- und Einzelhandel, Gebäudebereitstellung, Hoteldienste und Vermietung tatsächlich Ausdehnungen des industriellen Sektors, bearbeiten in bestimmten Bereichen physische Produkte, auch wenn es ebenso Elemente der Reproduktion sozialer Verhältnisse durch Übertragung von Eigentumsrechten darin gibt.

In den USA ist der Anteil des industriellen Sektors zusammen mit industriellen Dienstleistungen wie Handel, Finanzen, Versicherungen, Business Services, Transport und Kommunikation an der Gesamtbeschäftigung im Jahr 2000 derselbe im Jahr 1960, nämlich leicht über 60 %.

Wenn wir die Frauen mit in die Erwerbstätigenzahl einschließen, die im eigenen Haushalt arbeiten (hier grob kalkuliert als Zahl der männlichen Erwerbstätigen minus der Zahl der weiblichen; der Rest sind Hausfrauen), dann ist der Anteil des Sektors Industrie plus industrienahe Dienste tatsächlich in derselben Zeit von 45 % auf 55-60 % gestiegen. (19)

Auch der Versuch, den wachsenden Dienstleistungssektor als eine Konsequenz der Abwanderung von industrieller Produktion von der „Ersten“ in die „Dritte“ Welt zu erklären, ist in der Hauptsache unkorrekt. (20) Die Expansion des industriellen Sektors in Teilen der „Dritten“ Welt muss vielmehr vor allem durch deren Übergang von deren agrikulturellen Ökonomien zu industriellen erklärt werden. (21)

Auch wenn es richtig ist, dass sich die Arbeit in der Industrie geändert hat, mehr Betonung auf der Bearbeitung von Informationen liegt, muss andererseits gesehen werden, dass große Teile des ‚Dienstleistungssektors‘ tatsächlich eine Art Industrialisierungsprozess durchmachen. Viele Dienstleistungen werden heute mit Hilfe von fordistischen Prinzipien organisiert oder sogar vollständig automatisiert und durch Maschinen ersetzt, wie viele irritierte Kunden feststellen, wenn Firmen lieber wollen, dass Computer persönliche Berater ersetzen. Heute ist es der Dienstleistungssektor, der mehr wie der traditionelle industrielle Sektor aussieht. Auch die Methoden des Klassenkampfes und die gewerkschaftliche Organisierung aus dem industriellen Sektor ziehen in diesen Sektor ein.

Die dritte industrielle Revolution

Ungeachtet der relativen Größe des industriellen Sektors und wie man den ‚Dienstleistungssektor‘ definiert, behaupten Hardt und Negri, dass es der letztere sei, der die Wirtschaft vorantreibt, dass „jede ökonomische Tätigkeit heute dazu tendiert, von der Informationsökonomie beherrscht und von ihr qualitativ verändert zu werden“ (S.299).

Betrachtet man jedoch „informationelle Revolution“ und Globalisierung genauer, so wird klar, dass, obwohl diese Phänomene die Basis der Informationsverarbeitung verändert haben, nicht Information als solche die treibende Kraft ist, sondern die enorme technologische Entwicklung in der Computer- und Telekommunikationsindustrie. Daher ziehen es einige Wirtschaftsgeschichtler vor, von einer ‚Dritten Industriellen Revolution‘ zu sprechen statt von einer informationellen.

Die Ausdehnung von Handel und Kapitalexport betrifft vor allem den industriellen Sektor und finanzielle Operationen, während Dienstleistungen nicht im selben Umfang globalisiert werden. Die Ausnahme Transportsektor ist selbst ein stark industrialisierter Sektor. Die größten Monopole gibt es immer noch im industriellen Sektor. So wurden 1977 76% der Wertschöpfung durch US-Multis im industriellen Sektor erzielt, 1998 waren es immer noch 61%, während der Rest hauptsächlich auf den Bereich der industriellen Dienstleistungen entfällt.

Hardt und Negri sind auf festerem Boden, wenn sie behaupten, dass Wissen und Erziehung die moderne Ökonomie vorwärtstreiben. Viele bürgerliche Ökonomen haben dies erkannt und neue Modelle von Wirtschaftswachstum konstruiert, in denen Investitionen in Erziehung, sog. ‚Humankapital‘, und Wissen als genauso wichtig eingestuft werden wie in physisches Kapital. Dies spiegelt tatsächliche gesellschaftliche Veränderungen wider – Erziehung und Wissen spielen heute eine wichtigere Rolle als früher. Aber Erziehung, Wissen und Kommunikationstechnologie waren schon immer ein Schlüsselfaktor hinter der ökonomischen Entwicklung. Die gesamte Geschichte des Kapitalismus ist eine der wachsenden Bedeutung von Bildung und wissenschaftlicher Forschung, um die Akkumulation voranzubringen.

Nachdem im 19. Jahrhundert der Telegraf erfunden war, wurde viel darüber geschrieben, dass dies die Welt vereinen, Nationen einander näher bringen und damit Krieg unmöglich machen würde. Und war nicht die Erfindung der Schrift überhaupt eine Voraussetzung für die Herausbildung der ersten Klassengesellschaften und Staaten? War nicht Gutenbergs Druckpresse Grundlage aller weiteren ökonomischen Entwicklung? Wir erleben weder die erste Revolution auf dem Gebiet von Informationsverarbeitung und -vermittlung noch die erste Welle von übertriebenen Behauptungen, was dies für die Welt bedeuten würde.

In Wahrheit sind Bildung und Wissen der Industrie untergeordnet und nicht umgekehrt. Innerhalb der Universitäten werden deshalb auch die angewandten Wissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Jura mit den meisten Ressourcen bedacht, und deren Inhalt wird immer mehr den Bedürfnissen der großen Firmen untergeordnet.

Kommunismus im Mutterleib des Kapitalismus?

Negri und Hardt behaupten, dass die Entwicklung neuer Organisationsformen, der ‚Netzwerke‘, und die stärkere Betonung von Wissen und Information, eine teilweise Realisierung des Kommunismus darstellen:

„Der kooperative Aspekt der immateriellen Arbeit wird (…) nicht von außen aufgezwungen oder organisiert, wie es in früheren Formen von Arbeit der Fall war, sondern die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent (…) Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt, stellt die immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit“ (S.305).

Es war Adam Smith, der als erster systematisch die Vorteile der Kooperation für den Kapitalismus untersucht hat. Durch die Teilung des Produktionsprozesses in eine Folge einfacher Tätigkeiten und die entsprechende Spezialisierung der Arbeiter hat die Kooperation die Arbeitsproduktivität dramatisch gesteigert. Diese Kooperation im kapitalistischen Arbeitsprozess intensiviert die Entfremdung der Arbeiter von ihrer Arbeit, zerstört ihre Beziehung zum Endprodukt genauso wie zum gesamten Arbeitsprozess.

Darauf beziehen sich die Autoren, wenn sie von einer Kooperation sprechen, die „von außen organisiert wird“. Wie ändert sich das mit der immateriellen Arbeit? Wie wird die Kooperation der Arbeit ‚vollständig immanent‘ zur Arbeitsaktivität, also nicht entfremdend?

Die Tatsache, dass der Kapitalismus heute gezwungen ist, in bestimmten, eingeschränkten Feldern den Arbeitern mehr Autonomie zu geben, um ihre intellektuellen Fähigkeiten besser ausbeuten zu können, heißt doch nicht, dass dies eine Art von ’spontanem und elementarem Kommunismus‘ wäre. Wenn sie die vollständige Kontrolle über die Maschinen, mit denen sie arbeiten, hätten, wenn sie das Tempo ihrer Arbeit selbst bestimmen und über das Endprodukt verfügen könnten, dann würden sie tatsächlich aufhören, Lohnabhängige zu sein – aber sie würden eine kleinbürgerliche Nische im Kapitalismus darstellen und nicht eine Form des Kommunismus.

Bestimmte Arbeiter, die qualifizierte ‚Arbeiteraristokratie‘, haben immer ein höheres Maß an Autonomie im kapitalistischem Arbeitsprozess genossen und dadurch ihre Position in der Aushandlung der Verkaufsbedingungen ihrer Arbeitskraft gestärkt und damit der vollständigen Unterwerfung unter die Tyrannei der Arbeitsdisziplin widerstehen können. Aber die Arbeiteraristokratie ist kleiner geworden, nachdem Maschinen die Abhängigkeit von Qualifikation, der Verkörperung von Produktionswissen und -erfahrung bestimmter Individuen, verringert haben. Softwareprogrammierung wird heute von qualifiziertem Personal ausgeführt, das schwankt zwischen Selbstständigkeit und Arbeiteraristokratie. Aber als Arbeitsprozess ist sie denselben Zwängen unterworfen wie alle anderen.

Sobald eine Krise ausbricht, verschwindet die Autonomie, die irgendwelche Arbeiter zeitweise genießen, sofort; die Beschäftigten werden gezwungen, entweder härter zu arbeiten oder sie werden ‚gesund geschrumpft‘. Tatsächlich können Autonomie und Dezentralisation wirksame Mittel sein, damit die Arbeiter ’sich selbst die Peitsche geben‘, um eine denkwürdige Bemerkung Rosa Luxemburgs zu verwenden, um wie Kapitalisten gegen sich selbst zu agieren und die Entscheidung, wo einzusparen sei, selbst zu übernehmen. Daran ist kein Kommunismus zu finden. Kommunismus ist kein isoliertes Phänomen, dass in den Poren der kapitalistischen Gesellschaft existieren könnte, sondern eine Produktionsweise, die sich nur global und nach einer Übergangsperiode entwickeln kann, in der es eine massive Expansion der Produktivkräfte gegeben hat.

Der Widerspruch von ‚menschlichem und wissensmäßigem Kapital‘

Es bestehen außerdem eindeutige Schwierigkeiten für den Kapitalismus beim Übergang von der Akkumulation ‚physischen Kapitals‘ zur Akkumulationsstufe des ‚menschlichen und wissensmäßigen Kapitals‘. Diese beiden Konzepte enthüllen wiederum innere Widersprüche:

• Im Kapitalismus wird die Kontrolle über die Arbeit durch den Besitz an physischen Produktionsmitteln und nicht durch das Eigentum an den arbeitenden Menschen ausgeübt. Was menschliches Kapital genannt wird, ist ähnlich einer erlernten Arbeitsweise leiblich untrennbar von dem Arbeitenden selbst, es ist Bestandteil der Arbeitskraft (d.h. der Fähigkeit zu arbeiten) und demzufolge gar kein Kapital. Der Kapitalist kauft die Nutzung dieser Arbeitskraft für einen bestimmten Zeitraum, nicht die Arbeitskraft selbst.

• Wissen und Sprache waren als Teil der kollektiven Arbeitskraft seit der Frühzeit der Menschheit immer wesentliche Produktivkräfte. Die Frage ist, ob sich heute etwas so grundlegend Neues ergeben hat, dass die Handhabung von Information nunmehr die beherrschende Produktivkraft darstellt. Offenkundig sind Tendenzen in diese Richtung wirksam, aber andererseits blockiert der Kapitalismus genau die volle Verwirklichung einer solchen Wirkweise. Wissen gehört zur kollektiven Arbeitskraft und unter den Bedingungen der freien Konkurrenz hat jeder Kapitalist Zugang dazu. Wissen ist seinem Wesen nach universell und sogar schwieriger in Besitz zu nehmen und zu kontrollieren als Einzelpersonen.

In der bürgerlichen Ökonomie bedeutet ‚Ausschließlichkeit‘ die Macht, die Anwendung einer gewünschten Nutzbarkeit zu verhindern, ‚Rivalität‘ bedeutet, dass die Konsumtion der Nutzbarkeit durch eine Person anderen Personen weniger überlässt und ‚Transparenz‘ stellt den Grad des freien Zugangs zu Information über die Folgen alternativen Marktverhaltens dar. Mikroökonomische Theorien besagen, dass die für den Kauf bzw. Verkauf auf dem Markt geeignetsten Waren genau die ausschließbaren, konkurrenzbehafteten und transparenten Güter sind.

Das Problem an der Information ist, dass sie nicht ausschließbar ist, denn es ist kaum möglich, Leuten den Zugang zur Information zu verbieten, wenn sie auf dem Markt verkauft worden ist. Sie ist auch ’nicht konkurrenzbedingt‘, zumal die Nutzung von Information durch eine Person in der Regel ihren Nutzwert auch für andere steigert, und sie ist ’nicht transparent‘ wegen der Unsicherheit und Vielschichtigkeit bei der Produktion und dem Verkauf von Information. Obwohl menschliche Fähigkeiten miteinander in Wettbewerb treten, können sie nicht von den Leuten getrennt werden, die sie verkörpern. Sie verkaufen lediglich die Nutzung dieser Fähigkeiten für einen bestimmten Zeitraum. Investitionen in die Ausbildung eines Angestellten können sich dann leicht als wertlos erweisen, wenn derjenige das Beschäftigungsverhältnis kündigt und – da die kapitalistischen Gesetze die Sklaverei verbieten – der Staat kann nicht einschreiten, um solche ‚Investitionen‘ zu schützen.

Der einzige Weg, Wissen und menschliche Fähigkeiten zu kapitalisieren, führt über ihre Verdinglichung, Entmenschlichung und Industrialisierung, aber das widerstrebt völlig dem Wesen dieser Erscheinungen.

Patentgesetze und langfristige Arbeitsverträge sind Teillösungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten. Aber Patente bedeuten eine Monopolstellung, und das ‚Wissenskapital‘ nimmt die Form des Monopolkapitals an, das andere Kapitalisten trifft, weil es sie von der freien Nutzung bedeutsamer Information ausschließt. Patentgesetze behindern die technologische Entwicklung. Markenartikel stellen einen teilweisen Versuch dar, die Hirne von Verbrauchern in Besitz zu nehmen, oder genauer, zu täuschen, aber auf diesen ‚Besitz‘ ist wenig Verlass, denn Verbraucher können ihren Geschmack ändern. Auch Marken sind eine monopolistische Erscheinung. Das Vorgehen des US-Staates gegen Microsoft, die Freie-Software-Bewegung und die Erfolge von Linux, beide unterstützt von vielen Firmen, zeigen [trotz des Teilsieges von Bill Gates; Red.] die Toleranz- und Realisationshemmschwelle solcher Monopolisierungsversuche von Kenntnissen im Kapitalismus.

