Tarifkommissionen und Demokratie

Mattis Molde, Neue Internationale 273, Mai 2023

Selten sind Gewerkschaften so präsent wie in Tarifrunden. Gerade in Deutschland haben sie wenig Rechte gegenüber den Betriebs- und Personalräten, die Gewerkschaften an den Rand drücken oder hinter denen sich letztere verstecken können. Aber Tarife dürfen Betriebs- und Personalräte im Grundsatz nicht abschließen und schon gar nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Die undemokratische Rechtslage in Deutschland erlaubt faktisch, Streiks nur zum Zwecke von Tarifregelungen durchzuführen und nur gewerkschaftlich organisierte Arbeitskämpfe garantieren ihren Mitgliedern Schutz vor Repression durch die Unternehmen.

Plötzlich unterbricht also eine Tarifrunde das gewohnte Arbeitsleben, die alltägliche Ausbeutung, für die Beschäftigten und für die Gewerkschaftsverantwortlichen ebenso: Wenn sie als Berufsfunktionär:innen in ihren Büros agieren, haben sie fast null Kontakt mit der Mitgliedschaft. wenn sie im Betrieb angestellt, vielleicht auch im Betriebsrat sind, ist ihr Kontakt zur dortigen Führungsebene gerade in den Großbetrieben und in der öffentlichen Verwaltung oftmals deutlich intensiver als zur arbeitenden Mitgliedschaft. In einer Tarifrunde muss also eine direktere Kommunikation und eine andere Entscheidungsfindung her.

Tarifkommissionen und Apparat

Es gibt also Urabstimmungen und Tarifkommissionen, eher neu sind „Teamdelegierte“ und Ähnliches, die aber im Grunde die Rolle ausfüllen, die eigentlich Vertrauensleute spielen sollten. Diese gibt es in den meisten Unternehmen kaum noch. Sie sind der immer stärkeren Entfremdung zwischen Gewerkschaftsapparat und Basis zum Opfer gefallen. Ihre Tätigkeit erfordert Engagement, das selten belohnt wird und von dem sich die Bürokrat:innen und Betriebsratsfürst:innen überwiegend gestört fühlen. Umgekehrt können einzelne engagierte Basisaktivist:innen nur dann etwas bewirken, wenn sie sich vernetzen und aufbauen, um durchzuhalten, auch wenn sich die Bürokrat:innen sehr gestört fühlen.

Tarifkommissionen können zwar auch für einzelne Konflikte gebildet werden, für die bestehenden Tarifstrukturen – eine bestimmte Branche in einem bestimmten Tarifgebiet – sind sie aber sehr beständig, z. B. für die Metall- und Elektroindustrie Bayern. Sie diskutieren vor einer Tarifrunde die Forderungen und beschließen sie. Sie wählen eine Verhandlungskommission, debattieren die Angebote der Gegenseite und beraten das Vorgehen. Sie können Verhandlungen für gescheitert erklären und beim Gewerkschaftsvorstand die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, beantragen.

Sie könnten das Herzstück demokratischer, kollektiver Willensbildung im Kampf sein. Sie sind weit davon entfernt. Faktisch sind die meisten etablierten Tarifkommissionen eine von Führung und Bürokratie kontrollierte und sich selbst reproduzierende Struktur des Apparates und vom diesem ausgewählter Ehrenamtlicher.

Alle Gewerkschaften in der BRD regeln die Tarifkommissionen nicht in der Satzung, sondern in Richtlinien. Diese können von Vorständen oder Beiräten beschlossen werden, sie müssen nicht durch den Gewerkschaftstag. Damit ist einerseits sichergestellt, dass die Mitgliedschaft keine Rechte aus diesen Richtlinien erhält. Wegen des Verstoßes dagegen kann man zwar kaum jemanden ausschließen. Allerdings haben sich die Spitzen der Bürokratie abgesichert. Letztlich kommt in wohl keiner DGB-Gewerkschaft jemand in eine Tarifkommission gegen den Willen des Apparates.

