Wieso, weshalb, warum? Eine Antwort an:  Wir // Jetzt // Hier

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1237, 22. November 2023

Nach dem Parteitag der Linkspartei in Augsburg veröffentlichen „Linke aus verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft“ den Beitrag „Wir // Jetzt // Hier“ und kündigen ihren Eintritt in DIE LINKE an.

Wer im letzten Jahrzehnt die Politik der radikalen Linken in Deutschland verfolgen musste, den erinnern darin viele Formulierungen und Inhalte an die Interventionistische Linke und andere postautonome Gruppierungen. Diese ist seit Corona erstaunlich stumm, zum Ukrainekrieg lässt sie sich kaum blicken und zu Palästina hat sie praktisch nichts zu sagen.

Aber es bleibt letztlich nur eine Mutmaßung, woher die Autor:innen genau kommen, die schreiben. In einer Telegram-Gruppe haben die Initiator:innen über 500 Menschen gesammelt, am 20. November sollten möglich alle in die Partei eintreten. Doch das Schreiben wirft in vielerlei Hinsicht mehr Fragen auf, als es klärt. Deswegen fragen wir zurück und freuen uns auf eine Antwort.

Wieso?

Die stetig voranschreitende Klimakrise, der scheinbar unaufhaltsame Rechtsruck – all das scheint unerträglich ohne eine linke Alternative, insbesondere für Aktivist:innen, die „sich der parlamentarischen Politik nie verbunden gefühlt haben.“ Stattdessen haben sie „protestiert, blockiert, gestreikt und Politik und Kultur von unten“ organisiert. So weit so verständlich.

Im späteren kommt dann die weitere Erklärung: „Durch den Abgang des Wagenknecht-Lagers kann sie sich entweder als eine solche verbindende Organisation neu aufstellen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.“ Aber schreibt der Abgang von Wagenknecht wirklich die Geschichte der Linkspartei neu?

Weshalb?

Nein, eigentlich nicht. Denn Wagenknecht sitzt nicht in Thüringen, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung und schiebt dort auch nicht ab. Wagenknecht war auch nicht dafür verantwortlich, dass es keine Kampagne für offene Grenzen gegeben und man nicht versucht hat, mit den Gewerkschaftsmitgliedern der Partei dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete in diese aufgenommen werden, man dort gemeinsam Arbeitskämpfe führen könnte, die rassistische Vorurteile abbauen und Verbesserungen für alle mit sich bringen.

Dass das nicht stattgefunden hat, ist vor allem das Werk des Flügels der Regierungssozialist:innen. Mit diesen hat kein Bruch stattgefunden, vielmehr hat sich die Bewegungslinke aus Angst vor dem Untergang an ihn geklammert und selbst angefangen, „Rebellisches Regieren“ auf ihre Fahne zu schreiben. Doch das wisst ihr selber. Deswegen schreibt ihr: „Es gibt kein ,rebellisches Regieren‘ mit SPD und Grünen. Das zeigt die zunehmende Abschiebepraxis in Thüringen ebenso wie die Blockade des Volksentscheids ,Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unter Rot-Rot-Grün in Berlin“ und „DIE LINKE hat sich mit diesen Regierungsprojekten für eine Koalitionsfähigkeit verbogen und sich zur Komplizin des rot-grünen Mitte-Extremismus gemacht.“

Das wollt ihr stoppen, das wollt ihr verändern und deswegen tretet ihr nun in die Partei ein. Aber wie genau das vonstattengehen soll, das verschweigt ihr. Mit dieser Entscheidung und ohne Plan lauft ihr Gefahr, einfach nur die neue Bewegungslinke zu werden. Ihr nehmt den Streit, der seit Gründung der Linkspartei stattfindet, auf. Aber bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, da hattet ihr selber keinen Plan, wie man die Bewegung voranbringt, Druck auf die Linkspartei ausübt, damit sie nicht ihre eigene Regierungsbeteiligung über den Erfolg der Bewegung stellt. Was macht euch so sicher, dass es jetzt ganz anders läuft? Denn es war nicht Wagenknecht, die in Berlin den Volksentscheid blockiert hat.

Für eine Partei der Arbeiter:innen?

Die Forderungen nach einem durchschnittlichen Facharbeiter:innengehalt und auch nach begrenzten Amtszeiten für Abgeordnete sind super. Wir unterstützen diese. Aber eine Partei für Arbeiter:innen macht mehr aus, als dass Mandatsträger:innen Arbeiter:innen sind und einen Teil ihrer Gehälter abgeben. Das ist ein Mittel, das verhindern soll, dass eine Schicht von Fuktionär:innen entsteht, die sich verselbständigt und im Interesse ihrer eigenen ökonomischen Stellung handelt. Das reicht aber nicht aus.

Mandatsträger:innen müssen ihrer Basis gegenüber auch rechenschaftspflichtig – und zur Not auch abwählbar – sein. Passiert das nicht, können sich Bundestagsabgeordnete mit ihrem Mandat nicht nur aus dem Staub machen, sondern Mandatsträger:innen können soziale Bewegungen und Arbeiter:innenkämpfe verraten, ohne unmittelbar Konsequenzen zu tragen.

Und auch das reicht nicht, um eine Partei der Arbeiter:innen zu sein. Busfahrer:innen und Krankenpflegende können im Bundestag sitzen – das ist cool und notwendig –, aber inhaltlich trotzdem keine Politik machen, die den Kapitalismus überwindet. Darum geht’s doch hoffentlich. Das ist eine Annahme, denn ja, es ist wichtig, wie ihr schreibt, „eine radikale, linke Sprache der Gegenwart zu entwickeln“. Aber es hilft nicht, alles scheinbar Angestaubte zu ersetzen, wenn man niemand mehr weiß, ob man denn nun transformieren, zerschlagen oder doch nur reformieren will. Klare Inhalte und Vorhaben einfach verständlich zu kommunizieren, findet nicht dadurch statt, dass man schöne Umschreibungen für Worte wie „Arbeiter:innenklasse“ oder „Sozialismus“ findet. Es geht um konkrete Ideen, die man mit entsprechender Politik umsetzen will. Denn das Wort „Enteignung“ hat z. B. die Mehrheit der Berliner Bevölkerung beim Volksentscheid auch nicht verschreckt.

Warum?

Mit der Krise der Interventionistischen Linken ist es still um weite Teile der postautonomen Linken geworden. Dabei war ihre Stagnation ein Resultat der Krise der Linkspartei. Über Jahre ging dieser Teil der „radikalen Linken“ eine Art Arbeitsteilung mit ihr ein, die Luxemburg-Stiftung und andere Finanzquellen dienten als Verbindungsstück. Nun steht dieses Verhältnis in Frage, denn wenn DIE LINKE aus dem Bundestag und den Landesparlamenten verschwindet, versiegen auch diese Geldquellen. Und das trifft ganz offenkundig auch Linke, die sich ansonsten die Hände nicht schmutzig machen wollten im parlamentarischen Geschäft, wenn es heißt: „Soziale und ökologische Bewegungen brauchen ein ökonomisches Zuhause.“

Deswegen überrascht es nicht, dass Teile aus diesem Spektrum sich entscheiden, das was sie letzten Endes immer gewesen sind, nun auch zu formalisieren. Es ist keine große, neue Veränderung, sondern eine Konsolidierung der alten Kräfte. Eventpolitik kann nun unter einem neuen Banner betrieben werden – und das hält zusammen. Das ist schade, denn die Krise der Linkspartei muss genutzt werden, um über Strategien zu reden und aus vergangenen Fehlern zu lernen.

Denn für sozialistische Politik in der Linkspartei zu kämpfen, das haben schon andere versucht in den letzten Jahren. Die Resultate sind bescheiden: marx21 hat sich im Oktober in mehrere Teile gespalten, die SAV letztes Jahr, wenn auch aus anderen Gründen. Die Antikapitalistische Linke ist kaum wahrnehmbar. Also was ist es, was euch unterscheidet? Was ist es, das verspricht, dass ihr es tatsächlich besser macht? Was ist der Plan? Wenn ihr diese Fragen nicht genügend beantworten könnt, werdet ihr nur ein neues linkes Feigenblatt für eine Partei, die vielleicht dynamischer wird, ein paar schöne Kampagnen fährt – aber letzten Endes schweigt, wenn es darum geht, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen.

Euer Aufruf fällt dabei hinter die Einschätzungen oben genannter Gruppierungen zur Linkspartei weit zurück. So heißt es: „Für alle, die es ernst meinen mit dem Klimaschutz, dem Feminismus, dem Antirassismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, für LGBTIQA+-Rechte und andere umwelt- und gesellschaftspolitisch fortschrittliche Anliegen kann dieses Zuhause nur in einer antikapitalistischen Partei liegen. Die Parteispitze hat ihren Willen zu einer Erneuerung der Partei und einer Öffnung hin zu den sozialökologischen Bewegungen wiederholt deutlich gemacht.“

So weit her ist es mit dem Antikapitalismus der Linkspartei bekanntlich nicht. Und den Willen zur Erneuerung? Worin besteht der? Bloße „Öffnung“ und Wachstumspläne ändern am Inhalt, Programm und an der seit Jahren eingeübten bürgerlichen Reformpolitik in Parlamenten, Kommunen, Stadträten, von Landesregierungen und Bürgermeister:innen nichts.

Was also tun?

Keine linke Alternative zu haben, während die Rechten immer stärken werden, macht Angst. Die Klimakrise und Kriege tun ihr Restliches dazu und man fühlt sich ohnmächtig. Aber diese Angst sollte nicht dazu führen, dass der „Kampf für Demokratie“ und eine „Transformation“, unter der sich alle vorstellen können, was sie gerade wollen, wichtiger ist als der für Sozialismus. Wer das anders sieht, der hat nicht verstanden, warum die AfD immer stärker geworden ist und weiß letztlich keinen Ausweg, wenn es darum geht, den Rechtsruck zu bekämpfen.

Denn die aktuelle Hetze, die wir erleben, kommt nicht nur von der AfD, sondern wird von allen ach so demokratischen Kräften mitgetragen. Sie ist Ausdruck einer sich international verschärfenden Konkurrenz, die den Kampf um die gewaltvolle Neuaufteilung der Welt vorbereitet und gleichzeitig die Sparmaßnahmen im Innern zu übertünchen versucht.

Um effektiv dagegen vorzugehen, kann man nicht sagen: „Hey, wir brauchen eine Linke, weil es eine Rechte gibt, wir müssen diffus über Umverteilung reden und für eine geile Sozialpolitik eintreten!“ Denn die aktuelle Situation lässt nicht zu, dass genügend Geld für eine geile Sozialpolitik einfach da ist. Selbst für solche Umverteilungsforderungen muss man den Klassenkampf mit Streiks forcieren und diese mit der Eigentumsfrage verbinden. Dementsprechend müssen Kämpfe für Lohnerhöhung, Verbesserungen der Lebensbedingungen immer mit einer Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems aktiv und deutlich verbunden werden. Ansonsten rennen wir ins Leere, erfahren Niederlagen und schaffen es nicht, eine gesellschaftlich linke Perspektive sichtbar zu machen.

Das heißt nicht, dass man sagen soll: „Hey, lass‘ für höhere Löhne kämpfen und ach, vergiss nicht, gegen den Kapitalismus musst du auch sein!“ sondern, dass man es schafft, Forderungen aufzustellen, die eine Brücke weisen vom Kampf für unmittelbare Ziele zu dem gegen das System, welches diese in Frage stellen. Beispielsweise „Hey, lass uns für höhere Löhne kämpfen, die automatisch an die Inflation angepasst werden und deren Erhöhung von den Lohnabhängigen selbst kontrolliert wird. Das ist doch besser, als bei jeder Schwankung streiken zu müssen und zu hoffen, dass man dann ein bisschen was abbekommt. Und sinnvoll ist auch, dass ihr dann ein Komitee gründet, was kontrolliert, dass das auch umgesetzt wird.“ Das kann man nur durchsetzen, wenn man eine gewerkschaftliche Basisopposition gegen die Bürokratie organisiert, Bewegungen so aufbaut, dass sie Selbstermächtigungsorgane der Klasse (Komitees an Schulen, Unis und Betrieben, Vorformen von Räten also) schafft und in diesen für eine Politik der Zuspitzung, der gesellschaftlichen Veränderung eintritt.

Und irgendwie bleibt beim Lesen des Textes, das Gefühl, dass es eher die Angst vor rechts ist, die euch planlos in DIE LINKE treibt, ohne Weg zurück.  Also, was ist euer Plan?




Organisieren, protestieren, streiken – wir zahlen nicht für eure Krise!

Aufruf der Gruppe Arbeiter:innenmacht und der Jugendorganisation REVOLUTION zur Demonstration gegen die Krisenpolitik der Ampel in Leipzig, Infomail 1197, 3, September 2022

Demonstration, 5. September, Leipzig, Augustusplatz, 19.00

Wirtschaftskrise und Inflation haben längst auch in Deutschland voll eingeschlagen. Seit der letzten Wirtschaftskrise von 2007/8 nie tatsächlich überwunden, hatte sich bereits auf der Höhe der Coronapandemie eine erneute Zuspitzung angekündigt. Der Krieg in der Ukraine und der Wirtschaftskrieg zwischen NATO und Russland wirken nun als Brandbeschleuniger dieser Entwicklung.

Sowohl Russland als auch der Westen drehen an der Schraube der Inflation, sei es durch das Zurückhalten von Gas- und Getreideexporten auf der einen oder die Wirtschafssanktionen auf der anderen Seite. Ihren Konkurrenzkampf um Einfluss in der Ukraine und Europa tragen sie rücksichtslos auf dem Rücken der Lohnabhängigen in der Ukraine, sowie der Lohnabhängigen in ihrem eigenen Land aus.

Die Folge sind massive Preissteigerungen für Produkte des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittel, Strom und Heizstoffe. Die damit einhergehenden Reallohnverluste haben bereits jetzt Hundertausende in Deutschland unter die Armutsgrenze rutschen lassen. Im Winter steht eine soziale Katastrophe bevor, wenn sich viele das Heizen nicht mehr leisten können. Die Lage in den ärmeren Ländern dieser Welt ist noch dramatischer, Millionen Menschen droht der Hungertod, hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt.

Gleichzeitig weiß ein kleiner Teil der Gesellschaft nicht wohin mit seinem Reichtum. Denn die Konzerne und ihre Bosse fahren weiterhin gewaltige Profite ein – trotz oder gerade wegen der Krise. Das betrifft z. B. die Mineralölkonzerne, aber auch die Rüstungsindustrie. Angesichts dessen ist es ein Hohn, wenn uns bürgerliche Politiker:innen dazu aufrufen nun „zusammenzurücken“ oder „für den Frieden“ zu frieren. Politiker:innen wohlgemerkt, die sich ein Gehalt aus Steuergeldern zahlen, welches den durchschnittlichen Lohn eines/einer Arbeiter:in um ein vielfaches übersteigt.

Während 100 Milliarden für den deutschen Militarismus aus dem Hut gezaubert werden, sind die Maßnahmen der Regierung zur „Abfederung“ der Krisenlast ein Hohn, wie zum Beispiel der einmalige Zuschuss von 300 € zu den Heizkosten. Die gewaltigen Profite der Konzerne und der Reichtum der Bonzen werden dabei nicht ansatzweise angefasst. Im Gegenteil, diese sollen durch Steuergelder und Gasumlage geschützt und gerettet werden. Schon jetzt ist klar: Wir Lohnabhängigen, Rentner:innen und Sozialhilfeempfänger:innen sollen die Kosten für die Krise zahlen!

Gegen diese Abwälzung der Kosten für Krieg und Krise auf unserem Rücken müssen wir massiven Widerstand auf der Straße, in den Betrieben, den Unis und Schulen organisieren. Was wir brauchen ist eine internationale Bewegung gegen Krieg und Krise.

Wir fordern:

  • Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation. Offenlegung der Geschäftsbücher. Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch Organe der Lohnabhängigen
  • Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, Rentner:innen und Erwerbslosen durch massive Besteuerung von Reichtum und Kapital
  • Weder NATO noch Putin! Russische Truppen raus aus der Ukraine, sofortiges Ende der Sanktionen und Waffenlieferungen. Solidarität mit der ukrainischen Zivilbevölkerung und der Antikriegsbewegung in Russland
  • 100 Milliarden für Sozialpolitik, Bildung und Umweltschutz statt Aufrüstung
  • Bedingungslose Soforthilfen für die von Hungerkrisen betroffenen Länder, Streichung der Schulden der dritten Welt
  • Verstaatlichung des Großkapitals, der Banken, der Immobilien- und Mineralölkonzerne und großen Dienstleistungsunternehmen unter Kontrolle der Beschäftigten, um diese für die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung in Bewegung zu setzen, statt für die Profite der wenigen
  • Koordinierte branchenübergreifende Streiks zur Durchsetzung unserer Forderungen



Die Wahlen im Saarland und die Agonie der LINKEN

Stefan Katzer, Infomail 1184, 4. April 2022

Als das Ergebnis der Wahl im Saarland feststand, herrschte unter den ansonsten zerstrittenen Flügeln der Partei plötzlich große Einigkeit: Als „desaströs“ und „katastrophal“ wurde das Abschneiden der Linken strömungsübergreifend bewertet. Und in der Tat: ein Verlust von 10,3 % und damit ein Absacken der Stimmenanteile von 12,9 % auf 2,6 % kann kaum anders bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass es der LINKEN im Saarland einst gelungen ist, über 20 % der Stimmen auf sich zu vereinen (2009: 21,3 %), ist dieses Ergebnis für die Linkspartei, die nun nicht einmal mehr im Landtag vertreten sein wird, umso bitterer. Doch auch wenn dieser Absturz deutlich heftiger ausfiel als von vielen Linken erhofft – wirklich überraschend kam er nicht.