Da der Kapitalismus auf freier Konkurrenz zwischen Kapital und frei verhandelbarer Arbeitskraft beruht, widerspricht die Monopolisierung von Wissen und menschlichem Leben der kapitalistischen Produktionsweise und kann deshalb nur teilweise durchgesetzt werden. Der Kapitalismus wird niemals zu einer surrealen Stufe gelangen, wo bspw. alle Sprachen privatisiert sind und jeder bei Gebrauch eines Wortes eine Gebühr an die ‚Eigentümer‘ dieser Wörter zu entrichten hat. Eine voll entfaltete Kapitalisierung von Wissen und menschlichen Fähigkeiten würde schließlich den Kapitalismus als eine besondere Produktionsweise verneinen und ihn in eine Art auf diktatorischer Sklaverei beruhende Klassengesellschaft verwandeln.

Das erklärt auch, warum Bildung und Wissenschaft im Allgemeinen (mit Ausnahmen wie USA) in den meisten kapitalistischen Ländern vom Staat organisiert werden. Andere Versorgungsleistungen wie Gesundheitswesen, Kindererziehung, Beförderungsmittel, Infrastruktur und gesellschaftliche Reproduktion werden in vielen Ländern vom Staat bereitgestellt, weil sie das menschliche Leben betreffen und kollektive Güter sind, die sie nicht sonderlich brauchbar für den Markt erscheinen lassen. Die Kapitalisten werden sich jedoch immer Tendenzen zu einem zu starken Staat widersetzen, wie die gesamte neoliberale Offensive in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gezeigt hat. Der Nationalstaat kann stark in Ausbildung und Wissenschaft investieren und damit die Akkumulation von ‚menschlichem und wissensmäßigem‘ Kapital in kollektiver Form für seine nationale bürgerliche Klasse sichern, aber dieser Prozess wird heute durch die Globalisierung untergraben.

Damit haben wir ein Beispiel für folgende These, die Marx schon 1859 aufstellte:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (22)

Im Kapitalismus bleibt die Produktion von Gegenständen entscheidend, gerade weil physische Waren sich besitzen und kontrollieren lassen. Natürlich ist auch die Kontrolle der Köpfe der Arbeiterklasse wichtig für den Kapitalismus, sowohl ideologisch, um die ausgebeutete Klasse in das System einzubinden, wie auch ökonomisch, um die Produktivität durch besser ausgebildete Arbeitskräfte steigern zu können. Aber hier müssen wir wieder darauf achten, was vor- und was nachrangig ist. Marxisten haben immer den ideologischen Klassenkampf betont, aber er ist dem ökonomischen und politischen Klassenkampf untergeordnet.

Der Kapitalismus kann nicht mit hauptsächlich ideologischen Mitteln besiegt werden. Solche Ideen führen zu zentristischen oder reformistischen Schlussfolgerungen, dass der Kapitalismus allmählich reformiert werden könne oder dass eine friedliche Revolution möglich sei. Der Kapitalismus ist in einer industriellen Logik befangen, und diese Logik bestimmt auch die Regeln des Kampfes gegen das System.

Wir haben uns diese Bedingungen nicht ausgesucht. Wer hätte nicht lieber eine friedliche Evolution zum Sozialismus, wenn das objektiv machbar wäre? Nur unter dem Kommunismus werden Wissen, Kommunikation, Sprache und Sinnlichkeit die Hauptarena der Konflikte bilden, weil erst dann die Konflikte nicht mehr an die materiellen Bedingungen der Menschen gekettet sind, sondern die materiellen Bedürfnisse aller befriedigt werden und somit die Auseinandersetzung um materielle Vorräte und die Notwendigkeit, ein menschliches Wesen einem anderen zu unterwerfen, wegfallen wird. Nur unter solchen Voraussetzungen können Auseinandersetzungen auf einer völlig vorurteilsfreien Ebene gelöst werden. Erst dann werden Wissen und Information zu den herrschenden und treibenden Produktivkräften der Gesellschaft.

Nur der Kommunismus kann die wahre Wissens- und Informationsgesellschaft zustande bringen, was Habermas einmal ‚kritisches Wissen‘ nannte, wo Zusammenarbeit und Kommunikation frei von Verzerrungen sind, die daraus erwachsen, dass Tatsachen einer Situation einigen oder allen Beteiligten verborgen bleiben.

Arbeit und der Charakter des Proletariats im Empire

Wie wir gesehen haben, herrscht im Empire die kooperative, gefühlsmäßige und immaterielle Arbeit vor. Die Grenzen zwischen Leben und Produktion lösen sich auf. Alle Arbeit beherrscht vom Kapital, gleichgültig ob in Tätigkeit oder nicht, ist gleich. Das ist das neue Proletariat.

„Die Klassenzusammensetzung des Proletariats hat sich gewandelt, und das müssen wir nachvollziehen. Wir verwenden einen weiten Begriff von Proletariat und fassen in dieser Kategorie all jene, deren Arbeitskraft direkt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischen Normen unterworfen sind.“ (S.66)

Negri und Hardt zufolge war die produktive industrielle Arbeiterklasse nur ein Moment in der Evolution des Proletariats. Ihre Vorrangigkeit dauerte bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Wandlung erfolgte als Antwort auf die kapitalistischen Krisen der späten 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Als der lange Boom endete, zeigten die Unterdrückung der Massengewerkschaften und anderer Kämpfe nur bedingte Wirkung, und eine bloße Beibehaltung der alten tayloristischen und fordistischen Methoden der industriellen Massenproduktion hätte die Entwicklung der Produktivkräfte und die Dynamik der Arbeit nur erstickt. Es folgte also ein technologischer Wandel mit dem Ziel einer deutlichen Veränderung der Zusammensetzung des Proletariats.

Auf diese Argumentation stützen sie ihre Behauptung, dass heute die industrielle Arbeiterklasse „aus dem Blick verschwunden“ (S.66) ist. Das ist kompletter Unfug! Während der Anteil der Arbeiter an der Warenproduktion in den verflossenen 100 Jahren als Folge gestiegener Arbeitsproduktivität in diesem Bereich gesunken ist, blieb die Anzahl der Industriearbeiter auf der Welt gleich (23) oder ist sogar angestiegen. Außerdem hat sich der Anteil am gesamten Produktionsausstoß durch die Industriearbeiterschaft in den letzten 50 Jahren erhöht.

Hier ist noch mehr als der Umfang und die zentrale Bedeutung der Industriearbeiterklasse im Spiel. Der Schlüssel zu ihren Irrtümern über den Charakter der Arbeiterklasse im globalen Kapitalismus liegt in ihrem Verständnis des Charakters der Arbeit selbst. In ‚Empire‘ sagen sie:

„Im biopolitischen Kontext des Empire fallen die Produktion von Kapital und die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens immer stärker zusammen; es wird somit immer schwieriger, die Unterscheidungen zwischen produktiver, reproduktiver und unproduktiver Arbeit aufrechtzuerhalten. Arbeit – materielle oder immaterielle, geistige oder körperliche – produziert und reproduziert gesellschaftliches Leben und wird dabei vom Kapital ausgebeutet.“ (S.409)

Hier wird also Arbeit als praktische, zweckgebundene Aktivität innerhalb der Gesellschaft definiert, nichts anderes als das Marx’sche Konzept ‚allgemeiner Arbeit‘. Marx argumentiert, dass Arbeit in diesem Sinne den Kern unserer Menschlichkeit, unsere artspezifische Daseinsform innerhalb von Vorklassen- wie Klassengesellschaften darstellt. So verwendet verliert dieser Begriff jeglichen geschichtlichen Bezug, der eine Unterscheidung, wie sich eine solche ‚allgemeine Form der Arbeit‘ in den verschiedenen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte niedergeschlagen hat, erst ermöglicht. Der Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit verschwindet natürlich, damit aber auch jegliche begriffliche Bedeutung von Lohnarbeit und vom Kapital selbst.

Das muss so sein, denn Lohnarbeit und Kapital formen eine Einheit im Widerspruch: jeder Begriff wäre bedeutungslos ohne den anderen. Negri und Hardt sind bei ahistorisch abstrakten Aussagen gelandet und geben dies auf ihre Art auch zu: „Die Linien der Produktion und diejenigen der Repräsentation überschneiden und vermischen sich. In diesem Zusammenhang lösen sich auch die Unterscheidungen, welche die zentralen Kategorien der politischen Ökonomie bestimmen, allmählich auf. Produktion lässt sich nicht mehr von Reproduktion unterscheiden; die Produktivkräfte verschmelzen mit den Produktionsverhältnissen; fixes Kapital findet sich zunehmend innerhalb des zirkulierenden Kapitals, in den Köpfen, Körpern und in der Kooperation der Produktionssubjekte“ (S.392).

Kurz: die Grenzen zwischen variablem und konstantem Kapital lösen sich auf genau wie jene zwischen verschiedenen Arten der konkreten Arbeit.

Negri und Hardt fällt anscheinend gar nicht auf, dass Kapital nur als geronnene vorausgegangene Arbeit existieren kann, sich in der Geldform bewegt und benutzt wird, andere Arbeit in Gang zu setzen. ‚Kapital‘ beutet nicht ‚Arbeit im allgemeinen‘ aus, sondern nur Lohnarbeit. Konkret gesprochen kann Kapital nur Profit machen durch die Beschäftigung einer Person, die eine bestimmte Aufgabe erledigt.

Aber wenn es kein Kapital ohne Lohnarbeit geben kann, wie steht es dann um den Charakter der Gesellschaft des Empire? Negri/Hardt haben ihre Analyse in dem Glauben begonnen, dass durch die Offenlegung der Mechanismen des globalisierten Kapitals, das sich auf nichtmaterielle Arbeit stützt, ’nur‘ ein neues postfordistisches Akkumulationsmodell des Kapitals zu Tage tritt. Sie waren von dem Wunsch beseelt, dem Postmodernismus etwas Marxismus beizugeben, weil der Postmodernismus sich außerstande sah, Sprache und Kommunikation mit der Produktion zusammen zu bringen. Aber das Ergebnis ist völlig unzusammenhängend. Trotz allen Geschwätzes über einen Kampf gegen ‚die Vorherrschaft des Kapitals‘ und ihres Glaubens, dass sie das jüngste (End?) Stadium des globalen Kapitalismus analysieren, führt ihre Argumentation doch zu der Schlussfolgerung, dass es Kapital gar nicht gibt. Demzufolge stellt der Übergang vom imperialistischen Kapitalismus zum Empire eigentlich den Wandel zu einer Form von ‚bürokratischem Kollektivismus‘ dar.

Zu Anfang des Buches schreiben sie: „Die großen Industrie- und Finanzmächte produzieren entsprechend nicht nur Waren, sondern auch Subjektivitäten. Sie produzieren Agenzien innerhalb des biopolitisches Zusammenhangs: Bedürfnisse, soziale Verhältnisse, Körper und Intellekt – sie produzieren mithin Produzenten“ (S.47). Das kann nur bedeuten, dass es keine unabhängige Klasse von Lohnarbeitern gibt, die in freien Austausch mit den UnternehmerInnen treten; die ProduzentInnen sind dem Wesen nach Sklaven.

Solche Theorien, zuerst in der Zwischenkriegsperiode unter dem Einfluss des Faschismus und Stalinismus auf die Arbeiterklasse entwickelt, waren allgemein zutiefst pessimistisch und postulierten die Existenz einer Sklavenklasse, die gegen eine totalitäre Diktatur aufbegehrt. Hardt und Negri beschreiben eine gutartigere, optimistischere Gesellschaft, aber das ist letzten Endes zweitrangig. Die ‚Masse‘ mag aus glücklichen SklavInnen bestehen, aber gedanklich sind sie befangen in einer Welt der kooperativen Arbeit unter Vorherrschaft einer erdumspannend herrschenden Klasse. Diese Klasse leitet ihren Reichtum nicht aus der Auspressung von Mehrwert her. Die Verfasser sind sich darüber klar, dass es keinen Wertmaßstab im Empire geben kann.

Selbst wenn wir großzügig annehmen, dass die herrschende Klasse im Empire sich auf irgendeine Weise ein Mehrprodukt aneignet (wo beginnt es und wo endet die notwendige Arbeit, wenn es keinen Wertmesser gibt?), lässt das nur vermuten, dass eine (neuartige) Form von Klassengesellschaft besteht, aber keine kapitalistische.

Die Krise des Kapitalismus unter dem Empire

Hardts und Negris Theorie der kapitalistischen Krise unterscheidet sich vollständig von der marxistischen. Sie gründet sich nicht auf objektive, sondern ausschließlich subjektive Annahmen. Die Krise ist kein notwendiges Ergebnis der inneren Bewegungsgesetze des ökonomischen Systems unabhängig von den Handlungen der Unterdrückten, sondern es erscheint als eine Funktion von ‚Korruption‘.

Vom Marxismus kann behauptet werden, zwei grundlegende objektive Widersprüche innerhalb des Kapitalismus entdeckt zu haben. Zunächst zeigt der Kapitalismus eine Neigung zu schrankenloser Ausbreitung, abgeleitet aus seinem besessenen Drang zur Akkumulation. Aber die Welt ist nicht schrankenlos. Dieser Widerspruch beweist die Unmöglichkeit der ewigen Existenz des Kapitalismus. Der andere grundsätzliche Widerspruch ergibt sich aus seiner Neigung zur Vergesellschaftung der Produktion und seinem System der stets privaten Aneignung der Produktion. Dieser Widerspruch deutet auf die materielle Entwicklung einer höheren Produktionsweise im Schoß des Kapitalismus, d.h. den Kommunismus, hin.

Die expansionistische Tendenz erzeugt unweigerlich Widersprüche im System auf verschiedenen Ebenen. Der ständige Drang zur Akkumulation im Kapitalismus bedingt den Wertanstieg des Kapitalbestandes im Verhältnis zum zugesetzten Wert, was die Profitrate mindert, da der Profit sich aus dem zugesetzten Wert speist – der sog. tendenzielle Fall der Profitrate.