Zur Illustration des Mechanismus nehmen wir kurz die Richtlinien der IG Metall zur Hand, wo es heißt: „Die Mitglieder der Tarifkommissionen werden von der Delegiertenversammlung gewählt. Die Vorschläge für die Wahl werden vom Ortsvorstand gemacht.“

Mit anderen Worten: Nur wer aus Sicht der lokalen Chef:innen geeignet ist, darf von den Delegierten gewählt werden – eine Wahl à la Volkskammer der DDR. Wer „falsch“ in der Tarifkommission abstimmt, riskiert seine „Wiederwahl“ beim nächsten Mal. Das erklärt die hohen „Zustimmungsraten“ zu schlechten Tarifverträgen. Andere Gewerkschaften haben ähnliche Richtlinien.

Die Sicherung der bürokratischen Kontrolle stellt daher auch den zentralen Zweck dar, warum Debatten und die Entscheidungsfindung der Tarifkommissionen geheim sind. Nur der Beschluss wird verkündet, meist ohne Abstimmungsergebnis. Welche Alternativen und Minderheitsmeinungen gab es? Welche Argumente dafür und dagegen? Wie hat mein/e Vertreter:in abgestimmt? Darüber erfährt die Mitgliedschaft nichts.

Die übliche Begründung für die Geheimhaltung ist, dass die Gegenseite ja nicht die Chance haben darf, auf einzelne Mitglieder der Tarifkommission Druck auszuüben. Die Bürokratie tut so, als ob sie die radikalen Basisvertreter:innen schütze. In Wirklichkeit kappt sie diese von ihrer Basis. Sie dürfen nichts berichten, schon gar nicht, dass sie möglicherweise einen Gegenvorschlag eingebracht haben, und mit welchen Argumenten und mit wessen Stimmen dieser abgelehnt worden ist. Der/die radikale Basisvertreter:in muss stattdessen die Meinung der Mehrheit präsentieren und verteidigen – nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern gegenüber der Basis, der damit jede Kontrolle und Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen genommen wird.

Verschwiegenheitspflicht

Die Logik der Verschwiegenheitspflicht ist „Einheit im Kampf“. Sie ist völlig richtig, wenn Gewerkschaften als Klassenorganisationen handeln und kämpfen. In den realen existierenden Gewerkschaften, die nicht nur hierzulande durch und durch von einer Bürokratie beherrscht werden, die bürgerliche Agent:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sind, ist die Verschwiegenheitspflicht nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle dieser Organisationen durch die reformistische Führung – ein Mittel, das sie gerade dort braucht, wo sie selbst am stärksten unter den Druck der Massen geraten kann. In einem Tarifkampf herrscht nicht die tägliche Gewerkschaftsroutine, wo es nur in Ausnahmefällen vorkommt, dass Massen sich spontan gegen die Zumutungen und Angriffe des Kapitals mobilisieren, und die Bürokratie nicht nur das Feld beherrscht, sondern sich auch als die Trägerin des Fortschritts und der gewerkschaftlichen Aktivität darstellen kann. Tarifkämpfe, erst recht in Streiks, können außer Kontrolle geraten – aus Sicht der Bourgeoisie und der Bürokratie, die hier dieselbe Sichtweise haben.

Die Rolle der Bürokratie aber ist eine besondere: Sie kann und soll sich nicht der Streikbewegung entgegenstellen wie so viele andere Agent:innen der Bourgeoisie in den Medien und ihren Parteien und natürlich deren Vertreter:innen selbst. Sie soll den Kampf kontrollieren und in ihrem Sinne lenken – von innen heraus. Deshalb braucht sie auch originäre Vertreter:innen des Kampfes in diesen Kommissionen. Einmal, um zu wissen, was die Avantgarde will, und zweitens, um deren Vertreter:innen möglichst gut einzubinden. Es hilft der reformistischen Gewerkschaftsführung nichts, wenn ein solches Organ nur mit eingesessenen Betriebsratsfürst:innen besetzt ist, die ihrerseits den Kontakt zur potentiell spontanen Basis verloren und bei dieser schon lange das Vertrauen verspielt haben.

Wie damit umgehen?