Tendenz: sinkend

Bereits bei der letzten Bundestagswahl hat DIE LINKE herbe Verluste (- 4,3 %) eingefahren und ist mit einem Stimmenanteil von 4,9 % nur deshalb in den Bundestag eingezogen, weil sie zugleich drei Direktmandate gewinnen konnte. Zu diesem bundesweiten Abwärtstrend kamen die besonderen Bedingungen im Saarland hinzu. Dort hatte ein von persönlichen Animositäten geprägter Streit innerhalb der Partei zu einer Spaltung der Fraktion und schließlich zum medienwirksamen Parteiaustritt von Oskar Lafontaine geführt. Lafontaine, der an den Erfolgen der LINKEN im Saarland sicherlich großen Anteil hatte, hatte zudem dazu aufgerufen, DIE LINKE nicht mehr zu wählen und dies mit Verweis auf die Abkehr der Partei von einer linken Sozial- und Friedenspolitik politisch zu begründen versucht.

Tatsächlich scheinen einige Tausend (ehemalige) LINKE-Wähler:innen Lafontaines Ratschlag gefolgt zu sein: immerhin 13.000 Stimmen verlor DIE LINKE an das „Lager“ der Nichtwähler:innen. Noch mehr DIE LINKE-Wähler:innen  (18.000) wechselten jedoch zur SPD, die mit einem Stimmenanteil von 43,5 % die mit Abstand stärkste Kraft wurde und – aufgrund der undemokratischen 5 %-Hürde – damit sogar eine absolute Mehrheit der Sitze im saarländischen Landtag erringen konnte. Der restliche Anteil  derjenigen, die 2017 noch DIE LINKE gewählt haben und nun zu einer anderen Partei gewechselt sind, verteilt sich recht gleichmäßig auf die Grünen (4.000), die AfD (4.000) und die CDU (3.000). Ein nicht unerheblicher Teil (6.000) ehemaliger LINKEN-WählerInnen ist seit der letzten Wahl zudem verstorben.

Der Linkspartei ist es andererseits kaum gelungen, Wähler:innen anderer Parteien von sich zu überzeugen oder Nicht- bzw. Neuwähler:innen zu mobilisieren, sodass sie lediglich je 1.000  Wähler:innen von SPD und CDU an sich binden bzw. je 1.000 Erst- und Nichtwähler:innen mobilisieren konnte.

Schaut man sich die Ergebnisse in Bezug auf die soziale Stellung bzw. Klassenzugehörigkeit der Wähler:innen an, wird deutlich, dass es vor allem der SPD gelungen ist, überproportional viele Arbeiter:innen (49 %) (https://www.rnd.de/politik/saarland-wahl-2022-spd-siegt-in-fast-allen-bevoelkerungsgruppen-nur-eine-ausnahme-3CPPBYNKWZA5ZIIYPR2HDFJOUQ.html) bzw. Gewerkschafter:innen (49,1 %) für sich zu gewinnen. Auch DIE LINKE ebenso wie die AfD konnten bei Gewerkschafter:innen überproportional punkten: 2,8 % wählten die LINKE (gegenüber 2,6 % Gesamtstimmenanteil), 6,8 % die AfD, die insgesamt auf 5,8 % der Stimmen kam (https://www.dgb.de/themen/++co++960c1212-ae88-11ec-b676-001a4a160123).

Wie weiter?

Eine wichtige Frage, die sich die LINKE nun stellen muss und mit Verweis auf den Austritt Oskar Lafontaines alleine nicht beantwortet werden kann, ist die, warum es der Partei nicht gelungen ist, die (SPD-)Wähler:innen, die mit Oskar Lafontaine gekommen sind, auch nach dessen Austritt bei sich zu halten. Sicherlich spielen Persönlichkeiten in der Politik eine Rolle, doch die Frage bleibt, weshalb es nicht gelungen ist, diese Wähler:innen vom Programm der LINKEN zu überzeugen und diese dadurch an die Partei zu binden. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage ist die nach den Gründen dafür, dass der große Teil der ArbeiterInnen die SPD (und sogar die AfD) der Linken vorzieht. Ist dies allein darauf zurückzuführen, dass während des Wahlkampfes die Frage im Zentrum stand, wer der/die nächste Ministerpräsident:in wird und davon insbesondere die SPD profitieren konnte?

Die Bundesvorsitzenden der LINKEN, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, haben noch andere Erklärungen für das desaströse Abschneiden der LINKEN im Saarland parat. Im Vordergrund ihrer Analyse (https://www.youtube.com/watch?v=Mqt2EYeCrWc) stand die Feststellung, dass zerstrittene Parteien nun mal nicht gewählt würden. Deshalb sei es jetzt notwendig, solidarisch miteinander umzugehen, Konflikte produktiv auszutragen und nach außen geschlossen aufzutreten. Es gelte das, wofür die Partei stehe, in den Vordergrund zu rücken und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, gegen Aufrüstung etc. einzustehen. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Linkspartei muss sich als bessere reformistische Kraft, letztlich als bessere SPD profilieren, um in Zukunft bei Wahlen erfolgreich zu sein.

Getrennt marschieren – vereint verlieren?

Geschlossenheit lässt sich jedoch nicht herbeireden. DIE LINKE besteht derzeit de facto aus drei Flügeln, die unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wohin sie sich entwickeln sollte und wie sie dort hinkommen kann. Während ein Teil offen für Regierungsbeteiligungen und alle dazu notwendigen Kompromisse (Fortbestehen der NATO, Auslandseinsätze der Bundeswehr etc.) eintritt, gibt es andere, die dies strikt ablehnen. Vertritt der linkspopulistische Flügel um Wagenknecht sozialchauvinistische Positionen und fordert eine Abkehr von angeblich kleinbürgerlicher „Minderheitenpolitik“, stehen andere (zumindest auf dem Papier) für offene Grenzen und internationale Solidarität. Während ein Teil auf die „Arbeit“ im Parlament und die Gewinnung von Mandaten fokussiert, strebt die sog. „Bewegungslinke“ eine stärkere Orientierung auf soziale Bewegungen an.

Auch wenn es nötig ist, diese innere Differenziertheit zu bedenken, um die nur notdürftig überdeckten und immer wieder offen aufbrechenden Konflikte innerhalb der Partei einordnen zu können, so vertritt DIE LINKE insgesamt ein reformistisches Programm. Dieses beinhaltet zwar offiziell auch die Überwindung des Kapitalismus als Zielvorstellung, real fokussiert sich die Partei aber auf einen „Ausgleich“ der sozialen Interessen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Real ist sie (auf kommunaler und Landesebene) bereits seit langem eingebunden in die Mitverwaltung des Kapitalismus. Vor der Bundestagswahl hat die Führung der Partei zudem deutlich gemacht, dass sie dazu bereit ist, auf wesentliche Teile ihres Programms zu verzichten, um endlich ein „progressives Bündnis“ mit Grünen und SPD auch auf Bundesebene realisieren zu können.

Der Sozialismus, den man angeblich irgendwann einmal erkämpfen möchte, bleibt solchermaßen als Fernziel mit der realen Politik der Partei unvermittelt. Ein solches Programm stößt aber notwendigerweise an die sich krisenhaft zuspitzende Realität der kapitalistischen Klassengesellschaft, welche immer weniger Spielraum für einen „sozialen Ausgleich“ lässt und die Menschheit immer deutlicher vor die Alternative stellt: Sozialismus oder Barbarei.

Während die Klima- und Biodiversitätskrise sich immer weiter zuspitzt, Inflationsraten von über 5 % die Löhne auffressen, der sich zuspitzende Kampf um die Neuaufteilung der Welt die Menschheit mit einem Dritten Weltkrieg bedroht, tut der größte Teil der Linken so, als gäbe es ein Zurück zum Sozialstaat der 1980er Jahre und zur „Friedenspolitik“ Willy Brandts. Der LINKEN dies vorzuwerfen, läuft aber letztlich darauf hinaus, sie zu bezichtigen, dass sie eben DIE LINKE ist: eine reformistische Partei ohne revolutionären Anspruch!

Hinzu kommt, dass die bürgerliche Realpolitik der Linkspartei in den Landesregierungen und ihre Anpassung an SPD und Grüne selbst die Frage aufwerfen, wozu sie überhaupt gebraucht wird. Tritt sie nur als etwas linkere Variante der Sozialdemokratie in Erscheinung tritt, liegt es nahe, dass reformistische Wähler:innen gleich das sozialdemokratische Original wählen, statt ihre Stimme für eine etwas linkere, parlamentarisch jedoch aussichtslose Kopie zu verschwenden. So geschehen im Saarland, aber längst nicht nur dort.

Die Aufgabe und der Anspruch von Revolutionär:innen bestehen nun nicht darin, einer reformistischen Partei Tipps zu geben, wie sie bei bürgerlichen Parlamentswahlen erfolgreich sein kann (was aufgrund der geschilderten Widersprüchlichkeit des Reformismus ohnehin schwer zu bewältigen ist). Vielmehr geht es darum, zu verdeutlichen, dass eine Politik auf der Grundlage eines Programms notwendig ist, das der tatsächlichen Lage angemessen ist und die Überwindung des Kapitalismus nicht als abstraktes Fernziel begreift, sondern im Rahmen eines Systems von Übergangsforderungen Kämpfe um konkrete Verbesserungen mit diesem Ziel verbindet.

Diejenigen Kräfte innerhalb der Linkspartei (aber auch der SPD), denen es darum geht, die Kämpfe der Lohnabhängigen und Unterdrückten voranzubringen und diese für ein revolutionäres Programm zu gewinnen, rufen wir dazu auf, gemeinsam mit allen anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ihre Reorganisation voranzutreiben, damit sich diese zur zentralen, eigenständigen Kraft im Kampf gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe formieren kann. Dies ist die zentrale Aufgabe einer linken, revolutionären Kraft – nicht die Gewinnung von Sitzen in bürgerlichen Parlamenten für eine reformistische Partei, die sich vor allem auf passive Wähler:innen stützt und davon träumt, durch treue Mitwirkung an der Elendsverwaltung des Kapitalismus einige Brosamen für „die kleinen Leute“ abstauben zu können.

Der Niedergang der Linkspartei verdeutlicht daher erneut die Dringlichkeit einer Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes. Letztlich geht es um die Frage, wie wir die unterschiedlichen Auseinandersetzungen und sozialen Bewegungen miteinander verbinden und ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Perspektive entwickeln können. Hierfür braucht es einen konkreten Startpunkt, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren. Wir schlagen deshalb vor, eine Aktionskonferenz zu organisieren, auf welcher diese Fragen übergreifend von möglichst allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten diskutiert werden können. Eine solche Konferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten und dies mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus und die Kriegsgefahr zu verbinden.




Bundestagswahl 2021 – Nach der Wahl ist vor dem Kampf

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Die Spannung eines Thrillers konnte der deutsche Wahlkampf sicherlich nicht mit sich bringen, insbesondere, wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der Stimmenauszählung in den USA in Erinnerung ruft. Dennoch, hätte man vor 6 Monaten gesagt, dass die SPD mit dem eher unscheinbaren Olaf Scholz das Rennen macht, so hätten viele gelacht. Und viele, sicherlich nicht nur AnhängerInnen der Union, fragen sich: Wie konnte das passieren? Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern und gleichzeitig betrachten, was die Wahlergebnisse für die Arbeiter:innenklasse bedeuten.

Weltlage und 16 Jahre Merkel

Die aktuelle Wahl lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Denn in den 16 Jahren, in denen Angela Merkel das Land regiert hat, hat sich viel verändert. Wenn die bürgerlichen Medien ihre Regierungszeit Revue passieren lassen, dann fällt vor allem ein Wort häufig: Stabilität. Das kommt nicht von ungefähr. Nach der Finanzkrise 07/08 und der darauf folgenden tiefen Rezession konnte sich der deutsche Imperialismus relativ schnell erholen.

Verglichen mit anderen Ländern ging es schnell bergauf dank der Konkurrenzfähigkeit des Exportkapitals und Vorarbeit durch die Agenda 2010. In der EU wurde an Griechenland ein Exempel statuiert, das zum sozialen Ausbluten der griechischen Bevölkerung führte. Merkel wurde so verdientermaßen zum Hassobjekt in Südeuropa. Im Inneren setzte sie auf SozialpartnerInnenschaft und gemeinsame Regulierung der Krise mit den Gewerkschaften, um die Exportindustrie rasch wieder flottzubekommen. So konnte sie als erfolgreiche Krisenmanagerin und sich Kümmernde auftreten. International war es zu diesem Zeitpunkt noch möglich, auf Gipfeln wie dem G7 die Kosten der Krise gemeinsam zu verwalten.

Die Folgen der Krise machten sich in Deutschland erst später bemerkbar. In jedem Fall stärkte die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Griechenland das deutsche Kapital – und die zentrifugalen Tendenzen in der EU. Doch die EU- und noch viel mehr die sog. Flüchtlingskrise verschärften auch die Gegensätze im bürgerlichen Lager. Mit dem Rechtsruck kam der Aufstieg der rassistischen AfD, der auch den Grad der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers markierte. Die ach so stabile Große Koalition unter Merkel fing an zu kriseln.

Verschärft wurde die Situation mit der Präsidentschaft Trumps und der Wende zum Unilateralismus einerseits und dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten und -wichtigsten imperialistischen Macht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfte sich. Die EU fiel aufgrund eigener Widersprüche, wie sie am deutlichsten im Brexit zum Ausdruck kamen, zurück. Sie scheint hilflos zwischen USA und China zu dümpeln. Die Coronapandemie warf sie noch weiter zurück und zeigte auf, wie weit sie davon entfernt ist, den USA und China auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

So ist die Richtung des deutschen Imperialismus in den letzten 16 Jahren immer unklarer geworden. Die deutsche Bourgeoisie (und die EU selbst) befinden sich in einer strategischen Krise, Hin und her gerissen zwischen der Frage einer transatlantischen oder stärker eigenständigen imperialistischen Ausrichtung, zwischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen zur Neuaufstellung des deutschen und europäischen Kapitals einerseits und zwischen Neoliberalismus und Austeritätspolitik andererseits.

Merkels Lavieren zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ist mit Zunahme der Krise und des Rechtsrucks, vor allem aber auch dem Aufstieg Chinas und der Neuausrichtung der USA nicht nur schwieriger, sondern vor allem immer aussichtsloser geworden.

Die Aufgabe einer neuen Regierung wäre vom Standpunkt des deutschen Gesamtkapitals, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Vormachtstellung innerhalb der EU erhalten bleibt und kein weiterer Mitgliedsstaat aus der Reihe tanzt. Es geht auch darum, die EU selbst zu einem Block zu formieren, der im Kampf um die Neuordnung der Welt mitspielen kann. Dazu bedarf es aber eines Plans und einer Strategie, wie man mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem verbündeten Rivalen USA umgehen möchte. Und es braucht auch eine Lösung der Führungsfrage, also der strategischen Ausrichtung innerhalb Deutschlands und der EU. Über eine solche verfügt die herrschende Klasse nicht – und wird ohne innere Friktionen und Kämpfe auch in der nächsten Periode, egal ob unter einer Ampel oder Jamaika nur schwer herzustellen sein. Umgekehrt wird jede Regierung von der herrschenden Klasse genau daran gemessen werden.

Zersplitterung des bürgerlichen Lagers

Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers und die Krise der CDU/CSU sind Ausdruck dieser strategischen Paralyse und Unklarheit, die von Merkel noch notdürftig überdeckt wurde.

Anfangs dachte man innerhalb der Union noch, dass selbst Laschets Schlaftablettenauftritte gegen Scholz Bestand hätten, nachdem man bei den Grünen Baerbock das Fell über die Ohren gezogen hatte. Das allein hilft aber nicht. Ein Ministerpräsident, der nicht den Eindruck erwecken kann, dass er sich in seinem eigenen Bundesland gut um eine Flutkatastrophe kümmert, ist als Kanzlerkandidat wenig vertrauenerweckend. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie konnte er wenig glänzen. Als Befürworter der schnellen Öffnungen schoss er in der Ministerpräsidentensitzung gegen die eigene Regierung, wurde aber in seiner Autorität und Weisheit von der 2. Welle überrollt.

