Zehntausende bei LQM-Bewegung für Arbeiter:innenrechte – Vorwärts zu einer Arbeiter:innenpartei in Pakistan!

Khaliq Ahmad, Infomail 1228, 24. Juli 2023

Die pakistanische Regierung hat die gesamte Last auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Stadt und Land abgewälzt, um das Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederzubeleben. Die Verbraucher:innenpreisinflation in Pakistan hat derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht. Nach offiziellen Angaben stieg sie im März auf 35,4 %, was vor allem auf die in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Strom, Getränke und Transport zurückzuführen ist.

Die Lohnerhöhungen im jüngsten Haushalt liegen unter dem aktuellen Inflationsniveau,

Die Unternehmen in der Privatwirtschaft weigern sich sogar, diese zu erhöhen, und die Arbeiter:innen müssen jedes Jahr einen organisierten Kampf führen, um wenigstens ihre Verluste auszugleichen. Das jüngste IWF-Abkommen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar wird die Situation für die Lohnabhängingen, die Bäuer:innen und die Armen noch verschlimmern, da es Kürzungen der Subventionen für grundlegende Konsumgüter, weitere Privatisierungen und Senkungen der öffentlichen Ausgaben fordert.

Kampagne

Als Reaktion auf diese Situation startete die LQM (Labour Qaumi Movement) Anfang Juni eine Kampagne für höhere Löhne und zu den Problemen am Arbeitsplatz. Vor der Konferenz für Rechte der arbeitenden Bevölkerung am 18. Juni fanden zehn Kundgebungen und zahlreiche Versammlungen unter freiem Himmel in den Arbeiter:innenvierteln und an Arbeitsplätzen statt.

Im Rahmen dieser Kampagne sprach die LQM Zehntausende von Arbeiter:innen an und organisierte sie, darunter eine große Zahl von Heimarbeiter:innen. Auf den Kundgebungen und an den Straßenecken sprachen sie über die Probleme, vor denen Millionen stehen. Sie luden sie ein, sich der LQM anzuschließen, um gemeinsam gegen Inflation, Kürzungen und das IWF-Paket zu kämpfen und zu erklären, warum nicht nur Gewerkschaften und lokale Aktionskomitees braucht, sondern auch eine eigene Partei der Arbeiter:innenklasse. Eine Partei, die sich in die täglichen Kämpfe einmischt, die Wahlen nutzt, um die unabhängige Stimme der Lohnabhängigen zu erheben, und die ihre gesamte Tätigkeit mit dem Kampf gegen das System verbindet. Die Haltung der Arbeiter:Innen gegenüber dem Aufbau der LQM und ihrer 2022 gestarteten Initiative zum Aufbau einer Partei der Arbeiter:innenklasse ist sehr positiv.

Diese Kampagne ist insofern von Bedeutung, als sie sich nicht nur auf eine für Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Fragen der Politik und der Partei der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund rückt, mit denen sie  seit Jahrzehnten konfrontiert ist. In Ermangelung einer nennenswerten politischen Organisation, die unter den Lohnabhängigen verwurzelt ist, waren die Klasse und ihre potenziellen Verbündeten – Kleinbäuer:innen, städtische und ländliche Arme, Student:innen und Unterdrückte – den verschiedenen Parteien der herrschenden Klasse oder des Kleinbürger:innentums politisch untergeordnet. Diese politische Schwäche wird in Zeiten der Krise und intensiver Klassenkämpfe besonders deutlich.

Die LQM hat mit dem Aufbau einer solchen Partei begonnen und kämpft auf der Grundlage eines Programms mit Forderungen der Arbeiter:innenklasse. Sie wehrt sich gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, in der die Regierung im Rahmen des IWF-Programms der Arbeiter:innenklasse und den Armen in Stadt und Land alle Lasten aufgebürdet hat. Die unterdrückten Nationen, die Frauen und die Studierenden sind hiervon besonders betroffen. Und gleichzeitig wächst der obszöne Reichtum der pakistanischen herrschenden Klasse.

Nach Angaben der Behörde für nationale menschliche Entwicklung schüttet die Regierung jährlich 17,4 Milliarden US-Dollar an die Elite aus. Darunter fallen nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich Boni und Einkommen für hochrangige Beamt:innen. Dazu gehören auch Vergünstigungen und Subventionen für die landbesitzende Elite. Exporthändler:innen und Industrielle erhalten ebenfalls mehr Unterstützung im Namen der nationalen Wirtschaft. Gleichzeitig setzt die Regierung die Masse der Bevölkerung unter Druck und belastet es, für das es schwierig geworden ist, zwei Mahlzeiten am Tag zu bekommen.

Konferenz

Tausende von Arbeiter:innen aus ganz Faisalabad nahmen an der Konferenz vom 18. Juni unter der Schirmherrschaft der LQM teil und hissten mit großen Märschen und Kundgebungen rote Fahnen. Auch eine große Zahl von proletarischen Frauen beteiligte sich an dieser Konferenz. Neben den Lohnabhängigen aus Faisalabad kamen auch Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften, linker Organisationen und Studierendenorganisationen aus dem ganzen Land.

Auf der Konferenz für Rechte der Arbeiter:innen sagten die Redner:innen, es sei klar, dass die Ursache für die bestehende Krise und die Probleme die Prioritäten der herrschenden Klasse seien. Sie benutzen ihren Staat für ihr kapitalistisches System und bieten keine Lösung für die Arbeiter:innen und die Armen. Unter diesen Umständen ist die LQM die einzige Partei, die aus der Arbeiter:innenklasse besteht, die in ihr und bei den Armen verwurzelt ist. Sie sind das Rückgrat des Kampfes, um dieses auf Ausbeutung und Zwang basierende System zu beenden. Aber sie müssen vernetzt, organisiert und politisch geeint werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse anzuführen.

Der Kampf der LQM, so erklärten die Redner:innen, richtet sich gegen das kapitalistische System, und ihr wichtigstes Kampfziel ist die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innenklasse. Deshalb ist die LQM mit keiner kapitalistischen Partei verbunden, organisatorisch und politisch unabhängig und eine Partei des Klassenkampfes. Und der Redner fuhr fort: „Wir hegen keine Hoffnung in dieses Parlament. Der Zweck der Teilnahme an der Wahl wird sein, den Arbeiter:innenkampf zu verstärken, Themen aus der Arbeitswelt ins Parlament zu bringen und den Kampf außerhalb des Parlaments damit zu verbinden und für die Macht der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen“. Die LQM unterscheidet sich auch deshalb von anderen Parteien, weil sie sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und die Mehrheit ihrer Führung aus Arbeiter:innen besteht. Sie sind stolz darauf, dass dies ihre Partei ist – also schließt euch ihr an und organisiert einen gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung dieses Systems!

Forderungen

Auf der Arbeitsrechtskonferenz wurde angekündigt, den Kampf um die folgenden Forderungen auf nationaler Ebene zu organisieren und alle anderen Gewerkschaften und Arbeiter:innenorganisationen aufzurufen, sich dem gemeinsamen Ringen gegen Preiserhöhungen, das IWF-Paket und für die Grundbedürfnisse der Arbeiter:innenklasse anzuschließen.

  • Senkung der Preise für Strom, Gas und Benzin. Mehl, Fett, Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst sollten billig gemacht und Preiskontrollausschüsse eingerichtet werden.

  • Der Entwicklungshaushalt sollte durch Besteuerung der Reichen und Kapitalist:innen erhöht werden, damit die grundlegende Infrastruktur aufgebaut werden kann.

  • Die Gehälter sollten im Verhältnis zur Inflation erhöht werden.

  • Das Akkord- und Vertragssystem sollte abgeschafft werden. Das Tagelohnvertragssystem sollte beseitigt und die Arbeiter:innen regulär eingestellt werden.

  • Arbeiter:innen sollten ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Lohn und die gleiche wirtschaftliche und soziale Sicherheit erhalten.

  • Die Umsetzung des Mindestlohns sollte sichergestellt werden.

  • Jede/r Arbeiter:in sollte bei der Sozialversicherung und der Altersrentenanstalt gemeldet sein.

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung und Behandlung sollten bereitgestellt werden.

  • Arbeit und Wohnung sollten garantiert, Arbeitslosengeld sollte allen Arbeitslosen gewährt werden.

  • Es sollten Sozialwohnungen gebaut werden, in denen alle grundlegenden Einrichtungen vorhanden sind.

  • Die gewerkschaftliche Organisierung ist das Recht der Arbeiter:innen und alle diesbezüglichen Beschränkungen sollten aufgehoben werden, die Studierendengewerkschaft wieder operieren dürfen.

  • Es sollten Agrarreformen durchgeführt und den Bauern und Bäuerinnen billiges Saatgut, Dünger, Strom und Wasser zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Ressourcen sollten anerkannt werden.

  • Die Schulden sollten gestrichen werden.

Solche Forderungen können nur durch einen Massenkampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung, durch Massenstreiks, Besetzungen und Massenkundgebungen durchgesetzt werden. Und das kann nicht nur durch Absprachen zwischen den Führer:innen der Organisationen entstehen, sondern muss von unten durch Massenkundgebungen, wie wir sie in Faisalabad gesehen haben, durch die Wahl von Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen, in den Arbeiter:innenbezirken oder auf dem Lande erfolgen, die sich zu einer nationalen Kampfkoordination zusammenschließen. Eine solche Massenbewegung muss demokratisch, aber auch effektiv sein und sich auf einen Aktionsplan für die Bewegung einigen. Und sie muss auch Organe der Selbstverteidigung schaffen, um sich gegen Provokationen zu schützen.

Sollte sich eine solche Bewegung etablieren und Forderungen durchsetzen, wäre das natürlich nicht das Ende des Kampfes. Die herrschende Klasse und ihr Staat würden nach allen Mitteln suchen, um selbst kleine Erfolge anzugreifen. Der Kampf muss also dauerhaft sein und zu einem revolutionären Ringen um die Macht führen, für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innen- und Kleinbäuerinnen auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten und einer Miliz – einer Regierung, die nicht nur dem Diktat des IWF und der neoliberalen Politik ein Ende setzen würde, sondern auch dem kapitalistischen System, indem sie einen demokratischen Plan aufstellt. Und eine solche Regierung darf sich nicht auf Pakistan beschränken, sie kann und muss zu einem Sammelpunkt für die Ausbreitung der Revolution auf die gesamte Region werden und zu einer Föderation von Arbeiter:innenstaaten führen.




Kritische Bilanz der bundesweiten „Genug ist Genug!“-Konferenz

Valentin Lambert/Lukas Müller, Infomail 1217, 22. März 2023

Am 03./04. März 2023 fand in den Räumlichkeiten der Universität Halle das erste bundesweite Vernetzungstreffen von „Genug ist Genug!“ (GiG) statt. Angekündigt wurde dieses als „Aktionskonferenz“. Gut 80 Aktivist:innen, die meisten davon bereits politisch organisiert und jünger als 30 Jahre, nahmen an der Konferenz teil. Die Kampagne wurde 2022 vor allem von Jacobin-Magazin und linken Hauptamtlichen aus GEW und ver.di ins Leben gerufen, um gegen die steigenden Preise und die soziale Schieflage zu kämpfen. Zu diesem Zweck wurden die folgenden Forderungen aufgestellt:

1. 1000 Euro Wintergeld für alle. 2. Das 9-Euro-Ticket verlängern. 3. Löhne endlich erhöhen. 4. Energiepreise deckeln. 5. Energieversorgung sichern. 6. Krisenprofiteur:innen besteuern.

Konferenz mit dem Ziel, „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“

An Gruppen konnten wir wahrnehmen: SDAJ, SDS, FAU, Falken, Grüne Jugend, Soli-Netz, Armutsbetroffeneninitiative, ver.di und uns als GAM. Besonders stark vertreten waren die Grüne Jugend und ver.di. Eine große Mehrheit der Aktivist:innen sagte aus, noch im Studium zu stecken, ein kleinerer Teil stellte sich als Gewerkschaftsfunktionär:innen vor. Als Beschäftigte/r aus den Betrieben stellte sich kaum jemand vor, bis auf wenige Redner:innen beim Auftakt, welche teilweise als Gäste eingeladen wurden.

Die Aktionskonferenz hatte das Ziel, „sich für die anstehenden Kämpfe aufzustellen“, um „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“. Am ersten Abend wurde über die Aktivitäten der letzten sechs Monate berichtet. Thesen zur aktuellen politischen Lage wurden vorgestellt und eine sehr kurze offene Debatte geführt. Den Auftakt bildeten Eröffnungsreden von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, u. a. aus der Krankenhausbewegung in NRW, dem Fabrikkollektiv GKN aus Italien und der Initiative #ichbinarmutsbetroffen. Außerdem redete eine Reihe von Gewerkschaftsfunktionär:innen.

GiG orientiert sich um

In den Thesen zur aktuellen Lage in Deutschland wurde festgestellt, dass der erhoffte „heiße Herbst“ von linken Kräften ausblieb. Die Proteststimmung sei nun weg. Trotzdem sei die Lage prekär und es müsse irgendwie weitergehen, aber auf anderen Wegen. Durch die anstehenden bzw. laufenden Tarifverhandlungen rücken Arbeitskämpfe und der Streik als Mittel nun in den Vordergrund der politischen Kämpfe. In Zukunft möchte sich die Kampagne daher innerhalb der Tarifkämpfe einbringen. Die Tarifverhandlungen seien so politisch wie lange nicht mehr und sollen gesellschaftliches Gewicht erlangen.

Diese Analyse und die Schlussfolgerung sind soweit sehr richtig, aber auch mehr oder weniger Allgemeingut. Zudem ging die Analyse kaum über diese wenigen Sätze hinaus und war nach 5 – 10 Minuten abgehandelt. Die Frage, warum es nicht gelungen ist, Massenproteste von links zu initiieren, die durchaus vorhandene Wut der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken, ja an etlichen Orten stattdessen die Rechten das Ruder übernommen haben und was wir daraus lernen können, wurde nicht bearbeitet. Zudem wurde nicht darauf eingegangen, dass die Tarifkämpfe zwar polarisierter sind und heftiger mobilisiert wird, dass sie zugleich aber unter Kontrolle der Bürokratie stattfinden und auch den Rahmen ökonomischer Kämpfe nicht verlassen haben.

Die abschließende „offene Debatte“ wirkte verkürzt und war mit einer einminütigen Redezeit und einem Beitrag pro Person quasi nicht möglich. Bei mehr als 80 Personen ist so etwas zwar zwangsläufig nicht einfach, allerdings für einen tatsächlich bundesweiten Austausch dennoch von zentraler Bedeutung. Hier hätte man deutlich mehr Zeit einplanen müssen. Vom Podium wurde dazu aufgerufen, die Redezeit zu nutzen, um anzureißen, welche Themen man am nächsten Tag vertiefen möchte. Allerdings waren diese hierfür bereits gesetzt und Raum für in der offenen Debatte aufgekommene Themen gar nicht vorgesehen.

Kämpferische Bewegung von unten oder geordnete Bahnen?

Am zweiten Tag der Aktionskonferenz fanden Workshops und Arbeitsgruppen statt, welche auch nach der Konferenz weiter aktiv sein sollen: Inflation und Preise, öffentlicher Dienst, Post, Bus und Bahn, GiG an den Unis, Social Media und interne Kommunikation. Diese schienen überwiegend von Gewerkschaftshauptamtlichen vorbereitet worden zu sein. Wir beteiligten uns am Workshop zum TVöD.

Hier wurden vor allem verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie man die Aktionen der Beschäftigten „von außen“ unterstützen kann. Diskutiert wurde aber auch über die starren Strukturen der Gewerkschaften. Von der Genossin aus der Krankenhausbewegung in NRW wurde von Erfahrungen der Selbstorganisation von unten berichtet, was nicht gerade auf Begeisterung seitens der an der Debatte beteiligten Gewerkschaftsfunktionär:innen stieß.

Die Idee der Zusammenführung von Streiks zu einem Generalstreik wurde von der ver.di-Funktionärin Jana Seppelt aus Berlin aufgrund einer angeblichen Spaltung der Bewegung abgelehnt und es wurde vor einem utopischen „Überschuss“ gewarnt. Die Kritik einer marxistischen Gruppe auf einem GiG-Treffen in Berlin an der Beteiligung der Grünen Jugend, da die Grünen im Bundestag gegen eine Vermögenssteuer gestimmt haben, bezeichnete Jana Seppelt in Halle als „linksradikale Kleinscheiße“. Im Allgemeinen wurde/n selbst auf vorsichtige Kritik an der Gewerkschaftsführung umgehend mit entsprechenden Gegenredebeiträgen von Gewerkschaftssekretär:innen reagiert und kämpferische Vorschläge eher ausgebremst.