Die Verschwiegenheitspflicht muss bekämpft werden. Das ist ein wichtiger Bestandteil des gesamten Kampfes dafür, dass die Basis die Kontrolle über die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und die Gewerkschaften selbst bekommt. Bei Tarifkämpfen müssen sich alle Versammlungen das Recht nehmen, Beschlüsse und Aufträge zu erteilen: die Forderungshöhe, ihre Struktur, die Laufzeit, aber auch die Kampfmittel: Warnstreiks, Tagesstreiks, Vollstreiks. Für den Erfolg im Kampf – nicht nur in einer Tarifrunde, sondern in jedem Klassenkampf – ist es notwendig, dass die Klasse lernt, ihn selbst zu führen. Natürlich sind rein gewerkschaftliche Dispute noch weit davon entfernt, aber sie sind auch eine Form, in ihnen können nicht nur Selbstorganisation und -vertrauen der Lohnabhängigen massiv erhöht, sondern auch das Bewusstsein weiterentwickelt werden.

Gerade weil die Befreiung der Arbeiter:innen nur das Werk der Arbeiter:innen selbst sein kann, wäre es für revolutionäre Politik vollkommen unzulänglich, nur die Vertreter:innen in den Kommissionen (oder im Apparat und in den Vorständen) zu ersetzen. Revolutionäre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch, für ein grundlegend anderes Verhältnis von Basis und Führung einzutreten. Selbst, wenn es keinen reformistischen Apparat in den Gewerkschaften gäbe, sondern einen revolutionären, müssten die Entscheidungen über die Kampfführung so direkt wie möglich in den Händen der Basis liegen, die diese Entscheidungen durch aktuell gewählte und jederzeitige abwählbare Delegierte koordiniert. Die Autorität der Führung müsste sich darauf stützen, überzeugende und klare Vorschläge bezüglich der Forderungen und der Kampftaktik vorzulegen und politische und gewerkschaftliche Kämpfe mit Umsicht, Klarheit und Entschlossenheit zu führen.

Die aufgestellten Forderungen und vergebenen Aufträge müssen stets auch verfolgt werden. Vorstände und Delegierte, gerade auch die Tarifkommission, müssen berichten, was damit passiert ist und wie sie sich dabei verhalten haben. Dieser Rechenschaftspflicht versuchen Bürokrat:innen gerne zu entkommen, vor allem, wenn ihnen die Aufträge und Beschlüsse missfallen.

Wenn linke Basisaktivist:innen selbst für eine Tarifkommission kandidieren oder vorgeschlagen werden, ist es wichtig, von vornherein zu erklären, dass sie Rechenschaft ablegen und berichten werden. Dabei ist es wichtig und günstig, das nicht bloß als individuelle held:innenhafte Aktion durchzuführen, sondern von Beginn an die Basis (also die Wähler:innen) in diese Vorgehensweise einzubinden. Die versammelten Streikaktivist:innen z. B. sollen abstimmen, ob sie einen Bericht wollen über die Debatte und Entscheidung der Tarifkommission. Damit wird auch deutlich, dass das „Brechen“ der Verschwiegenheit kein Akt einer Person ist, sondern dem Willen der Mitglieder entspricht.

Die führenden Bürokrat:innen vollführen einen oft geübten Trick: Sie erzählen den frisch Gewählten nach der ersten Sitzung der Tarifkommission, dass es aber Verschwiegenheitspflicht gebe und diese unbedingt eingehalten werden müsse – ein erster Test, ob diese Kolleg:innen empört zurücktreten oder das erste Mal kapitulieren. Beides ist für die Reformist:innen o. k. Was sie nicht wollen, ist eine strukturierte und bewusste Opposition.

Diese ist aber letztlich das, was die kämpferischen Basisaktivist:innen brauchen, wenn sie die – für die oppositionelle Basis – errungene Position verteidigen und dabei nicht kapitulieren wollen. Das Bewusstsein und die mentale Stärke der und des Einzelnen sind wichtig, aber entscheidend ist der Aufbau einer von der reformistischen Bürokratie unabhängigen Kraft. Nur damit kann dem organisierten bürokratischen Vorgehen etwas entgegengesetzt werden.