Hinzu kommt, dass er die inneren Probleme der Union nach außen hin nicht ausgleichen konnte. Schließlich ist er nicht allein für das historisch schlechteste Ergebnis der Union von 24,1 %  verantwortlich. Der Streit innerhalb der Union fing schon früher an.

Merkel selbst wurde zum frühen Rückzug vom Parteivorsitz gezwungen, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer demontiert. Damit war der Diadochenkampf eröffnet. Merz, Laschet und Spahn kandidierten für den Parteivorsitz – und der Kandidat des Establishments, Laschet, gewann knapp. Doch damit war die Unzufriedenheit, die sich zusammengebraut hatte, nicht beseitigt. Auch nicht, als sich Laschet gegen Söder in der Kanzlerfrage durchsetzte.

Je länger der Wahlkampf dauerte, desto deutlicher wurde: Laschet hätte es lassen sollen. Weder Bevölkerung noch eigene Partei konnten vom Kandidaten überzeugt werden.

Wie so oft in der Geschichte wirkte eine Kette von zufälligen, nebensächlichen Pannen als Katalysator, um eine sich längst vorbereitende Krise offen hervortreten zu lassen, den Zersetzungsprozess der politischen Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie.

So kam es dazu, dass die SPD bei diesen Bundestagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen an der CDU vorbeizog und über 1,5 Millionen Stimmen von den Unionsparteien einsackte. Diese Wahlniederlage wird die Risse innerhalb der Union weiter vergrößern. Nachdem sich am Wahlabend noch große Teile des Parteiestablishments hinter Laschet gestellt hatten, werden die Rücktrittsforderungen, der Ruf nach Aufarbeitung der katastrophalen Niederlage und Neuausrichtung der Partei lauter. Je mehr sich diese Gegensätze zu regelrechten innerparteilichen Gräben vertiefen, desto schwerer wird es, dass CDU/CSU eine Regierung mit Grünen und FDP zustande kriegen, selbst wenn es nicht nur bei den Liberalen viele gibt, die für eine solche Koalition eintreten. Doch eine solche Regierung wäre wahrscheinlich so instabil wie die Unionsfraktion und Laschet traut wohl kaum jemand zu, die inneren Gegensätze wirklich überbrücken zu können. Umgekehrt wäre eine solche schwarz-grün-gelbe Regierung (Jamaika) nicht nur ein deutliches Signal für einen aggressiveren Kurs zur ökonomischen Neuformierung der EU unter deutscher Führung, sondern auch zu einem aggressiveren inneren, wenn es darum geht, die Kosten der Pandemie und der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.

FDP als eine Königsmacherin

Sonnig sieht’s hingegen bei den Liberalen aus. Die FDP hat mit 11,5  % eines ihrer historisch besten Ergebnisse eingefahren mit einem Imagewahlkampf, bei dem nur noch das Gesicht von Christian Lindner auf der Freiheitsstatue gefehlt hat. Profitieren konnte sie vom Schwächeln der Union und gewann rund 1.320.000 Stimmen von dieser, da sie während der Pandemie als „besonnene“ Vertretung der CoronskeptikerInnen und „FreiheitskämpferInnen“ aus dem Kleinunternehmertum auftreten konnte. Auch unter NichtwählerInnen mobilisierte sie 400.000 Stimmen und unter den ErstwählerInnen wurde sie mit 400.000 Stimmen zweitstärkste Kraft. Die Hochburg der Zweitstimmen stellt dabei Baden-Württemberg dar.

Dass sich die FDP, die 2017 gerade mal so den Sprung in den Bundestag schaffte, erneut aufgerappelt hat, stellt eine Kehrseite der Krise der Unionsparteien dar. Die FPD erscheint nicht nur der jungen Generation als glaubwürdigere Vertreterin des freien Marktes und individueller bürgerlicher Freiheit. Für die Regierungsbildung wird sie gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen als Blockade aller weitergehenden sozialen Forderungen und jeder Umverteilung und auf weitere Deregulierung und Angriffe auf die Lohnabhängigen drängen.

Die Grünen und das Klima

Es hätte so gut werden können für die Grünen. Obwohl sie ihr historisches bestes Ergebnis einfuhren, erscheinen sie fast wie kleine VerliererInnen. Während sie sich Anfang des Jahres im Höhenflug bei 30 % befanden, landeten sie schließlich bei 14,8 %. Sicherlich, dass Annalena neben Armin und Olaf so schlecht weggekommen ist, hat viel mit Sexismus zu tun. Als entscheidende Erklärung für den Sturzflug ist das jedoch zu kurz gegriffen.

Der wohl wichtigste Grund, warum die Grünen „nur“ drittstärkste Partei wurden, liegt darin, dass sich von ihrem Programm wichtige Teile der Bevölkerung nicht ansprechen lassen. Das zeigten auch die vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Erhöhung des Benzinpreises oder eine CO2-Steuer für Individuen werden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht dadurch ausgeglichen, dass es fürs trendige Lastenrad einen Zuschuss geben soll.

Die Abwälzung der Kosten der Klimakrise auf die Einzelnen macht die Grünen für einen Teil der Bevölkerung nicht besonders attraktiv. Es ist daher kein Wunder, dass sie vor allem bei einkommensstärkeren Lohnabhängigen und Mittelschichten punkten konnten. Trotzdem: Rund 460.000 NeuwählerInnen, 510.000 NichtwählerInnen konnten mobilisiert werden, insgesamt rund eine Millionen Menschen wechselten von CDU und SPD zu den Grünen. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch sie einen Teil des Kapitals (nicht nur aus dem Ökobereich) zu ihren UnterstützerInnen zählen können.

So werden die Grünen – wie die FDP – bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle als KönigsmacherInnen spielen. Während die Liberalen grundsätzlich eine unionsgeführte Koalition vorziehen, sind die Grünen in dieser Frage gespalten, ja neigen eher der SPD zu, die ebenfalls für einen Green Deal in Europa und Deutschland eintritt. Der FDP würde dabei die Rolle zufallen, dafür zu sorgen, dass er die Bourgeoisie und sog. LeistungsträgerInnen nichts kostet.

Der rechte Rand

Bevor wir zum Wahlsieger SPD und zur Linkspartei kommen, noch kurz zum rechten Rand des bürgerlichen Spektrums. Zum zweiten Mal zieht die AfD in den Bundestag ein. Zwar hat diese an Stimmen verloren, sich insgesamt aber konsolidieren können. Die meisten Stimmenverluste machten die NichtwählerInnen aus (rund 810.000) aus. Dies war sicherlich innerparteilichen Streitigkeiten geschuldet. Die weiteren größeren Verluste an SPD (260.000) und FDP (210.000) dürften wohl darauf zurückzuführen sein, dass diesen WählerInnen die Regierungsfrage wichtiger war als die „Treue“ zum Rechtspopulismus.

Dennoch: Die knappen 10,3 % für die RechtspopulistInnen zeugen wohl kaum vom von den Konservativen beschworenen Linksruck. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass gerade die abgehängten Schichten der ArbeiterInnenklasse keine wirkliche Alternative geboten bekommen. Von den Protesten der CoronaleugnerInnen konnte sie jedoch kaum profitieren. Der Verlust der Linkspartei an die AfD ist zwar geringer ausgefallen als bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, mit 110.000 Stimmen aber auch nicht unerheblich. So ist es auch nicht wenig überraschend, dass die Hochburg der Partei weiterhin im Osten liegt. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sie nach der SPD in fast allen Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft und in Thüringen konnte sie gleich mehrere Direktmandate gewinnen, in Sachsen fast alle.

Anders als 2017 stimmten die meisten AfD-WählerInnen wegen ihres Programms, also aus Überzeugung für diese Partei – wegen ihres völkischen Rassismus, nicht trotz dessen. Dies bedeutet, dass sich eine radikale, reaktionäre kleinbürgerliche Kraft konsolidiert, die bei einer Zuspitzung der Klassenkämpfe und einem Auseinanderfallen der EU als Reserve für das deutsche Kapital und auch Regierungsbildungen zur Verfügung steht.

Totgeglaubte leben länger – die SPD

Wie oben bereits geschrieben: Kaum eine/r hätte vor einem Jahr geglaubt, dass die SPD über die 20 %-Marke kommt, noch weniger, dass jemand mit dem Charisma eines Olaf Scholz den Karren aus der drohenden Bedeutungslosigkeit ziehen kann. Das Image war ja schließlich schon mehr als ramponiert.

Über 100 Jahre Klassenverrat fallen bei dem aktuellen Bewusstseinsstand leider nicht so ins Gewicht, wie man es sich wünschen würde. Vielmehr sind es die Streitigkeiten von Esken & Co. sowie die Zugeständnisse innerhalb der Großen Koalition gewesen, die der SPD lange zu schaffen machten. Im Wahlkampf selber wurde sich lange nur auf Laschet und Baerbock konzentriert. Es wirkte fast, als ob es den SPD-Kandidaten nicht gäbe. Aber wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte und auch deshalb konnte Olaf an den beiden vorbeiziehen. Brechmittelskandal, Verstrickungen in die Wirecard-Affäre und der Prügeleinsatz zu G20 in Hamburg: alles perlte an ihm ab.

Aber warum? Während Baerbock sich auf die Klimakatastrophe fokussierte und Laschet in jedes Fettnäpfchen trat, das er finden konnte, hat Scholz es geschafft, am ehesten was von jener Stabilität zu verkörpern, die man Merkel zugesprochen hatte. Entscheidend ist aber, dass sich der SPD-Kandidat bei den Lohnabhängigen glaubwürdiger als seine Konkurrenz als Kandidat des sozialen Ausgleichs präsentieren konnte.

Rund 44 % der SPD-WählerInnen gaben an, dass soziale Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle bei ihrer Entscheidung spielte. Ebenso konnte die SPD den mit Abstand größten Zuspruch bei  GewerkschafterInnen verzeichnen, lt. Erhebungen des DGB 33,1 %, also fast 8 % mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Sicherung der Arbeitsplätze, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, eine sichere Rente und eine stärkere Besteuerung der Reichen waren Versprechungen, die sich im Zuge der Pandemie gut anhören. Dass Scholz dabei glaubwürdiger wirkte als seine Konkurrenz, spiegelt letztlich auch das historische Erbe der Sozialdemokratie, ihre organische Verankerung in der ArbeiterInnenklasse als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wider. Sicherlich versprechen sich die meisten WählerInnen keine Großtaten von der SPD, wohl aber, dass eine von Scholz geführte Regierung mehr Schutz vor den kommenden Umstrukturierungen, mehr soziale Abfederung beim ökologischen Wandel bringt als ein von Laschet geführtes Kabinett.

Sollte die SPD die nächste Regierung anführen, werden selbst diese Hoffnungen extrem auf die Probe gestellt werden. Allein die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um gerade 3,- Euro unter der Großen Koalition zeigt, wie wenig der Sozialdemokratie die Ärmsten der Armen im Zweifelsfall bedeuten. In jedem Fall ist aber klar, dass die ohnedies schon wackelige Bindung zwischen SPD und organisierten Lohnabhängigen in der kommenden Periode weiter auf den Prüfstand geraten wird – und dies müssen wir vorantreiben.

Schlaftablette Linkspartei

4,9 %! Es tut fast weh, das Ergebnis laut vorzulesen. Durch die 3 Direktmandate kann sich die Linkspartei gerade noch 39 Plätze im Parlament sichern. Dennoch ist es mehr als bedrückend, es ist desaströs. Zwar hat DIE LINKE an sich das beste Klimaprogramm, verglichen mit den anderen Parteien, doch hat sie im gesamten Wahlkampf Chancen verpasst und war kaum sichtbar. Dies hat mehrere Gründe. Der andauernde Richtungsstreit lähmt sie, der unklare Ausgang in der Debatte um Sarha Wagenknecht führt dazu, dass weder deren Fans noch die antirassistischen AktivistInnen zufriedengestellt werden konnten. Dieses Vakuum der Nicht-Entscheidung welchen Kurs man einschlagen will, rächt sich. Auch in der Frage der Regierungsbeteiligung. Durch das Sofortprogramm, was nach Mitregieren lechzte, hat die Linkspartei sich selber geschadet. Denn weder seitens der SPD und schon gar nicht von den Grünen wurden sie als ernsthafte Koalitionspartnerin beachtet. So wurde also auf das rot-rot-grüne Gespenst gesetzt und vor lauter Kuschelkurs vergessen, sich abzugrenzen. Das sieht man auch an den Zahlen: Die größte WählerInnenwanderschaft gab es zur SPD mit 640.000 Stimmen, es folgen die Grünen mit 480.000. Mehr als 1 Millionen Stimmen sind also verloren gegangen, weil WählerInnen geglaubt haben, der Unterschied zur SPD sei nicht zu groß, und um Laschet zu verhindern, müsse man jetzt eben bei Scholz den Haken machen. Das macht deutlich: Gerade, was die soziale Gerechtigkeit angeht, dem eigentlichen Kernthema der Linkspartei, machen WählerInnen taktisch Zugeständnisse. Ein indirektes Zeugnis, dass es der Partei an Überzeugung und Abgrenzung mangelt.

Das ist aber auch nachvollziehbar. Wo ist DIE LINKE gewesen, die als Partei sich gegen den Pflegenotstand während der Pandemie einsetzte? Während andere nur wohlwollend klatschen, hätte es betriebliche Aktionen und Demonstrationen gebraucht, die sich für eine Aufstockung im Pflegebereich einsetzen. Auch hätte die Linkspartei gegenüber den Gewerkschaften klare Worte verlieren müssen: Ein flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege und im Handel muss her, gerade in Zeiten der Krise. Und wo ist DIE LINKE, die Streitgespräche mit den Grünen sucht? Der kostenlose öffentliche Nahverkehr oder der bundesweite Mietendeckel sind gute Forderungen. Allerdings gehören die nicht nur auf Plakate gedruckt, sondern müssen mit Nachdruck auch auf die Straße getragen werden.

Aber nicht nur das. Anstatt sich mit Wagenknechts billigen Polemiken zu beschäftigen, hätte gezeigt werden müssen: Wir verstehen uns als KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse. Und die ist nun mal multiethnisch und voller „skurriler Minderheiten“. Der Kampf für einen höheren Mindestlohn, Mindestrente oder bezahlbaren Wohnraum schließt Klimaschutz, LGBTIAQ-Rechte und Antirassismus nicht aus, sondern ein. Kernproblematik ist aber das Verständnis von Bewegungen, und wie diese entstehen. Selber versteht sich DIE LINKE als Bewegungspartei. Statt aber Bewegung zu initiieren, trabt sie einfach nur dem Geschehen hinterher. Und genau das fällt ihr auf die Füße und führt dazu, dass sich keine neue StammwählerInnenschaft herausbildet, während sich unterschiedliche Generationen von AktivistInnen innerhalb der Partei um die Richtung streiten. Einen Haken hat das Ganze jedoch: Würde man tatsächlich Kämpfe führen, Streiks und Solidaritätsdemos organisieren, führt das natürlich dazu, dass der Druck größer wird und Kräfte wie die Grünen oder die SPD sich distanzieren. Die Chance mitzuregieren würde in die Ferne rücken. Dafür würde aber deutlich werden, dass die Linkspartei eine Kraft wäre, die für ihre Forderungen tatsächlich kämpft. Solange sich die Partei jedoch der vorgeblich besseren Verwaltung des Kapitalismus verschreibt, wird sie diesen Widerspruch nicht überwinden können, wird sie immer wieder beim Nachtrab hinter SPD und Grünen landen.

Was kommt auf uns zu?

Auch wenn eine Vielzahl an Regierungskoalitionen denkbar ist, so zeichnen sich im Moment nur zwei Optionen ab: die Ampel (SPD/FDP/Grüne) und Jamaika (Union/Grüne/FDP). Entscheidend dafür, welche Regierung es werden wird, sind unmittelbar zwei Faktoren:

a) ob die Unionsparteien ihre inneren Konflikte im Zaum halten können;

b) die Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP.

In jedem Fall stehen für eine zukünftige Regierung mehrere Baustellen an, um den deutschen Kapitalismus in der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Angesichts der notwendigen Einbindung der FDP in jede Regierung und aufgrund des Drucks des Kapitals können wir davon ausgehen, dass folgende Politik zu erwarten ist:

  • Festhalten an der Schuldenbremse und Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt.
  • Das bedeutet weitere Einsparungen im öffentlichen Dienst, einschließlich weiterer Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Reformen, mögen diese auch mit einem grünen oder sozialen Sahnehäubchen verkauft werden. Die Krise im Erziehungs- und Bildungswesen, im Gesundheitssektor wird prolongiert, im Bereich der sozialen Vorsorge und insbesondere der Renten werden neue Kürzungen als Reformen verkauft werden.
  • Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Krise auf dem Wohnungsmarkt werden allenfalls mit einigen kosmetischen Reformen angegangen, im Grunde bleibt die Misere erhalten.
  • Abwälzung der Kosten für die Infrastrukturprojekte, ökologische Wende, Digitalisierung auf die Masse der Lohnabhängigen.
  • Inflation und Preissteigerungen verringern die Kaufkraft der Massen.
  • Entlassungen, Kürzungen, Schließungen im Zuge des industriellen Umbaus, die allenfalls mit SozialpartnerInnenschaft und Sozialplänen begleitet werden.
  • Erneuter Versuch, die Krise der Europäischen Union zu überwinden. Der Green Deal der EU-Kommission wird zur gemeinsamen Formel, hinter der sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen verbergen.
  • Abschottung der EU gegen Geflüchtete; Schwerpunkt auf Nahost und Afrika als Interessensphären der EU-Mächte außerhalb ihres eigenen Gebietes.
  • Aggressivere EU-Außen- und -Militärpolitik (Stichwort: Verantwortung übernehmen).
  • Massives Aufstocken des Rüstungsetats und Aufrüstung der Bundeswehr sowie Schritte in Richtung einer EU-Eingreiftruppe (um von den USA unabhängiger agieren zu können).