GiG ist leider noch nicht genug

Als im vergangenem Jahr linke Gewerkschafter:innen und andere Aktivist:innen „Genug ist Genug!“ aufbauten, um einen bundesweit koordinierten Kampf gegen die Krise zu entfalten, ergriffen sie eine bitter nötige und unterstützenswerte Initiative. Auch die nun vollzogene Orientierung auf die Tarifkämpfe und der Versuch, diese zusammenzuführen und die gesellschaftliche Debatte dadurch insgesamt zu prägen, sind für sich genommen richtig. Allerdings weisen die Struktur und die Strategie von GiG unserer Ansicht nach Schwächen auf und sind zumindest in ihrer aktuellen Form noch nicht geeignet, diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Welche Struktur brauchen wir?

So wurden von verschiedenen Personen zu Recht die eher undurchsichtigen Strukturen und Verantwortlichkeiten von GiG kritisch angesprochen. Ist GiG ein Bündnis oder eine eigene Organisation? Wer trifft die Entscheidungen und schnürt die Kampagnen? Auch auf der Konferenz war für uns nicht ersichtlich, wer die Leute sind, die da vorne auf dem Podium sitzen und die Konferenz organisiert haben. Ein gewähltes bundesweites Koordinierungsgremium, welches politisch verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist, Protokolle seiner Arbeit intern veröffentlicht und so weiter, scheint es nicht zu geben. Bisher hat GiG vor allem so funktioniert, dass „von oben“ vorgefertigte Kampagnen und Materialien „unten“ in den Ortsgruppen einfach reproduziert wurden, ohne dass die Aktivist:innen und Gruppen vor Ort diese inhaltlich mitgestalten konnten. Die Tatsache, dass GiG behauptet, 38 Ortsgruppen zu haben, sich aber nur gut 80 Leute an der ersten bundesweiten Konferenz beteiligten, zeigt, dass die Struktur von einer lebendigen Kultur der Mitgestaltung weit entfernt ist und/oder viele Ortsgruppen gar nicht mehr aktiv sind.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass GiG fast ausschließlich aus Studierenden zu bestehen scheint. Natürlich ist es löblich, wenn sie, die nicht unmittelbar von Tarifkämpfen betroffen sind, diese unterstützen wollen. Ein Fehler ist es aber, diesen Zustand nicht überwinden und mit den Beschäftigten aus den Betrieben praktisch wie organisatorisch zu einer gemeinsamen Bewegung verschmelzen zu wollen. So wurde von der Vertreterin der Grünen Jugend sogar explizit vorgeschlagen zu versuchen, primär Studierende in die Arbeit einzubinden, denn diese hätten im Gegensatz zu Beschäftigten Zeit. In den ganzen Debatten wurde von GiG gesprochen als einer Supporter:innenstruktur, welche von außen an die Streiks herantritt, den Beschäftigten und der Gewerkschaftsführung bei ihrem Kampf zur Hand geht, die Moral durch die gezeigte Solidarität stärkt und innerhalb der Bevölkerung Öffentlichkeit und Verständnis schafft.

Was wir aber versuchen müssen, ist der Aufbau eines gemeinsamen bundesweiten Aktionsbündnisses aus allen kampfbereiten Beschäftigten, unterstützenden Studierenden, linken Organisationen und Gewerkschaften, welches die verschiedenen Tarifkämpfe, die Umwelt- und die Antikriegsbewegung zu einem gemeinsamen Kampf vereint, statt sich gegenseitig von außen zu unterstützen. Dieses bundesweite Aktionsbündnis sollte lokale Ableger in den Städten haben und versuchen, Verankerung vor allem in den Betrieben, aber auch an Unis und Schulen aufzubauen. In dem Bündnis sollten die verschiedene Organisationen und (Betriebs-)Gruppen bzw. deren Vertreter:innen auf Augenhöhe diskutieren und mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fällen. Eine demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige und transparent arbeitende Koordinierung sollte die Arbeit und Kämpfe bundesweit zusammenführen. Ein erster Schritt in diese Richtung müsste die Einberufung einer Aktionskonferenz über GiG hinaus sein, unter Einbezug aller oben genannten Akteur:innen. Dafür müssten die Gründer:innen von GiG, welche wie gesagt vor allem aus den Apparaten von ver.di und GEW kommen, allerdings bereit sein, die Zügel aus der Hand zu geben und die Initiative für einen solchen Schritt zu ergreifen.

Welche Strategie führt zum Sieg?

Die Debatten zur Intervention in die Tarifkämpfe klangen auf der Konferenz vor allem nach Vorfeldarbeit für die Politik der Gewerkschaftsführung. Wenn GiG die Tarifkämpfe zuspitzen und zusammenführen möchte, hätte man eine eigenständige Perspektive diskutieren müssen, wie und wohin die Streiks konkret führen sollen. Die aktuellen Tarifverhandlungen bei der Post machen deutlich, dass auf die Gewerkschaftsbürokratie kein Verlass ist, wo sich ver.di nach knapp 90 % Zustimmung unter den Beschäftigten für einen Streik auf einen in letzter Sekunde vorgelegten faulen Kompromiss eingelassen hat. Die demokratische Urabstimmung zum Streik wurde kalt missachtet und die Bewegung ausverkauft (https://arbeiterinnenmacht.de/2023/03/14/post-guter-streik-statt-schlechter-verhandlungen-das-ergebnis-muss-abgelehnt-werden/). Eine Zuspitzung der Kämpfe wird wohl kaum ohne massiven Druck von unten gegen die Bürokratie durchzusetzen sein. Aktuell wird die GiG aber vor allem aus den Apparaten heraus finanziert.

Diese Zuspitzung darf nicht alleine bedeuten, die einzelnen Tarifauseinandersetzungen zusammenzuführen, viele Mitglieder in die Auseinandersetzung zu ziehen oder neue zu gewinnen, auch wenn dies ein nützlicher Teilschritt wäre. Ein weiterer Zwischenschritt wäre eine Kampagne gegen die Gefahr eines Schlichtungsverfahrens im öffentlichen Dienst und für die Aufkündigung dieser Vereinbarung. Unserer Einschätzung nach bedarf es einer Vorbereitung auf den politischen Massenstreik branchenübergreifend und notfalls unbefristet. Zugleich müssen wir uns darauf vorbereiten, dass solche radikaleren Kampfmaßnahmen auch den Widerstand von Staat und Kapital befeuern.

Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass die Forderungen von GiG überarbeitet werden müssen. Wir schlagen der Kampagne deshalb abschließend folgende zentrale Forderungen vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Britannien: Bilanz des Aktionstages vom 1. Februar

KD Tait, Infomail 1213, 8. Februar 2023

Am 1. Februar streikten Hunderttausende Lehrkräfte, Dozent:innen, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Lokführer:innen im Rahmen des größten koordinierten Aktionstages seit vielen Jahren.

Allein in London zogen 50.000 Streikende durch die Straßen bei der größten Demonstration an einem Werktag seit dem Protest gegen den Besuch von Donald Trump im Jahr 2018. Weitere Zehntausende demonstrierten im ganzen Land.

Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen, um der Krise bei den Lebenshaltungskosten zu begegnen. Inflationsraten von mehr als 11 % und ein Jahrzehnt des Einfrierens der Löhne und Gehälter bedeuten, dass ihr realer Wert für Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Sektors niedriger ist als im Jahr 2010.

Mehr als Löhne

Aber bei diesen Streiks geht es um viel mehr als nur um die Löhne. Jede/r kann sehen, dass ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen, der Privatisierung und des wirtschaftlichen Rückschlags durch den Brexit die öffentlichen Dienste an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Für die regierenden Konservativen ist dies ein Schritt in Richtung Abschaffung der universellen, kostenlosen öffentlichen Dienstleistungen vor Ort. Für die Streikenden geht es bei dieser Aktion um den Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen. Sie kämpfen für vollständig finanzierte öffentliche Dienstleistungen, auf die wir alle angewiesen sind.

Die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, die Verarmung und Bestrafung der Arbeitslosen, der katastrophale Zustand unseres öffentlichen Nahverkehrs, der Anachronismus von Arbeitsbedingungen, die so schlecht sind, dass Zehntausende von teuer ausgebildeten, neu qualifizierten Lehrer:innen und Krankenpfleger:innen innerhalb der ersten zwei Jahre kündigen – all das sind Gründe genug für einen Streik.

Aber das ist noch nicht alles. Die Regierung nutzt die Streiks, um noch drakonischere Antistreikgesetze zu verabschieden, die das Streikrecht im Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungswesen sowie bei den Notdiensten faktisch abschaffen werden.

Es geht nicht nur um die Beschäftigten des öffentlichen Sektors. Die Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft bleiben weit hinter der Inflation zurück, aber die Lohnerhöhungen sind immer noch doppelt so hoch wie im öffentlichen Bereich. Die Regierung will die Löhne  dort  niedrig halten, um einen Maßstab für die Lohnsumme insgesamt zu setzen.

Es steht für alle viel auf dem Spiel: Löhne, Renten, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie das Streikrecht sind in Gefahr. Die Aktion am 1. Februar war beeindruckend. Um sie zu organisieren, waren nachhaltige Organisationsbemühungen in den Gewerkschaften erforderlich, die Zehntausende neuer Mitglieder und Hunderte von Vertreter:innen und Aktivist:innen rekrutiert haben. Die Demonstrationen spiegelten eine jüngere, vielfältigere Mitgliedschaft wider, die sich der politischen Implikationen und des Einsatzes bewusst ist.

Aber die zentrale Frage: „Wie geht es weiter?“ bedeutet, dass man sich fragen muss, ob die Strategie der Gewerkschaftsführer:innen funktioniert.

Rolle der Bürokratie

Erstens wurden die Streikenden am 1. Februar von der Gewerkschaft des Pflegepersonals (RCN) im Stich gelassen, deren Vorsitzende Pat Cullen darauf bestand, dass sie keine gemeinsamen Aktionen unterstützen würde, weil sie nur Pflegekräfte vertrete. Hinter diesem „Mandat“ verbirgt sich engstirniger Sektionalismus, der die Interessen einer Gruppe von Beschäftigten über kollektive Bemühungen stellt und damit alle schwächt.

Schlimmer noch: Geplante Verhandlungen mit den „Arbeitgeber:innen“ wurden von den Gewerkschaften im Kommunikations- (CWU) und Verkehrswesen (RMT), deren Führer Dave Ward und Mick Lynch die profiliertesten Befürworter einer koordinierten Aktion waren, als Vorwand benutzt, um sich von der Aktion fernzuhalten (mit Ausnahme einer kleinen Zahl von Lokführer:innen). In keiner der beiden Auseinandersetzungen hat die Seite der Bosse ein Angebot vorgelegt, das diese Entscheidung auch nur annähernd rechtfertigt. Sie schwächten damit ihren Arbeitskampf ebenso wie die Position aller anderen.

Die Regierungspartei der Tories spielt „Teile und herrsche“, und die Weigerung des Gewerkschaftsdachverbandes und der Führer:innen der wichtigsten Gewerkschaften, eine geschlossene Koalition zu bilden, die die Macht der Stärkeren nutzt, um die Forderungen der Schwächeren durchzusetzen, hilft ihnen dabei. Für diese Gewerkschaftsführung ist das Motto unserer Bewegung – „Einigkeit macht stark“ – nur ein leerer Slogan, gut für Reden und Transparente, aber aus dem Verhandlungssaal verbannt.

Zweitens, und verbunden mit dem vorrangigen Wunsch der Gewerkschaftsspitze, die Kontrolle über ihre eigenen Auseinandersetzungen zu behalten und zu vermeiden, dass sie sich zu einer politischen Offensive ausweiten, die ihre eigenen Forderungen durchsetzt, ist die Strategie eine von gelegentlichen ein- oder zweitägigen Streiks, gefolgt von langen Verhandlungsperioden, deren Ziele und Verlauf die Mitglieder, die Lohneinbußen hinnehmen müssen, weder mitbestimmen noch kennen.

Der Beweis ist eindeutig: Gegen eine Regierung, die entschlossen ist, die Profite der Bosse zu stützen und das Vermögen der Reichen zu verteidigen, indem sie die Löhne niedrig hält, reichen eintägige Streiks nicht aus, um zu gewinnen. Bestenfalls werden sie bescheidene Zugeständnisse für einige wie Pflegekräfte und Bahnbeschäftigte bringen, die Bewegung spalten und andere Teile isoliert zurücklassen, die sich mit weniger zufrieden geben müssen.

Die Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU hat für Februar und März 18 Streiktage angekündigt, während die Bildungsgewerkschaft NEU zu regionalen Streiks übergeht. Eine Eskalation, die so schnell wie möglich vonstattengeht, ist die einzige Alternative zu einer langwierigen Kampagne, die die Initiative und die Macht der Regierung überlässt, die  einfach länger abwarten kann.

Strategiewechsel ist nötig

Drittens: Streiks sind zwar die wirksamste Waffe der organisierten Arbeiter:innen, um für ihre Interessen zu kämpfen, aber die allgemeine soziale Krise, die den Lebensstandard drückt, erfordert die Mobilisierung der gesamten Arbeiter:innenklasse und nicht nur bestimmter Gewerkschaften. In jeder Gemeinde brauchen wir eine soziale und politische Kraft, die sich für Maßnahmen gegen Energierechnungen, Mieten und die ungezügelte Profitmacherei der großen Banken und Energieunternehmen einsetzt. Lasst uns Aktivist:innen aus Mieter:innenkampagnen, Umweltgruppen, Schwarzen- und Frauenorganisationen mit Gewerkschafter:innen zusammenbringen, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

In den Gewerkschaften müssen die Aktivist:innen der Basis, die die Notwendigkeit eines Strategiewechsels erkannt haben, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammenkommen, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, mit dem sie die Kontrolle über die Streiks und Verhandlungen übernehmen können.

Der nächste Aktionstag ist erst am 15. März, dem Tag der Verabschiedung des Haushalts, vorgesehen – also in sechs Wochen. Diese Wochen werden einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf darstellen. Was wir brauchen, ist ein gezieltes Eingreifen in die Bewegung, um die Organisation und Kontrolle der Basis und die Einheit der sozialen Kampagnen wie People’s Assembly (Volksversammlung) und Enough is Enough (Genug ist Genug) aufzubauen. Für diese Strategie, die Organisation von Aktivist:innen hinter einem Aktionsprogramm, um unsere Bewegung kampffähig zu machen, kämpfen die Mitglieder von Workers Power. Wenn ihr einverstanden seid, schließt euch uns an!




Brasilien: Der gescheiterte Putsch – eine Warnung an die Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Infomail 1209, 10. Januar 2023

Tausende Anhänger:innen des abgewählten rechten Expräsidenten Bolsonaro stürmten am 8. Januar Kongress, Senat und Präsidentenpalast in Brasilia. Über Stunden hielt der Mob die Gebäude besetzt. Die Forderung war so einfach wie klar: der Sturz der Regierung Lula/Alckmin und die Machtübernahme durch einen Putsch.

Reaktionärer Spuk

Der reaktionäre Spuk war allerdings nach eigenen Stunden vorbei, nachdem regierungstreue Kräfte der Bundes- und Militärpolizei die Gebäude räumten und über tausend Möchtegernputschist:innen festsetzten.

Der missratene Sturm hatte wohl nie Aussicht auf Erfolg. Von Beginn an war nicht klar, wer eigentlich die Macht übernehmen sollte. Weder Bolsonaro noch irgendein namhafter Militär wollte sich an die Spitze einer Aktion stellen, von deren Aussichtslosigkeit sie von Beginn an überzeugt waren.

Bolsonaro verurteilte sogar die Angriffe, die gegen die „Regeln der Demokratie“ verstoßen hätten – freilich nicht, ohne auch gleich die Lüge aufzutischen, dass unter seiner Präsidentschaft Lula und seine Anhänger:innen ähnlich vorgegangen wären. Die über Twitter verbreitete Distanzierung darf außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel des Expräsidenten, der sich nach der verlorenen Wahl ins „Exil“ nach Florida zurückgezogen hat, weiterhin der Sturz der Lula-Regierung bleibt. Täglich empfängt er dort weiter Unterstützer:innen, darunter Abgeordnete und Gouverneur:innen. Erst vor kurzem erhielt er auch Besuch vom ehemaligen Sicherheitschef Brasilias, der über Stunden die Putischist:innen gewähren ließ und gegen den jetzt ermittelt wird.

