DWE, der Umgang mit sexuellen Übergriffen und die bürgerliche Presse

Tomasz Jaroslaw, Infomail 1162, 13. September 2021

Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren – jedenfalls jener der Kampagne Deutsche Wohnen und Co.  enteignen (DWE). Kiezteams konzentrieren sich auf einen Häuserkampf, vor allem in den Außenbezirken, um die Menschen auch zur Abstimmung zu bringen und eine Mehrheit zu erringen.

Die Chancen am 26. September stehen trotz Millionen, die die Immobilienlobby in Gegenkampagnen steckt, nicht schlecht. Nach aktuellen Umfragen stehen 47 % der BerlinerInnen hinter der Forderung nach Enteignung, 43 % lehnen sie ab. Die jüngsten Erhebungen zeigen außerdem, dass mittlerweile auch eine Mehrheit der SPD-AnhängerInnen beim Volksentscheid mit Ja stimmen will.

Wie mit Vorwürfen sexueller Übergriffe umgehen?

Zugleich durchzog und durchzieht die Kampagne seit Ende Juni ein heftiger innerer Konflikt. Zu diesem Zeitpunkt wurde von einer Aktiven gegen einen Sprecher der Kampagne der Vorwurf der sexuellen Nötigung erhoben.

Dieser Vorwurf und der Umgang damit zogen weite Kreise, nicht nur in der Kampagne und deren Umfeld selbst, sondern erreichten auch die Medien. Neben dem Neuen Deutschland berichteten auch Tagesspiegel und Die Welt. Weitere werden wahrscheinlich folgen. Letzteren beiden – das wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre deutlich – geht es natürlich nicht um die Sache. Vielmehr versuchen sie, den Vorwurf und den Umgang damit zu nutzen, um die gesamte Kampagne und die Vergesellschaftung an sich politisch zu delegitimieren. Doch bevor wir darauf näher eingehen, kurz zum Hergang der Auseinandersetzung in DWE selbst.

Der mutmaßliche Übergriff soll am 21. Juni am Rande einer öffentlichen Kundgebung der Linkspartei auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stattgefunden haben, wo diese etwa 30.000 Unterschriften zum Volksbegehren an DWE übergeben hatte. Es gibt die Aussagen der beschuldigenden Person, was vorgefallen war. Der Beschuldigte dementiert diese Vorwürfe. Bis heute gibt es viele Gerüchte, die sicherlich keiner Aufklärung dienlich sind.

Richtigerweise nahm die Kampagne die Vorwürfe von Beginn an sehr ernst, der Umgang damit erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als schwierig.

Erstens hatte DWE selbst zu diesem Zeitpunkt kein gemeinsames, anerkanntes Verfahren, wie mit einem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs umzugehen ist. Das kann der Kampagne sicher nur bedingt vorgeworfen werden, zumal es ja auch keine allgemein anerkannte Sicht in der ArbeiterInnenbewegung oder der Linken gibt.

Zweitens und damit verbunden prallten von Beginn zwei miteinander unvereinbare Vorstellungen aufeinander.

Ein Teil der Kampagne, der sich letztlich durchsetzte, vertrat die Konzepte von „Definitionsmacht“ und „absoluter Parteilichkeit“. Diese besagen, dass nicht nur der Vorwurf ernst zu nehmen und der Betroffenen möglichst große Unterstützung zu geben sei, sondern auch, dass die Behauptung  der beschuldigenden Person selbst als Beweis für die Tat gilt. Dem Konzept der Definitionsmacht zufolge steht es nämlich nur der betroffenen Person zu, zu definieren, ob ein sexueller Übergriff oder eine Grenzüberschreitung vorlag. Alles andere gilt als Täterschutz. Letztlich ist dabei nur die subjektive Empfindung der beschuldigenden Person ausschlaggebend. Selbst die Frage danach, was „tatsächlich“ vorgefallen ist, gilt schon als Relativierung des Vorwurf und der Tat.