Der ständige Drang zur Ausweitung von Anlage und Produktion führt zu Krisen der Überakkumulation und Überproduktion. Diese Krisen werden gelöst durch eine massive Zerstörung von Kapital, sowohl in Gestalt von fixem Kapital wie auch von Lagerbeständen unverkaufter Waren, was wiederum eine neue Phase der Expansion einleitet, aber sehr langfristig kann das System auf einer solchen Grundlage nicht überleben.

Auf ähnliche Art schlägt sich die sozialisierende Tendenz in mehreren unterschiedlichen Widerspruchsformen innerhalb des Systems nieder. Marx bestreitet z.B. das Saysche Gesetz, das von einem stetigen Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage ausgeht. Says Sichtweise wird immer noch von neoliberalen Ökonomen befürwortet, die eine perfekte Konkurrenz annehmen und sagen, der Kapitalismus würde keine Krisensymptome entsprießen lassen, wenn man ihn seinem eigenen Wirken überließe. In Wirklichkeit aber halten sich Angebot und Nachfrage nicht die Waage, da der Verkäufer nicht notwendigerweise als Käufer auftritt, sondern bspw. Geld ansparen kann, statt es sofort auszugeben. Das ermöglicht Unterkonsumtion, die sich verschärfen kann, wenn die Kapitalisten dazu übergehen, Arbeiter zu entlassen und die Löhne zu drücken, denn auch die Arbeiter sind Verbraucher. Verschiedene Sektoren können im Verhältnis zu anderen ein unterschiedliches Wachstum aufweisen und so Engpässe bewirken. Das ist Folge dessen, dass der Kapitalismus ein irrationales und ungeplantes System auf komplexem Niveau ist.

Der Imperialismus versucht, einige der inneren Widersprüche des Kapitalismus zu umgehen, verlagert dabei aber die bestehenden Widersprüche nur auf eine höhere Ebene und erzeugt sie weltweit neu. Die Expansion des Finanzkapitals löst teilweise die Verwertungsprobleme, indem Kredite die Nachfrage ankurbeln können, auch wenn die gegenwärtigen Einkommen gleich bleiben oder gar sinken. Wie Marx sagte, gestattet das Kreditsystem die Abschaffung des Kapitalismus innerhalb der kapitalistischen Gesetze selbst. Aber dadurch schlagen die Produktionskrisen in Finanzkrisen um, wenn die Schuldner ihre Gläubiger nicht mehr bezahlen können.

Durch den Prozess von Verschmelzungen und Aufkäufen vermag die Großindustrie Lieferanten und Hersteller in einer Form von betriebseigener Planung miteinander zu verbinden und vermeidet damit einige Wesenszüge des anarchischen Kapitalismus. Der Export von Kapital wird angeheizt und erzeugt damit die Nachfrage nach Waren aus den Kapital exportierenden Ländern. Letzten Endes werden die Widersprüche aber nur verschoben, nicht aufgehoben! Die Anarchie der Marktverhältnisse zwischen den weniger großen privaten Monopolen verstärkt sich (z.B. bei den Computer- und Chipherstellern). Die Konkurrenz zwischen den bestehenden Oligopolen verschärft sich mit zerstörerischen Auswirkungen (bspw. im weltweiten Telekommunikationssektor nach 2000). All diese Zusammenstöße rühren aus dem Grundproblem einer wachsenden Überakkumulation von Kapital und überschüssigen Kapazitäten in den meisten Industriesparten her.

Diese rein ökonomischen Konflikte zwischen industriellen Sektoren lösen von Zeit zu Zeit auch Konflikte zwischen Staaten aus, zumal die hauptsächlichen multinationalen Konzerne in den jeweiligen Ländern erfolgreich für vorbeugende oder Vergeltungsmaßnahmen gegen die Konkurrenten aus anderen Ländern eintreten. Der Stahlkrieg zwischen Europa und den USA ist ein Beispiel. Das Bestreben der USA, Krieg gegen den Irak zu führen, ist großenteils ein Versuch des Großkapitals, die Ölvorräte zu kontrollieren oder die OPEC (Gemeinschaft Erdöl fördernder Länder) zu zerstören und damit den Bedarf an billigem Öl für die multinationalen Konzerne der USA zu sichern. Innerimperialistische Kriege stellen die höchste Form der Verschärfung all dieser Widersprüche dar.

Hardt und Negri erkennen diese Grundwidersprüche des Kapitalismus nicht, oder wo dies doch der Fall ist, glauben sie, dass sie unter dem Empire, „wo der Weltmarkt vollendet ist“, überwunden worden sind. Für sie hat das Empire den Kapitalismus in eine universalistische, sozialisierte und globalisierte Phase überführt und so die Gegensätze zwischen verschiedenen imperialistischen Staaten und Kapitalfraktionen aufgehoben. Die Kapitalakkumulation ist von extensiver auf eine intensive Form übergegangen, von formaler zu realer Subsumtion, von der Expansion in eine physische Welt zur Penetration einer virtuellen Realität, da das ‚Äußere‘ ‚internalisiert‘ wird, oder wie sie auf S. 266 schreiben: „Prozesse der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital stützen sich nicht länger auf ein Außen; sie bedeuten nicht die gleiche Art von Expansion.“

Warum dies gerade nicht „die gleiche Art von Expansion“ einschließt, geht aus ihrem Buch nicht hervor. Die Autoren haben keine Erklärung, welche inneren Schranken es oder ob es überhaupt innere Schwanken für die Ausdehnung von Kapital gibt.

Eine mögliche Lesart besteht darin, dass das Kapital unbeschränkte Möglichkeiten der Ausweitung von Akkumulation hat, weil eine Scheinwelt keine Grenzen kennt. Ein anderer Erklärungsversuch wäre, dass das neue Feld der Akkumulation und Ausbeutung, die abstrakte Kooperation zwischen Arbeitenden, nicht mehr quantifizierbar oder bewertbar ist, weil es „immer schwieriger“ wird, „an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten“ (S.409).

Infolgedessen wirken die alten Widersprüche, die auf einem messbaren Verhältnis der Ausdehnung zu den Grenzen dieser Ausdehnung des Arbeitstages fußen, nicht mehr fort, da Negri und Hardt festlegen, dass Messbarkeit von Arbeitszeit und demzufolge Wert und Mehrwert verunmöglicht werden. (24) Anstelle eines Modells einer objektiven strukturellen Krise des Kapitalismus im imperialistischen Zeitalter setzen Negri und Hardt ein rein subjektivistisches. Sie schreiben: „Man könnte sogar davon sprechen, dass die Entwicklung des Empire und seiner globalen Netzwerke eine Antwort auf die verschiedenen Kämpfe gegen die modernen Machtmaschinen ist, insbesondere auf den Klassenkampf, angetrieben durch den Wunsch der Masse nach Befreiung. Die Menge hat das Empire ins Leben gerufen“ (S.57). „Globalisierungsprozesse existierten nicht oder kämen zum Stillstand, würden sie nicht fortwährend durch diese Explosionen der Menge behindert und vorangetrieben“ (S.72).

Sie stehen kritisch zu der Meinung, „die Krise der 1970er Jahre nur einfach als Moment eines objektiven und unabwendbaren Zyklen der Kapitalakkumulation“ aufzufassen, „statt als Ergebnis des proletarischen und antikapitalistischen Angriffs in den herrschenden und beherrschten Ländern gleichermaßen. Die Akkumulation dieser Kämpfe war der Antrieb der Krise, und sie bestimmten die Bedingungen und die Gestalt der kapitalistischen Restrukturierung“ (S.251).

Eine solche Theorie enthält weitreichende Folgerungen. Erstens ist der Kapitalismus nicht objektiv durch seine Widersprüche dem Untergang geweiht, und demzufolge kann die Notwendigkeit des Sozialismus nicht wissenschaftlich abgeleitet werden, sondern bleibt eine moralische Option, die aus einem bestimmten philosophischen Standpunkt erwächst. Zweitens verhält sie sich bestenfalls neutral im Hinblick auf die Frage: „Reform des bestehenden Unterdrückersystems oder Revolution zu dessen Sturz“ ? (26)

Die Theorie unterstellt, dass, wenn die Arbeiterklasse nicht kämpft, der Kapitalismus auch nicht in die Krise gerät. Wenn wir den Kapitalismus also sich selbst überlassen, neigt er dazu, seine Schwierigkeiten von selbst zu lösen. Sagen das nicht auch die Anhänger der neoliberalen Richtung? Wenn der Kampf dann eine Frage der Wahl ist, warum dann nicht die Möglichkeit wählen, nicht zu kämpfen? Zumindest könnten wir dann doch die Krisen vermeiden, die durch unseren Kampf entstehen. Das ist zwar nicht die Schlussfolgerung von Negri und Hardt, aber die Logik ihrer Ideen ist offen für solche Konsequenzen.

Wenn der Widerstand gegen den Kapitalismus sowohl die Krise in der imperialistischen Zeit und im Empire selbst hervorruft, dann ist die Krise im Empire laut Negri und Hardt allgegenwärtig (immanent). Die Krise ist natürlicher Bestandteil der Bestrebungen des Empire, sich selbst zu reproduzieren. Der Charakter des globalisierten Kapitalismus, der sich auf kooperative und immaterielle Arbeit stützt, auf Sprache und Kommunikation als innerem Kern des Kapitalismus, bedingt dies, weil die Masse ständig den Versuch des Empire angreift, die Kommunikation zu monopolisieren und die Masse zu spalten, damit es verhindert, dass diese ein kollektives, autonomes Subjekt wird. Solche Krisen brechen immer an allen Punkten des Systems aus.

Die Triebkraft der Krise ist die Fähigkeit der Masse, sich beständig zu reproduzieren, ihre Schöpferkraft und Selbständigkeit in einer Welt zu bewahren, worin Politik, Ökonomie und die Gesellschaft sich vermischen und nicht mehr trennbar sind. Negri und Hardt nennen diesen Vorgang ‚Generation‘. Dem wird ‚Korruption‘ gegenüber gestellt. Korruption trachtet danach, die Generation zu verneinen und aufzulösen und ist „Eckpfeiler und Schlüssel von Herrschaft“ (S.396). Ob in Aktionen der politischen Interessenverbände, Mafiabanden, aufstrebender gesellschaftlicher Gruppen oder Kirchen, Korruption steckt überall. Das klingt traditionell.

Aber Korruption ist mehr als das. Wenn sie schreiben, dass „Kapitalismus qua Definition ein Korruptionssystem ist“ (S.397), ist das nicht bloße dichterische Freiheit. Negri und Hardt meinen damit mehr. „Denn wenn der Kapitalismus sein Verhältnis es keinen Maßstab für Arbeit mehr gibt,“ dann „bleibt kein anderes Wesensmerkmal des Kapitalismus zum Wert verliert (und zwar als Maß individueller Ausbeutung wie als Norm des kollektiven Fortschritts), erscheint er ummittelbar als Korruption“ (S.397). Wenn Ausbeutung nicht mehr die Auspressung von Mehrwert bedeutet, sondern nur die Aneignung von kooperativer Arbeit der Masse, kann dadurch Korruption greifen, weil sie danach trachtet, die Masse aufzuteilen.

Macht und die Theorie des kapitalistischen Staates

Als Postmodernisten sehen Hardt und Negri nicht nur eine Machtstruktur, sondern behaupten, dass sich Macht überall findet und dass es eine Vielfalt von Machtstrukturen gäbe, ohne dass eine davon dominant wäre, oder wie es Ian Craib ausdrückt: „Die Welt ist als Kaleidoskop von Machtkämpfen zu sehen, die nie ausgeblendet werden können. Es kann nur der Widerstand angeregt werden, wo sich Macht offenbart.“ (27) Die Schaffung einer kollektiven Identität würde diese Komplexität innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe ignorieren und am Ende zu Repression führen. Anstelle eines überlagernden -ismus, der die verschiedenen Kämpfe gegen den Kapitalismus eint, wollen die Poststrukturalisten eine Unzahl von -ismen setzen – Ökologismus, schwarzer Nationalismus, Feminismus, Immigrantismus, Veganismus, Drittweltismus, Homosexualismus usw. – jeweils eine Theorie und ein Programm, das sich mit einer Form von Unterdrückung beschäftigt und keine Verbindung hat mit anderen Repressionsformen.

Diese Zerfaserung von Macht und Widerstand ist verbunden mit dem angeblichen Emporkommen der Informationsgesellschaft, wo die Macht in den vielfältigen Strukturen von Sprachcodes liegt, die unser Denken bestimmen. In diesem Sinne Castell:

„Macht (…) ist nicht mehr in Institutionen (des Staates), Organisationen (der Konzerne) oder symbolischen Kontrolleuren (Medienkörperschaften, Kirchen) konzentriert (…) Die neue Macht steckt in den Informationscodes und in den Bildern von Repräsentation, um die die Gesellschaften ihre Institutionen organisieren und Leute ihr Leben einrichten und ihr Verhalten ausrichten. Der Sitz dieser Macht ist der Geist der Menschen…

Deshalb sind Identitäten so wichtig und letztlich so mächtig in dieser sich ständig verändernden Machtstruktur, weil sie Interessen, Werte und Projekte um Erfahrung herum formen (…)

Wer sind unter diesen Bedingungen nun die Subjekte des Informationszeitalters? (…) Soziale Bewegungen aus dem kommunalen Widerstand gegen Globalisierung, kapitalistische Erneuerung, organisatorische Netzwerke, unkontrolliertes Informationswesen und Patriarchalismus, und das sind zur Zeit Ökologisten, Feministinnen, religiöse Fundamentalisten, Nationalisten und Lokalpatrioten, sie sind die potenziellen Subjekte des Informationszeitalters.“ (28)

Hardts und Negris Konzept des Empire steht grundsätzlich in dieser Tradition des Postmodernismus und will Macht nicht als zentralisierte Kraft ansehen. Empire ist vielmehr ein Bündel von Machtstrukturen. Empire wird eine kollektive Subjektivität abgesprochen. Zusammengehalten wird Empire durch die ‚Logik‘ eines Informationsnetzwerks von Sprachcodes und nicht durch einen zentralisierten Staat.