Seit der Wahlniederlage des Expräsidenten, die die Bolsonaristas ohnedies für einen „Fake“ halten, demonstrierten diese „friedlich“ vor Kasernen und forderten einen Putsch. Im November organisierten sie Autobahnblockaden, die von rechtsgerichteten Unternehmer:innen finanziert wurden. Wie beim gescheiterten Putsch kommen viele dieser Kapitalist:innen aus dem Agrarsektor. Ende Dezember, also wenige Tage vor der Vereidigung Lulas, wurde in Brasilia ein Bombenanschlag vereitelt, der Chaos verursachen und eine Intervention des Militärs provozieren sollte.

Der Sturm auf die Parlaments- und Präsidentengebäude stellt einen weiteren Höhepunkt dieser Mobilisierungen dar, aber sicher nicht das Ende dieser Umtriebe.

Staatsapparat

Noch deutlicher als andere Aktionen belegte der missratene Putsch jedoch auch die mehr oder weniger offene Sympathie mit den Bolsonaristas im Polizei- und Staatsapparat. Die lokalen Einsatzkräfte waren nicht „überrumpelt“ worden oder nur „inkompetent“, sondern ließen den Mob gewähren. Polizeikräfte hießen die anreisenden Rechten willkommen , machten Selfies mit den Demonstrant:innen und drehten Videos, in denen ihre Sympathie zum Ausdruck kommt. Kein Wunder also, dass der Mob Kongress, Senat und Präsidentschaftspalast mühelos stürmen und verwüsten konnte.

Und natürlich handelt es sich dabei auch nicht bloß um das „Versagen“ von unteren Rängen, sondern die Anhänger:innen des Expräsidenten finden sich an der Spitze des Polizeiapparates. Der Sicherheitschef von Brasilia, Anderson Torres, war unter Bolsonaro Justizminister. Dieser ignorierte, Medien zufolge, Forderungen aus dem Senat, zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken, nachdem dort die Pläne der in einer Telegramgruppe organisierten Demonstrant:innen bekanntgeworden waren.

Noch am 8. Januar wurde Torres entlassen und die öffentliche Sicherheit der Hauptstadt wurde per Dekret Lulas unter Bundesaufsicht gestellt. Darüber hinaus wurde auch der Gouverneur der Hauptstadtregion von einem Bundesgericht für 90 Tage seines Amts enthoben.

Auch wenn der Spuk beendet wurde: Unterschätzt werden darf die Gefahr, die von der Rechten ausgeht, keineswegs. Im Gegenteil. Dass nur einige Tausend Hardcorereaktionär:innen ausreichten, um in die Parlaments- und Regierungsgebäude einzudringen, zeigt, was droht, wenn sich die soziale Lage weiter verschlechtert, die Klassenkonfrontation verschärft und Lula und die PT mit einer prokapitalistischen Politik ihre eigenen Wähler:innen enttäuschen.

Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Lula und die PT setzen angesichts der rechten Gefahr und der Aktionen der Bolsonsaristas auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Dies gilt auch für die Spitzen des westlichen, demokratischen Imperialismus. US-Präsident Joe Biden, der deutsche Kanzler Olaf Scholz und EU-Ratspräsident Charles Michel stellten sich ebenso auf die Seite von Lula/Alckmin wie die Staatschefs von Mexiko, Obrador, und Argentinien, Fernández. Mit scharfen Worten verurteilten sie den „Angriff auf die Demokratie“. Dabei vergaßen sie freilich zu erwähnen, dass sie solche von ihren Verbündeten in Israel, Saudi-Arabien oder der Türkei wenig kümmern. Sie vergaßen vor allem zu erwähnen, dass sie Lula/Alckmin vorrangig nicht wegen „Rechtsstaat“ und „Demokratie“ verteidigen, sondern weil sie sich von der neuen Regierung engere und friktionsfreiere Beziehungen zur USA und EU erhoffen als unter Bolsonaro.

Lehren

1. Die Anhänger:innen Bolsonaros werden sich formieren und radikalisieren. Auch wenn sie unmittelbar nicht über den Rückhalt verfügen, die Regierung zu stürzen, so werden sie weiter eine radikale, kleinbürgerlich-reaktionäre Bewegung aufbauen, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Polarisierung zu einer faschistischen Massenbewegung entwickeln kann. Auch wenn sie sich demagogisch als Kraft gibt, die gegen das Establishment mobilisiert, so richtet sie sich vor allem gegen die Arbeiter:innenbewegung, deren Parteien und Gewerkschaften, die sie als „Elite“ und „Parasiten“ imaginiert. Auf dieser Grundlage steht sie als Reserve des Kapitals zu Verfügung, eine Funktion, die sie im Agrobusiness schon heute ausübt.

2. Auch wenn die Militärpolizei und die Spitzen von Armee und anderen staatlichen Institutionen zur Zeit die Regierung verteidigen, so stellt das nur eine Momentaufnahme dar. Dass Bolsonaro und seine Partei im Repressionsapparat und bei Militärs viel Unterstützung fanden und finden, ist kein Zufall. Schließlich agierten die Repressionskräfte seit Jahren – einschließlich der Regierungszeiten von Lula und Dilma – als brutale Vertreter:innen der herrschenden Klasse. Die indigenen Gemeinden und die Favelas wurden und werden regelmäßig von diesen angegriffen – bis hin zum Mord.

3. Alle Verbindungen von Polizei, Militärpolizei und Streitkräften mit dem Sturm auf das Parlament und den Präsidentenpalast müssen öffentlich gemacht und untersucht werden. Das darf aber nicht Militärgerichten, korrupten Berufsrichter:innen oder einem Parlament überlassen werden, in dem die Bolsonaristas die größte Fraktion stellen. Dazu müssen nicht nur alle Akten öffentlich gemacht, sondern auch Arbeiter:innentribunale eingerichtet werden, die die Verwicklung des Staats- und Repressionsapparates in die rechten Aktionen, aber auch in die Angriffe auf Indigene und Favelas sowie deren Zusammenarbeit untersuchen und aburteilen.

4. Indem Lula und die PT weiter auf den bestehenden Staatsapparat im Kampf gegen die rechte Gefahr setzen, machen sie sich selbst von diesem abhängig, zu deren Geisel für den Fall größerer Klassenkämpfe. Angesichts der Inflation, der ökonomischen Stagnation, des Terrorismus der Großgrundbesitzer:innen gegen Indigene und die Umwelt – um nur einige zu nennen – sind diese unvermeidlich, wenn die Unterdrückten nicht die ganze Last der Misere tragen sollen.

5. Gegen die rechten Umtriebe wie gegen die Polizeigewalt dürften wir uns nicht auf den Repressionsapparat verlassen. Es reicht nicht, den Apparat von kriminellen und putschistischen Beamt:innen zu säubern. Die Gewerkschaften, die MST, die MTST, die PT, die PSOL, PSTU, PCO und andere linke Organisationen müssen vielmehr selbst Selbstverteidigungseinheiten der Lohnabhängigen und unterdrückten Massen aufbauen, die ihre Stadtviertel schützen, gegen etwaige Putschist:innen, Paramilitärs und kriminelle Banden vorgehen. Von Lula und der PT müssen wir fordern, diese aktiv voranzutreiben und die reaktionären Einheiten zu entwaffnen. In den Streitkräften müssen demokratische Soldat:innenkomitess aufgebaut werden, die die Kommandogewalt der Offizier:innen brechen.

6. Bei seinem Amtsantritt versprach Lula eine ganze Reihe von Reformen, darunter die Beendigung der Rodung des Regenwaldes, die Stärkung der Rechte der indigenen Bevölkerung, die Rücknahme neoliberaler Konterreformen der Bolsonaro-Regierung bezüglich Renten, Arbeitszeit, Mindestlohn sowie gewerkschaftsfeindlicher Gesetze. Deren Bekämpfung wurde zu einem Hauptziel seiner Regierung erklärt. Doch diese Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und der Stärke der Rechten im Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

7. Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

8. Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, ohne massive Besteuerung der Reichen, ohne entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

9. So wie Polizei und Armee als Garanten des Privateigentums im Staatsapparat fungieren, so fungieren Alckmin und andere offen bürgerlichen Kräfte als Garanten des Privateigentums, der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit Alckmin wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und PT einen Bruch mit den bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seine wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

10. Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden versuchen – ganz wie sie schon im Wahlkampf auf eine Volksfront mit dem Kapital setzten. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken propagieren, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen, ermöglichen, sich von den Illusionen in Lula und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu zu zwingen, dazu aufzufordern, weiter zu gehen als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

11. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen, so erlauben solche Forderungen, einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Rechte und die Reaktion aufzunehmen, sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen nutzbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

12. Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




Kampf gegen Inflation: Warum blieb der heiße Herbst aus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Entgegen aller Erwartung und Ankündigung blieb der heiße Herbst aus. Dabei steigen die Preise und Lebenshaltungskosten wie nie seit Jahrzehnten. Die staatliche Hilfe dagegen ist völlig unzureichend. Jedoch von Klassenkampf keine Spur: Die Tarifabschlüsse blieben hinter der Inflation zurück. Protest von Linken und Gewerkschaften erfolgte nur zaghaft.

Noch nicht angekommen?

Es gibt die Behauptung, die Krise sei bei den Menschen noch nicht angekommen, doch das ist sehr fraglich. Fraglich angesichts der sozialen Lage der Ärmsten, die sich auf das neue Hartz IV (ach nein – Bürgergeld!) freuen können. Fraglich angesichts von Tafeln, die unter Lebensmittelknappheit leiden. Fraglich angesichts einer Rekordinflation, die sich, so die gute (!) Nachricht, bei unter 10 % „stabilisiert“ hätte.

Schließlich könnte es noch weniger Ausgleich und Hilfspakete geben, die Tarifabschlüsse könnten noch schlechter ausgefallen sein. Dass die Krise nicht angekommen sei, heißt nur: Das Schlimmste kommt noch. Die richtig fetten Rechnungen kommen im neuen Jahr und die Rezession wohl auch.

Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass die Hilfspakete der Regierung wie auch die viel zu moderaten Lohnabschlüsse die Auswirkungen der Inflation und Krise auch auf die Lohnabhängigen abmildern. Zumindest wichtige Teile der Mittelschichten und auch besser verdienende Lohnarbeiter:innen können damit erstmal befriedet werden.

Trotzdem kann das nicht erklären, warum der Widerstand auf der Straße verhalten, schwach blieb. Die größte bundesweite Mobilisierung gegen die Krise fand am 22. Oktober statt – gerade mal 24.000 bis, wohlwollend geschätzt, 30.000 Menschen beteiligten sich daran. Die Tatsache, dass es auch einzelne lokale oder regionale Demonstrationen mit respektablen Teilnehmer:innenzahlen gab – zuletzt am 12. November in Berlin mit rund 7.000 – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Linke wenig zustande brachte.

Eher gelang es den rechtspopulistischen und sogar rechtsextremen Kräften, Menschen zu mobilisieren. Doch von einer Massenbewegung auf der Straße sind auch diese zum Glück noch weit entfernt – bisher.

Lähmung

Dass sich die Regierung trotz großer Unzufriedenheit und Wut einigermaßen halten kann, Parteien wie CDU und Grüne in den Umfragen sogar zulegen können, liegt vor allem daran, dass sich die Enttäuschung mit einer Perspektivlosigkeit und Krisenangst verbindet, die etwas Fatalistisches an sich hat.

Gerade weil die ökonomische Lage, der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ein historisch bedrohliches Ausmaß annehmen, die Masse der Bevölkerung die aktuelle Lage tatsächlich als Zäsur erlebt und empfindet, lässt sich eine Bewegung gegen die Krise nicht so einfach entfachen. Die Mehrfachkrise und ihre Bedrohungen – zuerst die Pandemie, dann der vom russischen Imperialismus entfachte Krieg um die Ukraine, nun die damit verbundene Wirtschaftskrise und über allem die permanente ökologische Katastrophe – sie alle vermitteln ein Gefühl der Ohnmacht, der Ausweglosigkeit, rufen zugleich Abwehrmechanismen auf den Plan, wozu auch Schicksalsergebenheit zählt.

Dies zeigt sich schon bei den Schwierigkeiten, eine Bewegung gegen historische Aufrüstungsprojekte, die Kriegspolitik der NATO, der USA, der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten zu verbreitern. Im Kampf gegen die Preissteigerungen, die vor demselben weltpolitischen Hintergrund stattfinden, erleben wir ein ähnliches, eher noch potenziertes Phänomen.

Bei rein ökonomischen Verteilungskämpfen oder direkt sozialen Angriffen wie den Hartz-Gesetzen sind zumindest Freund:in und Feind:in leicht auszumachen. Regierung und/oder Kapital stehen auf der einen Seite, die Lohnabhängigen oder Teile davon auf der anderen. Der Kampf nimmt die Form eines Umverteilungsgerangels an.

Die aktuelle Krise aber, die im Grunde eine viel tiefere des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs als die vorhergehenden bedeutet, erscheint an der Oberfläche und damit im Bewusstsein der Massen wie eine undurchschaubare Verkettung von quasi Naturkatastrophen: Krieg, Klima, Hunger, Irrationalismus und rechter Wahn, Corona und obendrauf Inflation und Wirtschaftskrise.

Ausbruch und Verlauf der aktuellen kapitalistischen Krise sind und werden zwar eng mit den geopolitischen Kämpfen, mit der Umweltkatastrophe und der Pandemie verbunden, ihr innerer Zusammenhang erscheint aber verkehrt, geradezu mystifiziert – und er wird durch die bürgerliche Propaganda zusätzlich ideologisiert. Deutlich tritt das bei den Sanktionen zutage, wo diese nicht als Resultat bewusster, westlicher Regierungsentscheidungen vorkommen, sondern vor allem als von Putin verursachte (indem er bösartig Gegensanktionen verhängt).

Krise und Gerechtigkeit

Die Forderung nach Gerechtigkeit im Allgemeinen wie nach einem „gerechten“ Lohn im Besonderen stellt selbst eine Ideologie dar, die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine allgemeine, über den Klassen stehende Gerechtigkeit im Kapitalismus gebe. Daher unterziehen sie Marxist:innen auch einer scharfen Kritik.

Zugleich stellen diese Parolen Mittel zur Mobilisierung in wirklichen Kämpfen dar. Der Ruf nach gerechter Verteilung entspricht dabei der Forderung, den gesellschaftlichen Reichtum zugunsten der Lohnabhängigen oder anderer unterdrückter Schichten umzuverteilen. Die politisch bewussteren Arbeiter:innen wissen aus Erfahrung, dass das nur durch Kampf zu erreichen ist, da sich hier die Ansprüche von Kapital und Arbeit gegenüberstehen. Dieser Gegensatz reflektiert, wie Marx bei der Analyse des Arbeitstages im „Kapital“ zeigt, die entgegengesetzten Interessen unterschiedlicher Warenbesitzer:innen, ja unterschiedlicher Klassen – von Kapitalist:innen und Arbeiter:innen.

Normalerweise – in „normalen Zeiten“ – gehen die um ihren Anteil am Reichtum Ringenden von einem stabilen System aus, innerhalb dessen sie Konflikte um Umverteilung und Gerechtigkeit austragen. Genau diese „Stabilität“ ist jedoch in historischen Krisen wie der aktuellen in Frage gestellt. Deren tiefere Ursache liegen in der strukturellen Überakkumulation von Kapital und fallenden Profitraten. Diese Ursachen, die innerhalb des Systems nur durch die Vernichtung von überschüssigem Kapital, Arbeitsplätzen und Erhöhung der Ausbeutungsrate „gelöst“ werden können, erfordern auch einen Kampf zwischen großen Konzernen und den führenden imperialistischen Staaten, wessen Kapital zerstört, wie der Weltmarkt und die halbkoloniale Welt sowie die Lasten der ökologischen Krise neu aufgeteilt werden.

Eigentlich erfordert eine solche Systemkrise eine systemsprengende, antikapitalistische, revolutionäre Antwort, legt sie gewissermaßen nahe. Doch damit das Bewusstsein dafür in der Arbeiter:innenklasse Fuß fassen kann, müssen auch die Grenzen des aktuellen, am Rahmen des Lohnarbeitsverhältnisses verhafteten Bewusstseins gesprengt werden.

Für den Kampf um „gerechten“ Lohn, um einen „fairen“ Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, um „gerechte“ Verteilung insgesamt stellt das kapitalistische System – und in der Regel sogar nur die jeweilige Nationalökonomie – eigentlich den Referenzpunkt dar. Solange das Gesamtsystem einigermaßen funktioniert und expandiert, vergrößert sich schließlich auch der Verteilungs-, um nicht zu sagen: der Gerechtigkeitsspielraum. In einer allgemeinen Krise bricht dieser „verlässliche“ Rahmen aber tendenziell weg.