Diese Position wurde vor allem von Menschen aus postautonomen und kleinbürgerlich-akademischen Milieus vertreten. Insbesondere die stärkste politische Organisation in der Kampagne, die Interventionistische Linke (IL), die vor allem in diesen Milieus verankert ist und eine dominante Rolle im Ko-Kreis spielt, machte von Anfang an diese Ideologie zum Referenzpunkt des Umgangs innerhalb der Kampagne und versuchte, dieser zu Beginn einfach ihre Methode aufzuzwingen.

Probleme der Defintionsmacht

Das wurde richtigerweise kritisiert. Nachdem Transparenz und ein geregeltes demokratisch-legitimiertes Verfahren eingefordert worden waren, legte der Koordinierungskreis einen Verfahrensvorschlag zur Abstimmung vor, der weiterhin deutlich von Definitionsmacht und Parteilichkeit geprägt war.

Der Strömung um die IL trat eine durchaus heterogene Reihe von GenossInnen entgegen, die die Definitionsmacht zu Recht und grundsätzlich ablehnten, da diese Ideologie dem Beschuldigten kategorisch jedes Recht auf Verteidigung und Beibringen von Beweisen oder Indizien für seine Unschuld abspricht. Ein solcher Umgang in einer breiten Massenkampagne würde somit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts (v. a. das auf Verteidigung) zurückfallen.

GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht brachten wie auch andere KritikerInnen des Konzepts der Definitionsmacht Änderungsvorschläge zum Entwurf des Ko-Kreises ein, die in der Substanz alle von der Mehrheit um die IL abgelehnt wurden. Wir und andere KritikerInnen traten dafür ein, dass eine Untersuchungskommission gebildet werden solle, die, so weit dies möglich ist, den Vorwürfen auf den Grund geht und eine Empfehlung für das weitere Vorgehen der Kampagne ausarbeitet. Darüber hinaus war es Konsens, dass der Beschuldigte für die Zeit der Untersuchung nicht öffentlich für die Kampagne in Erscheinung treten sollte und sein Ämter ruhen würden.

Während am Beginn versucht wurde, das Konzept der Definitionsmacht einfach durchzusetzen, so müssen  wir – wenn auch in der Abstimmung unterlegen – festhalten, dass die Entscheidung nach mehreren Diskussionen demokratisch zustande kam.

Selbst wenn wir das Konzept der Definitionsmacht und seine identitätspolitischen Grundlagen grundsätzlich ablehnen, so müssen wir festhalten, dass sich auch die Gegenseite mit einigen Argumenten keinen Gefallen erwiesen, sondern durch Ton und Inhalt ihrer Argumente schwankende Personen eher verprellt hat. Als Argument gegen die Vorverurteilung wurde oft vorgebracht, dass der Beschuldigte ein verdienter Genosse und tragendes Mitglied der Kampagne sei und über Fähigkeiten und Kontakte verfüge, die wir weiterhin dringend bräuchten. Auch wenn alle positiven Beschreibungen zutreffen, kann das kein Freispruch sein und muss gerade angesichts einer Korrelation zwischen Machtposition und Missbrauchsmöglichkeit die Beschuldigung genau untersucht werden. In gewisser Weise haben damit leider die GegnerInnen der Definitionsmacht die Gegenposition bekräftigt. Auch Vorwürfe der Manipulation oder des Machtmissbrauchs gegen IL und Ko-Kreis wurden gegen Ende zu scharf und zu lange erhoben. Am Anfang haben Ko-Kreis bzw. IL in der Tat Entscheidungen getroffen, die nicht legitimiert waren, wie den Ausschluss des Beschuldigten und die Verlegung des DWE-Büros. Im weiteren Verfahren wurde sich aber um ein formal korrektes und demokratisches Vorgehen bemüht, auch wenn das Ergebnis am Ende inhaltlich falsch war.