Obwohl sie sich bemüßigt gefühlt haben, bei der Behandlung der Politökonomie des Empire auch auf Marx einzugehen, hat die Sicht von Hardt und Negri auf den kapitalistischen Staat vor dem Empire wenig mit Marxismus zu tun. Wie Max Weber sehen sie die Rolle des Staates als eines Disziplinierungsinstruments, das ‚von außen‘ auf die Gesellschaft einwirkt und ein Monopol auf die Ausübung legaler Gewalt hat. Dieser Staat ist national der Form nach und thront ‚über der Gesellschaft‘.

Die marxistische Staatstheorie lokalisiert die Absonderung einer ausgeprägten Verwaltungs- und Bürokratieschicht in der Bildung des Privateigentums und der Notwendigkeit einer öffentlichen Kraft, die über den widerstreitenden Klassen wacht, die aber danach trachtet, die Bedingungen für die Erzeugung von Mehrarbeit, also die Ausbeutung, zu sichern. Diese allgemeine Festlegung dient zu Herausarbeitung der Wesensmerkmale aller Klassenstaaten. Das kapitalistische System braucht ebenfalls einen Staat, um seine Interessen als ganzes zu verteidigen und den ‚kollektiven Willen des Kapitals‘ zu vereinheitlichen.

In der Geschichte hat jede Klassengesellschaft auch eine Entwicklung in Form und Inhalt des Klassenstaates durchlaufen. Die Trennung von Wirtschaft und Politik erreicht erst unter dem Kapitalismus ihren Höhepunkt. Hier erscheint der Staat als wahrhaft unabhängig von den engen Klasseninteressen der wirtschaftlich herrschenden Klasse, denn immerhin sind unter der kapitalistischen Demokratie alle BürgerInnen gleich und keine Stimme eines Wählers zählt formell mehr als die eines anderen. Auch die Zwangsmittel liegen nicht einfach in Händen der wirtschaftlich überlegenen Klasse, sondern werden durch besondere Einrichtungen wahrgenommen. Der Form nach erhebt sich der Staat über die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, dem Inhalt nach aber fungiert er, um die vertraglich geregelten Eigentumsverhältnisse festzuschreiben, v.a. die zwischen UnternehmerInnen und LohnabeiterInnen. Da diese Gesetze die Rahmenbedingungen gewährleisten, unter denen diese Verträge frei ausgehandelt werden, begünstigt der Staat selbstverständlich die Unternehmer in ihrer Zielsetzung, das letzte Quentchen an Arbeitskraft aus ihren Belegschaften herauszuquetschen. Kurz, es herrscht ein strukturelles Ungleichgewicht in den Grundlagen des Staates, der auf dem kapitalistischen Privateigentum beruht. Die Versuche, Druck auf diesen Staat auszuüben, damit er diese ‚Schieflage‘ begradigt, stellen in der Tat die politische Geschichte der Arbeiterbewegung dar.

Davon aber finden wir nichts im Empire. Mit Blick auf den ‚modernen Staat‘ tischen uns Negri und Hardt bürgerliche Soziologie auf, die Gesellschaft und Staat starr gegenüberstellt (der moderne Staat steht über der Gesellschaft und besitzt ein Monopol auf legitime Gewalt). Über den imperialen Staat äußern sie: „Die Postmodernisierung und der Übergang zum Empire führen zu einer wirklichen Konvergenz der Bereiche, die man üblicherweise als Basis und Überbau zu bezeichnen pflegte“ (S.391).

Scheinbar einander entgegengesetzt sind bürgerliche Soziologie und Postmodernismus wirklich in ihrem undialektischen Herangehen an Basis und Überbau vereint. Der Marxismus allerdings kann die formale Gegenüberstellung von Gewalt des Staates und Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht hinnehmen. Der Marxismus erkennt im Staat die Fähigkeit, die Gewalt auch von nicht staatlichen Kräften der Zivilgesellschaft zu billigen, sofern sie die Ziele der herrschenden Klasse absichern. Hitler sanktionierte bspw. den faschistischen Werkschutz, um die deutsche Arbeiter in den 30er Jahren zu terrorisieren. Im heutigen Kolumbien arbeiten Todesschwadronen als Subunternehmer des Staates, um GewerkschafterInnen zu ermorden. Obgleich für MarxistInnen natürlich Staat und Gesellschaft klar abgegrenzt und unterschieden sind, gibt es aber keinen platten, nackten Gegensatz zwischen diesen, sondern sie durchdringen sich gegenseitig und wirken aufeinander ein.

Negris und Hardts Untersuchungsmethode ist vergleichsweise steril: entweder stehen Staat und Zivilgesellschaft in formalem Gegensatz zueinander, jeder mit seinen ausschließlichen Bereichen von Befugnissen und Herrschaft, oder die Unterscheidung ist wie im Empire bedeutungslos und nicht vorhanden. Wenn wir Negri und Hardt weiter in ihrer Auffassung vom imperialen Staat folgen, entdecken wir, dass sich für sie die Angleichung von Staat und Gesellschaft aus dem Sieg des Kapitals über den Staat ergibt. Denn während sich der moderne Staat „über die Gesellschaft und die Menge“ (S.334) erhebt, wirkt „das Kapital hingegen auf einem Immanenzfeld, durch Staffelungen und Netzwerke von Herrschaftsbeziehungen, ohne auf ein transzendentes Machtzentrum zu bauen“ (S.334).

„Durch die gesellschaftliche Entwicklung des Kapitals werden die Mechanismen der modernen Souveränität (…) Schritt für Schritt durch eine Axiomatik ersetzt: das heißt, eine Reihe von Gliederungen und Verhältnissen, die unmittelbar und gleich, auf unterschiedlichem Terrain, ohne Referenz auf vorgegebene festgeschriebene Definitionen oder Größen, Variablen und Koeffizienten determinieren und kombinieren“ (S.335).

Einfacher ausgedrückt: Geld löst die Kraft aller anderen politischen Fesseln und verlässt sich auf seine eigenen inneren Gesetze zur Reproduktion seiner hauptsächlichen Verhältnisse. Wenn dies für gesellschaftliche Verhältnisse in einem Land gilt, muss es ebenso international zutreffen.

„… und selbst die Beschränkungen des Nationalstaats beginnen in dem Moment in den Hintergrund zu treten, da das Kapital sich auf dem Weltmarkt realisiert.

Die Transzendenz moderner Souveränität tritt dergestalt mit der Immanenz des Kapitals in Konflikt. Historisch war das Kapital auf die Souveränität und die Unterstützung durch deren Rechts- und Machtstrukturen angewiesen, doch die gleichen Strukturen widersprechen, ihrem Prinzip nach, dem Wirken des Kapitals und behindern es in der Praxis, bis sie schließlich seine Entwicklung verhindern“ (S.336).

Wenn man den Autoren Glauben schenken will, muss das Kapital immer die Hindernisse überwinden, die ihm der Staat in den Weg stellt. Aber während in der vor dem Empire liegenden Ära des Kapitalismus die Zivilgesellschaft zwischen Kapital und Staat erfolgreich vermittelte, beginnt die Gesellschaft nun zu bröckeln. Gewerkschaften, Familie und Schulen befinden sich in einer Todeskrise und damit werden auch ihre Wirksamkeit und Unterschiedlichkeit zerstört. Somit fallen zivile Gesellschaft und Staat ineinander zusammen. (29)

Negri und Hardt kehren hier zunächst die wirkliche Geschichte der Beziehung von Kapital und Staat um. Der Staat war ein Werkzeug, um die Zerstörung der feudalen Fesseln zu bewerkstelligen und ein Heer von ‚freien‘ Arbeitskräften zu schaffen, die durch das Kapital ausgebeutet werden konnten. Dies geschah dadurch, dass die Bauern der Möglichkeit beraubt wurden, ihren Unterhalt auf dem Land zu schaffen, durch Verabschiedung von Gesetzen gegen Nichtsesshaftigkeit und viele andere Maßnahmen, um das Proletariat in die Fabriken zu pferchen. In der Entwicklung des Kapitalismus wurden auch Gesetze beschlossen, die die Bildung von ‚Arbeitsverbünden‘, also Gewerkschaften, erschwerten, so dass die Arbeiter die Bedingungen für den Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht verbessern konnten.

Im Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz, als die Arbeiterklasse an Stärke gewann und das allgemeine Wahlrecht einer Kapitalistenklasse nach der anderen aufgezwungen wurde, schwollen die Bürokratie und das Militärwesen des kapitalistischen Staates ungeheuer an, während die wahre Macht von den Parlamenten auf die vollziehende Gewalt überging; alles geschah, um das Kapital vor den Forderungen der Arbeiterklasse zu schützen.

Der Gedanke, dass der Staat ‚dem Wesen nach‘ immer danach gestrebt hätte, das Kapital an der Entfaltung zu hindern, ehe das Kapital sich dann selbst unter dem Empire befreit, ist lächerlich. Wer hat denn die Schranken für die Bewegungsfreiheit des imperialistischen Kapitals in den vergangenen 90er Jahren niedergerissen? Niemand anders als die Nationalstaaten von Europa und die USA durch Drohung und Bestechung! Wer unterdrückt die Massenbewegungen gegen das weltweit handelnde Kapital? Niemand anders als der Staat der Kapitalisten!

Negri und Hardt glauben, dass an die Stelle des Unterdrückerstaates, der kapitalistischen Zwang auf die Massen ausübt, eine Art innerer Selbstzwang rückt: „Disziplin ist nicht äußere Stimme, die über uns stehend uns unser Handeln diktiert, uns überwölbt, wie Hobbes sagen würde, sondern Disziplin ist eher eine Art innerer Antrieb, der von unserem Willen ununterscheidbar, unserer Subjektivität immanent und ihr also untrennbar verbunden ist“ (S.338). Das Gefängnis beherrscht also nicht die Insassen, sondern bedeutet eigentlich einen Raum, innerhalb dessen sich die Insassen selbst disziplinieren (S.339). In der Tat sind Betriebs, Schul- und Gefängnisdisziplin verwoben in einer „hybriden Produktion von Subjektivität“ (S.339).

Die unterschiedlichen Rollen der Mutter, des Arbeiters und des Schülers werden aufgebrochen und miteinander vermischt, denn sie wurden ein Hindernis „für die weitere Entwicklung von Mobilität und Flexibilität“ (S.340). Auch in diesem Beispiel steckt wenig mehr als ein postmodernes philosophisches Vorurteil, das die gesellschaftlichen Strukturen im Kopf aufzulösen versucht, während sie aber weiterwirken auf gesellschaftlicher Ebene. Im Gegenteil: diese sozialen Identitäten bleiben, auch wenn sie sich im Lauf der Zeit fortentwickeln. Selbstredend können sich die verschiedenen ‚Rollen‘ in einer Person paaren, sie sind nicht so gegenseitig ausgeschlossen wie sie es einmal waren. Eine Mutter, die in einem Callcenter Teilzeitarbeit verrichtet und nebenher für einen Hochschulabschluss studiert, ist demnach Mutter, Arbeiterin und Studentin zugleich. Das heißt nicht, dass diese Unterschiede damit ausgelöscht sind, sondern vielmehr, dass der Einzelne ein Leben lebt, in dem vielfältige statt ‚hybride Identitäten‘ vorkommen können, die möglicherweise jedoch schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Wiederum zeigt sich, dass die Schreiber Gegensätze nur gegenüber stellen oder in ihren Köpfen auflösen können, während das wirkliche Leben sie in einer Auseinandersetzung verbindet und weiter treibt.

Wenn der Staat sein übernatürliches Wesen nach innen verloren hat, vervollständigt das für Negri und Hardt den „Niedergang der Nationalstaaten (…), die durch Grenzen die Aufteilung der globalen Herrschaft markieren und organisieren“ (S.341). Multinationale Unternehmen „arbeiten daran, aus Nationalstaaten bloße Instrumente zu machen, die die Waren-, Gelder- und Bevölkerungsströme überwachen, die sie selbst in Bewegung gesetzt haben“ (S.46). Der Niedergang der Nationalstaaten sei „strukturell und irreversibel“ (S.345).

„Der tatsächliche Niedergang dieser Struktur kann am Entwicklungsgang einer ganzen Reihe von globalen juridisch-ökonomischer Körperschaften verfolgt werden, also etwas an dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), der Welthandelsorganisation (WTO), der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Globalisierung der Produktion und Zirkulation und ihr Rückhalt durch dieses supranationale Rechtsgerüst tritt an die Stelle nationaler juristischer Strukturen“ (S.345).

Das ist eine wirklich bemerkenswerte Behauptung! In den genannten Körperschaften handeln unabhängige Nationalstaaten ihre unterschiedlichen Interessen mit unterschiedlichem Erfolgsgrad je nach ihrer relativen nationalen Macht aus. Die aufkommenden Spuren von staatenübergreifender Bürokratie (z.B. die Schlichtungsausschüsse bei der WTO oder der Europäischen Kommission) bleiben schwach.

Negri und Hardt liegen falsch in ihrer Sicht der Nationalstaaten als passive Opfer des Prozesses einer wirtschaftlichen Globalisierung durch das Kapital der multinationalen Konzerne. Sie waren die ersten Auslöser davon. Schon in den 70er Jahren waren sich die Regierungen der USA und Britanniens im Bündnis mit den Hauptbereichen von Finanz und Industrie einig, dass ihren nationalen Interessen am besten damit gedient wäre, wenn sie alle anderen Länder dazu zwingen könnten, ihnen ihre Finanzmärkte zu öffnen. Sie waren ‚Marktführer‘ bei den meisten Finanzleistungen und gedachten, aus ihren Konkurrenzvorteilen erheblichen Profit zu schlagen. Sie waren die Vorreiter und zwangen alle anderen Märkte, ihrem Beispiel zu folgen oder noch mehr Marktanteile bei diesen Finanzleistungen zu verlieren.