Verharren die kämpfenden Klassen in ihm, so ist es nur logisch, dass der Kampf um die Verteilung des Reichtums zugunsten der Sicherung des Gesamtsystems Kapitalismus, genauer der jeweiligen Nationalökonomie und des Nationalstaats, relativiert werden muss.

Rolle der Apparate

Genau auf dieser Vorstellung fußt die Politik der Gewerkschaftsbürokratie wie sämtlicher reformistischer Arbeiter:innenparteien – ob nun der SPD oder der Linkspartei.

Es geht um einen „gerechten Anteil“ am kleiner werdenden Kuchen; die Bäckerei soll aber unbedingt erhalten bleiben.

Diese Ideologie entspricht der Rolle der Gewerkschaftsführungen und der reformistischen Apparate, auch wenn sie selbst ihre Vorstellungen von gerechtem Ausgleich der Lasten teilweise nur mit Kampfdrohungen durchsetzen können. Aber sie entspricht leider auch dem spontanen Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse selbst. Anders als ihre Führungen, die schließlich nicht zu den Tarifen bezahlt werden, die sie für ihre Mitglieder aushandeln, müssen die Arbeiter:innen jedoch damit auskommen.

Das bildet die Basis für das Aufbrechen des Widerspruchs zwischen bürokratischem Apparat sowie reformistischer Führung einerseits und deren proletarischer Basis andererseits – aber es ist unbedingt auch notwendig, dieser Basis und das heißt zuerst den politisch fortgeschritteneren Arbeiter:innen zu erklären, warum ein bloß besonders radikal geführter Umverteilungskampf in einer allgemeinen Krise letztlich nicht ausreicht. Nicht weil ein solcher Kampf im Einzelnen nicht gewonnen werden könnte, sondern weil er letztlich die inneren Widersprüche befeuert und damit die Systemfrage weiter zuspitzt.

Ein radikaler Verteilungskampf – z. B. ein politischer Massenstreik für die Anpassung der Löhne, Renten und anderer Sozialleistungen an die Inflation – würde den Klassenkampf massiv verschärfen und auch die Gegenseite, also die herrschende Klasse und die Rechte radikalisieren. Er markierte nur eine Etappe hin zu weiteren Konflikten.

Dies spüren im Grunde auch die meisten Lohnabhängigen heute – und genau deshalb stehen sie radikalen Lösungsansätzen, die den Klassenkampf zuspitzen, ambivalent gegenüber. Einerseits empfinden auch sie, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, andererseits fürchten sie noch mehr Unsicherheit und Instabilität. Die Masse der Lohnabhängigen will nicht in Konflikte um ihre Existenz gezogen werden, deren Grund wie Ziele sie im Unterschied zu einem reinen Verteilungskampf nicht nur oder nur sehr unvollständig versteht.

Was tun?

Schon gar nicht wollen Arbeiter:innen in perspektivlose Kleinaktionen hineingezogen werden. Dahinter steht ein gesunder Realismus, nämlich die Erkenntnis, dass nur große Aktionen und klare Forderungen an der aktuellen Lage etwas ändern und ihre unmittelbaren Anliegen voranbringen können.

Daher erweisen sich lokale Kleinst- oder sog. linksradikale Bündnisse in der aktuellen Situation als nutzlos. Natürlich spricht nichts gegen Aktionen von anfänglich kleinen Gruppen – aber sie sind politisch nur zweckmäßig, wenn sie dazu dienen, größere Organisationen wie Gewerkschaften, Migrant:innenorganisationen, Mieter:inneninitiativen oder reformistische Parteien zur Aktion zu zwingen. Tun sie das nicht, stellen sie nicht mehr als linksradikale Gymnastik dar.

Es ist unbedingt erforderlich, dass die Linke ihr Gesicht den Gewerkschaften und Betrieben zuwendet, versucht, in Tarifrunden einzugreifen und diese voranzutreiben. Das hat mehrere Gründe. Erstens können die Angriffe auf Einkommen, Löhne, Renten, Sozialleistungen nicht einfach wegdemonstriert werden. Es braucht die Kampfkraft, die nur die Arbeiter:innenklasse entfalten kann – den politischen Streik. Zweitens werden gerade die skeptischen, ambivalenten  breiten Schichten der Lohnabhängigen viel eher selbst zu Aktion und Aktivität bewegt werden können, wenn große Mobilisierungen – und sei es in den Tarifrunden – nicht nur die Richtigkeit eines Anliegens demonstrieren, sondern auch mächtig genug ausfallen, damit sie Erfolg haben können. Erfolgreiche Massenaktionen bieten auch am ehesten die Chance, die oben beschriebene innere Ambivalenz in der Klasse zu überwinden.

„Genug ist genug“ (GiG)

Die Orientierung auf gewerkschaftliche Kämpfe stellt sicher den größten Vorzug der bundesweiten Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) dar, die sich am britischen „Enough is enough“ orientiert.

Ins Leben gerufen wurde es von der Redaktion von Jacobin/Deutschland im Verbund mit Teilen der Gewerkschaftsbürokratie, genauer des ver.di-Apparates. Außerdem wird es von Teilen der Linkspartei (Bewegungslinke, marx21) und der Grünen Jugend getragen.

Ähnlich wie bei „Enough is enough“ gibt es auch bei GiG keine formalen, also formal-demokratischen Bündnisstrukturen. Die Koordinierung wird von oben kontrolliert. Finanziert (und letztlich kontrolliert) wird es von ver.di.

Dabei kombiniert GiG auch pseudodemokratische Elemente (offene „Teams“ und lokale Gruppen) mit einer sehr zentralisierten eigentlichen Führung, die die Rallys organisiert, die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit leitet und letztlich auch bestimmt, was wo getan wird. Dies eröffnet wohl einen gewissen lokalen Spielraum für einzelne Gruppen.

So positiv aber die Orientierung auf und Verbindung zu Gewerkschaften wie auch die Einschätzung ist, dass deren Kämpfe (Tarifrunden, Warn-, Flächenstreiks) von enormer Bedeutung für den Klassenkampf sind, so negativ ist die politische Unterordnung unter den Apparat (was im Zweifelsfall auch finanziell sichergestellt ist: Ohne ver.di-Gelder und -Räume würde GiG nicht existieren).

GiG bezeichnet sich zwar selbst offiziell nicht als Bündnis, sondern als Plattform – als „Tool“, als „Projekt“, das eine Bewegung mit hervorbringen soll. Im Grunde setzt es darauf, dass im öffentlichen Dienst ein heftiger Kampf entbrennt und GiG dazu mobilisiert. Für den Gewerkschaftsapparat soll es dabei als Hilfstruppe dienen.

GiG hat mittlerweile mehr als 30 lokale Ableger und etliche Themengruppen. Es ist sicherlich das größte und wichtigste, wenn auch das undemokratischste bundesweite Bündnis. Dennoch macht es Sinn, in GiG zu arbeiten, insbesondere um Unterstützer:innenstrukturen für Streiks im öffentlichen Dienst zu organisieren.

Außerdem erhebt GiG oder jedenfalls ein Teil seiner Führung auch die Forderung nach einer bundesweiten Aktionskonferenz (wenn auch einer, die letztlich von den Apparaten kontrolliert werden soll; aber auch das wäre ein Schritt vorwärts). Wir sollten dies unterstützen.

Aber: Letztlich kann aber auch GiG eine bundesweite, demokratische Bündnisstruktur nicht ersetzen, die bei einer Aktionskonferenz entstehen muss, wenn von ihr mehr als nur Reden bleiben soll. Als Forderungen schlagen wir dazu vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!




Der Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus

Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Die Polarisierung zwischen einem „autoritären“, konservativen und einem „demokratischen“ bürgerlichen Lager kennzeichnet die Situation in vielen imperialistischen wie auch halbkolonialen Ländern. Die aktuelle kapitalistische Krise selbst befördert diese Polarisierung und die Tendenz zum Populismus, zur Radikalisierung im bürgerlichen Lager, dem ein vorgeblich demokratisches gegenübersteht.

Letzteres versucht, sich als „fortschrittliche Alternative“ zu präsentieren, und reicht von der liberalen Bourgeoisie (einschließlich Teilen der Konservativen) über die Grünen bis hin zur Sozialdemokratie und Teilen der Linksparteien und des Linkspopulismus.

Scheinalternative

Politisch steht es für Elemente der staatlichen Intervention, des Korporatismus, der Einbeziehung von Unternehmer:innen und Gewerkschaften oder anderen Vertretungsorganen der Lohnarbeit in die Sozialpartner:innenschaft.

Ökologische und ökonomische Versprechen wie der Green (New) Deal, begrenzte Sozialreformen, formale demokratische Verbesserungen für Frauen oder rassisch Unterdrückte sollen die Masse der Lohnabhängigen und Unterdrückten bei der Stange halten, ohne jedoch die Akzeptanz des Finanzkapitals und eine Erneuerung des Kapitalstocks in den jeweiligen Ländern in Frage zu stellen. All dies wird mit einer demokratisch verbrämten imperialistischen Außenpolitik kombiniert.

Es ist kein Zufall, dass eine solche Politik vor allem in den reicheren imperialistischen Ländern mit einer relativ großen Arbeiter:innenaristokratie und umfangreichen lohnabhängigen Mittelschichten eine gewisse Grundlage finden kann. In den Halbkolonien, aber auch in den bonapartistischen imperialistischen Regimen, muss die „Demokratie“ durch nationalistische und chauvinistische Ideologie ersetzt werden. Die populistisch organisierte Massenunterstützung muss dort auf solche Ideologien zurückgreifen, wie z. B. den zunehmenden völkisch konnotierten Nationalismus in Russland oder den Hinduchauvinismus in Indien.

Die Polarisierung im bürgerlichen Lager ist jedoch auch das Ergebnis der inneren Krise der Bourgeoisie und der veränderten Lage der Mittelschichten und des Kleinbürgertums. Die Krise untergräbt nämlich ihre Stellung in der Gesellschaft und drückt ihre wirtschaftlich aktiven Teile an die Wand. Die Kombination aus internen Konflikten in der Bourgeoisie und der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse führt dazu, dass die Mittelschichten und das Kleinbürgertum, enttäuscht von den Hauptklassen der Gesellschaft, eine scheinbar unabhängige Kraft hervorbringen – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, zusammen mit einer Reihe von Schwankungen zwischen den Polen.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich rechtspopulistische, scheinbar gegen das Establishment gerichtete Parteien und Organisationen als Scheinalternative des „kleinen Mannes“, der „normalen“ Menschen.

Faschismus

Neben dem bedrohlichen Anstieg rechtspopulistischer, rassistischer und rechtsextremer Organisierung darf die faschistische Gefahr in ihren verschiedenen Gestalten nicht vergessen werden. Nachdem die Linke lange Zeit in allen möglichen politischen Tendenzen und Verschärfungen staatlicher Repression bereits den „Faschismus“ ante portas (vor den Toren zur Machtergreifung) sah, stand sie lange Zeit fassungslos dem wachsenden populären Massenanhang für Antimigrationsmobilisierungen, Protesten gegen liberale Gesetzgebungen in Gender- oder Antidiskriminierungsfragen, Klimaschutzregeln, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gegenüber. Die Konfrontation mit diesen rechten Massenphänomenen war für die sogenannte „antifaschistische“ Linke viel schwieriger als das Stoppen kleiner Neonaziaufmärsche oder -aktionen der Vergangenheit. Dabei können sich gerade Faschist:innen im Windschatten dieser Bewegungen in viel wirksamerer Weise aufbauen als früher.

Der Faschismus ist nicht bloß eine bestimmte, besonders reaktionäre ideologische Strömung innerhalb bürgerlicher Politik. Er stellt vielmehr die äußerste Form des konterrevolutionären Bürgerkriegs gegen die Gefahr der sozialen Revolution in Zeiten zugespitzter sozialer Krisen dar. In den 1920er/-30er Jahren war er das letzte Mittel der Bourgeoisie, um durch Massenmobilisierung die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung zu zerschlagen. Normalerweise vertraut bürgerliche Politik auf die Integration der Massen durch politisch-demokratische Institutionen, die bürgerliche Öffentlichkeit („Zivilgesellschaft“) und repressive Mittel des Staatsapparates. Darüber hinaus sollen radikalere Klassenkämpfe und damit verbundene reformistische und gewerkschaftliche Organisationen auch durch Mittel des Bonapartismus im Zaum gehalten werden – und sei es, um „Schlimmeres zu verhindern“.

Doch ab einem gewissen Punkt der Zuspitzung des Klassenkampfs bedarf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung radikalerer Mittel, die auf die Zerschlagung nicht nur der sich selbst organisierenden und revolutionären Bewegungen der Klasse und Unterdrückten, sondern der gesamten organisierten Arbeiter:innenbewegung zielen. Der Zweck der organisierten und militanten Massenbewegung des Faschismus besteht dabei darin, über die staatliche Repression hinaus eine politische Atomisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten herbeizuführen. Für die faschistische Herrschaft ist nicht einfach die Übernahme der Machtpositionen im bestehenden Staat entscheidend, sondern auch die Bewegung hin zur Machtübernahme, die die Unterklassen durchdringt und jeglichen Widerstand im Keim erstickt. Es ist daher für den Faschismus charakteristisch, dass er als Bewegung des rabiaten Kleinbürger:innentums samt demoralisiertem Anhang in anderen Klassen beginnt und diese gesellschaftliche Kraft zu einer Bewegung, einem Rammbock gegen die Arbeiter:innenbewegung – und oft zuerst gegen deren unterdrückteste Teile – zusammenschweißt.

Eine solche totalitäre Form des Kampfes um die Macht erfordert eine organisierte Massenbewegung, die sich auf verzweifelte, von Aggression und Irrationalismus getriebene Teile von Unterklassen stützt, die in der sozialen und ökonomischen Krise aus ihrer bisherigen „bürgerlichen“ Scheinwelt entwurzelt wurden. Traditionell waren dies Teile des Kleinbürger:Innentums und des Lumpenproletariats. Mit der sich seit einigen Jahrzehnten entwickelnden Krise der Arbeiter:innenklasse selbst, ihrer größer werdenden Differenzierung und Spaltung sind es auch vermehrt Schichten der von der Krise betroffenen Lohnabhängigen, die, vom Reformismus enttäuscht, sich den rechten Rattenfänger:innen anschließen. So z. B. die Teile der Arbeiter:innenaristokratie, die vom Abstieg durch Veränderungen des Produktionsprozesses ins Abseits geschoben wurden. Umgekehrt können der Faschismus – und als Vorstufe der Rechtspopulismus – eine Anziehungskraft für deklassierte, marginalisierte Teile der Lohnabhängigen, die aus tariflich gebundenen Arbeitsverhältnissen ausgeschlossen sind und von den Gewerkschaften nicht organisiert werden, verkörpern. Für diese Schichten erscheinen reformistische Teile der Arbeiter:innenbewegung als die „Krisengewinner:innen“ in der Klasse, die sich mit den Mittelschichtsgrünen arrangieren, als besondere Verräter:innen ihrer Interessen und damit neben den Migrant:innen als primäre Ziele ihres gesellschaftlichen Hasses.

Diese Formen der Entwurzelung, des Aufbaus von Ersatzhassobjekten, des Weltbildes von Verschwörungen eines „volksfremden“ Establishments gegen die eigentlich gute „bürgerliche“ Gesellschaft führen zu extrem aggressiven Formen von Massenmobilisierungen, die sich letztlich auch in bewaffneten Organen, von „Bürgerwehren“ bis hin zu Milizen, bündeln lassen. Zumeist besteht auch eine Nähe zum Personal der bewaffneten Kräfte des „normalen“ bürgerlichen Staatsapparates, wo es einen überdurchschnittlichen Anteil an Sympathien für rechte politische Strömungen gibt. So baut sich mit der Zeit ein Netzwerk von Waffenarsenalen, rechtem Terror und schließlich bewaffneten Organisationen auf, das zum Kampf um die Macht bereit ist.

Diese Form kam vielen Linken gerade in den westlichen Demokratien lange als Relikt der Vergangenheit vor und über Jahrzehnte hinweg bestand in vielen Ländern auch nicht die gesellschaftliche Basis für eine faschistische Massenbewegung (auch wenn es durchaus bedeutsame Ausnahmen gibt).