Mit der Definitionsmacht und Parteilichkeit fällt DWE nicht nur hinter die Errungenschaften der Aufklärung und bürgerlichen Gesellschaft zurück, sondern bietet keine Perspektive für einen Umgang mit sexuellen Übergriffen für eine linke, proletarische Bewegung. Diese Ideologie bildet auch politisch keineswegs die Breite und Heterogenität ab, die DWE ausmachen und auch für den Erfolg verantwortlich sind. Durch die Entscheidung wurde diese Stärke aufs Spiel gesetzt.

Es ist grundsätzlich legitim von IL & Co., ihre programmatischen und ideologischen Vorstellungen in die Kampagne einzubringen und ihre Position dahingehend auszunutzen. Das heißt jedoch keineswegs, dass dies strategisch gesehen für sie selbst oder die Kampagne klug war. Viele AktivistInnen haben ihr Engagement sofort runtergefahren oder sind nicht mehr für DWE tätig. Damit gehen nicht nur personelle Ressourcen in Zeiten schwerer Wahlkämpfe und nach dem Volksbegehren verloren, sondern auch Netzwerke in Richtung MieterInneninitiativen, -verein und Gewerkschaften. Die VertreterIn der IG Metall Berlin hatte ein Statement vorgelesen, das eindeutig das Missfallen der IGM kundtat, wie DWE mit dem Vorfall umgegangen ist. Reiner Wild, Vorsitzender des MieterInnenvereins hat DWE ebenfalls dafür kritisiert. Alles wichtige BündnispartnerInnen! Wie die anderen Gewerkschaften und die SPD-Linke damit umgehen, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch kein Zufall, dass Organisationen und AktivistInnen, die strukturell oder politisch der ArbeiterInnenklasse nahestehen, dieses Ergebnis kritisiert haben. Fakt ist, dass man sie und alle BündnispartnerInnen für den Sieg an der Urne, aber auch für den tatsächlichen Kampf für die Vergesellschaftung danach braucht. Der Umgang mit dem Verfahren schwächte aber dieses gemeinsame Ringen, nicht nur weil es dem/r GegnerIn „Futter“ gibt, sondern die eigene Kampagne schwächt. Dieser politischen Verantwortung müssen sich die IL  und ihre UnterstützerInnen stellen. Zugleich müssen wir aber auch sagen: Ein Rückzug aus DWE, ein Fallenlassen der Kampagne ist der falsche Schritt. Er nützt letztlich nur jenen, die immer schon gegen die Enteignung der Immobilienhaie eintraten.

Bürgerliche Hetze

Die Artikel in Der Tagesspiegel und Die Welt belegen das. Sie haben den Konflikt und das Rechtsverständnis der Definitionsmacht aufgegriffen – nicht weil es ihnen um die Sache geht, sondern um die Kampagne selbst madig zu machen.

So wird eine anonyme Gewerkschafterin bemüht, die die „Interventionistische Linke“ als „wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe“ und deren Aktivisten und Aktivistinnen als „eitle Berufsquatscher“ denunziert. In Wirklichkeit soll mit solcher Rhetorik die gesamte Initiative diskreditier werden – frei nach dem Motto, nur Verrückte Linksradikale und „Sekten“ wollen Unternehmen enteignen. So weiß der Tagesspiegel auch von rechtschaffenen Leuten zu berichten, die es bereuen, an der Kampagne teilgenommen zu haben: „Zumindest in ver.di sagen einzelne nun, man hätte sich auf die in der Kampagne aktiven ‚Sekten’ nie einlassen sollen.“

Die Stimmungsmache verfolgt einen Zweck. „Noch ist es Zeit zur Umkehr!“, legen Tagesspiegel und Die Welt im Subtext nahe. Die MieterInnenvereine, die Gewerkschaften, DIE LINKE, die allesamt DWE unterstützen, sollen sich am besten laut und vor dem 26. September zurückziehen. Bisher hat ihnen noch niemand den Gefallen getan.