Eine organisierte oppositionelle Kraft kann auch taktisch das bürokratische Spiel durchbrechen. Immer wieder kommen einzelne Fakten auch aus den Tarifkommissionen ans Licht, die die Tricks und Kungelei des Apparates enthüllen. Denn die Bürokratie hält sich nicht an ihre eigenen Regeln. Sie selbst darf ihr Informationsmonopol nutzen, wenn sie es für opportun hält. Eine vernetzte Basis kann diese Infos sammeln und verbreiten.

Das gilt nicht nur für Tarifkommissionen. Eine beliebte Methode ist es, kritischen Versammlungen zu erklären, dass leider niemand außer ihnen das so sehe, vor allem nicht in anderen Bezirken. Also sollte, um überhaupt ernst genommen zu werden, die Forderung etwas moderater, die Kritik etwas entschärft werden. Auch dagegen ist Öffentlichkeit unersetzbar. Berichte und Beschlüsse aus anderen Gremien und Versammlungen müssen verbreitet werden, gerade damit sich die Mitglieder ein objektives Bild machen können und nicht aufs Informationsmonopol des Apparates angewiesen sind.

Um ernsthaft Tarifrunden unter die Kontrolle der Gewerkschaftsmitglieder zu bekommen, ist nicht nur eine massive Demokratisierung der Gewerkschaften nötig. Es braucht vor allem einen politischen Kampf gegen den Reformismus, die Unterordnung der Arbeiter:innenorganisationen unter die Bourgeoisie und ihren Staat. Für die Tarifkommissionen und Tarifrunden allgemein heißt das:

  • Recht jedes Mitgliedes zu kandidieren.
  • Nur von den Tarifverträgen Betroffene können gewählt werden. Hauptamtliche Gewerkschafter:innen haben also nur beratende Funktion.
  • Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit.
  • Keine Verschwiegenheitspflicht, gewerkschaftsinterne Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse.
  • Öffentliche Tarifverhandlungen, keine Abschlüsse ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung der Mitglieder.



Manifest für Frieden: bürgerlicher Pazifismus am Pranger

Wilhelm Schulz, Infomail 1214, 22. Februar 2023

Die Petition „Manifest für Frieden“ wurde am 10. Februar von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer veröffentlicht. Sie stellt einen Aufruf für die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen und Einleitung von Friedensverhandlungen dar. Der Text fordert die Bundesregierung und den Bundeskanzler auf, Verhandlungen einzuleiten, um „Schaden vom deutschen Volke [zu] wenden“. Der Entrüstungssturm über die Petition zeigt jedoch weniger deren politische Begrenztheit auf als den Beweis, welche Anfeindungen selbst linksliberaler oder sozialchauvinistischer Pazifismus aktuell erfährt.

Auch wenn wir die Petition nicht unterstützen, so halten wir sie doch für den momentan lautstärksten Vorstoß aus den Reihen der Friedensbewegung. Die Versammlung am 25. Februar wird rund um das bittere erste Jubiläum des russischen Angriffs auf die Ukraine vermutlich die größte jener sein, die sich gegen den Aufrüstungs- und Eskalationskurs der deutschen Regierung stellen wollen. Auch wenn wir Pazifismus als Form bürgerlicher Ideologie ablehnen, so ist der der Massen ein nachvollziehbarer Ansatz angesichts drohender Verschärfung der Barbarei und des Mangels an einer fortschrittlichen Perspektive zu ihrer Überwindung. Aus diesem Grund werden wir an der Versammlung teilnehmen, während wir von den Organisator:innen fordern, sich vor Ort deutlich von etwaigen rechten Akteur:innen abzugrenzen und diese, falls sie anwesend sollten, durch Ordner:innen aus der Versammlung zu werfen.

Die Petition verzeichnet mittlerweile fast 600.000 Unterstützer:innen (Stand: 22.02.23). Neben den beiden Initiatorinnen gibt es noch 69 Erstunterzeichner:innen – eine breite Palette, die mit dem Begriff linksliberal nur verzerrt zusammengefasst werden kann.