Faschistische Frontorganisationen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren faschistische Parteien in Europa und Nordamerika nach den Erfahrungen des Nazi- und italienischen Faschismus außerdem weitgehend diskreditiert. Die überlebenden faschistischen Kräfte hatten daher drei Optionen: erstens das Überleben als mehr oder weniger unauffälliges Netzwerk in bürgerlich-parlamentarischen Parteien; zweitens als kleine, sektenartige Randgruppen; drittens aber auch durch den Aufbau von faschistischen Frontorganisationen. Insbesondere in Italien wurde mit der MSI (Movimento Sociale Italiano) eine Organisation gebildet, die weiterhin einen faschistischen Kern und entsprechende Ideologien enthielt, aber darüber hinaus als „normale“ Partei im parlamentarischen Rahmen agierte. MSI und später in Frankreich der FN (Front National) des Jean-Marie Le Pens konnten beschränkte Massenwirksamkeit erreichen, ohne die eigentlichen faschistischen Formen des Kampfes einzusetzen. Ihre respektable bürgerliche Fassade, ihr gewöhnlicher Rechtspopulismus konnten trotzdem faschistische Kerne an sich binden, die diese Form der Frontorganisation als Mittel ihres langfristigen Aufbaus für den eigentlichen militanten Kampf sahen.

Faschistische Frontorganisationen tragen somit wesentlich widersprüchliche Tendenzen in sich. Zwischen reinem Verbreiten „faschistischer Ideologie“ (die letztlich immer einen Mischmasch verschiedener, schon vorgefundener extrem reaktionärer Ideen darstellt) und dem tatsächlichem Kampf des Faschismus um die Macht besteht ein weites Feld. Sofern solche Fronten dann tatsächlich Funktionen im bürgerlichen Staat übernehmen ohne die entsprechenden Formen der faschistischen Machtergreifung, transformieren sich Teile ihrer Führung schnell zu gewöhnlichen rechtspopulistischen oder rechtskonservativen Politiker:innen und die faschistischen Kräfte spalten sich ab. So geschehen in den 1990er Jahren in der ersten Regierung Berlusconi in Italien, als seine Partei zusammen mit der Lega Nord und der zur Alleanza Nazionale (AN) gewandelten MSI eine Koalition einging. Dies war natürlich keine „faschistische Machtübernahme“. Die Regierungsbeteiligung führte vielmehr zur „Verbürgerlichung“ eines Teils der MSI und der Abspaltung der „traditionellen Faschist:innen“, aus denen später die Fratelli d’Italia (FdI) entstand. Offenbar wiederholt sich gegenwärtig derselbe Prozess mit letzterer – auch wenn die faschistische Front diesmal sogar die stärkste Kraft in der Koalition ist. Der FN in Frankreich machte schon vor der möglichen Regierungsbeteiligung einen solchen Wandlungsprozess durch, in dem er sich in das Rassemblement National (RN) umbaute.

Während der Globalisierungsperiode entwickelte sich ein breites Spektrum von rechtspopulistischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Organisationen, die an diese Vorgeschichte anknüpften. War nationale Abschottung zwar angesichts der faktischen Gewalt der kapitalistischen Globalisierung kein realistisches Politikprojekt, so wurden nationalistische Scheinantworten auf die sozialen Folgen der Globalisierung immer verbreiteter. Dies betraf nicht nur Phänomene wie verstärkte Standortverlagerungen oder Arbeitsmigration, sondern auch wachsenden Verlust nationaler Gesetzgebungskompetenz angesichts der übermächtigen Kapitalströme. Mit dem Aufkommen verstärkter Krisentendenzen am Ende der Globalisierungsperiode haben irrationale nationalistische Alternativen zur Globalisierung immer mehr an politischem Gewicht gewonnen. Dies ist nicht nur in der völligen Überhöhung von Fragen der Migration oder von „Genderwahn“ & Co. zu sehen, sondern in Europa insbesondere an Fragen der EU-Integration. Letzteres führt im EU-Raum zu verschiedenen Formen von Austrittsbewegungen, zu Bewegungen oder Kampagnen gegen bestimmte EU-Vorgaben, an denen sich rechte und faschistische Kräfte aufrichten können. Die Rechte benutzt teilweise berechtigte EU-Kritik zur Selbstinszenierung als Antiestablishmentkämpferin gegen „Globalismus“, „EU-Establishment“, den „woken Totalitarismus“ etc.

Die AfD

Der Aufstieg der AfD muss im Rahmen dieser allgemeinen Tendenz betrachtet werden, auch wenn sich ihre Entstehung und Entwicklung deutlich von jener faschistischer Frontparteien unterscheidet. Gegründet wurde sie weitgehend von EU-kritischen rechten U-Booten in den etablierten konservativen Parteien (CDU, CSU, FDP), insbesondere aus der Ablehnung des Euro heraus. Massenwirksam wurde die AfD jedoch vor allem durch extrem rassistische Mobilisierung rund um Migrationsfragen. Dadurch konnten sich auch rechtsextreme Kreise in der Führung der AfD immer mehr durchsetzen. Einer Wählerschaft von 10 – 20 % in Deutschland sind angesichts der Wirkung von kritischer Demagogie bezüglich EU- und Migrationspolitik die offensichtlich rechtsextremen Figuren in verschiedenen Führungspositionen der Partei immer unwichtiger. Inzwischen wird die Partei durch den rechtsextremen „Flügel“ unter dem neuen „Führer“ Bernd Höcke dominiert. Er weist tatsächlich viele Merkmale einer faschistischen Frontorganisation auf, auch wenn sein Verhältnis zu offenen Naziorganisationen wie den „Freien Sachsen“ durchaus auch konfliktbehaftet ist. Gerade wo sich der AfD und auch den vom „Flügel“ geführten Organisationen parlamentarische Möglichkeiten eröffnen (z. B. bei parlamentarischen Manövern mit CDU und FDP in Thüringen), ist auch letzterer dem Spannungsverhältnis von bürgerlichem Politikbetrieb und offenem Faschismus ausgesetzt. Das Konstrukt der AfD erlaubt den faschistischen Kernen jedoch, sich genügend fern von der Diskreditierung durch etablierte bürgerliche Politik zu halten, aber gleichzeitig genügend nahe am bestehenden Politikbetrieb zu bleiben, um neue Anhängerschaft und Geldmittel zu rekrutieren. So bauen sie sich auf, als reale politische Kraft, die im Fall der Fälle für den Kampf um die politische Macht im faschistischen Sinn bereit steht. Auch wenn die AfD insgesamt als rechtspopulistische Partei charakterisiert werden muss, die ihre Klientel vor allem als Wähler:innen organisiert und weiter auf eine Koalition mit Konservativen und anderen Rechten abzielt, so enthält sie auch einen stärker werdenden inneren Teil, der eine faschistische Frontorganisation darstellt.

Anderswo in Europa gibt es verschiedene Formen ähnlicher „Konstrukte“, in denen sich Faschist:innen auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten. Die „Schwedendemokraten“ entstanden direkt aus einer offen faschistischen Organisation, die sich ähnlich MSI/AN/FdI im letzten Jahrzehnt in eine rechtspopulistische Partei mit extrem rassistischen Positionen umwandelte. Erhalten blieben jedoch jeweils faschistische Kerne, die entsprechende Frontorganisationen innerhalb der „gemäßigten“ etablierten Partei bilden und sich oft auch auf eine breitere Unterstützung innerhalb der Mitgliedschaft dieser Organisationen stützen können. Bei Diskreditierung durch Teilnahme an Koalitionsregierungen oder deren Duldung besitzen die faschistischen Kerne genügend Spielraum, um weiterhin als „Opposition“ zu agieren oder eventuell auch Neugründungen anzustoßen. Auch hier wird mit diesen Konstrukten eine reale faschistische Machtalternative zumindest vorbereitet.

Halbkolonien

In Halbkolonien ist der Aufbau faschistischer Organisationen als Kampfmittel zur entsprechenden Machteroberung weiterhin schwieriger, da die entsprechenden vom Abstieg betroffenen Mittelschichten, die von reformistischen Organisationen enttäuscht sich nach alter nationaler Größe zurücksehnen, nicht so ausgeprägt sind wie in den imperialistischen Zentren. Solche faschistischen Kräfte treten daher eher in ökonomisch entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien auf. In der islamischen Welt erfüllen extrem islamistische Kräfte oft die Rolle der Atomisierung und Zerschlagung von progressiver Organisierung der Arbeiter:innen und Unterklassen. Dabei rekrutierte z. B. der Islamische Staat (Daesch) seine Militanten tatsächlich sehr stark unter deklassierten Jugendlichen aus imperialistischen Ländern. Der Aufstieg Bolsonaros in Brasilien ist verbunden mit der Bildung verschiedener reaktionärer Organisationen z. B. rund um evangelikale Kirchen, bewaffnete Milizen von Agrarunternehmer:innen, Teile von Vereinigungen Angehöriger von Polizei und Armee, reaktionäre Transportunternehmer:innen und ihre Beschäftigten, offen rechtsextreme Organisationen (z. B. Movimento Direita in Minas Gerais) etc. Diesem Amalgam von bewaffneten Gruppierungen fehlte jedoch bisher die vereinigende politische Organisierung. Die reaktionäre Clownerie des Bolsonaro genügte zwar, um Wahlkämpfe zu führen und eine Welle von rechtem Terror auszulösen, aber nicht für eine faschistische Form der Machtübernahme – daher als (vorläufig) ultimative Losung der Aufruf zum Militärputsch. Ob die neuen Parteien des Bolsonarismus, die PL und die Republikaner:innen, faschistische Frontorganisation werden, hängt davon ab, ob sich jenseits der politischen Figuren im üblichen Politikbetrieb von Kongress, Einzelstaaten und Lokalverwaltungen tatsächliche faschistische Kader mit stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, die in diesen Parteien eine wesentliche Rolle spielen können. Gerade bei Ex-Militärs und im Umfeld der Agrarbosse haben sich in den Mobilisierungen nach der Niederlage Bolsonaros bereits entsprechende Personen profiliert.

Auch wenn sich faschistische Kräfte heute vor allem im Windschatten reaktionärer rechter Parteien aufbauen, werden die Opfer der extremen Rechten immer zahlreicher. Zunächst bedeutet die allgemeine Rechtsverschiebung eine repressivere Politik gegenüber Migrant:innen und Minderheiten aller Art ebenso wie ein brutaleres Vorgehen rechtslastiger „Sicherheitskräfte“. Durch die Unterstützung von rechten Medienkonzernen oder die Kampagnen in den „sozialen Medien“ wird ein Klima der Angst und Hetze gegen Linke, unliebsame Journalist:innen und Lokalpolitiker:innen, Wissenschaftler:innen, Migrant:innen, Minderheiten etc. erzeugt, das sich auch über Drohungen hinaus bewegt. Verstärkt tritt rechter Terror nicht nur in Einzeltaten, sondern auch in geplanten Aktionen zutage. Es verwundert nicht, dass in diesen Gewaltakten auch der Antisemitismus wieder eine Rolle spielt. Rechte Parteien und ihre Sympatisant:innen im Polizeiapparat verharmlosen diesen Gewaltanstieg bzw. kriminalisieren den Widerstand dagegen.

Reformistische Irrwege

Die Reaktion der reformistischen Organisationen bzw. von progressiven Mittelschichtparteien wie den Grünen besteht zumeist in der Forderung nach Schulterschluss der „Demokratie“ zur Verhinderung der Machtbeteiligung der Rechtsextremen. Im Windschatten vertreten auch Teile der extremen Linken neue Varianten der Volksfrontpolitik in Form von „demokratischen Allianzen“ (wie jüngst bei der Wahl in Brasilien). Das Problem des Verbündens mit offen bürgerlichen Parteien, die noch nicht zur Zusammenarbeit mit der extremen Rechten bereit sind, liegt darin, dass sie die reformistischen Organisationen und die Linke zu noch mehr Zugeständnissen an die bürgerliche Krisenpolitik zwingen und sowieso viele Forderungen der extremen Rechten z. B. in der Migrationspolitik mit aufgegriffen werden. Die extreme Rechte kann so die Enttäuschung über den Reformismus noch weiter vorantreiben und sich als die „wahre Opposition“ des „kleinen Mannes“ gegenüber dem vereinigten Establishment der „Volksfeind:innen“ präsentieren. Wie schon in den 1930er Jahren geschehen, gerät die Volksfront so zur Wegbereiterin des Aufstiegs des Faschismus.

Gewisse Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit und auch der Linken vertreten die Ansicht, dass sich die extremen Rechten am besten durch tatsächliche Regierungsbeteiligung entlarven ließen, in der sie demonstrieren müssten, dass sie für den Großteil ihrer ärmeren Wähler:innen nicht nur nichts bewirken würden, sondern sogar weitere Verschlechterungen betreiben. Dies verkennt den irrationalen Kern der Basis der extremen Rechten, die durch solche Tatsachen nur davon überzeugt werden, dass der „tiefe Staat“ und die Machthaber:innen „hinter den Kulissen“ die eigenen Führer:innen an der Durchsetzung ihrer Politik hindern würden. Auch dies führt letztlich nur zur weiteren Radikalisierung und Bildung neuer, noch rechterer Organisationen. So wurde die österreichische FPÖ bei ihren Regierungsbeteiligungen jedes Mal in fürchterlicher Weise entlarvt – um dann kurze Zeit später in neuem, weiter rechts stehendem Gewand in alter Stärke wiederaufzuerstehen. Auch das Debakel der „Dänischen Volkspartei“, die während ihrer Regierungstolerierung von 20 % auf heute unter 3 % abstürzte, brachte nur die noch rechtere Partei der „Dänendemokraten“ hervor, die von ihr die Führungsrolle übernahm.

Das dänische Beispiel zeigt auch ein weiteres ungeeignetes Modell: Hier übernahm die größte reformistische Partei, die Sozialdemokratie, wesentliche Teile des rassistischen Migrationsprogramms der Rechten, um es mit klassischer Sozialpolitik für die „eigenen“ Unterschichten zu verbinden. Dieses Modell einer rechtsnationalen Sozialdemokratie wurde tatsächlich für einige sozialdemokratische Parteien nicht nur in Skandinavien zu ihrem modernen Weg ernannt. Auch wenn es teilweise in Wahlen erfolgreich war, verhindert es nicht, dass sich dadurch der rechte Irrationalismus weiter bestärkt fühlt und letztlich doch wieder das „Original“ gewählt wird – insbesondere wenn die so nach rechts gewendete Sozialdemokratie dann doch wieder klassische bürgerliche Krisenpolitik betreibt. Ähnlich verfehlt ist die Strategie, links von der Sozialdemokratie linkspopulistische Organisationen aufzubauen, die ebenso eine offene Flanke gegenüber Rassismus und sozialchauvinistischer Migrationspolitik aufweisen. Auch wenn Mélenchon in Frankreich oder Wagenknecht in Deutschland zeitweise in der Lage sind, Wähler:innen von den Rechten in ihre Richtung zu lenken, so bestärken sie ihrerseits die gesellschaftlichen Spaltungen in den Unterschichten, die gerade zum Aufstieg der Rechten führen.

Kampf

Mit dem Faschismus gibt es letztlich keine „diskursive“ politische Auseinandersetzung. Faschistische Kader müssen je nach Kräfteverhältnis in direkter Aktion an ihrer politischen Aktivität gehindert werden. Ihnen darf keine öffentliche Plattform gestattet werden. Dies betrifft auch Faschist:innen am Arbeitsplatz oder in Gewerkschaften, wo wir für ihren Ausschluss eintreten. Auch ihr Antritt bei Wahlen muss mit gebotenen Mitteln ver- oder behindert werden. Dabei vertrauen wir nicht auf den bürgerlichen Staat oder seine Organe (da etwaige Verbote sowieso vor allem gegen Linke eingesetzt werden), sondern auf die Einheitsfront von Arbeiter:Innenorganisationen und Vereinigungen anderer gesellschaftlich Unterdrückter.

Bei den rechtspopulistischen Organisationen wie der AfD oder auch der breiteren Wähler:innenschaft von Frontorganisationen ist ein differenzierteres Vorgehen notwendig, da ihre Anhängerschaft nur zu einem gewissen Teil aus Faschist:innen besteht. Entscheidend ist aber auch hier die Einheitsfront, insbesondere die Forderung an die führenden reformistischen Organisationen,  mit der bürgerlichen Krisenpolitik (die mit den „demokratischen Allianzen“ noch verstärkt wird) zu brechen und sich in einen gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Angriffe und rechte Hetze einzureihen. Den Rechten darf der Krisenprotest nicht überlassen werden aus lauter Angst vor „Querfronten“. Dabei muss in solchen Einheitsfrontaktionen auf den Ausschluss rechter Kräfte und die Verteidigung der Aktionen gegen Unterwanderung durch Rechte gedrängt werden. Aktionen der rechten Frontorganisationen, in denen faschistische Kader eine wichtige Rolle spielen, z. B. Mobilisierungen gegen Geflüchtete müssen ähnlich wie direkt faschistische Aktionen konfrontiert werden. Politische Veranstaltungen der klassischen Art wie z. B. Wahlkundgebungen oder Diskussionsveranstaltungen können je nach Kräfteverhältnis rein propagandistisch angegriffen oder gestört werden. Dabei steht das Aufzeigen der politischen Alternative und die Schwäche der Rechten bei den entscheidenden Fragen gerade gegenüber unentschlossenen, verunsicherten Personen aus den sozial bedrängten Unterschichten im Vordergrund.