Wie schnell diese Angriffe erfolgen, hängt natürlich von der Regierungsbildung wie auch der konjunkturellen Entwicklung ab. Sicher ist aber: Sie werden kommen. Die UnternehmerInnenverbände drängen schon jetzt auf eine rasche Regierungsbildung, weil all diese Projekte vorangebracht werden sollen.

Eine Jamaika-Koalition wäre für dieses Vorhaben natürlich ein Traum. Andererseits hat eine SPD-geführte Regierung den Vorteil, dass sie besser die Gewerkschaften sozialpartnerschaftlich einbinden kann.

Was müssen RevolutionärInnen tun?

Wahlen sind bekanntlich auch immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers setzt sich weiter fort und damit auch die Probleme des deutschen Imperialismus auf Weltebene. Zu klein, um wirklich mitzumischen, zu groß, um gar keine Ansprüche geltend machen zu wollen, muss es weiter irgendwie versuchen, die Krise der EU zu lösen oder nach einer alternativen Ausrichtung suchen.

Der Rechtsruck, den es 2016 gegeben hat, ist verfestigt. Nichtsdestotrotz  bleibt der Reformismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse weiterhin präsent, vor allem in Form der SPD, aber auch einer geschwächten Linkspartei. Welchen Einfluss das auf die Gewerkschaften hat – also ob man im Sinne der guten Sozialpartnerschaft sowie Standortborniertheit schön weiter alles mitverwaltet oder versucht, tatsächlich dagegen zu kämpfen, das hängt zum einen an der Frage der Regierungsbeteiligung der SPD. Zum anderen stellt sich aber auch die, ob es gelingt, eine klassenkämpferische Bewegung in den Gewerkschaften aufzubauen, deren Ziel es ist, statt selber in der Bürokratie zu vermodern, diese durch Wähl- und Abwählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht zu  ersetzen und zu kämpfen. Die laufenden Arbeitskämpfe und kommende Tarifrunden können dazu einen wichtigen Ansatz bieten.

Ebenso braucht es eine Aktionskonferenz aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse und linker Kräfte, um sich für die kommenden Angriffe zu wappnen. Denn klar ist, dass versucht wird, die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Das Wahlergebnis der Linkspartei zeigt jedoch, dass man nicht nur auf Angriffe warten darf, sondern sich selber in die Offensive bringen muss. Der Berliner Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist der beste Beweis dafür. Statt zu verharren und zu warten, wer an die Regierung tritt, müssen wir uns organisieren und diskutieren, wie man diese Initiative bundesweit ausweiten kann. Ebenso wichtig ist die Frage, wer die politische Führung in den Gewerkschaften innehat, insbesondere wenn es darum geht, kommende Arbeitskämpfe zu führen. Statt darauf zu hoffen, dass andere gegen Klimawandel oder soziale Angriffe, gegen Rassismus und Militarismus kämpfen, müssen wir das selber in die Hand nehmen!




Sagt die LINKE gerade ihren Wahlkampf ab?

Gastbeitrag von Christian Zeller, 6. September 2021, Infomail 1161, 7. September 2021

Das am Montag, 6. September vorgestellte Sofortprogramm der LINKEN für einen Politikwechsel verwundert. Das achtseitige Papier enthält eine politische Einschätzung, allgemein formulierte politische Ziele und unmittelbare „erste Schritte“ in acht thematischen Feldern. Einige sind konkret formuliert, andere bleiben unbestimmt. Mit diesem minimal gehaltenen Sofortprogramm unterbreitet die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN ihren ersehnten Koalitionspartnern der SPD und den Grünen de facto ein Unterordnungsangebot. Der Inhalt dieses Papiers ist so bescheiden, dass man sich als außenstehender Beobachter fragt, ob diese Partei gerade dabei ist ihren Wahlkampf knapp drei Wochen vor der Wahl einzustellen.

Mit SPD und Grünen für einen sozial-ökologischen Politikwechsel, wirklich?

Das Sofortprogramm geht von zwei Annahmen aus: Erstens, es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit für einen sozial-ökologischen Politikwechsel. Zweitens kann diese Mehrheit in einer Koalition SPD-Grüne-LINKE ihren politischen Ausdruck finden.

Die erste Annahme gilt es zu überprüfen. Doch die zweite Annahme entspringt reinem Wunschdenken. Weder die SPD noch die Grünen setzen sich für eine sozial-ökologische Wende ein. Ihre Programme orientieren sich an einer liberalen Modernisierung des deutschen Kapitalismus mit seinem Führungsanspruch in Europa. Beide Parteien stehen weiterhin fest zum Erbe der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer von 1998 bis 2005. Diese Regierung setzte die bislang radikalsten neoliberalen Reformen im Bereich der Arbeitsbeziehungen durch, baute mit der „Riester-Rente“ kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme zur Fütterung des Finanzkapitals auf, senkte die Unternehmenssteuern, liberalisierte die Finanzmärkte und führte erstmals im großen Stile Krieg. Warum sollen diese beiden Parteien plötzlich für ernsthafte sozial-ökologische Reformen einstehen. Das behaupten diese ja nicht einmal selber.

Die politische Landschaft in Deutschland wird derzeit von vier liberalen Parteien geprägt, einer konservativliberalen, einer ultraliberalen, einer sozialliberalen und einer grünliberalen Partei Diese werden die Regierungszusammensetzung kapitalfreundlich unter sich aushandeln. Die nationalliberale AfD mit ihrem faschistischen Flügel vertritt ein rassistisches Programm.

Die von der LINKEN erhoffte sozial-ökologische Wende lässt sich nur gegen diese Parteien durchsetzen. Um das dafür notwendige Kräfteverhältnis aufzubauen, braucht es nicht eine Abkehr vom eigenen Programm und Koalitionsangebote an bürgerliche Parteien, sondern gesellschaftliche Mobilisierungen und eine geduldige Aufbauarbeit am Wohnort und in den Betrieben.

Das taktische Kalkül hinter dem Sofortprogramm scheint banal zu sein. Offensichtlich will die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN mit dieser Operation nochmals Schwung in die mediale Berichterstattung bringen. Sie geht davon aus, dass sie mit diesen weichgewaschenen Vorschlägen die Führungen von SPD und Grüne dazu bringen könnte, sich auf eine Koalitionsdebatte einzulassen. Doch der Preis für diesen Unsinn ist hoch. Ohne Not verzichtet DIE LINKE auf Kerninhalte ihres Parteiprogramms und Wahlprogramms. Aber genau diese Inhalte, der Wunsch nach wirklichen Verbesserung und nach einer anderen Gesellschaft sind für viele Menschen doch der Grund die LINKE zu wählen. Genau dafür genießt die LINKE ein hohes Ansehen unter kritischen Menschen auch außerhalb Deutschlands.

Programm über Bord

Die Autor:innen machen nicht klar, was mit „sofort“ in ihrem Sofortprogramm meinen. Sollen das die ersten 100 Tage der neuen Regierung sein oder sind damit nur einfach die dringlichsten Maßnahmen in der vierjährigen Legislaturperiode gemeint? Die Autor:innen scheinen selber nicht zu glauben, dass sie ihre Ziele in einer Regierung unterbringen können. Darum beschränken sie sich gleich auf eine bescheidene regierungskonforme Wunschliste. Wollten die Autor:innen nichts fordern, was SPD und Grüne „einfach ablehnen können“? Das ist wohl die taktische Idee dahinter. Tragisch dabei ist, dass DIE LINKE mit diesem Papier jeden Ansatz eines eigenständigen Projekts, ja sogar eines eigenständigen Reformansatzes, aufgibt.

Das Sofortprogramm enthält Aussagen über gute Arbeit und faire Löhne, zur sozialen Sicherheit, Angleichung von Ostdeutschland, zu sozial-ökologischen Investitionen, zum Gesundheitssystem, zur Wohnungspolitik, zu einer neuen Friedensordnung sowie zur Demokratisierung und Unterstützung von Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Ich beschränke meine Kritik auf die drei Bereiche Klima, Gesundheit und Frieden.

Auch mit der Linken heizt Deutschland dem Klima ein

Das Sofortprogramm orientiert sich allgemein am Wahlprogramm und will eine „Energiewende mit verbindlichen Ausbauzielen, die sich am 1,5 Grad-Ziel ausrichten“. Doch die konkreten Vorschläge dienen nicht dazu, dieses Ziel zu erreichen. Deutschland verbleibt unter der Annahme einer gleichen pro Kopf-Verteilung gemäß Konzeptwerk Neue Ökonomie ab 2022 noch ein Budget von 2,97 Gt C02 , damit die Welt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% die 1,5° Grad Marke nicht zu überschreitet. Die historische ökologische Schuld Deutschlands sowie der Flug- und Schiffsverkehr sind dabei nicht einmal berücksichtigt. Deutschland müsste ab sofort bis 2035 jährlich 40 GW Wind- und Solarenergie zubauen, das sagt eine von Fridays for Future beauftragte Studie des Wuppertal-Instituts. Wenn der Begriff „Sofortprogramm“ angemessen ist, dann hier. Würde Deutschland den bisherigen Verbrauch fortsetzen, wäre das Budget ein Jahr nach der kommenden Wahlperiode aufgebraucht. Die Energiewende, Kohleausstieg 2030 und ein Zukunftsinvestitionsprogramm klingen gut, reichen aber nicht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen im Verkehr sind komplett unverbindlich und ungenügend: keine Absage an Gaskraftwerke, kein Wort zur Verkehrsvermeidung, keine Aussage gegen die massenhafte Einführung von Elektroautos, nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen als minimalste Sofortforderung. Dagegen soll ein „Industrie-Transformationsfonds“ Unternehmen und Konzerne mit über jährlich 20 Milliarden Euro bei ihren Nachhaltigkeitsübungen subventionieren. Das klingt nach Wachstumsprogramm.

Gesundheit, doch die Pandemie geht vergessen

Das Sofortprogramm verlangt ein „gerechtes Gesundheitssystem“ und will „den Pflegenotstand stoppen“. Richtig. Doch die Autor:innen vergessen bei den ersten Schritten merkwürdigerweise die Pandemie. Auch nach der Wahl wird sie Menschen in Deutschland und noch viel mehr auf der ganzen Welt in Tod reißen und langzeitig leiden lassen. Das Programm erwähnt in keinem Wort die solidarische Versorgung der Weltbevölkerung mit Impfstoffen. Mit einer Aufhebung oder zumindest Sistierung der Patente auf Impfstoffe könnte das Leid reduziert werden. Doch das Sofortprogramm verliert kein Wort dazu. Zählt eine stillschweigende Duldung der imperialistischen Wettbewerbs- und Impfpolitik bereits zur Staatsräson?

Friedensordnung weiterhin mit deutschen Waffen

Das Sofortprogramm will Rüstungsexporte in Krisengebiete stoppen. Richtig. Doch was ist mit den anderen Rüstungsexporten? Kein Wort dazu. Wir wissen alle, dass stabile Gebiete plötzlich die Krisengebiete von morgen sein können. Wirklich befremdlich ist diese Forderung: „Wir führen den Rüstungsetat auf das Niveau von 2018 zurück.“ Ernsthaft? Diese Forderung soll die Menschen motivieren, die LINKE zu wählen? Das ist lächerlich. Jede halbwegs friedenspolitische und solidarische Partei würde eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben fordern. Zudem sind Rüstungsindustrien und Armeen wesentliche Treiber von CO2-Emissionen. Sollen auch diese auf den Stand von 2018 eingefroren werden? Wer so was vorschlägt, macht sich lächerlich.

Sogar wenn man die Grundannahmen teilen würde –  was ich nicht tue -, dass eine Regierungskoalition mit der SPD und den Grünen einen Politikwechsel einleiten würde, dann müsste die LINKE doch versuchen, ihre Verhandlungsposition zu stärken.

Der Wahlkampf findet eigentlich bislang nicht statt. Scholz präsentiert sich zu Recht als Erbe von Merkel und ist damit erfolgreich. Die CDU wird nervös und bringt die LINKE in die öffentliche Debatte. Anstatt dass die LINKE diesen Ball selbstbewusst aufgreift und ihre Ablehnung dieses Systems, das Mensch und Umwelt zerstört, in die Breite trägt, gibt sie auf, bevor die Wahlen überhaupt stattgefunden haben. Welchen Sinn ergibt das? Diese Operation hinterlässt wohl nicht nur mich ratlos.

Die Reaktionen von den Spitzen der SPD und der Grünen sind wie erwartet. Sie bleiben da, wo sie sind. Ihr Projekt ist eben die sozial-grün angestrichene Modernisierung der Kapitalherrschaft. Das Projekt der LINKEN ist es, mit einer Mobilisierung aus der Gesellschaft wirkliche sozial-ökologisch Reformen durchzusetzen. Das sind also nicht nur zwei komplett unterschiedliche Ziele, auch die Wege verlaufen ganz anders.




Bundestagswahl: Die Linke wählen, aber den Klassenkampf organisieren!

Leo Drais, Neue Internationale 258, September 2021

Die KanzlerkandidatInnen von CDU/CSU, SPD, Grünen kommen nicht so recht in die Gänge. Dabei geht es für das deutsche Kapital um viel: Verwerfungen der Weltwirtschaft trotz Milliardenpaketen für die Konjunktur, drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit, Corona-Pandemie mit Millionen Todesopfern – wie soll der deutsche Imperialismus da ausgerichtet werden?

Internationale Kooperation ist bei globalen Problemen kaum noch angesagt. Der Heißhunger nach immer höheren Profiten treibt die Konkurrenz auf immer neue Spitzen. Mit dem Kampf um neue Märkte und Anlagesphären verschärft sich der um die Aufteilung der Welt – zwischen den USA und China, aber auch der EU und Deutschland.

Die Kosten für dieses System und eine Politik, die darauf zielt, es am Laufen zu halten, zahlen wir schon jetzt. Während die Beschäftigten im Gesundheitswesen unter Personalmangel, katastrophalen Arbeitsbedingungen leiden, werden die Konzerne, vor allem in der Exportindustrie, mit Milliarden fit gemacht. Jede wirkliche ökologische Wende wird seit Jahren verschleppt. Richten soll es der Markt. Aber der besorgt es allenfalls für die Energiewirtschaft, die mit Milliarden subventioniert wird, während weiter Kohle verstromt und neue Gasterminals gebaut werden.

Baerbock, Laschet, Scholz

Der Kurs von Laschet, Baerbock, Scholz läuft darauf hinaus, das deutsche Kapital fit zu machen für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt – Aufrüstung der Bundeswehr, Militärinterventionen wie in Mali und rassistische Abschottung der Grenzen Europas inklusive. Allenfalls verpacken sie ihn unterschiedlich – grün, sozial oder christlich, je nach sozialer Basis und Tradition.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich FDP und AfD als Parteien der (klein)bürgerlichen  Opposition, denen all das noch zu grün, zu ökologisch, zu sozial und zu wenig nationalistisch gerät. Während sich die FDP als Alternative für die Fittesten in der Konkurrenz aufführt, gibt sich die AfD als rechtspopulistische „Volkspartei“, als nationalistische und rassistische Alternative.

Kapital und Arbeit

Aktuell setzt das deutsche Kapital jedoch auf EU und Euro als Vehikel für die imperialistische Durchsetzung der eigenen Interessen und auf staatliche Stützung, um in der globalen Konkurrenz fitter zu werden, den sog. sozialökologischen Umbau profitabel zu gestalten. Es setzt dabei auf eine Kombination von CDU/CSU, Grünen, SPD und FDP als neoliberales Korrektiv – inklusive enger Kooperation mit der EU-Kommission unter deutscher Führung und unter sozialpartnerschaftlicher Einbindung der SPD-geführten Gewerkschaften.