Auch wenn aufgrund des öffentlichen Drucks einige wie die ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche (EKD), Margot Käßmann, ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so bleiben die meisten Unterzeichner:innen Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die dem Spektrum von SPD, Linkspartei und Grünen nahestehen.

Es ist aber bezeichnend für die politische Ausrichtung der Initiatorinnen Schwarzer und Wagenknecht, dass einige Prominente aus dem konservativen und rechten Spektrum, darunter Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Militärpolitischer Berater von Angela Merkel im Kanzler:innenamt, dahinterstehen. Vad hat zudem in der Vergangenheit vor rechten Burschenschaftlern referiert und für die rechtspopulistische Junge Freiheit vor etwa 20 Jahren geschrieben.

Die Unterstützer:innenliste umfasst jedoch nicht nur Ex-Funktionsträger:innen und mehr oder weniger bekannten linke Persönlichkeiten, sondern auch Repräsentant:innen der reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie Christof Ostheimer, der ver.di-Bezirksvorsitzende Südholsteins, oder Michael Müller, den Bundesvorsitzenden der sozialdemokratischen Naturfreunde. Daneben natürlich Wagenknecht, die Galionsfigur der Linken, die in den letzten Jahren der Klassenpolitik den Rücken kehrte und ein linkspopulistisches Programm für DIE LINKE zu etablieren versucht. Und Schwarzer, eine bürgerliche Feministin der zweiten Welle des Feminismus, die vor allem durch Transfeindlichkeit in den letzten Jahren bei neuen Generationen von Feminist:innen angeeckt ist.

Insgesamt handelt es sich um ein volksfrontartiges, klassenübergreifendes Personenbündnis. Der Aufruf stellt keine Aufforderung zum aktiven Handeln dar, sondern letztlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Initiator:innen. Aber er hat hunderttausende Unterschriften erhalten, weil nicht zuletzt Millionen Lohnabhängige über die Militarisierung und den Kriegskurs der Bundesregierung zu Recht beunruhigt sind.

Zum Inhalt

Das Manifest selbst spricht sich für die sofortige Einstellung von Kriegshandlungen aus. Es droht vor einer latenten Gefahr der Ausweitung über ihre bisherigen Grenzen bis hin zum Weltkrieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit von Solidarität mit ihrer Bevölkerung wird benannt. Dies bleibt allerdings letztlich ohne konkrete politische Folgen, weil nirgendwo das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigt oder als Ziel eines etwaigen Friedens benannt wird. Nirgendwo wird der Rückzug der russischen Invasionstruppen aus den seit Februar 2022 eroberten Gebieten gefordert.

Der Text spricht sich im Anschluss nur gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj aus. Militärstrategisch sieht sich der Petitionstext vor einer Pattsituation. So schreiben die Initiatorinnen: „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Aus dieser Erkenntnis folgt der Aufruf an die Bundesregierung, zwischen den USA und Russland zu vermitteln oder auf die europäischen Nachbar:innen einzuwirken. Demnach soll Olaf Scholz die Waffenlieferungen einstellen und eine „Allianz für einen Waffenstillstand“ aufbauen.

Die hier aufgeworfene Perspektive verbleibt vollständig innerhalb des Horizonts bürgerlicher Diplomatie. Den Krieg können anscheinend nur Diplomat:innen stoppen. So heißt es: „Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken.“ Daher müssten wir „unsere Regierung“ in die Pflicht nehmen und Olaf Scholz zum Anführer einer „Friedensallianz“ krönen.

Doch die „Friedensallianz“, die keine eigenen Klasseninteressen vertritt, gibt es nicht und kann es nicht geben. So wie die deutsche Regierung mit Sanktionen und Waffenlieferungen ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt, die Ukrainer:innen im Krieg für ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Zwecke unterstützt, wird sie das natürlich auch am Verhandlungstisch tun – und genauso werden das alle anderen Beteiligten auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung versuchen.