Die wichtigste Waffe gegen den Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus ist jedenfalls das konsequente Vorantreiben einer internationalistischen antikapitalistischen Alternative und das Aufzeigen des revolutionären Weges dahin. Nur dies kann die Scheinalternativen der nationalen Abschottung, des Vorantreibens gesellschaftlicher Spaltungen und des Aufbaus von Ersatzfeind:innen für den/die eigentliche/n Klassenfeind:in als Irrwege entlarven. Die Einheitsfront bildet ein zentrales Instrument zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie von den Rechten benutzt werden. In der Einheitsfront erleben die Arbeiter:innen und Unterdrückten die Solidarität über Grenzen der nationalen Herkunft, Geschlechteridentitäten, Verdienst- und Bildungsunterschiede, kulturellen und schichtspezifischen Verschiedenheiten hinaus.

Sie ist aber vor allem auch ein wichtiges Instrument, um die weiterhin bestehende Mobilisierungsfähigkeit reformistischer Organisationen und der Gewerkschaften zu nutzen und ihre Führung vor den Massen dem Test der Praxis zu unterziehen. Trotzki wies 1932 in „Was nun?“ darauf hin, dass die Lage der Arbeiter:innenbewegung angesichts von Niederlagen, Krise und Aufstieg der Nazis aussichtslos zu sein schien, dass aber gerade die aus der Situation der Defensive entstehenden Kämpfe eine Perspektive der Offensive eröffnen würden: „Man darf nicht vergessen, dass die Einheitsfrontpolitik im Allgemeinen in der Defensive viel wirksamer als in der Offensive ist. Konservativere oder zurückgebliebenere Schichten des Proletariats lassen sich leichter in den Kampf ziehen, um das zu verteidigen, was sie bereits besitzen, als um Neues zu erobern.“

Bei einem klaren strategischen Plan der revolutionären Partei für den erfolgreichen Aufbau der Einheitsfront besteht die weitergehende Perspektive: „Der Widerstand der Arbeiter gegen die Offensive von Kapital und Staat wird unvermeidlich eine verstärkte Offensive des Faschismus hervorrufen. Wie bescheiden die ersten Verteidigungsschritte auch sein mögen, die Reaktion des Gegners wird unverzüglich die Reihen der Einheitsfront zusammenschließen, die Aufgaben erweitern, die Anwendung entschiedenerer Maßnahmen erforderlich machen, die reaktionären Schichten der Bürokratie von der Einheitsfront abschütteln, den Einfluss des Kommunismus steigern, die Barrieren innerhalb der Arbeiterschaft schwächen und damit den Übergang von der Defensive zur Offensive vorbereiten.“




Vom Hoffen auf den heißen Herbst: Ey Linkspartei, was machst du?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 269, November 2022

In England gingen Hunderttausende auf die Straße, in Frankreich werden Betriebe bestreikt und Besetzungen diskutiert. Und auch in Deutschland wurde im Sommer noch von der Linkspartei ein heißer Herbst angekündigt. Groß sollte er werden, kämpferisch. Der größte Aktionstag brachte bundesweit gerade 24.000 Menschen auf die Straße. Dahinter reihen sich wenige lokale Demonstrationen mit Tausenden in Berlin und Leipzig und zahlreiche kleine Aktionen von mehreren hundert Menschen ein. In der Realität ist der heiße Herbst bisher leider nicht mehr als ein lauwarmes Lüftchen. Die Gründe dafür sind zahlreich, doch einer sticht heraus: der Scherbenhaufen mit dem Namen Linkspartei. Was sind die Probleme? Und was müsste getan werden? Ein Debattenbeitrag für alle, die ernsthaft gegen die Inflation kämpfen wollen.

Lage

Potenzial, auf die Straße zu gehen, wird genügend geliefert. Meistens direkt in unsere Briefkästen in Form von Gasabschlägen von mehreren Hundert Euro oder in Form von Kassenbons, die einem nach dem Einkauf in die Hand gedrückt werden.

Zeitgleich versucht natürlich auch die Bundesregierung, die Kosten abzufangen. Auch wenn die Entlastungspakete weit hinter dem zurückbleiben, was die Lohnabhängigen – und vor allem die Armen – brauchen, können sie einen Teil des Unmuts abfangen. (Genauso wie die 20 Grad im Oktober helfen, die Heizung erstmal runterzustellen, Klimawandel sei Dank.)

Doch vergessen wir nicht. Diese Zugeständnisse der Regierenden sind selbst eine Reaktion auf die Wut und Empörung von Millionen. Unmöglich machen sie Proteste sicher nicht. Denn die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung ist angespannt, wenn sich bei vielen auch Frustration und Hoffnungslosigkeit breitzumachen beginnen.

Kämpfen lohnt sich nicht?

Anders als in Frankreich kann man in Deutschland nicht auf eine Tradition von einigermaßen erfolgreichen Abwehrkämpfen blicken. Vielmehr wurden Niederlagen eingesackt, ob nun vor Jahren bei den Protesten gegen die Hartzgesetze, ob von der antirassistischen Bewegung. Von kämpferischen Streiks will man gar nicht erst reden. Kämpfe wie jene der Krankenhausbewegung in Berlin und Nordrhein-Westfalen stellen die Ausnahme dar. Es herrschen sozialpartnerschaftliche Regulierung, ritualisierte Tarifrunden vor – im Extremfall der nationale Schulterschluss oder die Konzertierte Aktion zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung.

Die Erfahrung, die allgemein hängenblieb, lautet: Politischer Streik geht nicht. Doch gerade in einer Krise ist es nicht unmöglich, diese bürgerlichen Ideologien aus den Köpfen der Bevölkerung zu fegen. Doch dazu bräuchte es eine Organisation, die sich den Interessen der Beschäftigten verschreibt, in Opposition zur Regierung, eine Organisation, die den Kampf gegen die Preissteigerungen mit dem gegen Krieg, Umweltkatastrophe, Rassismus und Imperialismus verbindet. Eine Organisation, die Druck auf Gewerkschaften ausübt, die aktiv vorantreibt.

Dabei verspricht die Linkspartei auf Parteitagen und in Sonntagsreden eine Politik im Interesse der Mehrheit, verkündet einen heißen Herbst und manche schreiben gar eine „verbindende Klassenpolitik“ auf ihre Fahnen. Zu sehen ist davon nichts. Bevor wir jedoch zu den öffentlich einsehbaren Machtspielchen der Partei kommen, wollen wir einen Blick auf die inhaltliche Antwort der Linkspartei auf die aktuelle Situation werfen.

Forderungen

Gesammelt auf einer Themenseite (https://www.die-linke.de/themen/preissteigerungen/) findet man die Forderungen der Linkspartei. So heißt es: Die Gaskrise verschärft sich und die Bundesregierung agiert hilflos. Die Linkspartei fordert dagegen folgende Sofortmaßnahmen:

a) Ein drittes Entlastungspaket, einen „sozialen Klimabonus“ von 125 Euro im Monat für jeden Haushalt. Weitere 50 Euro sollen für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen ausgezahlt werden. Ebenso fordert sie eine sofortige Erhöhung der Sozialleistungen um 200 Euro pro Monat und eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets bis zum Jahresende.

b) Einen sofortigen Gaspreisdeckel sowie ein Verbot von Strom- und Gassperren, verbunden mit einem bezahlbares Grundkontingent für Strom und Gas für alle.

c) Eine Übergewinnsteuer und den Ausbau von erneuerbaren Energien.

Viel könnte man an dieser Stelle ergänzen, wir wollen es aber bei den wesentlichen Punkten belassen. Zum einen stellt sich einem/r die Frage, warum das 9-Euro-Ticket nur bis zum Jahresende verlängert werden soll. Die geforderten Summen stellen sicher ein Verbesserung gegenüber den Einmalzahlungen der Regierung da, aber letztlich bleiben sie auch hinter dem, was notwendig ist: einer Erhöhung der Renten und Arbeitslosengelder auf 1.600 Euro pro Monat mit automatischer Inflationsanpassung.

Zum anderen ist gerade der Punkt mit der Übergewinnsteuer sehr verklausuliert. Die Forderung an sich ist richtig, im Absatz des Forderungskatalogs findet man jedoch auch Aussagen wie „Es ist richtig, Unternehmen zu retten, um einen Kollaps der Versorgung zu verhindern. Der Bund sollte dauerhaft Eigentümer bleiben, um Bürger entlasten zu können.“

Die Verstaatlichung von Unternehmen ist sicher ein Schritt zur Verhinderung von Entlassungen. Doch DIE LINKE drückt sich hier nicht nur darum herum, dass sie ohne Entschädigung erfolgen soll. Es fragt sich auch, warum eigentlich Profiteur:innen von der Krise, die selbst die Preise nach oben treiben, nicht enteignet werden sollen, zumal wenn es nicht nur darum geht, die Versorgung zu sichern, sondern auch, die Energieversorgung ökologisch umzurüsten.

Schließlich wird die Frage, wer die Produktion in solchen verstaatlichten Unternehmen kontrollieren soll – das Management oder die Beschäftigten – erst gar nicht aufgeworfen. Im Grunde geht das Sofortprogramm der Linkspartei nicht über das hinaus, was auch die Bundesregierung tut. Sie will nur, dass das „dauerhaft“ bleibt.

Vor allem aber muss man in einem Land, in dem die Kampferfahrung gering ist, aufzeigen, wie man die eigenen Forderungen umsetzen will. Als Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützen wir beispielsweise Forderungen wie die nach einem Gaspreisdeckel, glauben aber, dass diese nur unter direkter Kontrolle von Beschäftigten sinnvoll ist. Praktisch bedeutet es, ein Gremium aus deren Vertreter:innen zu wählen, das rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar ist. Doch wie kann so eine scheinbare Utopie zur Wirklichkeit werden? Wie können die Forderungen nicht nur hübsch auf Flyer gedruckt, sondern in der Praxis umgesetzt werden?

Eine Antwort auf diese Frage findet man nicht auf der Homepage. Auch nicht im FAQ, welches sonst recht gut kurz und knapp Sachen erklärt.

Über Terminankündigungen hinaus finden wir auch nichts, wie eine Bewegung aufgebaut werden kann oder soll, und schon gar nichts, wie diese in die Betriebe zu tragen ist.

Würde die Linkspartei (bzw. jede ihrer Strömungen) ihren eigenen Anspruch, ihre eigenen Versprechen ernst nehmen, müsste/n sie aktiv daran arbeiten, ein breites Aktionsbündnis, eine Einheitsfront aller Akteur:innen der Arbeiter:innenbewegung aufzubauen. Sie müsste/n dazu vor allem die Gewerkschaften zum gemeinsamen Kampf und Bruch mit Sozialpartner:innenschaft und Konzertierter Aktion auffordern.

Doch DIE LINKE schafft es nicht einmal, konkrete Forderungen für die Tarifabschlüsse mit in die Kampagne aufzunehmen. Nicht nur Sozialleistungen, sondern auch Löhne müssen an die Inflation angepasst werden und die kommende Metallrunde sowie die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst sind kein Nebenschauplatz des Kampfes gegen Preissteigerungen, sondern müssen vielmehr als konkrete Möglichkeit begriffen werden, diesen mit betrieblichen Aktionen zu bestzen. Dass dies nicht thematisiert wird, ist kein Zufall.

Strategische Schwäche

Wie oben bereits erwähnt, unterminiert und fesselt die Sozialpartner:innenschaft der Gewerkschaftsbürokratie die Kampfkraft der Arbeitenden. Der Schulterschluss mit dem Kapital bringt mit sich, dass man aus Sorge um den lokalen Standort zu beschwichtigen versucht. In der Praxis bedeutet das oft genug, dass Arbeitsplätze vernichtet und die Beschäftigten mit Sozialplänen abgespeist werden oder Tarifabschlüsse hinter der aktuellen Inflationsrate zurückbleiben.

Aber warum muss sich eine linke Partei dazu verhalten? Die sogenannte soziale Frage, die nach Verbesserung des Lebensstandards ist nicht nur Kerninteresse von Linken, weil man ein reiner Gutmensch ist. Die 5 Millionen Mitglieder des DGB bilden die stärkste Kraft, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Denn Streik ist eines der effektivsten Mittel, um Druck auf Unternehmen sowie Regierung aufzubauen. Wer also Einfluss in den Gewerkschaften ausübt, kann Kämpfe ganz anders führen. Oder anders herum: Wenn es nicht gelingt, die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für den Kampf gegen Preissteigerungen und die Rezession auf der Straße und in politischen Massenstreiks zu mobilisieren, werden wir die Angriffe von Kapital und Regierung nicht stoppen können.

Doch es stellt seit Jahren eine strategische Schwäche der Linkspartei dar, sich in diesem Bereich nicht als klare Opposition zur SPD und zur Gewerkschaftsbürokratie aufgestellt zu haben. Nicht dass die Linkspartei komplett ohne Einfluss wäre, das zeigen Figuren wie Bernd Riexinger. Aber DIE LINKE will keine antibürokratische Opposition, sondern den Apparat ideologisch nach links verschieben. Diese Politik führt aber dazu, dass ihre gewerkschaftlich Aktiven und vor allem die Funktionär:innen letztlich als Anhängsel der sozialdemokratischen dominierten Bürokratie agieren, ob sie das nun wollen oder nicht.

Dies ist nichts Neues, sondern ein Merkmal reformistischer Parteien – ebenso wenig die Auftrennung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen. Die Linkspartei agiert demzufolge im Parlament und vielleicht auch auf der Straße. In den Betrieben und in den Gewerkschaften überlässt sie aber den ökonomischen Kampf bzw. dessen Verhinderung der Bürokratie (und der SPD). Doch genau dieses Prinzip wird in Krisenzeiten sichtbar aufgebrochen, denn  Inflation oder drohende Rezession zeigen, dass es keine unabhängigen Sphären sind, die voneinander existieren.

Statt also die Gewerkschaftsführungen offen aufzufordern, sich an den Mobilisierungen zu beteiligen, beispielsweise durch offene Briefe und eine Kampagne in den Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörpern, schweigt man. Statt offen eine Positionierung in den Tarifkämpfen einzunehmen und die Beschäftigten in diesen Kämpfen zu unterstützen, ordnet man sich der Gewerkschaftsbürokratie unter und wird damit indirekt Unterstützerin der Sozialpartner:innenschaft.

Verquere Debatte

Das ist nicht die gleiche Debatte, die im Vorfeld zum Parteitag geführt wurde. Denn auch wenn die populäre Linke und Wagenknecht schnell dabei sind, das Bild vom Arbeiter im Blaumann herauszuholen und die Ausrichtung auf diesen zu fordern, so schweigen sie bei der Frage der Gewerkschaften, der Rolle der Bürokratie und dem Kampf, den man gegen diese führen muss. Ähnliches gilt jedoch auch für das Lager der Bewegungslinken, das Organizing als Antwort sieht, das aber der offenen Konfrontation mit der Bürokratie ausweicht. Von den Regierungssozialist:innen will man an der Stelle lieber nicht reden, denn sie haben gar kein wirkliches Interesse, auch nur partiell Druck aufzubauen – das schadet letztendlich nur den Chancen, in eine Regierung zu gelangen.

Hätte man jedoch eine klare Strategie in dem Bereich, wäre die Verbindung von ökonomischen Kämpfen mit jenen Bewegungen wie der gegen Umweltschäden kein großes Rätsel mehr. Denn im Endeffekt müssen diese beiden aktiv miteinander verbunden werden, um erfolgreich Errungenschaften für die gesamte Klasse zu erkämpfen wie beispielsweise ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket oder einen kostenlosen ÖPNV. Stattdessen verliert man sich im internen Richtungsstreit, der aktuell eine neue Ebene des Elends erreicht.