Für alle Lohnabhängigen, für die Mitglieder der Gewerkschaften, für MigrantInnen, proletarische Frauen, für RentnerInnen und Jugendliche, für die Umweltbewegung und für die MieterInnenproteste wird die nächste Regierung, ob nun von Laschet, Baerbock oder gar Scholz geführt, eine sozialer Angriffe bedeuten. Sie wird versuchen, die Kosten von Pandemie und Krise auf die Massen abwälzen. Auch wenn SPD und Grüne eine mögliche Regierungspolitik mit sozialen und grünen Versprechungen garnieren, so werden diese rasch an der Realität kapitalistischer Konkurrenz relativiert, verwässert, verschoben und gebrochen werden. Scholz‘ unzureichender Mindestlohn von 12 Euro wird bestenfalls die Kosmetik neuer Rückschritte für Lohnabhängige liefern.

Wir müssen den Wahlkampf und die Bundestagswahlen daher nutzen, um den Klassenkampf gegen die kommenden Angriffe vorzubereiten. Auch wenn Wahlen nichts Grundlegendes verändern, drücken sie ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft aus.

Damit kommen wir zur LINKEN. Trotz ihres reformistischen Programms stützt sie sich auf jene Lohnabhängigen, GewerkschafterInnen, Aktive in sozialen Bewegungen, die Widerstand gegen Angriffe leisten wollen. Trotz ihrer reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik organisiert DIE LINKE wichtige Teile der sozialen Bewegungen und des linken Flügels der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert im Gegensatz zur SPD jenen Teil der ArbeiterInnenklasse, der gegen offene Sozialpartnerschaft und imperialistische Intervention eintritt und soziale und politische Verbesserungen erkämpfen und in Parlamenten durchsetzen will.

Wir hegen und fördern keine Illusionen in den Charakter der Partei DIE LINKE, aber das Kräfteverhältnis, also die Kampfbedingungen, die die Wahlen zum Ausdruck bringen, können uns nicht egal sein. Wir rufen daher zu ihrer Wahl auf.

Klassenkampf statt Koalitionshoffnungen

In ihrem Wahlprogramm stellt DIE LINKE eine Reihe fortschrittlicher Forderungen auf wie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels, die Erhöhung des Mindestlohns, eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser und eine bessere Finanzierung der Pflege, ein Verbot von Waffenexporten, die Ablehnung von Auslandseinsätzen, eine Vermögensabgabe für Nettovermögen über zwei Millionen Euro und eine stärkere Besteuerung der Reichen.

Es reicht bekanntlich aber nicht, diese Forderungen nur aufzustellen oder darauf zu hoffen, sie in einer möglichen Koalitionsregierung mit offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen oder unter einer rechten SPD unter Scholz oder Giffey unterzubringen, selbst wenn 4 Wochen vor der Wahl  rein rechnerisch eine Bundesregierung aus SPD, Grünen und LINKEN vielleicht möglich wäre, und auch einmal davon abgesehen, dass Grüne und SPD wahrscheinlich kaum Interesse an einer Regierung mit der LINKEN haben.

Keine Koalition mit offen bürgerlichen Parteien!

Aber selbst wenn sie in den Bereich der Möglichkeiten käme: Eine Beteiligung einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei wie der LINKEN an einer Regierung mit einer offen bürgerlichen Partei, sprich den Grünen, ist kategorisch abzulehnen! In Ländern wie Berlin oder gar Thüringen tritt der Charakter solcher Regierungsbeteiligungen deutlich zutage. Während die Linkspartei für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eintritt, befindet sie sich im Senat in Geiselhaft. Auf Bundesebene würde eine solche Regierungsbeteiligung einen weiteren Schritt in der Unterordnung unter die Interessen des deutschen Kapitals bedeuten, dessen Staat aktiv mitverwaltet werden müsste –  und ohne das Bekenntnis zu NATO, Bundeswehr und weiteren Auslandseinsätzen ist eine solche Regierung sowieso nicht zu haben. RegierungssozialistInnen wie Ramelow oder Bartsch wären vermutlich zu solcherlei bereit, die Linkspopulistin Wagenknecht und ihre AnhängerInnen ebenso. Kapitalismus und Marktwirtschaft wollen sie allenfalls sozialer und fairer ausgestalten. Dass das eine Illusion ist, beweist die Geschichte der SPD.

Aber wie steht es um die Bewegungslinke, die zunehmend die Linkspartei dominiert? Sie gibt vor, den Kampf auf der Straße, in den Krankenhäusern, in der MieterInnenbewegung oder gegen repressive Polizeigesetze mit einer geschickten „Transformationsstrategie“ verbinden zu können. Jedoch auch hier gilt, dass der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus stets auf der politischen Intensivstation endet. Eine linkere Illusion in parlamentarische Reformierbarkeit des Kapitalismus ist immer noch eine Illusion.

Wahlempfehlung

Und trotzdem rufen wir bei den Wahlen zum Bundestag und in Berlin auf, die Linkspartei zu wählen. Warum? Wir teilen ihre Illusionen in den Parlamentarismus und ihr reformistisches, bürgerliches Programm nicht. Aber die ArbeiterInnenklasse und AntikapitalistInnen können Parlamente und Wahlen nutzen – als Mittel zur Verhinderung reaktionärer Gesetze, vor allem aber als Tribüne für den Klassenkampf und zur Mobilisierung gegen Kapital, rechte Parteien, bürgerliche Regierungen. In diesem Sinne könnte eine LINKE im Parlament nützlich und sinnvoll sein. Entscheidend ist aber der Kampf außerhalb des Parlamentes!

Wir richten uns direkt an die Linkspartei und besonders an ihre Mitglieder, denen es ernst ist mit den Forderungen ihrer Partei: Fordert sie auf, gegen die sicher kommenden Angriffe der nächsten Bundesregierung zu mobilisieren! Fordert sie in Berlin auf, nicht nur für die Enteignung von DW & Co. zu stimmen, sondern dafür auf die Straße zu mobilisieren! Tragt den Vorschlag politischer Streiks zur Abwehr reaktionärer Gesetze und zur Durchsetzung von Enteignung, Mietendeckel, kostenlosem Nahverkehr oder Vermögensabgabe in die LINKE – wir unterstützen das.

Aber seid auch bereit zu brechen, wenn die LINKE doch für ein Bundeswehr-(Afghanistan-)Mandat stimmt, anstatt für offene Grenzen einzutreten, wenn sie die Berliner Krankenhausbewegung oder DWE-Kampagne ins Leere laufen lässt, fossile Energieunternehmen subventioniert, anstatt sie zu enteignen! Verrät Euch die Linkspartei und tausende WählerInnen, dann lasst uns gemeinsam dagegen ankämpfen und in Diskussion über den Aufbau einer wirklich revolutionäre Alternative eintreten, die kein Wahlverein ist, sondern eine Kampforganisation: eine Partei, gestützt auf ein Programm von Übergangsforderungen, das Reformen und Wahlen als Mittel zum Zweck begreift, als lediglich taktische Möglichkeit und Mittel zur Vorbereitung einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung!

Nach der Wahl – vor dem Kampf!

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock werden für soziale Angriffe sorgen und werben. Eine Massenbewegung gegen Krise und Pandemie aufzubauen, die vor der Eigentumsfrage nicht haltmacht, kann sie stoppen. Wir schlagen daher eine Aktionskonferenz von sozialen Bewegungen wie den MieterInnen-, Umweltbewegungen von Ende Gelände bis zu linken FFF-Gruppen, Frauenorganisationen, Gruppen rassistisch Unterdrückter von Black Lives Matter bis Migrantifa, linken Gruppierungen, Gewerkschaften, Linkspartei und allen anderen Parteien, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen (einschließlich aller linken Kräfte in der SPD) vor. Diese sollte die Lage nach den Wahlen und einen Mobilisierungsplan gegen die Attacken von Regierung und Konzernen diskutieren und beschließen. Als mögliche Forderungen schlagen wir vor:

  • Verbot aller Räumungen und Wohnungskündigungen, Erlass der Mietschulden! Für die Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und Enteignung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. unter Kontrolle der MieterInnen!

  • Gegen jede Diskriminierung von MigrantInnen bei der Suche nach Wohnung oder Arbeitsplatz! Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle!

  • Enteignung des Gesundheitssektors und der Pharmaindustrie, Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe! Rasche und gerechte globale Verteilung! Kontrolle der Maßnahmen durch die Beschäftigten im Gesundheitssektor! Streichung der Schulden der Länder des globalen Südens!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Carearbeit zur Durchbrechung der sexistischen Arbeitsteilung! Milliardeninvestitionen in Bildung, Erziehung und Pflege, bezahlt durch progressive Besteuerung von Reichen und KapitalistInnen!

  • Nein zur Festung Europa – offene Grenzen! Organisierter Selbstschutz gegen rechte Gewalt! Verteidigt die Demonstrationsfreiheit und demokratische Rechte!

  • Schluss mit allen Auslandseinsätzen, Waffenexporten, politischen und wirtschaftlichen Hilfen für reaktionäre Regime! Austritt aus der NATO!

  • Kampf gegen alle Entlassungen! Gesetzlicher Mindestlohn und Mindesteinkommen für alle von 15 Euro/Stunde! Enteignung aller Unternehmen, die mit Massenentlassungen drohen! Für die 30-Stundenwoche bei vollem Personalausgleich und Lohn!

  • Die Folgen der Klimakrise und ihre Bewältigung, Überflutungen und Waldbrände müssen durch die bezahlt werden, die sie verursachen, die durch Kohlestrom und Verbrennerautos Milliarden verdienen! Nein zur allgemeinen CO2-Steuer – ja zur massiven Besteuerung der Gewinne! RWE, VW und Co. entschädigungslos enteignen – für eine nachhaltige  Produktionsumstellung unter demokratischer Kontrolle derer, die dort arbeiten!



Sahra Wagenknecht: Selbstgerechtigkeit des Linkspopulismus

Stefan Katzer, Neue Internationale 256, Juni 2021

Nachdem es um Sahra Wagenknecht einige Zeit relativ still geworden war, ist sie nun wieder zurückgekehrt in die Talkshows und Radiosendungen der Republik. Dort präsentiert sie selbstbewusst ihr neues Buch mit dem Titel „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.

Noch bevor sie zahlreiche Gelegenheiten dazu bekam, ihr neues „Programm“ der breiteren Öffentlichkeit zu erklären und ihre Thesen ausgiebig darzulegen, phantasierte sie sich bereits als Opfer einer „cancel-culture“, die unliebsame Meinungen unterdrücke. Die Kritik an einem vermeintlich elitär-kosmopolitischen Linksliberalismus, der durch das Verfolgen der Sonderinteressen ohnehin privilegierter Minderheiten dem Neoliberalismus in die Hände spiele und die Öffentlichkeit fest in seiner Hand hätte, nimmt in Wagenknechts neuem Buch entsprechend breiten Raum ein.

Zielsetzung

Die in Teilen der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber einer oft nur verzerrt dargestellten Identitätspolitik aufgreifend, unternimmt Wagenknecht darin den Versuch, ihr populistisches Projekt eines „linken Konservatismus“ zu begründen. Hierfür will sie WählerInnen aus allen Klassen und gesellschaftlichen Schichten gewinnen.

Strategisch geht es Wagenknecht darum, ehemalige LINKE-WählerInnen von der AfD zurückzuholen sowie die gesellschaftliche Linke und bisherige NichtwählerInnen für ihr Programm zu mobilisieren. Die Linke solle dadurch endlich (wieder) politik- und regierungsfähig werden, eigene Mehrheiten erringen und die Politik umsetzen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung ohnehin befürwortet werde (Einführung einer Vermögenssteuer, höherer Mindestlohn etc.). Wagenknecht bemüht sich dabei auch um jenen Teil der SPD, den sie der „traditionellen Linken“ zurechnet. Ihr politisches Versprechen lautet, sich um die Belange der „normalen“, hart arbeitenden Teile der Bevölkerung zu kümmern.

Der Kampf für die Interessen dieser Teile der Klasse ist für RevolutionärInnen selbstverständlicher, integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Der Kampf für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse usw. muss Bestandteil eines jeden (revolutionären) linken Programms sein. Angesichts der bereits stattfindenden und noch zu erwartenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten ArbeiterInnenklasse ist es daher in der Tat wichtig, dass sich die Linke auf einen Abwehrkampf gegen Massenentlassungen, Sozialabbau und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vorbereitet.

Ähnlich wie Teile der SPD (z. B. Wolfgang Thierse) suggeriert Wagenknecht allerdings, dass es der Linken in den letzten Jahren vor allem deshalb nicht gelungen sei, konsequent für die Interessen der arbeitenden, erwerbslosen und verrenteten Bevölkerung zu kämpfen, weil sie sich im Kampf um die Interessen „elitärer Minderheiten“ vollkommen aufgerieben habe. Daher Wagenknechts scharfe Ablehnung der „Identitätspolitik“ und der akademischen Mittelschichten, die sie als Trägerinnen derselben identifiziert.

Falscher Gegensatz

Tatsächlich gibt es an den Grünen, die Wagenknecht als Hauptvertreterin des Linksliberalismus und der Identitätspolitik ausmacht, aus linker Sicht viel zu kritisieren – etwa dass sie eine durch und durch bürgerliche Partei sind, allzeit bereit, Kriege zu führen, Menschen abzuschieben, Autobahnen zu bauen, soziale Errungenschaften einzustampfen, den deutschen Imperialismus zu verteidigen und dergleichen mehr. Gleichzeitig pflegen die Grünen wie kaum eine andere Partei ein Image als antirassistische, LGBTQIA-unterstützende „Friedenspartei“ und damit auch als konsequente bürgerliche Alternative zur AfD. Wagenknecht tut nun in ihrer Abrechnung mit den Grünen allerdings so, als seien die Grünen v. a. deshalb nicht in der Lage, Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu machen, weil sie sich „zu viel“ um identitätspolitische Fragen kümmerten.

Die zugrundeliegende Botschaft ihrer Abrechnung mit Linksliberalismus und Identitätspolitik lautet letztlich: Wer sich zu viel um die Belange gesellschaftlicher Minderheiten bzw. unterdrückter Schichten der Bevölkerung kümmert, kann keine Politik im Interesse der „normalen“ Leute mehr machen – ganz so, als schlössen sich die Kämpfe für gleiche Rechte, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, offene Grenzen einerseits und jene für höhere Löhne, sichere Renten und Arbeitsplätze andererseits gegenseitig aus.

Wagenknecht spricht dabei nicht nur für sich, ist nicht nur eine grandiose und selbstgerechte Selbstdarstellerin, sondern vertritt auch einen bestimmten Flügel innerhalb ihrer Partei. In Nordrhein-Westfalen, immerhin dem mitgliederstärksten Landesverband, wurde sie nicht nur mit deutlicher Mehrheit zur Spitzenkandidatin zu den Bundestagswahlen gekürt, ihre AnhängerInnen konnten auch die meisten aussichtsreichen Listenplätze gewinnen.

Sozialchauvinismus und Nationalismus

Für diesen offen sozialchauvinistischen Flügel innerhalb des Reformismus bedeutet, „links“ zu sein, im Wesentlichen, sich schützend vor die einheimische Bevölkerung zu stellen, insbesondere vor jenen Teil, dem es ökonomisch schlechtgeht, der prekär beschäftigt und dabei von den Flexibilitätsanforderungen des Kapitalismus permanent überfordert ist. Andere Fragen des Klassenkampfes, wie sie auch von identitätspolitischen Gruppierungen (leider in falscher Weise) adressiert werden, bleiben in dieser ökonomistisch verkürzten Perspektive zwangsläufig außen vor.

So betont Wagenknecht zwar, gegen wirklichen Rassismus einzustehen – nationale Abschottung und die massenhafte Abschiebung von Geflüchteten erscheinen in ihrer Gedankenwelt aber gar nicht als rassistisch, sondern in gewisser Weise als normale Vollzughandlungen eines gut funktionierenden, souveränen Nationalstaates, den sie auch ansonsten gegen jegliche Kritik verteidigt und gar zum einzigen Garanten sozialer Sicherheit stilisiert.

„Die Nationalstaaten sind allerdings auch die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt. […] Es sieht also ganz danach aus, dass die Nationalstaaten genau da handlungsfähig sind, wo ihnen schlagkräftige Interessengruppen im Nacken sitzen. Wer weniger Einfluss hat, hat Pech gehabt. An mangelnder Handlungsfähigkeit hapert es also nicht. Problematisch ist eher, wie die Nationalstaaten handeln. […]. Aber dieses Problem wird nicht durch die Unterordnung der Nationalstaaten unter supranationale Institutionen gelöst, sondern durch die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der Nationalstaaten.“ (S. 230 f.)

Vom Klassencharakter des Staates des Kapitals will Wagenknecht schon lange nichts mehr wissen. Außerdem springt ins Auge, dass Wagenknechts Analyse, trotz drängender werdender globaler Probleme (Klimawandel, imperialistische Konflikte, erzwungene Massenmigration etc.), sich weitgehend auf den nationalen Rahmen beschränkt. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der globale Kapitalismus und die Frage, wie dieser überwunden werden kann, sondern die nach möglichen Regierungskoalitionen unter Beteiligung der LINKEN. Die globale Ebene erscheint bei ihr einzig als Tummelplatz skrupelloser Kapitalmächte, „transnationaler ‚Multi-Stakeholder-Gruppen’“ (S. 228), gegen die einzig auf nationaler Ebene anzukommen sei.

Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines konsequent proletarischen Internationalismus, der grenzüberschreitende Solidarität zwischen ArbeiterInnen weltweit organisiert und die Kapitalmächte auf globaler Ebene stellt, kommt bei Wagenknecht nicht vor. Im Gegenteil: In ihrer national zentrierten Welt erscheint der Internationalismus der ArbeiterInnenklasse nur als besondere Spielart des Kosmopolitismus. Ihre Kritik richtet sich daher letztlich wie jeder Linkspopulismus auch, ja vor allem gegen den revolutionären Marxismus.

Anpassung an SPD und DGB

Weitaus nachsichtiger hingegen verfährt sie mit Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie. Schließlich knüpft sie ja auch an deren nationaler Klassenzusammenarbeit an. Die für die Klasse der Lohnabhängigen verheerende Standortpolitik von SPD und DGB dabei konsequent weiterdenkend, wird von ihr letztlich alles, was den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft gefährdet, als problematisch erachtet. Zu jenen Faktoren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich bedrohen, zählt Wagenknecht dabei nicht nur „Flexibilisierung, Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung“ (S. 221), sondern auch hohe Zuwanderung (ebd.). Sie stellt sich damit und mit ihrer offenen Ablehnung der Forderung nach offenen Grenzen gegen einen Teil der ArbeiterInnenklasse und reproduziert die nationalistische und rassistische Spaltung durch die Herrschenden. Zugleich predigt sie den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft, von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten, und zeigt sich nicht daran interessiert, das Bewusstsein der Klasse zu heben. Vielmehr geht es ihr darum, auch die borniertesten Teile der Klasse vor „Angriffen“ auf ihr bürgerlich-chauvinistisches Weltbild zu schützen.

Ihr Zurückweisen der Forderung nach offenen Grenzen rechtfertigt Wagenknecht zwar mit dem angeblich linken Ziel der Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und sieht sich damit gar in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung ebenso wie konservativer DenkerInnen. Dass es der revolutionären ArbeiterInnenbewegung aber niemals um den „sozialen Zusammenhalt“ des nationalen Kollektivs, also von Kapital und Arbeit, sondern um die Solidarität unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten zwecks Überwindung des Klassengegensatzes ging, fällt bei Wagenknecht unter den Tisch. Für diejenigen, die an der Grenze zurückgewiesen oder gegen ihren Willen in ihr „Heimatland“ abgeschoben werden, macht es aber keinen Unterschied, aus welchen vorgeschobenen Gründen dies geschieht. Zu Recht werden sie eine solche Politik als rassistisch erachten.

An der Debatte um die Forderung nach offenen Grenzen innerhalb der Linkspartei zeigt sich zugleich die ganze Misere des Reformismus. Während nur wenige linke GenossInnen innerhalb der Partei die Forderung nach offenen Grenzen auch gegenüber dem Ministerpräsidenten aus den eigenen Reihen (Ramelow) vorbringen und dessen Abschiebepolitik anprangern, hat man sich im Rest der Partei offensichtlich damit arrangiert, dass auch unter Beihilfe von MinisterInnen der LINKEN abgeschoben wird.

Das, was Wagenknecht offen fordert, nämlich Zuwanderung zu begrenzen, wird von den Regierungslinken ganz real längst umgesetzt – ohne, dass dies in der Breite der Partei auf ähnlichen Widerspruch stoßen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die den offenen Chauvinismus von Sahra Wagenknecht kritisieren, letztlich selbst kein antirassistisches Programm verfolgen, sondern oft nur eine verlogenere Abschiebepolitik decken. Dem Linkspopulismus und offenen Sozialchauvinismus aus den eigenen Reihen kann die Partei somit, abgesehen von moralischer Empörung, nichts Substanzielles entgegensetzen. Die Forderung nach offenen Grenzen wirkt dadurch, dass sie nicht mit anderen Forderungen zu einem einheitlichen revolutionären Programm vermittelt wird, daher eher wie ein leeres Versprechen und ein Bekenntnis, das man ablegt, um das eigene linke Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend leicht haben es die GegnerInnen dieser Forderung, die den VertreterInnen derselben vorwerfen, weltfremden Vorstellungen anzuhängen.

„Kleiner Mann“ oder revolutionäres Subjekt?

Letztlich ist in den Augen Wagenknechts jede/r, der/die die Vorurteile des „kleinen Mannes“ kritisch hinterfragt und auf die problematischen Seiten seiner politischen Einstellung hinweist, ein „Lifestyle-Linker“. Nach der Definition Wagenknechts müsste man wohl auch Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Trotzki und Co. als solche bezeichnen, gehe es den Lifestyle-Linken doch wesentlich darum, „[…] nicht nur das Leben der Arbeiter und anderer Benachteiligter [zu] verbessern, sondern ihnen zugleich ihre wahren Interessen [zu] erklären und ihnen ihre Provinzialität, ihre Ressentiments und Vorurteile [auszutreiben].“ (S. 29 f.)

Wagenknecht aber behandelt den „kleinen Mann“ lieber wie ein zur kritischen Einsicht prinzipiell unfähiges Kind, das es vor allen möglichen Gefahren zu schützen gelte. Die schlecht bezahlten Arbeiterinnen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen werden von ihr überhaupt nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die dazu in der Lage wären, ihr Bewusstsein zu heben und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Sie beschreibt sie vielmehr ausschließlich als Opfer, die es zu schützen gelte – sei es vor den Angriffen der Herrschenden auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, sei es aber auch vor einer Kritik an ihren politischen Einstellungen. Das Subjekt der Veränderung ist der „kleine Mann“ bei Wagenknecht nur insofern, als seine Rückständigkeit nicht kritisiert werden darf. Das soll verständnisvoll erscheinen, in Wirklichkeit ist es jedoch paternalistisch. Wenn die rückständigen Vorstellung der zum „kleinen Mann“ verkommenen Lohnabhängigen als unveränderliche Züge der Klasse betrachtet werden, können sie sich letztlich vom Einfluss bürgerlicher Ideologie nie befreien, es allenfalls zu einer reformistisch oder linkspopulistisch geprägten Klasse bringen. Die eigentlichen AkteurInnen, die deren angemessenen Platz in der Gesellschaft sichern sollen, sind ironischerweise nicht die „kleinen Leute“, sondern ist die Bürokratie in linken Parteien und Gewerkschaften, professionelle StellvertreterInnen dieser Menschen, die, ganz wie die Linksliberalen vorzugsweise aus der akademisch gebildeten Mittelschicht stammen.

Revolutionäre Alternative

Eine revolutionäre Strategie hingegen muss auf der Einsicht aufbauen, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein kann. Die ArbeiterInnen und Unterdrückten brauchen keine gutbezahlten, privilegierten BürokratInnen und Abgeordneten, die längst ihrer demokratischen Kontrolle entzogen sind und weit mehr verdienen als das durchschnittliche Einkommen ihrer WählerInnen und AnhängerInnen. Dass diese bürokratische Schicht ihre Interessen verrät, ist nicht Ergebnis der Identitätspolitik, sondern folgt aus der Logik jeder bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik, der es um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit geht statt um die Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses selbst.

Was es braucht, ist eine Partei, die fähig ist, den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten hierzulande und international zu organisieren, ihn anzuführen und ihm eine Richtung zu geben, die auf die Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zielt. Es besteht dabei kein Gegensatz zwischen den Interessen derjenigen, die in ein patriarchales System gepresst werden, aus dem sie berechtigterweise ausbrechen wollen, und den Interessen jener, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Wer einen solchen Gegensatz behauptet, trägt zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse bei, die niemals nur aus weißen IndustriearbeiterInnen bestand, sondern vom Kapital immer schon global geformt, umgebildet und neu zusammengesetzt wurde. Die ArbeiterInnenklasse hat somit keine fixe Identität, sondern setzt sich ständig neu zusammen, wird ständig neu formiert und entsprechend den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals rekrutiert.

Wie wir bereits in anderen Artikeln gezeigt haben, gibt es aus marxistischer Perspektive berechtigte Kritik an der Identitätspolitik. Wir haben dort ebenfalls die Notwendigkeit betont, dass sich RevolutionärInnen am Kampf für die Befreiung aller gesellschaftlich Unterdrückten beteiligen, ihn als integralen Bestandteil des Klassenkampfes begreifen und entsprechend führen. Wagenknecht hingegen geht es nicht um eine Kritik an der Identitätspolitik in revolutionärer Absicht. Wagenknechts Programm ist das eines chauvinistischen, klassenübergreifenden Linkspopulismus. Ihre Kritik an der Identitätspolitik bedeutet somit keinen Schritt nach vorne, sondern eher zwei Schritte zurück.




Bundesparteitag von DIE LINKE – Richtungswechsel oder alles wie immer?

Basti Linowic, Neue Internationale 253, Februar 2021

Am 26. und 27. Februar 2021 findet der siebte Bundesparteitag der Partei DIE LINKE statt. Nachdem die ursprünglich für Juni letzten Jahres geplante Tagung aufgrund der Coronapandemie mehrmals verschoben werden musste, hat der Parteivorstand entschieden, dass der nun für Ende Februar angesetzte Parteitag vollständig online stattfinden wird.

Eine wichtige Entscheidung wird die Neuwahl des Bundesparteivorsitzes darstellen. Nachdem Bernd Riexinger und Katja Kipping, nach acht Jahren Amtszeit, angekündigt hatten, sich nicht erneut für dessen Wahl aufstellen lassen zu wollen, haben Susanne Hennig-Wellsow als Vertreterin des realpolitischen Flügels (Forum Demokratischer Sozialismus, Landes- und Fraktionsvorsitzende in Thüringen) und Janine Wissler als Vertreterin der Bewegungslinken (ehem. marx21 und Fraktionsvorsitzende in Hessen) ihrerseits erklärt, für die Nachfolge zu kandidieren. Susanne Hennig-Wellsow steht politisch innerhalb der Partei auf der Seite des rechten Flügels, sitzt seit 2004 im Thüringer Landtag, gilt als enge Vertraute von Ramelow und ist seit 2014 an den rot-rot-grünen Regierungskoalitionen in Thüringen beteiligt. Janine Wissler hingegen wird zum linken Parteiflügel gezählt, sitzt seit 2008 als Abgeordnete im Hessischen Landtag und war bis zur Ankündigung ihrer Kandidatur für den Bundesparteivorsitz noch Mitglied des zentristisch-trotzkoiden Netzwerkes marx21 (ehemals Linksruck).

Es gilt als ziemlich unumstritten, dass Hennig-Wellsow und Wissler auch tatsächlich für den Parteivorsitz gewählt werden. An der Ausrichtung und dem aktuellen Kurs der Partei ändert diese Personalumstellung wenig bis nichts. Der bisherige Kurs der Anbiederung an die SPD und Grünen, das Liebäugeln mit einer rot-rot-grünen Koalition auch auf Bundesebene, die hierzu stetig vorangetriebene Loslösung von den „roten Haltelinien“ und die ständige Betonung der eigenen Regierungsfähigkeit wird vermutlich auch unter der Führung einer Hennig-Wellsow mit einer Janine Wissler als linkem Feigenblatt unvermindert weitergehen. Auch ist nicht damit zu rechnen, dass mit der neuen Führung DIE LINKE plötzlich eine scharfe Kritik an der Politik der Bundesregierung während der Coronapandemie äußert, geschweige denn den so notwendigen Aufbau einer sozialen Bewegung gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die lohnabhängige Bevölkerung vorantreibt. Auch wenn sich Wissler in der Vergangenheit klar gegen den Kapitalismus, die NATO, Auslandseinsätze und Abschiebungen positionierte, ist ihr Austritt aus marx21 infolge ihrer Bundesparteivorsitzkandidatur doch ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch sie nicht für einen grundlegenden Richtungswechsel in der Parteipolitik steht, sondern vielmehr für die „Versöhnung und Einheit“ der verschiedenen Flügel.

Streitfragen

Dennoch dürften die Wahl und der künftige Bundesparteivorsitz nicht gänzlich ohne Spannungen auskommen und einige entscheidende Streitfragen zuspitzen, über die innerhalb der Partei schon länger diskutiert wird. Bereits aus dem Leitantrag für den Bundesparteitag lässt sich deutlich herauslesen, dass besonders die Regierungsfrage bzw. genauer die von Regierungsbeteiligungen Gegenstand der Debatte sein wird. Am Ende des Leitantrags steht dazu Folgendes: „Wenn wir uns heute und in den nächsten Tagen wieder in Erfurt zusammenfinden, um gerade auch über die Regierungsfrage zu diskutieren, sollten wir uns an zwei Aussagen im Erfurter Programm von 2011 besonders erinnern: ,Bündnisse mit anderen politischen Parteien gehen wir dann ein, wenn dies den von uns angestrebten Richtungswechsel in der Gesellschaft fördert’.“ Und: „An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt … werden wir uns nicht beteiligen.“

Rot-Rot-Grün

Vorausgesetzt, dass diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden wird, wird diese auch gerade hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahlen auch im neuen Parteivorsitz weiter für Zündstoff sorgen. Denn während Hennig-Wellsow als Landes- und Fraktionsvorsitzende in Thüringen selbst seit 2014 aktiv an der dortigen rot-rot-grünen Landesregierung beteiligt ist, gilt Wissler eher als Kritikerin von Regierungsbeteiligungen. So sagte sie selbst in einem Interview mit der Zeit vom 12. Juni 2020: „Die Differenzen zwischen SPD, Grünen und uns sind schon sehr groß, etwa bei der Frage der Bundeswehreinsätze, der NATO, aber auch bei vielen anderen Themen. Von Hartz IV bis zur Rente mit 67 hat die SPD vieles vorangetrieben, was wir falsch finden.“

Und weiter zu der Frage, was von einer möglichen Orientierung auf Grüne und SPD zu halten sei: „Im Wahlkampf müssen wir die Menschen davon überzeugen, warum es eine starke Linke im Bundestag braucht und was uns von anderen Parteien unterscheidet: dass man, wenn man Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit durchsetzen will, die Macht- und Einkommensstrukturen verändern muss. Dass wir eine antikapitalistische Kraft sind und konsequent gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmen. Ich halte es für unklug, in Konstellationswahlkämpfe zu gehen.“

Gleichzeitig ist es dem realpolitischen, rechten Flügel in der Partei DIE LINKE, der im Bundesvorsitz voraussichtlich von Susanne Hennig-Wellsow repräsentiert werden wird, besonders wichtig, eine eindeutige Positionierung in Richtung Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen nach außen zu vertreten.

Die Streitfrage könnte jedoch dadurch entschärft werden, dass eine rot-rot-grüne Mehrheit nach der Bundestagswahl sehr unrealistisch und rein hypothetisch bleibt, unabhängig von der Frage, ob DIE LINKE sich darauf orientiert oder nicht. Allerdings finden in diesem Jahr nicht nur Bundestags-, sondern auch viele Landtagswahlen statt, wo DIE LINKE sich weiter anschickt, sich an Regierungen zu beteiligen. Daher hätte eine eindeutige Orientierung auf Rot-Rot-Grün zur Bundestagswahl auch Signalwirkung auf mögliche Regierungsbeteiligungen auf Landesebene. Ob Janine Wissler mit ihrer Position im Bundesparteivorsitz an dieser Orientierung etwas ändern bzw. dem etwas entgegensetzen kann, ist fraglich – schließlich stellt der Kurs auf Beteiligung an Landesregierungen längst etablierte Politik der Partei dar.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Orientierung auf einen „Konstellationswahlkampf“ und die damit einhergehende Offensive des rechten Parteiflügels für Kompromisse in den sogenannten roten Haltelinien (bspw. Abkehr von der Position „Raus aus der NATO“ oder dem grundsätzlichen Nein zu Auslandseinsätzen) tatsächlich eine Mehrheit in der Partei finden würde. Zwar befinden sich der linke Parteiflügel, die Strömung der Bewegungslinken (u. a. AKL) und die zentristischen Kräfte in der Partei (SAV, Sol, marx21) in der Defensive, aber dennoch ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Mehrheit für den „regierungssozialistischen Kurs“ der Parteirechten.

Konsistenz

Andererseits hätte die Orientierung auf eine Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen auch eine gewisse Konsistenz in der Logik des Reformismus und unter regierungssozialistischen wie transformationsstrategischen AnhängerInnen. Denn wer den Kapitalismus reformieren will, statt den Herrschaftsapparat der kapitalistischen Klasse zu zerschlagen, kommt um die Frage der Regierungsverantwortung innerhalb des Systems und somit um die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung nicht herum – also an einer, die letztlich die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, den bürgerlichen Staat und seine parlamentarisch-demokratische Herrschaftsform verteidigt.