Letztlich soll der geforderte Frieden dem deutschen Interesse dienen. Demnach ist der Krieg einer zwischen den USA (im Aufruftext Amerika) und Russland. Eine Beteiligung oder genauer deren Fortsetzung entsprächen nicht den Interessen Deutschlands bzw. denen des deutschen Kapitals. In diesem Sinne appelliert der Aufruf an die deutsche Bourgeoisie und ihren Staat, um diese für die Linie der vergangenen Jahrzehnte zurückzugewinnen. Eben jene konnte den Kriegskurs aber nicht stoppen, weil sie keine oder nur wenige Anhänger:innen unter der herrschenden Klasse in Deutschland besitzt. Das kann sich natürlich ändern – und darauf hoffen letztlich Schwarzer und Wagenknecht.

Es ist auch kein Wunder, dass daher Forderungen, die das direkte Interesse des deutschen Imperialismus auch in der Konkurrenz zu Russland berühren, außen vor bleiben. So werden weder die Abschaffung der Sanktionen noch der Stopp der Aufrüstung der Bundeswehr und NATO auch nur erwähnt. Dabei befeuern die Sanktionen nicht nur die Inflation und Armut hierzulande, sondern vor allem auch den Hunger und Not in der Welt. Ihre Folgewirkungen bedrohen das Leben Hunderttausender.

Das 100-Milliarden-Programm, die europäische Rüstungsinitiative und die Aufstockung der schnellen NATO-Eingreiftruppe auf 300.000 Soldat:innen finden sich im Aufruf mit keinem Wort.

Zu diesen Fragen gibt es unter den Initiator:innen entweder keine Einigkeit oder man möchte konservative Gegner:innen des Ukrainekriegs nicht mit Abrüstungsforderungen an die deutsche Regierung „abschrecken“. So bleibt es beim allgemeinen Ruf nach Frieden – im deutschen Interesse. Der Sozialpazifismus wird als die beste Politik für „unseren“ Imperialismus präsentiert.

Und wie wird darüber gesprochen?

Die öffentliche Kritik am Aufruf lässt sich in zwei Stoßrichtungen einteilen, wobei die eine die andere erkennbar bestimmt. Einerseits jene, die jedweden Bruch mit der konfrontativen Politik gegenüber dem russischen Imperialismus als reaktionär abstempelt. Andererseits jene, die dem ausweicht und die Gefahr der Beteiligung reaktionärer Anhänger:innen über die Notwendigkeit stellt, für eine internationalistische und klassenkämpferische Ausrichtung der Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu kämpfen. Als Produkt kommt bei beiden Kritiken ähnliches raus: Passivität gegenüber der neuen Orientierung des deutschen Imperialismus.

Die Petition ist in der Linken, aber vor allem in DIE LINKE, sehr umstritten. Der Parteivorstand der LINKEN hat am Donnerstag, dem 16.2, bekanntgegeben, den Protest zu unterstützen, der sich für Frieden und Waffenstillstand einsetzt und von rechts abgrenzt – nicht aber die größte Kundgebung gegen die Bundesregierung. Das Ausbleiben einer Erwähnung des „Manifest für Frieden“ spricht hier Bände, denn es ist aus den Reihen der Partei der aktuell bekannteste Ansatz. Die Stellungnahme stellt dementsprechend eine indirekte Distanzierung dar, die umgekehrt aber allen freistellt, doch hinzugehen oder den Aufruf zu unterzeichnen.

Das Manifest ist in seiner Perspektive weder neu noch innovativ. Es vertritt eine Form bürgerlicher Politik, die mittels eines Appells an den Staat in Form von Bundesregierung und -kanzler zum Richtungswechsel in Fragen der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen drängen möchte und die alles mit dem Verweis auf deutsche Interessen begründet. Der Richtungsstreit wird im Militärjargon als jener zwischen Falken, den sogenannten Hardliner:innen, und Tauben, der Orientierung auf Verhandlungen, beschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert den Standpunkt der Hardliner:innen, aber auch ihren Punktsieg in der politischen Stimmung in Deutschland deutlich, wenn sie die Unterzeichner:innen des Manifests „zu propagandistischen Helfern eines Kriegsverbrechers“ abstempelt.