Flügelstreit statt Klassenkampf

Leipzig, 05. September 2022. Sören Pellmann, einer der drei Gründe, warum die Linksfraktion überhaupt im Bundestag sitzt, organisiert einen ersten Protest. Rund 5.000 Menschen versammeln sich auf dem Augustusplatz und beteiligen sich an der Demonstration der Linkspartei. 5 Wochen später wird die Linkspartei wieder einen Protest organisieren – diesmal als Bündnis unter der Führung von Juliane Nagel. Sie ist eine Vertreterin des Lagers der Regierungssozialistinnen und erklärt, dass weder Sahra Wagenknecht noch Sören Pellmann auf dieser Kundgebung sprechen dürfen. Kurzum: Man ist zwar in einer Partei, aber setzt alles daran, nicht gemeinsam zu arbeiten.

Ein Einzelfall, könnte man meinen. Aber nein, auch in Berlin im Bündnis „Heizung, Brot, Frieden“ gibt es ähnliche Querelen. Hieran ist unter anderen Aufstehen beteiligt. Nachdem am Anfang auch Gesichter der Bewegungslinken und marx21 anwesend waren, hätte man meinen können, dass es ein positives Beispiel sein könnte. Trotz Differenzen ist man in einem Bündnis, mobilisiert gemeinsam, während man inhaltlich streitet und versucht, die Partei insgesamt zum Handeln zu zwingen. Hätte, hätte, Fahrradkette! Dieses Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht für alle Basismitglieder, die versuchen, aktiv gegen die Preissteigerungen zu kämpfen.

Feindbild Populismus

Dass es Teile der Partei gibt, die den Linkspopulismus von Sahra Wagenknecht ablehnen, ist gut. Doch erstens ist Kritik an ihr keineswegs immer eine fortschrittliche. Im Gegenteil, der jüngste Sturm der Empörung entbrannte, gerade weil Wagenknecht auch einmal etwas Richtiges gesagt hatte, nämlich dass Deutschland und seine Verbündeten einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führen.

Der rechte Parteiflügel will es sich offenkundig mit der Regierung nicht verscherzen. Fast noch mehr scheint er von einem wahrhaften Abgrenzungswahn gegenüber Sahra Wagenknecht und Aufstehen, also dem linkspopulistischen, an Mélenchons Partei La France Insoumise orientierten Flügel, der Partei besessen zu sein.

Der Aufstehen-Flügel hingegen will eine linkspopulistische Massenmobilisierung, die auch Gewerkschaften und radikale Linke umfassen soll. Gegenüber einer realen Orientierung auf die Arbeiter:innenklasse, der Frage von Streiks und betrieblichen Kämpfen verhält er sich ignorant. Stattdessen wird das „Volk“ aufgerufen, eine Allianz bis hin zu den krisengeschüttelten Unternehmen angestrebt und der russische Imperialismus real verharmlost. Aber er beteiligt sich mit sehr viel Elan an den Aktionen, ja prägt diese in etlichen Städten. Dass Aufstehen versucht, den Mobilisierungen seinen politischen Stempel aufzudrücken, für seine Zwecke zu nutzen, um sich stärken zu wollen, kann ihm niemand ernsthaft vorwerfen. Das will schließlich jede politische Kraft, die in solchen Mobilisierungen aktiv ist.

Die Mehrheit der Linkspartei agiert demgegenüber einfach sektiererisch. Vom Standpunkt der Regierungssozialist:innen ergibt das durchaus Sinn. Ihnen sind Regierungsposten und Verbindungen und gutes Einvernehmen mit SPD, Grünen und Gewerkschaftsbürokratie allemal wichtiger als eine Bewegung, die diese in Schwierigkeiten bringen könnte. Die sog. Bewegungslinke – und in ihrem Schlepptau Strömungen wie marx21 – macht sich zunehmend zur politischen Gehilfin der Lederers, Nagels und Ramelows.

Hoffen auf Veränderung?

Die Spaltung der Linkspartei ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Die verschiedenen Flügel rüsten faktisch zum entscheidenden Kampf und warten vor allem auf eine günstige Gelegenheit. Dabei ist die Krise selbst nur Ausdruck der strategischen Perspektivlosigkeit einer kleinen reformistischen Partei. Zwischen Bewegungsspielerei und Regierungsbeteiligung lässt sich eine schlüssige Strategie schlecht ausarbeiten. Es ist also kein Wunder, dass die Partei ideologisch zwischen verschiedenen Spielarten von Populismus, Reformismus und Identitätspolitik hin und hergerissen wird. Der Krieg um die Ukraine hat die Flügel weiter polarisiert, treibt die einen mehr ins Putinlager, die anderen Richtung Regierung und westlichem Imperialismus.

Kein Wunder, dass immer mehr Aktivist:innen sich abwenden. Zweifellos stellt der kommende Untergang für die sozialistischen Kräfte in der Partei eine zentrale Frage dar. Es ist eigentlich höchste Zeit, offen dem Reformismus den Kampf anzusagen und einen revolutionären Bruch mit der Partei vorzubereiten, also die eigenen Kräfte als Alternative zu bestehenden reformistischen und populistischen Strömungen zu sammeln.

Eine solche Intervention in den Flügelstreik müssten sie zugleich mit dem Kampf für eine Einheitsfront aller Kräfte der Arbeiter:innenbewegung – also auch aller Teile der Linkspartei – verbinden. Das Fatale am inneren Flügelstreit ist ja nicht, dass sich dieser zuspitzt, sondern er vor allem von den Regierungssozialist:innen und der Bewegungslinken mit einer bewussten Sabotage gemeinsamer Aktionen gegen Inflation und Krise verbunden wird. Unglücklicherweise finden sich diese mit ihrem Sektierertum in der „radikalen Linken“ in guter Gesellschaft.

Es mangelt nicht an verschiedenen Bündnissen mit teilweise fast identischen Forderungskatalogen, die – anders als der „solidarische Herbst“ von Gewerkschaften, NGOs und Sozialverbänden – Kapital und Regierung als politischen Gegner:innen verorten und, zumindest verbal, die Notwendigkeit einer Massenmobilisierung proklamieren.

Doch wer diese wirklich will, muss auch danach trachten, aktionsfähige Bündnisstrukturen aufzubauen, Kräfte wie „Heizung, Brot, Frieden“, „Genug ist Genug“, „Nicht auf unserem Rücken“ oder „Umverteilen“ auf lokaler und bundesweiter Ebene zu einem Bündnis zusammenzuschließen. Ein erster Schritt dazu wäre es in jedem Fall, gemeinsame Demonstrationen und Aktionen zu organisieren.

Schon heute ist klar: Wie es ist, kann und darf es nicht bleiben. Wir wissen auch, dass wir im Kampf gegen Inflation, Rezession und Kosten des Krieges einen langen Atem brauchen werden. Umso dringender ist es freilich, die linken Bündnisse auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zusammenzuführen und dazu möglichst rasch lokale und bundesweite Aktionskonferenzen zu organisieren.




Proteste gegen die Preissteigerungen: Wir müssen Klartext sprechen

Martin Suchanek, Infomail 1202, 25. Oktober 2022

Seit Monaten erleben die massivsten Preissteigerungen seit Jahrzehnten. Millionen droht die Verarmung. Die Bundesregierung reagiert einmal zynisch, einmal viel zu spät. Die Landesregierungen und die parlamentarische Opposition geben ebenfalls eine blamable Figur – natürlich auf unsere Kosten – ab.

Eigentlich eine günstige Bedingung, Massen gegen diese Politik und für Sofortmaßnahmen gegen die Preissteigerungen auf die Straße zu bringen; eigentlich eine günstige Gelegenheit, den Kampf um eine Deckelung der Preise für Gas, Strom, Mieten und Lebensmittel mit den laufenden und kommenden Tarifrunden zu koordinieren; eigentlich eine günstige Möglichkeit, für eine klare, internationalistische Antwort von links und für die Enteignung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft wie Energie und Verkehr, der Immobilienkonzerne und anderer Branchen zu mobilisieren.

Doch die Realität ist eine andere. Die Linke und die Arbeiter:innenbewegung vermögen es bisher nicht, die Wut und den Zorn der Bevölkerung auf die Straße zu bringen. In den meisten Städten und Regionen ist die Rechte – zuletzt beim schaurig-reaktionären Aufmarsch der AfD am 8. Oktober in Berlin – der Linken voraus.

Solidarischer Herbst

Optimistische Gemüter könnten natürlich entgegenhalten, dass sich lt. Veranstalter:innen rund 24.000 Menschen an den sechs Demonstrationen des Bündnisses „Solidarischer Herbst“ am 22. Oktober beteiligten. Selbst diese Zahl ist überaus wohlwollend geschätzt. Aber unabhängig davon, ob es nun wirklich 24.000 waren oder nicht, so war die von Gewerkschaften, der Linkspartei, Sozialverbänden, Umweltbewegung und NGOs getragene Bündnisdemonstration die bislang größte gegen die Preissteigerungen und die drohende soziale Katastrophe. Und genau darin liegt das Problem. Eigentlich müssten die Gewerkschaften und die Linke weitaus mehr Menschen auf die Straße bringen können.

Zu den Demonstrationen am 22. Oktober mobilisierten im Wesentlichen die aufrufenden Organisationen die aktiveren Teile ihrer Mitgliedschaft. Darüber hinaus stellten die Linkspartei und Gruppierungen links von ihr größere Blöcke bei den Demos.

Generell zeigten die beiden bundesweit aufrufenden Gewerkschaften – ver.di und GEW – sichtbare und organisierte Präsenz. Bedenkt man freilich, dass in den letzten Monaten wichtige Auseinandersetzungen geführt wurden und die Tarifrunde im öffentlichen Dienst ins Haus steht, so war es eine Mobilisierung mit angezogener Handbremse. Die meisten übrigen DGB-Gewerkschaften blieben auch demgegenüber weit zurück und zeigten bei den meisten Demos kaum sichtbare Präsenz.

Erst recht trifft dies auf die Umweltbewegung zu, auf Fridays for Future, auf Organisationen wie den BUND, auf die Sozialverbände oder die NGOs.

Die Linkspartei mobilisierte zwar beispielsweise in Berlin etliche hundert Teilnehmer:innen in ihrem Block, aber auch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von der einst verkündeten Großmobilisierung gegen die „soziale Kälte der Bundesregierung“ bisher wenig zu sehen ist.

Die bescheidene Gesamtzahl kommt letztlich nicht von ungefähr. In vielen Städten gab es keine Flugblätter, keine Plakate, keine systematische Werbung in den Betrieben oder Wohnbezirken. Erreicht wurden in erster Linie die schon aktiven Mitglieder oder, im Falle der Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen, die Funktionsträger:innen. Die Masse der Bevölkerung – und damit auch deren Wut, Angst, Furcht – wurde am 22. Oktober nicht erreicht. Und genau genommen wurde das auch nicht ernsthaft versucht.

Schließlich ging es dem aufrufenden Bündnis nicht um eine Mobilisierung gegen die Regierungspolitik, gegen deren Abwälzung der Kosten von Krieg und Krise auf die Lohnabhängigen. Für die aktuellen Preissteigerungen wird die Bundesregierung oder das deutsche Kapital erst gar nicht verantwortlich gemacht – allein der Putin sei’s gewesen.

Natürlich wird beklagt, dass die Reichen auch in den letzten Jahren reicher und die Armen wieder ärmer geworden seien, zu Recht wird eine Reihe von Maßnahmen zur Umverteilung von oben nach unten eingefordert. Doch die Regierung erscheint im Aufruf des Bündnisses nicht als Teil des Problems, sondern als einer der Lösung, dessen „Potential“ bisher jedoch blockiert wird. So heißt es im Aufruf:

„Die Ampel muss Vermögende und Krisengewinnler zur Solidarität verpflichten und endlich angemessen belasten – damit der Staat gezielt entlasten und in unsere Zukunft investieren kann.

Ob es in diesem Winter gelingt, unsere Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren und gleichzeitig die klimapolitischen Weichen zu stellen – das hängt entscheidend davon ab, wie viel Solidarität die Ampel einzufordern bereit ist. Sie hat es in der Hand, wie dieser Winter wird: Einer der Verzweiflung und Wut. Oder einer mit neuer Zuversicht für eine sozial gerechtere, ökologische und lebenswerte Zukunft.

Bisher wird in der Ampel ein konsequenter, solidarischer Wandel blockiert. Das wollen wir ändern. Gemeinsam gehen wir auf die Straßen – für solidarische Politik und Klimaschutz, gegen Spaltung und Hetze!“

Wer hofft mit einigen Demos die Regierung zum konsequenten und solidarischen Wandel treiben zu können, braucht weder wirkliche Massendemos noch eine Kampfperspektive für die kommenden Monate. Dazu reichen auch Symbolpolitik und das Prinzip Hoffnung.

Eine solche Politik mobilisiert keine Massen. Sie führt allenfalls dazu, dass die Regierung einige Zugeständnisse macht, um eine noch größere soziale Verwerfung und Explosionen in Zeiten von Krieg und Krise zu vermeiden. Dies wird den Rechten weiter ermöglichen, ihre reaktionäre, chauvinistische Demagogie zu verbreiten und dafür Gehör zu finden. Angesichts des Fehlens einer massenwirksamen politischen Mobilisierung der Linken werden natürlich nicht alle nach rechts getrieben, wohl aber werden neben Wut, Angst, Empörung auch Frustration und Desillusionierung, Passivität und Resignation über kurz oder lang gefördert – also eine Stimmungslage, die der Regierung unverdientermaßen über den Winter helfen kann.

Die politische Hauptverantwortung für diese Lage tragen die Gewerkschaftsführungen, die bürokratischen Apparate – und zwar nicht aus Zufall, sondern als notwendiges Resultat einer Politik, die auf konzertierte Aktion statt Klassenkampf, auf nationalen Schulterschluss statt Kritik am Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus setzt. Dass diese Ampel konforme Politik nicht nur in den gewerkschaftlichen Apparaten, sondern auch in der Linkspartei und selbst Teilen der „radikalen“ Linken ihre Fortsetzung findet, verdeutlicht das Problem, vor dem wir politisch stehen.

Was tun?

Angesichts dieser ungünstigen Ausgangslage, müssen sich alle linken, klassenkämpferischen Kräfte die Frage stellen, wie die kann die Blockadehaltung der Gewerkschaftsapparate durchbrochen werden. Ein Hoffen auf kämpferische Tarifrunden von IG Metall und ver.di mag zwar angesichts der massiven Widerstände von Kapital und Staat (den sog. öffentlichen Arbeitgeber:innen) eine gewisse Berechtigung haben, ein Selbstläufer ist das jedoch keinesfalls. Wer zum 22. Oktober nur mit angezogener Handbremse (ver.di) oder fast gar nicht (IG Metall) mobilisiert, dem sind auch faule, tarifpolitische Kompromisse zuzutrauen, wenn auch mit etwas mehr Theaterdonner inszenierte.

Natürlich stehen auch SPD und Grüne von Teilen ihrer Wähler:innenbasis und Mitgliedschaft unter Druck, doch auch hier regiert das Prinzip Hoffnung trotz Verlängerung von Atom- und Kohleverstromung, trotz Milliarden für Aufrüstung und Bundeswehr, trotz imperialistischer Kriegspolitik im Kampf um die Ukraine, trotz einer Gas- und Energiepreisbremse, von der bis heute niemand weiß, ob überhaupt und wenn ja, wie viel sie den Lohnabhängigen und den Mittelschichten bringen und was es sie im Gegenzug (Steuern, Sozialbeiträge) kosten wird.

Immerhin kann man die Politik von DGB, SPD und Grünen noch insofern nachvollziehen, als sie alle entweder Bestandteil der Regierung oder im Falle der Gewerkschaftsapparate und großen Konzernbetriebsräte eine wesentliche soziale Stütze ebendieser darstellen.

Teile der Linkspartei bringen freilich das Kunststück fertig, der Regierung hinterherzulaufen, obwohl diese von ihr gar nichts wissen will. Eine viel dümmlichere „linke“ Opposition könnte sich die Ampelkoalition gar nicht wünschen.

Zuerst verkündet der neue Parteichef der Linken einen „heißen Herbst“ gegen die Regierung, dann sabotiert die eigene Partei die Anstrengungen. Nachdem in Leipzig unter Führung Sören Pellmanns am 5. September 4.000 – 5.000 Menschen mobilisiert wurden, wurde der kleine Achtungserfolg vom anderen Parteiflügel faktisch zunichtegemacht, die Montagsdemos wurden eingestellt und den Rechten überlassen.

Auf der Demonstration am 15. Oktober durfte dann auch Pellmann bei der Demonstration der den Antideutschen nahestehenden Leipziger Parteispitze um Juliane Nagel erst gar nicht als Redner auftauchen. Dieses Bild liefert nicht nur die Linkspartei in Leipzig, sondern im gesamten Bundesgebiet ab. So weigerte sich die Berliner LINKE, die Demonstration von Heizung, Brot, Frieden am 3. Oktober zu unterstützen, weil diese „russlandfreundlich“ sei und zu viele Leute von Aufstehen an der Mobilisierung beteiligt wären.