So erklärt die ver.di-Sekretärin Jana Seppelt gegenüber dem Neuen Deutschland vom 1. September richtigerweise, dass dem Vorwurf des sexuellen Übergriffs natürlich nachgegangen werden müsse. Vor allem aber stellt sie klar: „Gleichzeitig gibt es für mich keinen Anlass, die Ziele der Initiative nicht zu unterstützen. Wir haben dazu klare Beschlüsse in der Organisation: Die Mieten fressen die Löhne auf und die Kampagne hat überzeugende Konzepte.“

Das ist die richtige Antwort auf alle jene Bürgerlichen, die jetzt versuchen, politisches Kleingeld aus einem politischen Fehler der Kampagne zu schlagen und die Kampagne und ihre UnterstützerInnen zu spalten. Der gemeinsame Kampf gegen Mietwucher, für Enteignung und für niedrige Mieten kann und muss trotz ideologischer Differenzen weiter gemeinsam geführt werden. Daher: Gewerkschaften, MieterInnenvereine, Linkspartei, linke SPD-lerInnen – tretet weiter für ein Ja beim Volksentscheid ein! Es geht letztlich um eine klassenpolitische Konfrontation, nicht um durchaus schwere, aufzuarbeitende und zu korrigierende Fehler der Kampagne. Daher noch einmal: Unterstützung die Kampagne! JA zur Enteignung, stimmt JA beim Volksentscheid!




Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Anti-Sexismus: “Definitionsmacht” als Kampfmittel?

Susanne Kühn/Anne Moll, Neue Internationale 224, November 2017

Sexismus und sexuelle Grenzüberschreitungen gehören im Kapitalismus trotz aller Versprechen von Gleichberechtigung weiterhin zum Alltag von Frauen.

Bei sexueller Belästigung und Gewalt bis hin zur Vergewaltigung ist der bürgerliche Rechtsstaat weiterhin der Auffassung, dass die Frau in der Beweisschuld steht. Eine sexistische Justiz, die zunächst fragt, welche Kleidung die Frau trug, ist Normalität. Ein Drittel der Frauen erlebt sexuelle und/oder körperliche Gewalt, zwei Drittel haben schon sexuelle Belästigung über sich ergehen lassen müssen wie auch über 40 % psychische Gewalt. Nur ein Bruchteil davon kommt je zur Anzeige, geschweige denn zur Verurteilung.

Antwort?

Als Antwort auf diesen Sexismus erhoben daher Teile des Feminismus die Forderung, dass allein den betroffenen Frauen die „Definitionsmacht“ zustehe, ob ein sexueller Übergriff stattfand oder nicht. Die Rechte der Betroffen sollen gestärkt und die immanenten frauenunterdrückerischen Mechanismen der Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden, so dass ein sexueller Übergriff oder im Extremfall eine Vergewaltigung durch die Beschuldigung selbst schon als erwiesen gilt. Die im Strafrecht in der Regel gültige Unschuldsvermutung eines/r Angeklagten wird außer Kraft gesetzt.

Diese Position hat den Vorzug, dass sie Frauen nicht den üblichen, einschüchternden und erniedrigenden polizeilichen, kriminaltechnischen oder richterlichen Befragungen aussetzt. Sie erscheint als die Lösung gegen das erniedrigende Verhör („Mir glaubt es keiner“), mit dem Frauen nach einem sexuellen Übergriff häufig konfrontiert werden. Die „übliche“ Herangehensweise des bürgerlichen Rechts wird gewissermaßen umgekehrt.

Unglücklicherweise wirft diese Methode jedoch ebenso viele Probleme auf, wie sie zu lösen verspricht.

Erstens ist die Unschuldsvermutung im bürgerlichen Recht ein Rechtsgrundsatz, der den/die BürgerIn vor staatlicher Willkür schützt. Ihn auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft für Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Übergriffe aufzuheben, eröffnet entgegen den besten Absichten unvermeidlich auch die Gefahr des staatlichen Missbrauchs.