Außerdem verkennen Negri und Hardt das Ausmaß von Regierungsmaßnahmen während der letzten 10 Jahre, um die negativen Auswirkungen der zügellosen Kapitalbewegungen einzudämmen. Nationale Regierungen griffen natürlich ein, um die Folgeschäden der Kapitalbewegungen zu lenken und zu begrenzen. Als Antwort auf den 500 Mrd. $ Verlust der Banken in Japan nach dem Zusammenbruch des Vermögensmarkts 1989 hat die japanische Regierung sofort der Deregulierung ihrer eigenen Finanzmärkte entgegengewirkt und gedrosselt. (30)

Anfang der 90er Jahre griff die US-Regierung ein, als die Spar- und Darlehenskrise im Anschluss an die Rezession von 1989 einsetzte. Als 1992 der Europäische Währungsverbund (ERM) zusammenbrach, führten Portugal, Spanien und Irland kurzerhand Kapitalhandelskontrollen ein, um ihre Währungen zu schützen. 1994 griff die US-Regierung stark ein, um zur Hauptsache Schatzbriefinhaber aus den USA vor dem Verlust von 50 Mrd. $ zu bewahren, die durch den Zusammenbruch des mexikanischen Peso entstanden waren.

Der erfolgreiche Anlauf für die einheitliche europäische Währung 1999-2002 ist auch ein Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen von kleineren EU-Staaten, die plötzlichen ökonomischen Auswirkungen des vereinheitlichten Marktes auf Finanzleistungen fernzuhalten, ein Schachzug, der wie beabsichtigt v.a. dem britischen und deutschen Finanzkapital zugute kam. Diese Öffnung wurde nur unter der Bedingung gestattet, dass den kleineren Staaten Kontrollbefugnisse über die Finanzpolitik der einheitlichen, föderalen europäischen Bank (EZB) zugebilligt wurden. Hier hat der ‚Nationalstaat‘ die Form eines alleuropäischen ‚Staates‘ angenommen, aber der Mechanismus der grenzübergreifenden Kontrollen ist nicht frei vom entscheidenden Einfluss einzelner Nationalstaaten; für sie ist das nur ein Werkzeug.

Das verweist auf einen weißen Fleck in der ‚Empire‘-Erklärung. Negri und Hardt übergehen die Tatsache, dass der wirkliche Widerspruch zwischen Nationalstaat und globalem Kapital jetzt und für absehbare Zeit Regionalisierung der internationalen Ökonomie und übernationale politische Entwicklungen schafft.

Ihre Auffassung vom ‚überflüssigen‘ Nationalstaat unterschätzt ferner die Tatsache, dass die multinationalen Konzerne mit weltweitem Wirkungsfeld ein Rechtssystem an ihrem Stammsitz brauchen, das ihre Interessen verteidigen kann. Wir brauchen uns dazu nur die Regulierung des Internetgeschäfts anzuschauen. Es gibt wenig mehr echte Weltunternehmen als in den Bereichen Computertechnik, Pharmazie, Musikindustrie und Internet. Aber die Abhängigkeit der Großkonzerne von ‚ihrem‘ Staat schimmert durch, wenn ihre Ansprüche in der Weltwirtschaft gegenüber den Konkurrenten durchgesetzt werden sollen.

Im Februar 2001 wurde in den USA vom Berufungsgericht ein früheres Urteil gegen die Musiktauschbörse Napster bestätigt, wonach dieses daran gehindert worden war, ihren Nutzern weiterhin das illegale Herunterladen von Musikstücken auf PC zu ermöglichen und damit gegen geistige Urheberrechte zu verstoßen. Im selben Monat verteidigten Glaxo, Smith & Kline erfolgreich ihr Patent auf ein Aids-Bekämpfungsmittel gegen Versuche aus Brasilien, dieses Mittel als Nachahmerpräparat billiger herzustellen. Im Jahr 2000 wurde das Unternehmen Yahoo durch Beschluss französischer Gerichte zum Rückzieher gezwungen, pornografische Webseiten über französische Internetprovider unzugänglich zu machen.

Verständlicherweise dauert es einige Zeit, ehe sich die Gesetzeslage auf diese neuen Entwicklungen im Weltkapitalismus einstellen und die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kapitalsektoren regeln kann. Aber die großen multinationalen Konzerne sind in den mächtigsten Nationalstaaten verwurzelt, und diese verfügen über ein ganzes Arsenal von Handelssanktionen und diplomatischen Manövern, um den Einklang mit ihren Interessen sicher zu stellen.

Die augenfälligste Art, wie der Nationalstaat im Sinne des nationalen Kapitals handelt, offenbart sich in der Kontrolle über die Arbeit. Darunter fallen z.B. Gesetze zu arbeitsrechtlichen Regelungen oder zum Wirkungskreis von Gewerkschaften. Ob in brutalen Überfällen auf Streikende, in der Einkerkerung von Gewerkschaftsführern wie in Nigeria oder in den einschneidenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen Britanniens – der Staat ist überall noch eine lebenswichtige Einrichtung für das Kapital.

Drittens legen Negri und Hardt nicht genügend Gewicht auf die Rolle der Nationalstaaten bei der Vergabe von Aufträgen an die Großkonzerne, um deren Profite hoch zu halten. Der außergewöhnliche Anstieg von Aufträgen an die US-Rüstungsindustrie in den 90er Jahren ist das schlagkräftigste Beispiel hierfür.

Die politische Funktion (‚Administration‘) der imperialistischen Staaten besteht den Autoren zufolge darin, die Masse zu segmentieren und zu teilen. Das galt allerdings auch für alle Klassengesellschaften vor dem Empire. Damals wurde diese Aufgabe durch lineare Integration von Konflikten und unterstützt durch einen kohärenten Repressionsapparat bewältigt. Im Empire tendiert das Management politischer Ziele dazu, getrennt von demjenigen der Repression zu verlaufen, während der moderne Staat sie zu koordinieren versucht und die ganze Operation entlang einer Kette von Prinzipien rationalisieren will, die auf der Universalität und Gleichheit seiner Aktionen basiert.

Da die Administration nicht für die politischen Ziele des Staates agiert, wird sie in ihren Verhandlungen autonom gegenüber Arbeiter- und Unternehmergruppen. Sie trachtet nicht danach, sie zu integrieren, sondern sie zu differenzieren. Der Staat verhält sich aus diesem Grund separat zu den verschiedenen sozialen Gruppen. Er behandelt sie alle direkt und separat. Negri und Hardt fragen, wie in diesem Fall der Staat funktionieren kann. Die Antwort lautet: „Die vereinheitlichende Grundlage wie der oberste Wert imperialer Regierung ist ihrer lokale Wirksamkeit“ (S.350).

Mit diesem Konzept vergleichen Negri und Hardt den imperialen Staat mit den Feudalherren oder der Mafia. Beide würden zeigen, dass „die Selbständigkeit lokaler Regierungskörperschaften nicht im Widerspruch zur imperialen Regierung“ (S.351) stehen.

„Lokale Autonomie ist die grundlegende Bedingung, die conditio sine qua non in der Entwicklung des imperialen Regimes“ (S.351).

Dann sagen sie jedoch, dies könne „keine Sicherheit vor möglichen Gefahren, etwa riots, Aufständen, oder Revolten bieten, nicht einmal vor ganz normalen Konflikten zwischen unterschiedlichen lokalen Fraktionen“ (S.351). An dieser Stelle tritt Kommando oder Repression in Kraft. Das Empire braucht die Garantie eines Oberkommandos wie alle anderen Staaten, aber es bezieht sie nicht aus der Notwendigkeit, eine Krieg führende Gesellschaft zu befrieden oder aus der Notwendigkeit, Verträge durchzusetzen.

„Das imperiale Kommando wird nicht mehr durch die Disziplinarmechanismen des modernen Staates ausgeübt, sondern folgt den Modalitäten biopolitischer Kontrolle“ (S.352).

Es gibt kein ‚Volk‘ mehr, dessen Macht auf eine souveräne Körperschaft übertragen werden kann, die dann über das Volk herrscht. Stattdessen wandelt sich die ‚Menge‘ ständig; sie kann nicht vom Staat von oben beherrscht werden, sondern nur intern, wo sie in Produktion, Kultur und Kommunikation operiert. Das imperiale Kommando muss die Zusammenkunft dieser Masse in Autonomie unterbinden, sie aber nicht zerstören; es muss ein generelles Gleichgewicht des Systems garantieren. Wie geht das vor sich? „Das imperiale Kommando besitzt drei globale und unumschränkte Instrumente: die Atombombe, das Geld und den Äther“ (S.353).

Nuklearwaffen negieren die Idee, dass der souveräne Staat ein Monopol auf legitime physische Gewalt hat, schreiben Negri und Hardt. Die Konzentration auf diese Waffen in wenigen Händen nimmt dem Staat die Fähigkeit, Entscheidungen über Krieg oder Frieden zu treffen und macht den Krieg zwischen Staaten „immer weniger denkbar“. Jeder Krieg wird auf einen begrenzten Konflikt reduziert, Bürgerkrieg, schmutziger Krieg, ‚eine Polizeioperation‘.

Das ist eine abwegige Verallgemeinerung. Zuerst einmal sind diese Waffen genau ‚territorialisiert‘ und werden eifersüchtig durch die jeweiligen Nationalstaaten bewacht. Die sie besitzen, sitzen am längeren Hebel gegenüber denen, die sie nicht haben. Wo sich eine Auseinandersetzung zwischen Staaten anbahnt, kann die Verfügungsgewalt über Atomwaffen entweder das Ausmaß des militärischen Konflikts aus Angst vor den Auswirkungen begrenzen (z.B. bei Indien gegen Pakistan) oder Stellvertreterkonflikte entstehen lassen, die zwischen Staaten ausgetragen werden, die Verbündete einer Atommacht sind (wie im Kalten Krieg).

Das Vorhandensein von Atomwaffen macht Kriege zwischen Staaten eindeutig nicht ‚immer weniger denkbar‘, wie sich im Lauf der 90er Jahre herausgestellt hat; vielmehr hat das erdrückende Übergewicht in allen Waffengattungen zur Massenvernichtung die USA sicher gemacht, dass sie ungestraft gegen andere Staaten Krieg führen können.

Der zweite Weg, auf dem das imperiale Kommando wirkt, soll über die „Auflösung nationaler und/oder regionaler Regimes monetärer Regulierung“ (S.354) führen. Negri und Hardt meinen, dass „nationalstaatliche Geldstrukturen Kennzeichen von Souveränität einbüssen“ (S.354) und das Finanzkapital sie beherrsche. Dies ist wiederum eine Einsicht, die bis zum Bruchpunkt ausgedehnt wird. Niemand bezweifelt die Macht der Finanzmärkte, die nationale Währungen entwerten können. Britannien wurde 1992 aus dem ERM durch die vereinten Anstrengungen der Spekulanten hinausgedrängt, die die Devisenvorräte des Landes angezapft hatten. Die finanziellen Zusammenbrüche von Mexiko 1994, Ostasien 1997 und Argentinien 2001 waren alle den Spekulationen der Finanzmärkte geschuldet, die die festgesetzten Wechselkurse der nationalen Währungen zum US-Dollar für überbewertet hielten.

Es gibt aber solche und andere nationale Währungen. Es ist zwar richtig, dass es keine neue allgemeine Währung gibt, aber wir haben nicht nur Geld im Allgemeinen, das „weder einen festen Ort noch einen transzendenten Status“ (S.354) besitzt. Das lässt die herausragende Rolle außer Acht, die der US-Dollar in der Welt spielt. Über die Hälfte aller Dollars ist außerhalb der USA in Umlauf. Internationale Finanzleute leihen und verleihen in der US-Währung, und der internationale Handel nutzt den Dollar selbst dort, wo keine US-Amerikaner beteiligt sind. Wie die Zeitschrift ‚The Economist‘ es ausdrückt, hat „kein Wert seit dem Gold sich einer solch weit verbreiteten Gültigkeit als Tauschmittel und Wertanlage erfreut.“ (31) Heute ist der Dollar zum Standard geworden. Er sichert den internationalen Geldverkehr und den Welthandel, solange die US-Preise stabil bleiben und andere Länder bereit sind, die negative Außenbilanz der USA mitzutragen. (32)

Die letzte Komponente des imperialen Kommandos ist ‚Äther‘. Für Negri und Hardt löst sich das Management der Bildung, Kommunikation und Kultur durch Nationalstaaten unter dem Empire auf. Souveränität wird der Kommunikation untergeordnet, die weder fassbar noch verortbar ist. „Die Kommunikation ist die Form kapitalistischer Produktion, in der es dem Kapital gelang, die Gesellschaft insgesamt und global seinem Regime anzupassen und alle anderen Wege abzuschneiden“ (S.355).

Sie fahren fort: „Möglicherweise kann man dem Gewaltmonopol und der Geldregulierung in mancher Hinsicht Territorien zuschreiben, bei der Kommunikation geht das nicht. Die Kommunikation ist das zentrale Moment, auf dem die Produktionsverhältnisse gründen, sie dirigiert die kapitalistische Entwicklung und transformiert selbst die Produktivkräfte“ (S.355).

Hier unterschätzen die Autoren als erstes die Fähigkeit der Nationalstaaten zur Kontrolle und Territorialisierung von Kommunikation (z.B. durch nationale Telekommunikationsanbieter, national begrenzte Entwicklung des Fernsehsystems, beschränkt durch Bandbreiten, Sendesysteme und natürlich durch Gebührenauflagen für kontrollierten Zugang zum Internet durch Unternehmen und Regierungen).

Zweitens ist die Zahl der Nutzer in der Welt mit Zugang zu Massenkommunikationssystemen sehr gering. Mittlerweile haben sich die Nationalstaaten unbeschränkten Zugriff auf die Daten (als Bilddaten oder in anderer Form) ihrer Bürger verschafft; zu diesen Informationen ist den Massen der Zutritt verwehrt. Drittens stellen sie nicht in Rechnung, dass Konzentration, Zentralisation und Kommerzialisierung der Information zeitlich und räumlich durch politisches Diktat und Geld gebunden sind.

Zusammengefasst verträgt sich Negris und Hardts Sicht vom Staat an keinem einzigen Punkt mit der beobachtbaren Wirklichkeit. Sie sehen ihn essentiell als Hindernis für die Entwicklung des Kapitals statt als Förderer von dessen Vorherrschaft. Für sie liegt das Wesen des Staates in der Kontrolle von Differenzen, nicht in der Repression. Die erstgenannte Aufgabe ist die politische Rolle des Staates (‚imperiale Administration‘), die autonom von der repressiven Funktion (‚imperial command‘) existiert. Mittlerweile lokalisieren sie die repressive Funktion nicht im nationalen Staatsapparat (da der Nationalstaat machtlos ist), sondern im globalen Effekt von Geld, Kommunikation und Nuklearwaffen auf die ‚Menge‘, damit diese sich mit der Herrschaft des Kapitals arrangiert.