Doch mit diesem Sektierertum der reformistischen Linkspartei-Führungen nicht genug.

Auch im radikaleren, linken Spektrum mangelt es nicht an verschiedenen Bündnissen mit teilweise fast identischen Forderungskatalogen, die – anders als der „solidarisch Herbst“ – Kapital und Regierung als politischen Gegner verorten und, zumindest verbal, die Notwendigkeit einer Massenmobilisierung proklamieren.

Doch wer diese wirklich will, muss auch danach trachten, aktionsfähige Bündnisstrukturen aufzubauen, Kräfte wie Heizung, Brot, Frieden, wie Genug ist Genug, wie Nicht auf unserem Rücken oder Umverteilen auf lokaler und bundesweiter Ebene zu einem Bündnis zusammenzuschließen. Ein erster Schritt dazu wäre es in jedem Fall, gemeinsame Demonstrationen und Aktionen zu organisieren.

Schon heute ist klar: Wie es ist, kann und darf es nicht bleiben. Wir wissen auch, dass wir im Kampf gegen Inflation, Rezession und Kosten des Krieges einen langen Atem brauchen werden. Umso dringender ist es freilich, die linken Bündnisse auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zusammenzuführen und dazu möglichst rasch lokale und bundesweite Aktionskonferenzen zu organisieren.




Wie bekämpfen wir die Inflation?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die Inflationsrate steigt und steigt. Betrug sie im August 2022 8,8 %, wird im Herbst schon ein zweistelliger Prozentsatz erwartet. Bürgerliche Ökonom:innen sprechen zwar gern davon, dass die Spitze der Inflation bald erreicht sein solle und es sich wieder „zu den normalen“ 2 % hin entwickeln würde. Eins ist aber sicher: Die Preise werden oben bleiben und mit ihnen wird der finanzielle Druck im Alltag der Bevölkerung zunehmen.

Dies wird deutlich, wenn man die hiesige Inflationsrate mit jener anderer Länder vergleicht. So weisen im August 2022 Österreich 9,2 %, Estland 25,2 % und der EU-Durchschnitt 10,1 % auf. Die Türkei verzeichnet gar satte 80,1 %. Die Antwort der Ampelregierung hierzulande? Zuerst die kapitalfreundliche Gasumlage sowie Einmalzahlungen im Entlastungspaket nach dem Gießkannenprinzip. Nun folgt die Verstaatlichung von Uniper und auch der Ampel kommen Zweifel an der Gasumlage. Gleichzeitig werden einzelne Konzerne mit Milliardensubventionen gerettet und die hiesige Energiewirtschaft macht unterm Strich Milliardengewinne. Auch wenn jetzt eine Deckelung der Preise vage in Aussicht gestellt wird, so wissen doch alle, dass diese nicht verspätet, sondern auch vollkommen unzureichend kommt. Dagegen formiert sich Widerstand – und er ist dringend nötig!

Somit ist es nicht verwunderlich, dass die stark ansteigenden Preise nicht nur Thema in Politshows und bürgerlichen Kolumnen sind, sondern auch täglich Gesprächsstoff an den Frühstückstischen, den Pausenräumen und in den Betrieben liefern. Die Lohnabhängigen bekommen die Auswirkungen täglich durch gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zu spüren und der Unmut darüber wird immer lauter. Auch wenn es noch nicht überkocht, die Stimmung scheint zu brodeln und die Menschen suchen nach Aktivitätsmöglichkeiten, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Ein Hinweis darauf stellen zum Beispiel die Teilnehmer:innenzahlen bei den ersten Montagsdemonstrationen wie z.B. 4.000 Teilnehmer:innen in Leipzig dar. Die sich formierenden Proteste werfen aber die Frage auf: Wofür sollten wir eigentlich auf die Straße gehen? Und wie können die Proteste erfolgreich sein?

Widerstand – und er ist dringend nötig!

Allein die Gasrechnung im Briefkasten sollte reichen, um uns auf die Straße zu treiben. Doch leider reicht purer Unmut über die Preiserhöhungen nicht aus, um das Problem zu lösen. Es bedarf Forderungen, die sich nicht nur gegen die hohen Preise richten, sondern dauerhaft Verbesserungen schaffen. Und es braucht eine Bewegung und Aktionsformen, mit denen wir unsere Ziele auch durchsetzen können. Ansonsten erreichen wir allenfalls nur Teilzugeständnisse mit der Gefahr, dass die Proteste mit der Zeit schwächer werden. Denn: Sollten die aktuellen Preissteigerungen dauerhaft durchgesetzt werden, werden Millionen nicht nur sehr viel ärmer, sondern auch deren Kampfkraft und Mobilisierungsbereitschaft geschwächt sein. Wir würden dann unter noch viel schlechteren Voraussetzungen in die nächsten Kämpfe gehen. Deswegen müssen wir rasch handeln.

In der entstehenden Bewegung und in den sich formierenden Bündnissen schlagen wir daher folgende Forderungen vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

Auch wenn viele vor einer „Lohn-Preis-Spirale“ warnen, so ist dies vielmehr ein Hirngespinst als Realität. Vor allem ist es ein Schreckgespenst, um die Lohnabhängigen zu Zurückhaltung und Verzicht, also zur Bezahlung von Kriegen, Sanktionen und Rezession zu treiben. Wir brauchen genau das Gegenteil: Eine automatische Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen  an die Preissteigerung hat mehrere Vorteile. Wir sind den Schwankungen des Marktes weniger stark ausgeliefert und alle Arbeiter:innen, ob beschäftigt oder nicht, ob alt oder jung erhalten eine solche Erhöhung ihrer Einkommen.

2. Kampf um höhere Löhne! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

In den laufenden Tarifrunden wie in allen Betrieben ist es essenziell, dass wir Forderung nach vollem Inflationsausgleich und Wettmachen des Verzichts der letzten Jahre aufwerfen. So haben die Berliner BSR-Beschäftigten eine Entgelterhöhung von 16 % aufgestellt. In allen Betrieben sollten die Gewerkschaften, Betriebsräte und Vertrauensleute Versammlungen organisieren, um die Frage zu diskutieren, wie die Preissteigerungen wettgemacht werden können, und Sondertarifverträge einfordern oder bestehende kündigen, um streikfähig zu werden.

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

Der diskutierte Gaspreisdeckel, der selbst von der CDU ins Gespräch gebracht wurde, zeigt, dass theoretisch viel möglich ist. Praktisch darf es aber nicht dabei bleiben, sondern muss auf alle wichtigen Konsumgüter ausgeweitet werden. Zentral ist aber nicht nur der Deckel, sondern auch, wer dessen Umsetzung kontrolliert. Das können wir weder den Konzernen noch Behörden überlassen, das müssen vielmehr die Arbeiter:innen in Preiskontrollkomitees tun.

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

In Spanien ist eine einmalige Übergewinnabgabe schon Realität, in anderen Ländern geplant. Die Bundesregierung kriegt nicht einmal das hin. Unternehmen, die aus der Krise Gewinn ziehen, sollen sich nicht weiter die Taschen vollstopfen. Was schon während der Pandemie notwendig gewesen wäre, ist nun längst überfällig! Damit das klappt, müssen Unternehmen ihre Geschäftsbücher offenlegen. So können wir nachvollziehen, wer zu den Gewinner:innen der Krise gehört. Dabei sollten wir aber nicht stehenbleiben. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst, und statt dem weiter stumm zuzusehen, müssen wir dem entgegenwirken. Wir brauchen daher eine progressive Besteuerung von Kapital, Gewinnen und privaten Vermögen!

5. Die Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen

Der freie Markt regelt – nichts. Konzerne, die der Profitlogik sowie Konkurrenz unterworfen sind, wirtschaften eben im Interesse derjenigen, denen sie gehören, und nicht der Bevölkerung. Das ist nichts Neues. Selbst wenn sich der Staat wie beim Gasimporteur Uniper genötigt sieht, das Unternehmen und seine Milliardenverluste zu verstaatlichen, entschädigt er noch immer Aktienbesitzer:innen wie den finnischen Konzern Fortum mit 480 Millionen Euro.

Was wir brauchen, ist eine entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen im Energiesektor, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, die Preissteigerungen für Lohnabhängige und Kleinunternehmen zu verhindern und die Energiewirtschaft im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit umzustellen. Dazu braucht es einen Plan unter Kontrolle der Lohnabhängigen durch demokratisch gewählte Komitees, die jederzeit abwählbar und rechenschaftspflichtig sind.

Stilles Schweigen: Was sagen wir zum Krieg?

Darüber hinaus darf zur Frage des Ukrainekrieges nicht geschwiegen werden. Auch wenn eine einheitliche Positionierung gegen Putins Angriffskrieg keine Bedingung zur Teilnahme an Bündnissen sein kann, so ist es Aufgabe von Revolutionär:innen, dazu Stellung zu beziehen.

Schließlich treibt die Kriegspolitik die Preise mit in die Höhe und wird als Rechtfertigung seitens der deutschen Bourgeoisie genutzt, dass wir kollektiv „verzichten“ müssen.

Die Antwort von linker Seite muss darauf ganz klar sein: Wir frieren nicht für ihren Krieg! Das heißt praktisch, gegen die Sanktionen gegenüber Russland einzutreten. Große Teile der Gewerkschaften und der Umweltbewegung, die SPD und selbst Teile der Linkspartei unterstützen die Sanktionen, manche fordern gar Waffenlieferungen von der Regierung. Sie stellen sich damit nicht nur auf die Seite des deutschen Imperialismus, diese Position schwächt auch den Kampf gegen die Preissteigerungen und die Auswirkungen der kommenden Rezession, weil sie der Lüge nachgibt, dass wir ein gemeinsames Interesse mit den Herrschenden im geostrategischen Messen mit Russland hegten.

Linke, die Sanktionen, Aufrüstung und das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr ablehnen, werden demagogisch als „Putinversteher:innen“ gebrandmarkt – selbst wenn sie das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigen, die reaktionäre Invasion Russlands verurteilen und sich mit den dortigen Protesten gegen den Krieg solidarisieren.

In Wirklichkeit bilden solche Angriffe nur eine ideologische Flankendeckung für die Regierung und die NATO-Staaten. Die Unterstützer:innen der Sanktionspolitik müssen sich aber auch mit einem Widerspruch rumschlagen: Während sie zum Teil die Maßnahmen verteidigen, müssen ihre Mitglieder ganz praktisch die Konsequenzen ausbaden, wenn sie ihre Gas- und Stromrechnung zahlen. Diesen Widerspruch gilt es zuzuspitzen. Wir fordern vom DGB wie von allen reformistischen Parteien wie DER LINKEN oder auch der SPD bzw. ihren Gliederungen, gegen die Inflationskosten auf die Straße zu gehen.

Sollten sich diese Kräfte rausreden, dass man keine Aktion mit den „Putinfreund:innen“ machen sollte, gilt es, diesen zwei Argumente entgegenzuhalten: Es ist richtig, dass es Kräfte innerhalb der Bewegung gibt, die eine einseitige (oder direkt falsche) Analyse des Ukrainekonfliktes vorgelegt haben und Russland als reines Opfer betrachten, das dem US- und NATO-Imperialismus ausgeliefert ist. Statt aber die Sanktionen gutzuheißen und damit die Kriegsziele des deutschen Imperialismus zu unterstützen, muss der Slogan von allen fortschrittlichen und internationalistischen Kräften „Weder Putin noch NATO!“ heißen.

Zum anderen kann es nicht sein, dass Organisationen, die keine klare Kante gegen die Kriegspolitik zeigen, die Bewegung spalten und die Masse der Lohnabhängigen in Stich lassen. Wer tatsächlich gegen die Inflation und ihre Auswirkungen kämpfen will, muss eine schlagkräftige Bewegung aufbauen. Es ist dabei normal, dass nicht alle Kräfte zu allen Fragen einheitliche Positionen vertreten. Statt sich aber abzukapseln, bedarf es für die gemeinsamen Ziele einer Einheitsfront, also gemeinsamer Aktivität und gleichzeitiger Kritik- und Propagandafreiheit nach außen wie innen.

Revolutionär:innen müssen also innerhalb der Bewegung für eine klare Analyse des Krieges eintreten, also die Verteidiger:innen Russlands sowie jene Akteur:innen, die eine prowestliche Abgleitfläche aufweisen, politisch kritisieren. Aber wir machen eine einheitliche Position zum Krieg nicht zur Vorbedingung gemeinsamer Mobilisierungen und Kämpfe gegen die Preissteigerungen.

Zu den Massen?!

Die erste Antwort auf die Frage liest sich einfacher, als sie in der Praxis durchzusetzen ist. Wer Erfolg haben will, muss Massen organisieren – und kämpfen. Denn alleiniges Demonstrieren reicht nicht aus. Das haben Fridays for Future und andere Proteste in der Vergangenheit gezeigt.

Um jene zu erreichen, die noch nicht überzeugt sind, sollten wir Vollversammlungen an den Orten organisieren, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen wie Schulen, Unis und Betriebe. So können wir unsere Forderungen mit Kolleg:innen und Bekannten diskutieren, die von den Protesten noch nichts gehört haben oder noch nicht überzeugt sind, auf die Straße zu gehen. Auch möglich ist es, Infoveranstaltungen und Mobiaktionen für die nächste Demo durchzuführen.

Dies sollte aber nicht nur von Einzelpersonen umgesetzt werden. Ziel muss es sein, bestehende Organisationen der Arbeiter:innenklasse für die Mobilisierung und Organisation in Bewegung zu zwingen. Auch wenn das schon teilweise stattfindet, muss dies noch bundesweit ausgeweitet werden. Praktisch heißt das: Gewerkschaften, Linke und selbst die SPD offen dazu aufzurufen, die Proteste zu unterstützen. Darüber hinaus muss man aber auch praktisch in diese Strukturen intervenieren und zusammen mit Mitgliedern Anträge stellen, dass sowohl lokale als auch Dachstrukturen die Bewegung unterstützen. Dabei heißt unterstützen, nicht nur den Namen der Organisation unter den Aufruf zu setzen, sondern aktiv die eigene Mitgliedschaft zu mobilisieren sowie diese dafür zu gewinnen, obige Aktionskomitees und Vollversammlungen zu organisieren. So kann gewährleistet werden, dass man nicht nur in einzelnen Städten existiert, sondern sich bundesweit ausbreitet, und es stehen mehr Ressourcen zur Verfügung, als wenn nur eine Ansammlung von Einzelpersonen aktiv wird. Ebenso geht es auch darum, den Führungsanspruch der Organisationen in Frage zu stellen – dies klappt am besten in der gemeinsamen Aktion. Im Idealfall gelingt es auch, sich auf internationaler Ebene zu koordinieren: beispielsweise gemeinsame Aktionstage mit der britischen Enough-is-enough-Kampagne oder aufkeimenden Protesten in Frankreich, aber auch der halbkolonialen Welt.

Dabei muss aber klar sein: Demonstrationen dürfen nicht das einzige Mittel sein. Wenn wir erfolgreich Druck aufbauen wollen, müssen Revolutionär:innen von Anfang darauf hinweisen und dafür kämpfen, dass politische Streiks nötig sein werden, um unsere Forderungen durchzusetzen. Nur wenn wir bereit sind, die Profite anzugreifen, können wir auch genügend Schlagkraft entwickeln, um erfolgreich zu sein. Das muss aber auch offen und transparent in der Bewegung diskutiert werden. Nötig sind dazu gemeinsame Aktions- und Strategiekonferenzen, an denen sich alle, die die Bewegung unterstützen bzw. dies wollen, beteiligen können. Diese Worte sind einfacher geschrieben als getan. Wer die deutsche Gewerkschaftsmaschinerie kennt, weiß das. Ein Blick auf die letzten Tarifabschlüsse reicht da. Damit dies also in der Praxis umgesetzt werden kann, müssen wir koordiniert Anträge in gewerkschaftliche und betriebliche Gremien einbringen und zugleich in den Gewerkschaften eine klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen. Nur so kann die Kontrolle der Bürokratie, die vermeiden wird, die Kämpfe aktiv zuzuspitzen, herausgefordert und ein Stück weit durchbrochen werden. Einen Ansatzpunkt dazu bietet die Vernetzung für kämpferische Gewerkschafter:innen.

Kurzum: Wenn der heiße Herbst erfolgreich werden soll, dann müssen wir in den aufkeimenden Bewegungen gemeinsam für eine klassenkämpferische Ausrichtung eintreten, statt mit drei Paar Socken im Herbstblues auf der Couch zu versacken!