Zweitens hat dieser Vorschlag auch eine Kehrseite, die zur Entwertung einer Verurteilung wegen sexueller Gewalt führen würde. Jeder Täter wird darauf hinweisen, dass er sich gegen die Beschuldigung nicht verteidigen durfte, ihm ein ansonsten elementares Recht für jede/n andere/n Beschuldigte/n verwehrt wurde. Es führt daher auch zu einer Relativierung der Tat.

Was als Fortschritt über das bürgerliche Recht hinaus betrachtet wird, fällt sogar leider hinter dieses in bestimmten Punkten zurück. Ist die Beschuldigung erst mal ausgesprochen, wird dem Bezichtigten quasi keine Möglichkeit mehr gegeben, seine mögliche Unschuld zu beweisen.

Umkehr

Bei dieser Herangehensweise handelt es sich um eine Umkehr der juristischen Konsequenzen aus den patriarchal-bürgerlichen Verhältnissen, nicht um den Versuch, letztere aufzuheben. Anstelle der vielen Vorurteile und Rollenzuschreibungen von Frauen und Männern, die tatsächlich dazu führen, dass Frauen nach einem sexuellen Übergriff weniger geglaubt wird als männlichen Tätern, wird mit der Definitionsmacht ohne den Anspruch der Wahrheitsfindung das Ganze umgekehrt.

Es wird dabei jedoch außer Acht gelassen, dass die Ursache für die Unterdrückung der Frau nicht im Rechtssystem und auch nicht in sexistischer Ideologie liegt. Diese sind vielmehr Ausdruck einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Es wird so die Illusion genährt, dass Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen durch ein anderes – noch dazu keinesfalls unproblematisches – Verfahren auf dem Boden des bürgerlichen Systems aus der Welt geschafft werden könnten.

Damit wollen wir keineswegs einem passiven Abwarten das Wort reden. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass Linke in der bestehenden wie auch in einer zukünftigen Gesellschaft das Recht jeder/s Beschuldigten verteidigen sollen, auch Beweise und Argumente für seine/ihre Unschuld vorzubringen.

Alternative

Die Lösung kann nicht in der „Definitionsmacht“ des/der Beschuldigenden liegen, wie es sie ausnahmsweise auch im bürgerlichen Recht (z. B. im Arbeitsrecht) gibt.

Vielmehr muss die Oberhoheit über das Verfahren durch Polizei und Gerichte als Institutionen des bürgerlichen Staates in Frage gestellt werden. Die Untersuchungen sollten von gewählten VertreterInnen der Bevölkerung, vor allem aus der ArbeiterInnenklasse, geleitet werden, die dabei auch auf den kriminaltechnischen und medizinischen Apparat zurückgreifen können. Dabei muss mindestens die Hälfte der Mitglieder solcher Kommissionen aus Frauen bestehen. Vor allem aber sollten nicht (meist männliche) BerufsrichterInnen Recht sprechen, sondern gewählte Vertreterinnen der Massen.

Solche Forderungen sollen einen doppelten Zweck erfüllen. Erstens sollen sie – soweit möglich – die erniedrigenden, sexistischen Formen der bürgerlichen Justiz zurückdrängen und so Frauen ermutigen und erleichtern, sich gegen sexuelle Übergriffe, Gewalt und Vergewaltigung zur Wehr zu setzen. Zweitens sollen sie auch einen Vorgeschmack auf ein anderes Rechtssystem geben, das von den Ausgebeuteten und Unterdrückten bestimmt wird, wo Frauen, die unter denselben Bedingungen wie die Opfer sexueller Gewalt und Übergriffe leben und leiden müssen, diejenigen sind, die Vorwürfe untersuchen und Recht sprechen – nicht ein abgehobener BeamtInnenapparat.

 

In einer der folgenden Ausgaben wollen wir uns mit der „Definitionsmacht“ und den Alternativen dazu hinsichtlich von Vorwürfen sexueller Übergriffe in der Linken und ArbeiterInnenbewegung beschäftigen.