Der Staat zentralisiert also nicht die Interessen und Aufgaben der herrschenden Klasse (d.h. als Exekutivkomitee), sondern zersplittert und löst sich auf unter dem Druck der unkontrollierbaren globalen Kräfte, die sich über seine repressive Macht hinwegsetzen und seine politische Kohärenz fragmentieren.

Widerstand gegen das Empire oder „die ununterdrückbare Leichtigkeit und Freude, Kommunist zu sein“

Der ultimative Test für jede politische Analyse besteht in ihrer Fähigkeit, ein Programm zu schaffen, das benutzt werden kann, um ihre Ziele und Prinzipien zu verwirklichen. Wie voraussagbar, steht in ‚Empires‘ letztem Abschnitt, der die heutigen Kämpfe und den Weg nach vorn behandelt, die Überheblichkeit ihres Anspruchs auf theoretischen Radikalismus in scharfem Kontrast zur simplen Banalität ihrer Vorschläge.

Laut ‚Empire‘ sind die Kämpfe des modernen Proletariats sehr verschieden von denen, die von 1968 bis zum Fall der Berliner Mauer reichten, „einem internationalen Kampfzyklus, die auf der Ausbreitung und Übersetzung gemeinsamer Ziele in der Revolte der lebendigen Arbeit beruhte“ (S.67).

Laut Negri und Hardt ist an deren Stelle eine neue Kampfbereitschaft entstanden; Beispiele in den 1990er Jahren beinhalten Los Angeles (1992), Chiapas (1994), Frankreich (1995) und Südkorea (1996). Diese Kämpfe würden sich jedoch grundlegend von früheren unterscheiden.

„Jeder dieser Kämpfe hatte Besonderheiten und basierte auf unmittelbaren regionalen Gegebenheiten, so dass aus ihnen auf keinen Fall ein globaler Zusammenhang, eine Kette von Kämpfen werden konnte. Keines dieser Ereignisse löste einen Kampfzyklus aus, weil die darin zum Ausdruck kommenden Wünsche und Bedürfnisse sich nicht in unterschiedliche Kontexte übersetzen ließen. Mit anderen Worten: Die (potenziellen) Revolutionäre in anderen Teilen der Welt hörten die Ereignisse in Peking, Nablus, Los Angeles, Chiapas, Paris oder Seoul nicht, konnten sie nicht unmittelbar als ihre eigenen Kämpfe erkennen“ (S.67).

Aber warum? Diese merkwürdige Behauptung fließt aus dem Standpunkt der Autoren, dass der moderne Kapitalismus, der nicht auf Industrieproduktion fußt, sondern auf immaterieller Arbeit, seinen zyklischen Charakter eingebüßt hat, der auf intern erzeugten Akkumulations- und Überproduktionskrisen beruht. Die objektive Begründung für proletarischen Internationalismus ist verschwunden, weil er in der Existenz von in Nationalstaaten fußenden Arbeiterbewegungen wurzelte. Heutige Kämpfe verbreiten sich wie schlechter Wein.

Aber nicht alles ist verloren! Was diese Auseinandersetzungen an Kommunizierbarkeit eingebüßt haben, gewinnen sie an Intensität, weil sie – die scheinbar isoliert und unverknüpft sind – gezwungen sind, „in einer vertikalen Bewegung sofort die globale Ebene zu berühren“ (S.68). Obwohl der Übelstand der Bauern in Chiapas von einer Geschichte des örtlichen Ausschlusses aus Staat und Gesellschaft Mexikos seinen Ausgang nimmt, stehen sie tatsächlich z.B. unmittelbar mit dem Charakter und der Funktionsweise der NAFTA in Verbindung (S.55). Zudem sind alle erwähnten Kämpfe „gleichzeitig wirtschaftlich, politisch und kulturell“ (d.h. biopolitisch).

Wieder besteht die beste Widerlegung dieser Ansicht der Auseinandersetzungen nach dem Kalten Krieg in jüngsten Entwicklungen in der wirklichen Welt. Es gibt keine Erwähnung oder einen Hinweis auf die Antiglobalisierungs- oder antikapitalistische Bewegung in ‚Empire‘. Das Buch war zweifellos zum Druck gebracht worden, kurz bevor die folgenschweren Ereignisse in Seattle am Ende des 20. Jahrhunderts das Auftauchen dieser globalen Bewegung in das Gedächtnis aller fortschrittlichen Menschen einprägten.

Obwohl in Keimform in verschiedenen Auseinandersetzungen seit Mitte der 1990er gegenwärtig, wurde die antikapitalistische Bewegung in den Demonstrationen gegen das Ministertreffen zu Seattle volljährig und kündigte die Entstehung einer neuen ‚Subjektivität‘ an – einer bewussten, weltweit organisierten Widerstandsbewegung gegen globales Kapital, seine Regierungen und multilateralen Agenturen.

In Anbetracht der Bezugnahme des Buchs auf Chiapas führt ironischerweise eine ganze Reihe der antikapitalistischen Bewegung ihre Wurzeln auf die ersten internationalen Massenversammlungen zurück, die von der EZLN in Mexiko organisiert wurden, um eine internationale, von den Zapatistas inspirierte Widerstandsbewegung zu koordinieren. (33) Diese Tatsache allein straft die Behauptung Negris und Hardts Lügen, das Haupthindernis dieser postmodernen Kämpfe sei „das Fehlen eines erkennbaren gemeinsamen Gegners, gegen den sich die Kämpfe richten“ (S.70).

Die antikapitalistische Bewegung ist auf der Erkenntnis ‚gegründet‘, dass, was die landlosen Bauern von Chiapas, die Arbeiter des französischen Öffentlichen Dienstes und die Südkoreas, die gegen die Sparkonzepte des IWF zu Felde ziehen, gemein haben, ein Kampf gegen das verwobene Netz der Großkonzerne und ihrer Wächter in IWF, Weltbank und WTO wie auch einer Myriade an untergeordneten Pakten und Agenturen ist.

Mehr noch: in dem Maße, wie die Bewegung reift, subjektiv revolutionärer wird, sehen viele den Zusammenhang zwischen Konzernglobalisierung und der neuen Welle imperialistischer Militarisierung und Aggression sowie dem Kampf der PalästinenserInnen gegen zionistische Unterdrückung. (34)

Aber wenn Negri und Hardt den Grad unterschätzen, in dem aktuell Kämpfe miteinander verflochten sind, überschätzen sie auch den, bis zu dem jeder für sich eine ‚unmittelbare‘ und direkte Herausforderung für ‚das virtuelle Zentrum des Empire’ präsentiert. Das folgt natürlich aus ihrem falschen Glauben, dass in der Welt des Empire keine Moderation von Auseinandersetzungen existiert; lokale, wirtschaftliche Missstände und weltweite politische Belange sind unmittelbar kombiniert und es gibt keine Gesellschaftsmechanismen, die bewirken können, den Widerstand zu zerstreuen – schließlich hat die Gewerkschaftsbürokratie an Kraft verloren und Parteien sind verfallen. Von daher führt der philosophische Standpunkt der ‚Unmittelbarkeit‘ zur Anbetung der Spontaneität und willkürlicher Blindheit vor den wirklichen sozialen Apparaten, die Gegenwehr blockieren, entgleisen lassen und ersticken.

Die Bilanz der antikapitalistischen Bewegung widerlegt ‚Empires‘ Aussagen völlig. Sie unterstreicht nur, wie steril seine Unterscheidung zwischen ‚horizontalen‘ und ‚vertikalen‘ Kämpfen ist und erweist seine Todesanzeige für den ‚proletarischen Internationalismus‘ als verfehlt. Fakt ist, dass die Auswirkung der weltweiten kapitalistischen Krisen auf verschiedene Nationalstaaten erste Antriebskraft für Auseinandersetzungen der Arbeiterklasse und Bauern sind und diese durch ein Netzwerk von Gewerkschaften, Parteien und antikapitalistischen Gruppen zusammengehalten werden.

Ein weiterer, noch reaktionärerer Irrtum, dem das Buch verfällt, ist seine Gegnerschaft gegen „falsche und schädliche“ Widerstandsstrategien, die gegen die Resultate der weltweiten Kapitalbewegungen im Namen der Bewahrung des Lokalen, Regionalen oder Nationalen anzugehen sucht. Es argumentiert, das Örtliche sei umgrenzt, partikularistisch und rückständig und das Globale führe nicht immer zum Aufpfropfen von Einförmigkeit und Ausradieren von Unterschieden. Dies zeigt nur zu klar, wie ihre Methode sie verblendet gegen das, was Sache ist.

Sind die Anstrengungen der kolumbianischen Gemeinden gegen die Vorgehensweise des Ölmultis BP nicht fortschrittlich? Sie bekämpfen die Zerstörung ihres Landes und die Beraubung ihrer Umwelt. Sie mögen auch Arbeit in den Anlagen suchen, aber mit gewerkschaftlichen Rechten und anständiger Bezahlung. Es mag stimmen, dass ihre schlimmsten Feinde die örtlichen und nationalen Agenten der kolumbianischen Regierung und ihre besten Verbündeten die ArbeiterInnen in der ausländischen Petroleumindustrie sind, aber das stellt nicht notwendigerweise einen Gegensatz zwischen lokalen und internationalen Kämpfen dar. „Globalisierung von unten“ (d.h. ein Geflecht international gesteuerten Aufbegehrens gegen das weltweite Kapital) und Verteidigung von Rechten vor Ort, selbst in dem Umfang, das Vorgehen des globalen Kapitals an den Örtlichkeiten abhängig von der Anerkennung demokratischer und gewerkschaftlicher Rechte und eingeborener Kulturen zu machen, schließen einander nicht aus. Nur vorurteilsbehaftete PostmodernistInnen wie Negri und Hardt können in der Existenz von Nationalstaaten und Identifizierung mit der Heimat vor Ort ein reaktionäres Hindernis für den Fortschritt entdecken, weil sie ‚Grenzen‘ festlegen.

Die letzten Buchkapitel befassen sich damit, wie das Empire gezwungen werden kann, einer anderen Gesellschaft Vorfahrt zu gewähren. Weil politische Konflikte einander ohne Vermittlungsleistung konfrontieren, verfügt das Empire über größeres Revolutionspotential; die Menge steht in direktem Gegensatz zu ihm. Aber was macht diese Menge aus? Sie ist eine Eigenheit, nicht die Summe aller Bestandteile; sie entsteht infolge kooperativer, unmittelbarer, autonom produzierender Arbeit. (35) Die vielfältige Masse wird zunächst von Arbeitswanderung geprägt. „Mittels Zirkulation macht sich die Menge den Raum wieder zu eigen und konstituiert sich als handelndes Subjekt“ (S.404). (36)

Diese Bewegung ist aber noch keine politische Organisation. Während das Empire Massenmigration braucht, muss es die Wanderarbeiter zu hindern versuchen, politische Legitimation zu erlangen; so kriminalisiert es sie und trachtet, sie zu isolieren. Nationalismus kann gegen sie eingesetzt werden; Unterdrückung ist im Schwange. „Das Handeln der Menge wird zuallererst dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet“ (S.406).

Während die Autoren darauf bestehen, dass man noch nicht sagen könne, welche konkreten Praktiken dies beinhalten werde, glauben sie doch, über ein grobes politisches Programm zu verfügen, das die Herausforderung des Empire zusammenfasst.

Das Buch endet mit der Anregung dreier Forderungen, die vermutlich gegenwärtige Konflikte verknüpfen und den Kapitalismus konfrontieren sollen. Es sind Forderungen, die entworfen wurden, um die Fähigkeit des Empire in Frage zu stellen, die Menge zu segmentieren. Deshalb das Bedürfnis auf das Recht Aller zu wandern und nicht räumlich getrennt zu werden; oder das jeder Person auf gemeinsamen Lohn und von daher die Weigerung, entlang wirtschaftlicher Linien gespalten zu werden; und schließlich das Recht der uneinheitlichen Masse auf gemeinsame Kontrolle über Produktion/Kommunikation und ihre Zusammenarbeit nicht vom Kapital gezügelt und für es in Kraft gesetzt zu sehen. (37)

Die erste Forderung lautet darum „Recht auf eine Weltbürgerschaft“, „dass allen Arbeitern die vollen staatsbürgerlichen Rechte gewährt werden“, und die „auf dem grundlegenden modernen Verfassungsprinzip, das Recht und Arbeit miteinander verbindet“ (S.407) beruht. Noch genauer erweist sie sich als Forderung der Menge, dass „jeder Staat die Migrationen, die für das Kapital nötig sind, rechtlich anerkennt“ (S.407). So erweist sich diese „Weltbürgerschaft“ als – die Forderung nach nationalem Staatsbürgertum.

Die Autoren scheinen die Ironie zu ignorieren. Dass die Postmoderne lediglich in der Lage sein soll, eine ‚modernistische‘ Variante einer Losung der bürgerlichen Revolution auszubrüten, eine Erweiterung des Staatsbürgerkonzepts, ist sicher sehr destruktiv für ihre Sache. Dass sie gezwungen sein sollten, Forderungen an den Nationalstaat zu richten, den sie 400 Seiten lang für vom Empire und dem Weltmarkt überflüssig gemacht bewiesen haben, fordert Gelächter geradezu heraus.

Sie argumentieren aber, dass ‚volles‘ weltweites Bürgerrecht nur bedeutsam ist, wenn Individuen das Recht erlangen, ganz wie sie wollen zu bleiben oder sich an eine andere Stelle zu begeben. Aber dies bedeutet keinen Weltstaat oder setzt ihn voraus; es ist tatsächlich nicht mehr als die traditionelle Parole moderner marxistischer RevolutionärInnen – eine Beendigung der Einwanderungskontrollen in jedem Staat – und eine, das muss gesagt werden, die die immer noch von der Existenz des Nationalstaats ausgeht.