Anhand dieser Frage, was das (notwendige) Programm einer reformistischen Partei sein muss und was letztlich seine Konsequenzen sind, zeigt sich auch die ganze Crux mit den Linken innerhalb der Linkspartei. Denn auch wenn es oberflächlich vielleicht so aussehen mag, als ob die Entscheidung in der Auseinandersetzung zwischen einer realpolitischen (reformistischen) und einer bewegungsorientierten, antikapitalistischen Politik darin liegt, ob DIE LINKE sich auf Regierungsbeteiligungen orientiert und hierzu auch bereit ist, Konzessionen hinzunehmen, sieht die Realität längst anders aus und lässt sich auch nicht nur anhand der Positionierung zu Rot-Rot-Grün beantworten. Denn allein die Tatsache, dass DIE LINKE eben keine „sozialistische Oppositionspartei“ ist, sondern eine verbürgerlichte ArbeiterInnenpartei, die durch und durch reformistisch, in mehreren Bundesländern längst schon an bürgerlichen Regierungen beteiligt ist und allerlei Schweinereien mitverzapft, deren Führungsapparat selbst aufgrund seiner materiellen Stellung ein Interesse daran hat, Posten zu ergattern und die Partei weiter auf die „Regierungsverantwortung“ einzupeitschen, führt zwangsweise zur Anpassung an die anderen bürgerlichen Parteien und zur Orientierung auf Koalitionen mit diesen. Eine wirkliche Kritik an Rot-Rot-Grün würde also eine notwendige Kritik an Staat und Kapital und für den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen ArbeiterInnenpartei bedeuten, welche zwangsläufig zur offenen Konfrontation mit dem Parteiapparat, den reformistischen Strömungen führen und sich um eine grundlegende Änderung der Partei und des Programms drehen würde.

Kräfteverhältnis

Dass diese grundlegende Änderung aufgrund des Kräfteverhältnisses in der Linskpartei jedoch unrealistisch und utopisch ist, lässt sich auch am Leitantrag für den kommenden Bundesparteitag deutlich erkennen. Dort steht z. B. wortwörtlich: „Wir setzen uns für ein breites gesellschaftliches Bündnis und einen grundlegenden sozial-ökologischen Richtungswechsel ein. Das sind für uns die Maßstäbe, in eine Regierung einzutreten oder sie zu unterstützen. Wir stellen an Grüne und SPD die Frage, ob sie bereit sind, einen sozial-ökologischen und friedenspolitischen Politikwechsel einzuleiten, statt die CDU weiter an den Schaltstellen der Regierungsmacht zu belassen. DIE LINKE ist zu einem solchen Politikwechsel bereit.“

Von der Coronapandemie und dem längst überfälligen Aufbau einer Antikrisenbewegung geschweige denn von der Notwendigkeit des Aufbaus einer linken, sozialen Opposition auf der Straße ist dabei überhaupt keine Rede. Ansätze für eine linke Bewegung gegen das Pandemiemanagement der Bundesregierung wie die #ZeroCovid-Kampagne, finden keinerlei Erwähnung. Eine reformistische Ausrichtung und Strategie (und damit einhergehende Orientierung auf Beteiligungen an bürgerliche Regierungen) wird durch den Leitantrag also selbst gefordert, was aber eben komplett der inhärenten Logik einer reformistischen Partei entspricht. Die Möglichkeit, dies grundlegend zu ändern, geschweige denn, eine Mehrheit der Partei für einen revolutionär-sozialistischen Wechsel zu gewinnen, ist im Grunde ausgeschlossen.

Wir wollen damit keineswegs bestreiten, dass DIE LINKE immer noch über eine konkrete Verankerung in der ArbeiterInnenklasse, in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verfügt, wenn auch oft mehr unter den FunktionärInnen denn an der Basis. Dieser Umstand macht es für RevolutionärInnen unerlässlich, die Entwicklung in reformistischen Parteien zu verfolgen, an diese Forderungen zu richten und sie unter Druck zu setzen, sich am Klassenkampf zu beteiligen, bspw. in der aktuellen Situation durch die Aufforderung zur Beteiligung an und zum Aufbau einer Antikrisenbewegung, konkret durch das Aufgreifen der #ZeroCovid-Kampagne. Dies ist notwendig, da Parteien wie DIE LINKE (und auch die SPD) nach wie vor lohnabhängige, proletarische Mitglieder, AnhängerInnen und WählerInnen organisieren bzw. mobilisieren, die es in den gemeinsamen Kampf gegen Kapital und Regierung zu ziehen und vom Reformismus zu brechen gilt.

Hieraus kann nur eines folgen für die praktische Tätigkeit von RevolutionärInnen und SozialistInnen, eine Erkenntnis, welche Luxemburg und Liebknecht bereits vor über 100 Jahren in der realen schmerzlichen Auseinandersetzung mit dem Reformismus machen mussten: Um eine Organisation zu schaffen, die tatsächlich dem objektiven Interesse der ArbeiterInnenklasse an einer Zerschlagung der kapitalistischen Ordnung und der Machtergreifung des Proletariats gerecht wird, müssen wir diese selbst, unabhängig vom Reformismus, aufbauen. Das bedeutet konkret die Notwendigkeit, den Aufbau einer revolutionären Partei in Angriff zu nehmen, statt in der strategischen Ausrichtung auf eine Beteiligung an verbürgerlichten ArbeiterInnenparteien auf einen plötzlichen Wandel zu hoffen.




Linkspartei-Vorstoß zur Vermögensabgabe: Wer zahlt die Corona-Kosten?

Wilhelm Schulz, Infomail 1125, 11. November 2020

Die Pandemie zieht sich sichtbar in die Länge. Auch wenn seit einigen Tagen ermutigende Testergebnisse bei der Entwicklung eines Impfstoffes vorliegen, so deuten eine rasante Zunahme der Fallzahlen im letzten Monat, der laufende Lockdown und eine Reihe von Mutationen des Virus darauf hin, dass wir wohl noch einige Zeit mit dessen Gefahren leben müssen. Eventuell könnte es sich um ein künftig zyklisch wiederkehrendes Phänomen handeln, welches ähnlich der Grippe mit Schutzimpfung in jährlich neuer Zusammensetzung bekämpft werden muss.

Während die Bedeutung auf die unmittelbaren Gefahren und Konsequenzen der gesundheitlichen Krise gelegt wird, fragen sich Millionen Menschen mit wachsender Sorge: Wer zahlt die Kosten von Pandemie und Krise? Nach Monaten des parlamentarischen Tiefschlafes und der faktischen Unterstützung der Regierungspolitik erhebt die Partei DIE LINKE die Forderung nach einer Vermögensabgabe für die Reichen und Superreichen, um die Schulden zu bedienen, die die Bundesrepublik zur Abfederung der Pandemie- und Krisenkosten aufgenommen hat oder plant aufzunehmen.

Das stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Wir begrüßen diese Initiative. Aber es darf nicht nur bei einem parlamentarischen Vorschlag bleiben. Im Bundestag findet sich beim besten Willen keine Mehrheit für eine Vermögensabgabe. Diese kann nur durch Druck von außen erzwungen werden. Es braucht den organisierten Kampf auf der Straße, in Betrieben und Gewerkschaften, um diese Forderung durchzusetzen.

Worum geht’s?

Laut Handelsblatt vom 4. November nimmt der Bund im laufenden Jahr bereits 218 Milliarden und im kommenden Jahr weitere 96 Milliarden Euro an neuen Schulden auf. Zugleich soll ab dem Jahr 2022 die sogenannte Schuldenbremse wieder greifen, was massive Sparpakete im Anschluss an die kommende Bundestagswahl vermuten lässt. Dass die Schuldenbremse erst nach dieser wieder greifen soll, zeigt, dass die Regierung sich nicht vorher aufs politische Glatteis begeben will.

Hier bieten sich die üblichen fiskalpolitischen Maßnahmen an: entweder die Einnahmen zu erhöhen oder die Ausgaben zu verringern. DIE LINKE wirft diese Frage, wenn auch erst Monate nach Beginn der Pandemie, auf und stellt sie in Zusammenhang mit der sozialen Krisee, indem sie die Reichsten der Bevölkerung zur Kasse bitten möchte.

Der Vorstoß basiert auf einer von der Partei DIE LINKE (PdL) in Auftrag gegebenen Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter Federführung des Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi erstellt hat. Das 63-seitige Papier wurde Anfang November dem ARD-Hauptstadtstudio vorgelegt und wird sehr öffentlich diskutiert.

Konkret soll die Abgabe alle Privatpersonen mit einem Nettovermögen von über 2 Millionen Euro und alle Unternehmen, deren Vermögen 5 Millionen Euro übersteigt, treffen. Demnach soll eine Sondervermögensabgabe verabschiedet werden, welche ausschließlich diese reichsten 0,7 % der Bevölkerung zahlen sollen – etwa 580.000 Personen. Jeder Cent über den Freibetrag von 2 bzw. 5 Millionen hinaus soll besteuert werden. Die Linkspartei schlägt außerdem eine Progression für die Abgabe vor, die mit 10 % des Nettovermögens beginnt und bis zu einem Betrag von 100 Millionen Euro auf maximal 30 % ansteigen soll. Als Stichtag gilt hierfür der 1. Januar 2020. Die Abzahlung soll über 20 Jahre hinweg geschehen. Die Abgabe in der Höhe von 10 bis 30 Prozent wird also über diese Zeitspanne anteilig erhoben, beträgt also jährlich selbst für die mit dem größten Vermögen nicht mehr als knapp 1,5 %.

Den Prognosen der DIW nach könnte dies etwa 15,5 Milliarden zusätzlicher jährlicher Steuereinnahmen bedeuten, über 20 Jahre hinweg etwa 310 Milliarden Euro. Die Summe umfasst also die bisherigen und bislang geplanten (!) Kosten der Pandemie in Deutschland. Dazu muss angemerkt werden, dass die aktuellen Wirtschaftsprognosen der Regierung davon ausgehen, dass eine zweite Welle der Pandemie samt Lockdown vermieden werden kann. Auf ein klares bürgerliches Krisenmanagement und Planung kann aber aktuell kein Vertrauen gelegt werden. Die Abgabe erinnert etwas an die Lastenausgleiche nach dem 2. Weltkrieg. Hierbei wurde 1952 im Westen ein Fonds eingeführt. Für diesen wurden bis 1972 insgesamt 42 Mrd. D-Mark erhoben.

Zwar bewegt sich der Vorschlag der Linkspartei auf der Ebene der Vermögensverteilung und nicht auf der Ebene des Eigentums, selbst Grundlage einer ungleichen Vermögensverteilung, spricht aber damit einen richtigen Punkt an. Die Pandemie wirkt auf uns nämlich nicht gleich. Während viele mit Arbeitslosigkeit, Verlust ihrer letzten Ersparnisse, KurzarbeiterInnengeld, Schließungen zu kämpfen haben, haben die Reichsten hierzulande und international ordentlich Schotter aus der Krise angehäuft. Dass allein die von der Linkspartei vorgeschlagene Vermögensabgabe über 310 Milliarden Euro in die Staatskassen spülen könnte, verdeutlicht, wie reich die Reichen mittlerweile sind, welche riesigen Vermögen sie angesammelt haben – und dies ohne auch nur einen Cent des Werts des Kapitalstocks der kapitalistischen Unternehmen einzurechnen!

Und die Reaktionen?

Reagiert wird im Parlament und in der Presse entweder recht verhalten oder ablehnend bis zur Hysterie. SPD und Grüne geben sich verhalten positiv, somit passiv. So sagt der finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion im Gespräch mit der ARD, dass er die Idee grundsätzlich vorstellbar finde, jedoch erst nach der Krise diese Frage stellen wolle. Das sozialdemokratische Motto läuft auf Vertröstung hinaus: Während der Krise sind Maßnahmen im Interesse der Masse verfrüht. Nach der Krise wird es wohl heißen, dass es zu spät dafür sei und die Wirtschaft zuerst wachsen müsse.

CDU/CSU, FDP und AfD lehnen eine Vermögensabgabe kategorisch ab. Für die offen bürgerlichen Parteien aller Art kommt jede Reform ungelegen, die im Interesse der Lohnabhängigen und in diesem Fall sogar der sonst gern beschworenen Selbstständigen liegt. Die CSU-Finanzpolitik macht sich in der FAZ für ihre Klasse stark, die jetzt Kohle und Hilfe von ihrem Staat und keine Steuern bräuchte: „Die Unternehmen brauchen gerade in der jetzigen Krise eine Stärkung ihrer Liquidität und nicht einen linken kleptomanischen Steuerstaat.“ Wer die vermeintlichen LeistungsträgerInnen auch nur zu einer Abgabe zwingen will, der macht sich der Hetze schuldig: „Es ist der alte Versuch der Linken, mit der Hetze auf Superreiche auf Stimmenfang zu gehen.“

In trauter Eintracht mit den Unionsparteien und der FDP lehnt auch die AfD jede Vermögensabgabe ab. Die Reichen sollten schließlich nicht auch noch für „unnütze“ Corona-Schutzmaßnahmen zahlen müssen.

Parallel dazu labern die MärchenerzählerInnen vom IfO Institut für Wirtschaftsforschung ihren üblichen Nonsens und warnen vor Kapitalflucht und den hart getroffenen kleinen Immobilienbesitzenden. Neben dem TaschenspielerInnentrick, auf jene zu verweisen, die am unteren Rand der Maßnahmen stehen und sicherlich nicht unter den Freibetrag zu fallen drohen, ist anzumerken, dass v. a. die Immobilienbranche trotz zeitweiliger Einfrierung der Mietzahlungen keine finanziellen Rückschläge in der Pandemie erleiden musste.

In der sogenannten Zivilgesellschaft erleben wir mit der Forderung Herbert Grönemeyers nach einer freiwilligen Abgabe durch Reiche von einigen hunderttausend Euro pro Person zwar, dass sie lauter wird, aber dessen Programm noch handzahmer ist.

Was brauchen wir?

Trotz der wichtigen und richtigen Initiative der PdL muss gesagt werden, dass wir keine Hoffnung in den Bundestag und sein Mitleid mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten dieses Landes haben dürfen. Die Regierungen in Bund und Ländern versuchen vielmehr, den Forderungen der Unternehmen nach bestem Wissen und Gewissen nachzukommen. Die Fabriktore und Schulen sollen solange wie möglich offen halten, um später als andere Staaten die Produktion ihrer nationalen Bourgeoisie stoppen zu müssen, während gleichzeitig die mögliche Maximalarbeitszeit im Krankenhaus erhöht wird. Die Niederlage in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes zeigt andererseits die Schwachstellen der Gewerkschaften, die sich ebenfalls im sozialpartnerschaftlichen KompromisslerInnentum gefangen sehen und kein Programm des Widerstandes gegen drohende Entlassungswellen anbieten.

Klassenkämpferische Kräfte in und außerhalb der Linkspartei dürfen den aktuellen Vorstoß nicht bloß abnicken oder nur darauf verweisen, dass er an sich das Problem nicht bei seiner Wurzel packt. Eine solche rein kommentierende Haltung führt nicht weiter. Sie müssen vielmehr diese Forderung mit praktischen Vorschlägen verbinden, die die Aktivitäten rund um den Aufbau einer breiten klassenkämpferischen Antikrisenbewegung konzentrieren. Was wir brauchen, sind Aktionskonferenzen der antikapitalistischen Linken, GewerkschafterInnen, sozialen Bewegungen und von reformistischen Parteien wie der PdL oder auch der SPD-AnhängerInnen für eine solche Vermögensabgabe. Bloßen Vorschlägen oder Lippenbekenntnissen müssen Taten folgen. Die Linkspartei und alle anderen, die die Reichen zur Kasse zwingen wollen, müssen in die politische Verantwortung genommen werden. Der Vorstoß der Linken kann und sollte mit dem Slogan „Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise“ verbunden werden. Die Initiative kann eine Grundlage für eine gemeinsame koordinierte Aktion auf der Straße und in den Betrieben darstellen.

Als Gruppe ArbeiterInnenmacht haben wir unser Corona-Aktionsprogramm aktualisiert, mit dem wir inhaltlich für den Aufbau einer Antikrisenbewegung kämpfen wollen. Wir sind uns bewusst, dass wir – wie alle anderen kleinen linken Gruppierungen – nicht über die Durchsetzungskraft verfügen, solch eine Initiative alleine zu tragen. Aber ein Zusammenschluss der bestehenden Kräfte, die eine Antikrisenbewegung aufbauen wollen, zu einer gemeinsamen Initiative könnte ein erster Schritt zum Aufbau einer breiten Einheitsfront sein, die auch die Massenorganisationen der Klasse umfassen und zum Handeln zwingen könnte und müsste. Daher müssen DIE LINKE und ihr Vorstoß in dieser Stunde beim Wort genommen und darum herum Taten gefordert werden. So können wir einen Schritt tun, wie wir die Krise positiv auflösen und die Klasse in die Offensive bringen!




Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?