Ihre zweite Forderung ist „das Recht auf einen sozialen Lohn“. Das wird mit Verweis auf das postmoderne Konzept von Zeit gerechtfertigt, demzufolge es keine objektive Zeitmessung in der postmodernen Welt gebe – ein ‚Vor‘ und ein ‚Nach‘. Zeit ist das Eigentum der kollektiven Erfahrung der differenzierten Menge. Vergangenheit und Zukunft sind in eine ewige Gegenwart hinein aufgelöst worden, die in der Erfahrung der Menge besteht. Folglich gibt es keinen Arbeitszeitmaßstab, noch sind die Unterschiede zwischen Arbeitstypen aussagekräftig (innerhalb oder außerhalb der Fabrik, produktiv oder unproduktiv). Alles was bleibt, ist eine gemeinsame Zusammenarbeit unter der Vorherrschaft des Empire.

„In dem Maße, in dem die Arbeit die Fabrikgebäude verlässt, wird es immer schwieriger, an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten und somit, die Produktionszeit von der Reproduktionszeit bzw. die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen. Auf dem Feld biopolitischer Produktion gibt es keine Stechuhren; das Proletariat produziert in seiner gesamten Gemeinsamkeit überall den ganzen Tag lang“ (S.409).

Auf dieser Grundlage erhebt sich der Ruf „nach einem sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle“.

Die mögliche Kette reaktionärer Schlussfolgerungen, die aus dieser absurden Sophisterei abgeleitet werden kann, ist so grenzenlos wie die mutmaßliche Verfassung des Empire. Kein Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit? Nun, ein paar Überstunden in der Fabrik oder im Schacht sind dann eine feine Sache? Keine Unterschiede zwischen irgendwelchen Arten konkreter Arbeit? Gleicher Lohn für Alle – aber wer soll in der existierenden Welt über dessen Höhe entscheiden? Wie wird sie berechnet, wenn es keinen Wertmaßstab gibt? Bedeutet das Lohneinbußen für FacharbeiterInnen? Trifft das auf parasitäre Aktionäre wie auf jeden anderen zu? Das wäre alles lächerlich, ginge es nicht um die Tatsache, dass die Leute etwas zu essen haben müssen.

Das bringt uns zur nächsten Forderung – dem „Recht auf Wiederaneignung“. (38) Das bedeutet „freien Zugang zu und Kontrolle über“ die Produktionsmittel. (39) Es ist „autonome Eigenproduktion“ (S.413). Negri und Hardt sagen uns nicht, wie diese Autonomie von denen, die gegenwärtig die Produktionsmittel kontrollieren und besitzen, erreicht und dann vor Angriffen verteidigt werden soll. Sie sind sich der Existenz der Unterdrückungskräfte und über deren Ruf im Klaren, schweigen aber dazu, wie die Menge Stellung zu ihnen beziehen, geschweige denn sie besiegen soll.

Später erzählen sie uns: „Die Produktionsweise der Menge eignet sich den Reichtum des Kapitals wieder an“. In der Moderne war Privateigentum oftmals über Arbeit legitimiert, aber diese Gleichung wird, wenn sie denn überhaupt jemals stimmte, heute allmählich völlig annulliert (S.417). Bedeutet dies, Enteignung vorzuschlagen? Denn Kontrolle über den Produktionsprozess „annulliert“ nicht aus sich selbst heraus „den Eigentumstitel“. Dafür wird eine alternative Macht gebraucht – ein Staat -, der den existierenden Staat, der das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln anerkennt und erzwingt, gewaltsam umstürzen kann. Am Ende des Buchs beobachten die Autoren: „Gewiss muss ein Augenblick kommen, an dem Wiederaneignung und Selbstorganisation eine Schwelle erreichen und zu einem realen Ereignis werden“ (S.417) und „An diesem Punkt hört die moderne Republik auf zu existieren und das postmoderne posse (ital.: Können, Vermögen; d. Red.) hebt sich“ (S.417). Sie können uns aber nicht weismachen, wie dies „reale Ereignis“ aussehen wird oder wie das in einer „nahtlosen Welt“, in der Zivilgesellschaft und Staat schon miteinander verquickt sind, überhaupt passieren kann.

Am Ende kann keine dieser Forderungen das kapitalistische System in Frage stellen. Marxisten unterstützen das Recht auf Bewegungsfreiheit der lebendigen Arbeit und auf Einbürgerung, aber keines sprengt die Grundlagen des Kapitalismus; tatsächlich finden beide Unterstützer bei Teilen der Kapitalistenklasse. (40) Nur das Recht auf Produktionskontrolle stellt einen lebenswichtigen Aspekt von Kapitalismus in Frage und selbst dies wird unzureichend aufgestellt.

Schließlich reflektieren Negri und Hardt, wie die Masse ein gemeinsames Bewusstsein entwickelt, so dass diese sich über ihren Auftrag der Vernichtung des Empire klar wird. An einem Punkt stellen sie die Frage so:

„Wie kann produktive Arbeit, zerstreut in mannigfaltigen Netzwerken, einen Mittelpunkt finden? Wie kann die materielle und immaterielle Produktion der Hirne und Körper der Menge vernünftig werden und eine Richtung nehmen, genauer wie kann das Bemühen, die Distanz zwischen der sich zum Subjekt organisierenden Menge und der Konstitution eines demokratischen politischen Dispositives zu überbrücken, seinen Fürsten finden?“ (S.78) Ihre Antwort: „Die Form, in der das Politische heute seinen Ausdruck finden kann, ist jedoch überhaupt nicht klar“ (S.78).

Offensichtlich unbeeindruckt von der Unfruchtbarkeit ihrer ganzen Analyse sind sie nichtsdestotrotz einer Sache sicher – welche Form diese Subjektivität nicht annehmen darf:

„Dieses Werden kann sich einzig und allein in der Erfahrung und im Experimentieren der Menge zeigen. Damit hat sich die Macht der Dialektik, nach der sich das Kollektiv eher durch Vermittlung denn durch Konstitution herausbildet, endgültig aufgelöst“ (S.412). Kurz, es kann keine politische Partei der buntscheckigen Menge oder innerhalb ihrer geben, die sie oder Schichten von ihr (z.B. Avantgarden) repräsentiert.

Anstelle von Räten, Parteien und Massengewerkschaften der Arbeiterklasse zu verschiedenen Zeitabschnitten im Kapitalismus haben wir das ‚posse‘. „Posse bildet den Standpunkt, von dem aus wir die Menge als singuläre Subjektivität am besten erfassen können: posse konstituiert ihre Produktionsweise und ihr Sein“ (S.415). Sie fahren fort: „…die neue Militanz wiederholt nicht einfach die Organisationsformeln der alten revolutionären Arbeiterklasse. Heute kann der Militante nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, repräsentativ zu handeln, nicht einmal mehr für die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse der Ausgebeuteten. Revolutionäre politische Militanz muss heute im Gegenteil das wiederentdecken, was schon seit jeher die ihre eigene Form war: nicht repräsentative, sondern konstituierende Tätigkeit“ (S.419).

Heute gibt es kein Außen, nur ein Innen: die Welt „kennt nur ein Innen, eine lebendig und unvermeidliche Beteiligung an den gesellschaftlichen Strukturen, die sich nicht mehr transzendieren lassen“ (S.419/420).

Vielmehr: „Das einzige Ereignis, auf das wir noch immer warten, ist dasjenige der Errichtung oder genauer: der revolutionären Erhebung einer mächtigen Organisation. (…) und somit warten wir nur noch darauf, dass die politische Entwicklung des posse zur Reife gelangt. Feste Modelle haben wir für dieses Ereignis nicht zu bieten. Erst die Menge wird im praktischen Experiment diese Modelle bereitstellen und darüber bestimmen, wann und wie das Mögliche Wirklichkeit wird“ (S.418).

Wenigstens an diesem Punkt sind sie konsequent. Die ganze Stoßrichtung ihres Buchs besteht exakt darin, aufzuweisen, dass es keine Generalstrategie geben kann, innerhalb derer der Kampf gelenkt werden könne. Das würde bedeuten, sich selbst über die Massen zu ‚erheben‘, sie folglich im Grunde genommen zu unterdrücken und zu übersehen, den Kampf auf einem innewohnenden Niveau innerhalb der Massen selbst steuern zu müssen.

Widerspruchsfreiheit ist in diesem Fall aber keine Tugend, da Negri und Hardt uns mit nichts als Spontaneismus und Abenteurertum zurücklassen. Im modernen globalisierten Kapitalismus ist die Arbeiterschaft im Gegensatz zur Annahme der Autoren entlang nationalen, politischen, ethnischen und anderen Linien gespalten. Diese ‚Riefelung‘ ist mit dem ‚Abschluss des Weltmarktes‘ nicht verschwunden. Der Zweck einer internationalen Partei der Revolution besteht darin, ein wissenschaftliches Programm zu entwickeln, dass die wirklichen Interessen der Gesamtklasse verkörpert, das kollektive Gedächtnis der Klasse darstellt und Lehren aus ihren Kämpfen zieht. Sie systematisiert dies in einer Aktionsanleitung für die Erringung der Staatsmacht. Es ist eine große Verleumdung von Anarchisten und anderen, zu behaupten, eine revolutionäre Partei stelle sich gegen die Arbeiterklasse, sie sei ein ‚Äußeres‘. Parteien werden aus der Arbeiterschaft gebildet, ihre Kader sind Teil von ihr und leben unter ihr.

Wieder entdecken Negri und Hardt nur einzelne Übereinstimmungen oder formale Gegensätze und Hass auf Schranken, die inhärent unterdrückerisch sind. Sie können nicht in Betracht ziehen, wie Mitglieder einer revolutionären Partei zu ein und derselben Zeit sowohl Teil der Arbeiterviertel, in denen sie leben, wie Repräsentanten ihrer revolutionären Minderheit sind. Sie können nicht erkennen, wie eine Partei schöpferisch zu laufenden Kämpfen beitragen und doch gleichzeitig die Lehren der Vergangenheit verinnerlichen wie die Hauptwegweiser in eine revolutionäre Zukunft aufstellen kann.

MarxistInnen sind über Schranken zwischen Avantgarde und Masse nicht erschrocken, weil sie ungleich den Postmodernisten nichts als fixiert, unabänderlich begreifen. Aus diesem Grund sehen sie sich auch nicht als repressiv. Es gibt eine Demarkationslinie zwischen Vorhut und Massen, aber eine schöpferischer Spannung. Alles, was Negri und Hardt im Gegensatz zu bieten haben, ist platte, stromlinienförmige Unmittelbarkeit.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) „Entsprechend können wir heute sehen, wie das Empire die grausamen Regime moderner Macht wegwischt“ (S.57).

(2) „…sollten wir aber gleich zu Beginn ausschließen…(die Auffassung) die Ordnung sei das Diktat einer einzelnen Macht und folge jenseits globaler Kräfteverhältnisse einer einzigen zentralen Rationalität, welche die verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsphasen gemäß ihrem bewussten und alles überschauenden Plan lenkt…“ (S.19).

(3) Auch von der Zwischenkriegszeit 1918-38 gilt, „dass sie (die USA) vielmehr zu Hause wie in der Ferne unmittelbar imperialistische Projekte verfolgten“ (S.188).

(4) Dieser juristische Begriff von Empire umfasst „den gesamten Raum dessen, was es als Zivilisation betrachtet“ und präsentiert diesen Begriff als andauernd und ewig. Der Einsatz militärischer Gewalt, um imperiale Rechte durchzusetzen, wird ebenfalls durch eine ganze Reihe neuer Charakteristika gekennzeichnet. Diese werden durch Negri und Hardt im Begriff „Interventionen“ zusammengefasst. Doch diese Interventionen sind nicht solche „in rechtlich unabhängige Territorien, sondern es sind Maßnahmen einer herrschenden Ordnung der Produktion und Kommunikation innerhalb einer vereinheitlichten Welt“ (S.49).

(5) „So wie in den alten Tagen der Römer sich nicht unwürdig behandeln ließ, wenn er sagen konnte Civis Romanum sum, so soll sich jeder britische Bürger, in welchem Land er auch sei, sicher fühlen, dass das wachsame Auge und der starke Arm Englands ihn gegen jede Ungerechtigkeit und falsche Behandlung schützen wird“ (Lord Palmerston, Juni 1850).

(6) Tom Berry ist ein führender Vertreter des ‚Interhemispheric Resource Center (IRC)‘ und Co-Direktor von ‚Foreign Policy in Focus‘.

(7) Die Autoren sind sich bewusst, dass in der Zeit nach dem Kalten Krieg „Militärinterventionen immer seltener auf Entscheidungen innerhalb der alten internationalen Ordnung oder sogar von UNO-Strukturen zurückzuführen sind. Häufiger werden sie einseitig von den USA diktiert, die sich den ersten Einsatz vorbehalten und in der Folge ihre Verbündeten um Mitwirkung in einem Prozess bitten, der dem aktuellen Feind … entgegentreten soll“ (S.51).

(8) Ironischerweise kontrastiert ihr Lob für die „gesunde und klare Abneigung gegenüber dem Pfäffischen und den starren Hierarchien, die der kapitalistischen Gesellschaft vorausgingen“ mit ihrer späteren Denunzierung des Marx’schen ‚Eurozentrismus‘ in seinen Schriften zu Indien!

(9) Die Autoren behaupten, dass „Zentrum und Peripherie, Norden und Süden nicht länger eine internationale Ordnung bilden“ und dass die globalen Ungleichheiten zwischen Ländern „nicht mehr grundsätzlicher Art, sondern solche der Quantität“ seien (S.345 f.). Dies hat wesentliche Auswirkungen für die Frage der antiimperialistischen Strategie. Oder wie es Juan Chingo und Gustavo Dunga in ihrer Rezension des Buches darlegen: „Negris und Hardts positivistische Operation, zusammen mit ihrer Ablehnung der Dialektik, verwischt die tatsächliche Struktur des Weltsystems und der daraus fließenden Widersprüche, d.h. die verschiedenen Hierarchien von Ländern innerhalb der kapitalistischen Welt sowohl im Zentrum wie in der Peripherie, dem Kampf um Hegemonie zwischen rivalisierenden Mächten im Zentrum, die weltweite Scheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten Ländern und die Verwobenheit der Arbeiterkämpfe und derer der nichtbürgerlichen Klassen in letzteren mit denen der Massen in den imperialistischen Kernländern“.