Tobi Hansen, Neue Internationale 229, Juni 2018

Die Linkspartei tagt vom 8.-10. Juni in Leipzig. Im Zentrum der Vordiskussionen stand ihre Haltung zur Migrationspolitik, die offenkundig nicht nur die Rechten und die Regierung, sondern auch die „sozialistische“ Opposition umtreibt. Verschiedene Gruppierungen haben dazu Positionspapiere vorgelegt, beim Parteitag stehen kleinere Anträge zur Abstimmung. Der Antrag des Vorstandes versucht dabei, einiges zu verbinden – gegenüber Wagenknecht & Co. will er sich abgrenzen, der Rest des Textes bleibt aber möglichst schwammig gehalten. Zu dem hauptsächlichen Streitpunkt offene Grenzen heißt es:

„Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen beenden. Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges, faires System der Aufnahme von Geflüchteten und einen Lastenausgleich in Europa. Statt Abschiebung wollen wir Bleiberechte für Menschen und statt Familien auseinanderzureißen, wollen wir sie zusammenführen.“ (Antrag Parteivorstand)

Der Vorstand um Kipping und Riexinger versucht damit, zwei Flügel in der Partei hinter sich zu einen: einerseits die ostdeutschen Landesverbände mit und ohne Regierungsauftrag wie auch andererseits linkere Kreise um anti-rassistische GewerkschafterInnen, marx21 und Mitglieder, die als UnterstützerInnen in der Solidaritätsbewegung mit den Geflüchteten aktiv waren oder sind. So richtig es ist, den sozialchauvinistischen und nationalstaatsfixierten Argumentationen des Wagenknecht-Lagers eine Abfuhr zu erteilen, so entschlossen muss aber auch die bisherige Praxis der Landesregierungen bekämpft werden, an denen die Linkspartei beteiligt ist. Diese setzen seit Jahren die Abschiebungen um und zwar, wie das Beispiel Brandenburg zeigt, mitunter sogar konsequenter als andere Landesregierungen. Was nützen Beschlüsse zu „offenen Grenzen“ und „humanistischer Flüchtlingspolitik“, wenn die Landesregierungen, in denen DIE LINKE vertreten ist, weiter „Seehofer“-Politik umsetzen? Eine solche Politik ist unglaubwürdig und gegenüber den Geflüchteten, als deren Sachwalterin sich die Linke präsentiert, einfach nur zynisch.

Dies mag auch manchen in der Linkspartei unangenehm sein – getan wird freilich nichts. Statt ein konsequentes Ende dieses Doppelspiels zu fordern, drohen Formelkompromisse. Einige VertreterInnen der Landespolitik haben nun, um die Kluft zwischen schönen Worten und repressiven Taten zu verringern, eine Debatte über ein „linkes“ Einwanderungsgesetz angestoßen.

Dieses sieht vor, den Familiennachzug auszubauen. Anstelle von ökonomischer Verwertbarkeit soll das Vorweisen eines „sozialen Bezugspunkts“ und einer „Integrationsperspektive“ als Begründung für das Bleiberecht ausreichen. Sicherlich würde das eine weniger repressive Praxis darstellen als der staatliche Rassismus der Großen Koalition. Aber wie alle Vorschläge eines Einwanderungsgesetzes kommen auch diese nicht um Einschränkungen für die Migration bis hin zu staatlichen Sanktionsmaßnahmen, also Abschiebungen für Menschen, die es nach einem Jahr nicht geschafft haben, einen „Bezugspunkt“ zu finden, herum.

Einwanderungsgesetze haben – dies wird hier wieder einmal deutlich – immer einen grundsätzlich rassistischen Charakter, was immer bestimmte Kategorien zur Selektion beinhaltet, zu deren Umsetzung der bürgerliche Staat legitimiert wird. Eine sozialistische antirassistische Politik sieht eine Forderung nach offenen Grenzen vor allem nach dem Ende der „Festung Europa“ immer als Teil einer weitergehenden revolutionären Politik.

Sozial-chauvinistischer Vorstoß

Ganz anders am rechten Flügel der Linkspartei. Dort wird vielmehr die Forderung nach offenen Grenzen angegriffen. So wird – entgegen jeder realen Entwicklung – munter behauptet, dass auch das „globale Kapital“ offene Grenzen fordere. Diese würden genutzt werden, um die Arbeitskräfte z. B. in der EU, aber natürlich auch weltweit gegeneinander auszuspielen und in Konkurrenz zu setzen. Dabei unterschlagen die „KritikerInnen“ an den offenen Grenzen immer, dass es nirgendwo „offene Grenzen“ gibt, dass jede Einwanderungspolitik des „globalen Kapitals“ immer eine staatlich regulierte sein muss, die sich nach der erwarteten Nützlichkeit und den Bedürfnissen der Kapitalverwertung richtet.

Historisch gesehen hat die marxistische und revolutionäre ArbeiterInnenbewegung genau deswegen alle Einreisebeschränkungen bekämpft, um so zu verhindern, dass MigrantInnen gegen „einheimische“ ArbeiterInnen ausgespielt werden. Sie hat das auch getan, weil die nationalen Grenzen selbst schon die Lohnabhängigen spalten und ihrer Einheit entgegenstehen. Der Klassenkampf ist international, heißt es schon im „Kommunistischen Manifest“. Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, so bedeutet er auch, dass die ArbeiterInnenklasse als eine internationale Klasse, nicht bloß als eine Summe nationaler Gruppen von Lohnabhängigen zu begreifen ist.

Ganz anders nicht nur bei Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, zwei traurigen Gestalten, denen der Sozialchauvinismus des sozialdemokratischen Reformismus und des Stalinismus offenbar zur zweiten Natur geworden ist.

Einige VertreterInnen der SL (Sozialistische Linke) wie MdB Fabio De Masi und Parteivorstandsmitglied Ralf Krämer versuchen, dieser Politik in einem Thesenpapier höhere „strategische“ Weihen zu verleihen und bringen dabei solche Aussagen zustande:

„Keine linke Einwanderungspolitik sollte eine Destabilisierung der Gesellschaft und eine Schwächung der Kampfbedingungen der ArbeiterInnenklasse durch Migration billigend in Kauf nehmen, geschweige denn mutwillig herbeiführen.

Migrationsprozesse sollen die größtmöglichen positiven und geringsten negativen Effekte für alle Beteiligten haben, das Wohl der Menschen in den Herkunftsstaaten, den Zielstaaten und der MigrantInnen ersichtlich befördern und nicht unterminieren. Eine linke Migrationspolitik muss darauf gerichtet sein, mit diesem Spannungsverhältnis produktiv umzugehen.“ (Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik unter Punkt 7)

Hier „lernen“ wir Erstaunliches, die nationalstaatlich begründete „Wagenknecht-Position“ wird ausformuliert. Anscheinend werden die Kampfbedingungen der Klasse dadurch bestimmt, wie viele der Klasse angehören und inwieweit sie unterschiedliche Sprachen sprechen, welche Politik die Klasse gegen das Kapital vertritt, scheint weniger wichtig zu sein. Diese Kampfbedingungen der Klasse hängen nämlich, besonders im Jahr des 200. Geburtstages von Karl Marx, von der Politik ab, die in die Klasse getragen wird. Das allein entscheidet darüber, wie „stark“ oder „schwach“ die Klasse kämpfen kann oder eben nicht. De Masi gehört auch den „Linken“ in der Linkspartei an, die meinten, einen „Brexit“ mit unterstützen zu müssen. Auch bei der EU war ihm der nationale Rahmen wichtiger als der gemeinsame Kampf gegen die kapitalistische EU auf europäischer Ebene.

Hier wird der Arbeitsmigration gleichzeitig viel Abstruses unterstellt. Für wen ist die „Einwanderung“ destabilisierend oder noch schlimmer, wer könnte denn so was „mutwillig herbeiführen? Hier sehen wir das Bewusstsein derjenigen, die am ehesten einer „linken Sammlungsbewegung“ folgen dürften, wenn es denn mittelfristig zum Bruch kommt. Schon 2015/16 hatte Lafontaine (für viele der „Stratege“ im Hintergrund dieses Flügels) dem US- Imperialismus böse Absichten im Nahen und Mittleren Osten unterstellt, aber nicht hauptsächlich gegen die dortigen Völker, sondern gegen die arme EU, welche dann die Geflüchteten aufnehmen müsste – inwieweit Russland auch diese Absichten hegt, wurde nie klar. Das ist aber mit „mutwillig“ gemeint.

Dass Migrationsprozesse die „größtmöglichen positiven Effekte“ haben sollen, ist ein wohlfeiler Wunsch, vor allem wenn anscheinend ausgeblendet wird, warum sich Menschen überhaupt zur Flucht aufmachen. Gleichzeitig wird aber mit unterstellt, dass diese nicht das „Wohl der Menschen“ in den „Zielländern“ unterminieren sollen. Das ist Sozialchauvinismus in reinster Form. Nach der Methode hätten auch die ostdeutschen ArbeitsmigrantInnen Anfang der 1990er Jahre nicht nach Westdeutschland gehen dürfen. Zum einen drohte ihnen nicht der Verlust ihrer Unversehrtheit im Osten, zum anderen wollten sie ja „nur“ ein höheres Einkommen erzielen. Solche Beweggründe sind nicht beliebt bei den Thesenschreibern:

„Unbegrenzte Schutzgewährung für Menschen in Not ist etwas anderes als eine unbegrenzte Einwanderung, die auch all diejenigen einschließen würde, die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen.

Im anderen Fall ist die Migration ein sozio-ökonomisch motivierter Akt, der weder alternativlos ist, noch den letzten Strohhalm darstellt, sondern bei dem eine Wahl unter verschiedenen möglichen Optionen getroffen wird. Hier haben die Aufnahmeländer ein Recht zur Regulierung der Migration.“ (Thesenpapier unter Punkt 2)

Hier wird unklar, ob wir in der gleichen Realität leben wie die Thesenschreiberlein. Nach unserer Ansicht wurde Deutschland 2015 eben nicht von einer Million SoftwareentwicklerInnen überrannt, die seitdem das WLAN lahmlegen, sondern diese Geflüchteten hatten existenzielle Nöte wie Bürgerkrieg, Hunger, Armut als Fluchtgründe. Gerade sog. „Arbeiterversteher“ unter den Autoren wie R. Krämer unterstellen hier Millionen Armutsflüchtlingen, dass sie sich ja etwas aussuchen könnten, dass sie „Optionen“ hätten.

Für Millionen weltweit, die selbst ihre Arbeitskraft aufgrund der kapitalistischen Verhältnisse nicht reproduzieren können, ist dies eine politische Kampfansage, die nicht weit von dem rassistischen Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ entfernt ist.

Hier wird bewusst die sog. „Arbeitsmigration“ den Asylsuchenden gegenübergestellt. Genauso pervers werden oftmals die Entscheidungen des BAMF auch getroffen. Ist jemand in Not, der keine Arbeit findet, der/die aufgrund von politischen, religiösen Gründen sozial diskriminiert wird und die Flucht nach Europa als letztes Mittel sieht, nur um dann dort oftmals in illegaler und ungesicherter Beschäftigung von Abschiebung bedroht zu sein – ist das jetzt Asylsuche oder „freiwillige“ Arbeitsmigration? Es ist zu befürchten, dass R. Krämer die Antwort kennt.

„In der UN-Menschenrechtscharta ist zwar ein universales Auswanderungsrecht verankert, jedoch kein entsprechendes universales Einwanderungsrecht. Ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gibt es also de facto nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Asylrecht und Einwanderungs,recht‘ prinzipiell gleichzusetzen, ist also sachlich, normativ und handlungstheoretisch unbegründet. In letzter Konsequenz würde damit das Asylrecht in seiner politischen und moralischen Geltungskraft geschwächt und durch ein Gesetz zur unbegrenzten Einwanderung entwertet und überflüssig gemacht.“ (Thesenpapier)

Es wird so getan, als ob das Asylrecht verteidigt wird, während man auf das Niveau bürgerlicher Phantasien zurückfällt. Nach diesen Ausführungen brauchen wir eigentlich keine Kämpfe um das Recht auf Bewegungsfreiheit einschließlich der Arbeitsmigration mehr zu führen, da ja schwer absehbar ist, wann dieser Kapitalismus endet. Zum anderen wird auf übelste Weise eine ungebremste Arbeitsmigration für eine de facto Aufhebung des Asylrechts verantwortlich gemacht. Bis dahin genügen Menschenrechtscharta, das Völkerrecht gegen Krieg und die sozialen Absichten des Grundgesetzes völlig – hier wird pure Sozialdemokratie geboten.

Es wäre auch mal wichtig zu klären, ob sozialistische Politik bei dem stehenbleiben soll, was so in „absehbarer“ Zeit umsetzbar ist. Dann können wahrscheinlich auch andere Ziele wie 100.000 neue Pflegekräfte, eine Mindestrente von 1050 Euro oder das Ende der Rüstungsexporte verworfen werden, zumindest wenn man das so angeht, wie die AutorInnen hier sich mit Migration und Flucht beschäftigen.

Sie bleiben brav in den bürgerlichen Kategorien der Einwanderung und der nationalstaatlichen Schutzsphäre. Mit dieser Einstellung sind auch Landesregierungen mit der CDU in Ostdeutschland denkbar. Interessant ist noch, dass einige von denen, die zuvor als „Linke“ in der Partei bekannt waren wie De Masi oder auch Sevim Dagdelen, diese Positionen unterstützen und somit in dieser Frage real rechts vom Vorstand stehen.

In manchen „Online-Diskussionen“ kommt die ganze „Tragik“ dieser Partei, der Basis und sicherlich vielen „ehrlichen“ SozialistInnen zum Ausdruck. Die Wagenknecht-„Fans“ sehen sich als „Linke“ in der Partei ähnlich wie früher die Frontfrau selber. Sie trauen Kipping und speziell den Landesregierungen nicht über den Weg. Diese tun ja nichts für die Hartzis und nichts gegen die existierende Armut in Deutschland, was leider auch stimmt. Bedauerlicherweise kommt dann häufig der Umkehrschluss, dass der Vorstand bzw. seine klare Mehrheit nur deswegen für z. B. offene Grenzen sind, um halt nichts für die armen Deutschen zu tun, und deswegen wird dann jeder neuen populistischen und sozialdemokratischen Fährte von Wagenknecht & Co. gefolgt.

Chauvinismus und Illusion

Es wird die Illusion verbreitet, dass der Nationalstaat den „Sozialstaat“ verteidigen könnte so ähnlich, wie gewisse Kapitalfraktionen „ihren“ Markt vor Konkurrenz schützen wollen. Dabei wird dann anscheinend ignoriert, dass z. B. Hartz IV wie die gesamte Agenda 2010 im nationalen Rahmen eingeführt wurden, um diese dann während der Austeritätspolitik auf ganz Europa auszudehnen. Unser Klassenkampf muss stets dem „Niveau“ der Gegenseite angemessen sein, Rückschritte helfen uns gar nichts. Revolutionärer Internationalismus, wie ihn schon Marx, Engels, Lenin, Liebknecht und Trotzki zur Migrationsfrage äußerten, ist hochaktuell wie die sozialdemokratische Illusion in den Nationalstaat leider auch. Die Gründung der I. Internationale (IAA) war u. a. geradezu eine mustergültige proletarisch-internationalistische Antwort auf die damalige Arbeitsmigration v. a. nach Großbritannien (gewerkschaftliche Organisierung der ArbeitsmigrantInnen statt Abschottung durch den britischen bürgerlichen Nationalstaat; siehe auch die Einlassungen zur irischen Frage wie die Agitation unter ausländischen Bauarbeitern auf der Londoner Weltausstellung!). Die Politik von IAA und obiger „Linker“ trennt fürwahr ein Klassengraben – er fließt zwischen zwischen proletarischem Internationalismus und national-liberaler bürgerlicher „ArbeiterInnen“politik, zwischen Karl Marx und Gustav Noske!

Für die antikapitalistische Linke in der Partei wird es wichtig werden, nicht allein als „Anhängsel“ des Vorstandes gegen diese Positionen zu kämpfen. So gut Stellungnahmen wie die von GewerkschafterInnen mit marx 21 zusammen auch sein mögen (https://www.marx21.de/klassenpolitik-gewerkschafter-gegen-obergrenzen/), so wenig prägen diese die aktuelle Praxis der Partei, auch der AktivistInnen in den Gewerkschaften.

Wenn also die Abstimmungen gegen Wagenknecht & Co. in Leipzig gewonnen werden, was derzeit gesichert zu sein scheint, so muss für die antikapitalistische, sozialistische Linke der Kampf danach weitergehen. Wagenknecht mag sozialchauvinistisch argumentieren, aber die Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen sind der tägliche Beweis für eine sozialdemokratische Praxis mit Abschiebungen, Duldung und Repressionen.

Wenn die antikapitalistische Linke sich danach an den Vorstand kettet, leistet sie gleichzeitig auch der Regierungspolitik der Linkspartei in o. a. Bundesländern Vorschub. So geht kein Bruch mit sozialdemokratischer Politik, so lässt man sich davon vereinnahmen, als „linkes“ aktives Fähnchen für einen durch und durch auf R2G getrimmten Vorstand unter Kipping und Riexinger Schützenhilfe zu leisten, der diese Politik deckt. Diese erfolgt auf der gleichen Seite des oben erwähnten Grabens, auf der auch die De Masis, Dagdelens, Krämers und Wagenknechts stehen.