(10) Macht „durchdringt das Bewusstsein und den Körper der Individuen“ (S.39).

(11) „Maschinen produzieren. Das permanente Funktionieren sozialer Maschinen, ihre verschiedenen Apparate und Funktionszusammenhänge produzieren, gemeinsam mit den Subjekten und Objekten, die sie konstituieren, die Welt“ (S.43).

(12) „Sprache, indem sie kommuniziert, produziert Waren und vor allem Subjektivitäten, setzt sie in Beziehung, gibt ihnen Ordnung“ (S.47).

(13) Dies hat eine lange Tradition in Italien. Lucio Colletti versuchte in den 1960ern und 1970ern, den Marxismus von seinen Hegelianischen ‚Vulgaritäten‘ zu ‚retten‘, und argumentierte wie Negri für eine Rückkehr zu Spinoza.

(14) Als Teil ihres Angriffs auf die Dialektik versuchen die Autoren bewusst, die Kategorien durcheinander zu bringen. Sie verstehen das Buch auch als postmodernistische Analyse im Feld der internationalen Beziehungen. Während ‚moderne‘ Theorien die Macht von Nationalstaaten, staatlich legitimierte Gewalt, territoriale Integrität etc. betonen würden, verweigert der Postmodernismus den Fokus auf Grenzen, weil dies Macht und Unterdrückung unterstützen oder legitimieren würde.

(15) Sie leugnen sogar explizit, dass Strategie und Taktik in einer postmodernen Welt noch Sinn machen (siehe S.70 f.).

(16) Eine ähnliche Idee wird durch Castells vertreten, dem Cheftheoretiker derjenigen, die uns im ‚Informationszeitalter‘ wähnen. Er behauptet dass die ’neue Ökonomie‘ auf drei Säulen beruhe: (i) Information anstelle von Industrie, (ii) Globalisierung anstelle von Inter-Nationalisierung, (iii) einer organisatorischen Form basierend auf Netzwerken anstelle des Fließbands des Fordismus. Castells erklärt den Zusammenhang von Globalisierung und Informationstechnologie folgendermaßen:

„Eine Weltwirtschaft – d.h. eine Ökonomie, in der Kapital rund um den Globus akkumuliert wird – gibt es im Westen mindestens seit dem sechzehnten Jahrhundert, wie uns Braudel und Wallerstein gelehrt haben. Eine globale Ökonomie ist etwas anderes: es ist eine Ökonomie mit der Fähigkeit als Einheit in Realzeit, oder in gesetzter Zeit, auf planetarischer Ebene zu arbeiten. Während Kapitalismus durch seine ununterbrochene Expansion, sein dauerndes Überwinden von Grenzen in Raum und Zeit gekennzeichnet ist, tritt erst am Ende des 20. Jahrhunderts so etwas wie eine wirklich globale Ökonomie auf, auf der Grundlage einer Infrastruktur von Informations- und Kommunikationstechnologien und mit der entscheidenden Hilfe einer Politik der Deregulierung und Liberalisierung, wie sie von Regierungen und internationalen Institutionen durchgeführt wird… Aber nicht alles ist global in der Wirtschaft: tatsächlich wird ein Großteil der Produktion, der Beschäftigung, der Firmen lokal und regional bleiben… Aber wir können von einer globalen Ökonomie sprechen, weil die Ökonomien rund um den Globus von der Performance ihres globalisierten Kerns abhängen. Dieser globalisierte Kern umfasst Finanzmärkte, internationalen Handel, transnationale Produktion und bis zu einem gewissen Grad, Wissenschaft und Technologie und spezialisierte Arbeit“ (M. Castells, ‚The Rise of the Network Society‘, 2. Auflage, Blackwell Publishers, 2000, S.101; aus dem englischen Original übersetzt, Red.).

(17) Ein Großteil des Beschäftigungsanstiegs im Servicesektor kann erklärt werden aus der steigenden Beteiligung von Frauen an den Belegschaften. Früher im Haushalt ausgeführte Aufgaben werden heute oft als Geschäft betrieben. Die amtlichen, geschlechtsblinden Statistiken jedoch nehmen keine Notiz von der Hausarbeit; sie registrieren nur die Aktivität im Marktbereich. So neigen diese Statistiken zu einer Überschätzung des Wachstums der Dienstleistungsbranchen.

Während in den USA die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich von 58 % 1960 auf 76 % 2000 angestiegen ist und der Industriesektor von 35 % auf 22 % abnahm, stieg der Anteil von Frauen an der Erwerbstätigenbevölkerung im gleichen Zeitraum von 32 % auf 47 %, was das Gros an Zuwachs im Dienstleistungsgewerbe erklärt.

(18) In den USA ist der Anteil von Handel, Finanzen und Versicherungen an der Gesamtbeschäftigung ähnlich von 22 % im Jahr 1960 auf 32 % im Jahr 2000 angestiegen.

(19) In Schweden ist eine Untersuchung des Unternehmerverbandes zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, nämlich dass sich der Anteil der Industrie am BIP von ca. 50 % zwischen Ende der 1960er Jahre und 1990 nicht verändert hat, wenn der Bereich der industriellen Dienstleistungen miteinbezogen wird. Dies wird erörtert bei L. Magnusson, ‚Den tredje industriella revolutionen‘, 2000, S.26).

(20) Wäre dies der Fall, würden Exporte industrieller Produkte aus der „Dritten“ in die „Erste“ Welt tendenziell die andere Richtung übersteigen, was bei weitem nicht zutrifft, obwohl der Industriegüteranteil an allen Ausfuhrprodukten aus der „Dritten“ Welt gestiegen ist.

(21) In Bezug auf die USA hat die Behauptung allerdings Relevanz, da sie fast doppelt soviel Waren einführt wie ausführt, während sie noch bis in die 1970er hinein Nettoexporteur war. Im Jahr 2000 machte das Handelsbilanzdefizit 5 % ihres BIP aus, was heißt, dass 6-7 Mill. Menschen außerhalb der USA dafür arbeiteten, dieses Land mit Industriegütern zu versorgen. Dies ist eher ein Anzeichen für die Tendenz zur Ausbreitung des Coupon-Schneidens in der vorherrschenden imperialistischen Macht. Dies erklärt auch z.T., warum Länder wie Japan und die BRD mit Handelsüberschüssen einen weitaus größeren industriellen Sektor als die USA aufweisen.

(22) Vorwort zur ‚Kritik der politischen Ökonomie‘, MEW 13, S. 9

(23) Vgl. Charlie Post: „Empire and Revolution“, in International Viewpoint, Juni 2002, S.32. Laut Weltbank gab es 1997 weltweit 2,8 Mrd. Lohnabhängige, davon 550 Mill. in der Industrie.

(24) Hier besteht eine klare Analogie zwischen Hardts und Negris Anschauung vom Übergang des Imperialismus zum Empire einerseits und Bernsteins Haltung zum Übergang vom Konkurrenzkapitalismus zum Imperialismus vor 100 Jahren. Bernstein dachte, dass die dominanten Tendenzen im Kapitalismus – Monopolisierung, Dominanz des Finanzkapitals und imperialistischer Expansionismus – schließlich zur Fähigkeit des Staates, Krisen zu regulieren und vorzubeugen, führen würden.

(25) Sie behaupten sogar, dass die „kapitalistische Krise nicht eine Funktion der Kapitaldynamik selbst“ ist, „ihre Ursache ist unmittelbar der proletarische Kampf“ (S.272).

(26) Dies geht auch klar aus folgendem Interview mit Hardt hervor: „Die Unterscheidung Reform – Revolution ist nicht sehr nützlich, vielleicht gebrauchen wir deswegen das Wort (Revolution) nicht. Eine Befreiung muß gleichzeitig einen revolutionären Prozess beinhalten, aber es ist nicht möglich, vorherzusagen, wie ein solcher aussehen wird, etwas, das nur im Nachhinein verständlich sein wird.“

(27) Craib, I.: „Modern Social Theory“, 2. Auflage, Harvester Wheatsheaf, S.183.

(28) Castells: „The Power of Identity“, Blackwell Publishers, S.359-362. Castells schreibt außerdem „Die Arbeiterbewegung scheint z.B. historisch überlebt zu sein…sie scheint nicht fähig von sich und aus sich heraus eine Übereinstimmung mit einem Projekt zu erzeugen, das in der Lage ist, soziale Kontrolle zu rekonstruieren und soziale Institutionen im Informationszeitalter wiederaufzubauen. Arbeitermilitante werden zweifellos Teil einer neuen transformatorischen sozialen Dynamik sein. Aber ich bin mir weniger sicher, dass die Gewerkschaften dies sein werden.

Politische Parteien haben auch ihr Potenzial als autonome Agenten der sozialen Veränderung erschöpft, sind befangen in der Logik der Informationspolitik und ihrem Hauptfundament, den Institutionen des Nationalstaates, und haben viel von ihrer Relevanz eingebüßt…“

(29) „Eine Marx’sche Staatstheorie lässt sich demnach erst schreiben, wenn alle gesetzten Schranken überwunden sind und Staat und Kapital tatsächlich zusammenfallen“ (S.248).

(30) In dieser Hinsicht beweist Joyce Kolko mehr Realitätssinn als die Globalisierer, indem sie schreibt: „Zum einen ziehen sich Staaten aus der direkten Beteiligung an der Ökonomie zurück, zugleich aber zeigen sie mehr Engagement. Sie halten sich in Bereitschaft, um die größten Konzerne aus drohender Finanzkrise zu retten. Die Umstrukturierungspläne des IWF, die Politik der massiven Einmischung in die Ökonomien der gering entwickelten Länder (LDCs) haben nur das Chaos und das Elend in diesen Ländern gefördert.“

(31) ‚The Economist‘, 14. September 2002.

(32) Auch der Euro dient als Regionalwährung eines entstehenden alleuropäischen Staates, und sein Erfolg ist ein weiterer Baustein für Europa auf dem Weg zu einem erweiterten Nationalstaat.

(33) Siehe den Abschnitt zu Peoples Global Action in Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg, S.34 ff., Verlag global red, Berlin 2001.

(34) Dies kann man an der persönlichen und politischen Überschneidung und gegenseitigen Befruchtung zwischen Teilen der Bewegung sehen; viele Menschen in der Internationalen Solidaritätsbewegung für Palästina (ISM) sind aktiv in den größeren antikapitalistischen Mobilisierungen der letzten Jahre von Prag bis Genua.

(35) Sie schreiben: Die Menge hat sich durch die Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts hindurch entwickelt. „Jede der Revolutionen des 20. Jahrhunderts hat, ungeachtet aller Niederlagen, die Verhältnisse im Klassenkonflikt vorwärts getrieben und verändert, indem sie die Bedingungen für eine neue politische Subjektivität schuf“ (S.401). Nur durch Behandlung dieser Subjekthaftigkeit als außerhalb von Zeit und Raum angesiedelt können Negri und Hardt zu dieser absurden Schlussfolgerung gelangen. Das gegenwärtige Schicksal der Arbeiterbewegungen (Tod, Exil, Repression) ist für Negri und Hardt nicht in der Lage, diese Subjektivität umzukehren. Für Marxisten kann das Ausmaß an Klassenbewusstsein (Subjektivität) wesentlich an Wachstum und Mitgliedschaft von Organisationen des Kampfs und der Selbstbefreiung ermessen werden – wie auch an deren Fehlen, Bürokratisierung und Zerstörung. Nur für Idealisten kann das Voranschreiten politischer Subjektivität durch die Tatsache der Streitgefechte und das Anschwellen kooperativer Arbeit garantiert sein. Ihre Position erreicht den Gipfel an Absurdität, wenn sie argumentieren, dass die ‚Schwäche‘ des US-Proletariats, gemessen an schwachen Gewerkschaften und politischen Parteien, eine Fata Morgana sei. „Gegen die verbreitete Ansicht, wonach das Proletariat in den USA schwach ist, weil es im Vergleich zu Europa und anderswo weniger in Partei und Gewerkschaft organisiert ist, sollten wir es vielleicht gerade aus diesen Gründen als stark ansehen“ (S.279). Es ist die widerspenstige Natur der amerikanischen Arbeiter, besonders derjenigen, die „sich aktiv die Arbeit verweigerten“ (S.278), die die wirkliche Gefahr für den US-Kapitalismus darstellt!

(36) „Reisepässe und andere Dokumente werden unsere Bewegungen über Grenzen hinweg immer weniger regulieren können“ (S.404).

(37) Sie schließen darunter auch Form des nicht auf direkter Opposition beruhenden Kampfs ein, also eine Art Bemühen durch Verweigerung – Ablehnung von Macht und Gehorsam, nicht nur von Arbeit und Autorität. Sie nennen das „Exodus“.

(38) Wie die anderen auch ist sie mit dem Ausdruck Anerkennung eines ‚Rechts‘ gestellt. Aber wer garantiert dieses Recht und erkennt es an? Wie die ‚philosophische‘ Ablehnung der Realität des Nationalstaats nichts wert ist, wenn es zur Forderung nach Bürgerrecht kommt, so ergeht es auch dem früheren Beharren darauf, der Staat habe sich in die Zivilgesellschaft aufgelöst; es wird gleichfalls aufgegeben, um vom Staat inmitten aus der Zivilgesellschaft heraus etwas zu verlangen.

(39) „Sozialisten und Kommunisten haben immer wieder gefordert, das Proletariat müsse freien Zugang zu und Kontrolle über die für die Produktion verwendeten Maschinen und Materialien haben. Im Kontext immaterieller und biopolitischer Erzeugung erscheint diese traditionelle Losung jedoch in neuer Form. … In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben – denn dies sind einige der wichtigsten biopolitischen Produktionsmittel. … Das Recht auf Wiederaneignung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion“ (S.413).

(40) Cisco Systems, Oracle und Konsorten im Silicon Valley haben auf den US-Kongress jahrelang Druck ausgeübt, die Einwanderungskontrollen für die USA zu lockern, um ihren Mangel an qualifizierter Arbeitskraft zu überwinden.