Dabei greift sie zwar genüsslich wirkliche Schwächen des Aufrufs auf und dessen Verharmlosung des russischen Imperialismus, aber die FAZ unterschlägt dabei natürlich die imperialen Kriegsziele der NATO, der USA und auch Deutschlands.

Vorwurf der Querfront oder zumindest rechten Unterwanderung

Der AfD Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hat öffentlich verkündet, das Manifest unterschrieben zu haben. Dies hat er nicht als einer der Erstunterzeichnenden getan, sondern einfach nur ein Kontaktformular auf einer Homepage unterschrieben. Chrupalla und das von Jürgen Elsässer geführte, neurechte Magazin Compact riefen darüber hinaus zur Beteiligung an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin auf. Wagenknecht distanzierte sich im Interview mit dem SPIEGEL öffentlich davon und untersagte die Beteiligung von AfD und anderen Akteur:innen der Rechten. Oskar Lafontaine, der ehemalige Mitbegründer der LINKEN und Erstunterzeichner, riss diese Brandmauer kurz darauf erneut nieder, indem er die „Gesinnungsprüfung“ oder Parteibuchkontrolle bei Einlass zur Demonstration ausschloss. Eine politische Schmierenkomödie mit ungewissem Ausgang.

Im Aufruf selbst wird die Abgrenzung nach rechts jedoch nicht deutlich formuliert. Auch wenn wir diese bereits im Petitionstext für notwendig erachtet hätten, so fand die Distanzierung schlussendlich doch statt. Die konsequente Fortsetzung dessen müsste eine eindeutige Abgrenzung im Rahmen der Versammlung und ein Rauswurf öffentlich bekannter oder auftretender rechter Akteur:innen durch Ordner:innen bedeuten. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen.

Die AfD versucht mittels ihrer Kriegsposition, ähnlich wie das Manifest für Frieden, eine alternative Ausrichtung für das deutsche Bürger:innentum anzubieten. In diesem Sinne ist ihr Aufruf zur Unterstützung nachvollziehbar, aber das hat noch einen zweiten positiven Punkt für die Rechten. Es ist ihren Akteur:innen vermutlich sehr deutlich klar, dass ein Mobilisierungsaufruf ihrerseits die Demobilisierung im Lager der Arbeiter:innenbewegung befeuern würde.

Sie würden damit sowohl die Verbitterung im Lager der Initiator:innen und ihrer Unterstützer:innen anspornen, während sie ihre eigenen Mobilisierungen weiterhin als die relativ stärksten verkaufen können. Notwendig wäre eine klassenkämpferische Position, die die Schwächung des eigenen Imperialismus, die Beendigung des Krieges durch Klassenkampf ins Zentrum stellt. Ein solcher Aufruf hätte sich jedoch an den DGB und seine Mitgliedschaft richten sollen, eine Verbindung zu den das Jahr 2023 durchziehenden Arbeitskämpfen gebraucht. Eine solche Perspektive gilt es, auch in die Tarifauseinandersetzungen zu tragen.

Begrenzter Pazifismus

Laut Unterstützer:innen der Petition in der LINKEN unterstütze weiterhin eine Mehrheit der Parteimitglieder den Vorstoß. Was jedoch deutlicher zu erkennen ist, ist die Kapitulation der Partei angesichts der aktuellen Herausforderungen. DIE LINKE versteht sich seit ihrer Entstehung als Antikriegspartei, eine Position auf dem Sand des Pazifismus gebaut. Beide Bewegungsrichtungen (Parteivorstand und Regierungssozialist:innen oder Wagenknechtlager), in die pazifistische Politik angesichts des Krieges taumelnd, zeigen deren Begrenztheit auf. Die Mehrheit des Parteivorstandes hält die Füße still, da sie schlussendlich den Frieden nur durch einen militärischen Sieg der Ukraine für möglich halten will und die Rolle der NATO herunterspielt. Der andere Teil sieht dies als unmöglich an und orientiert dementsprechend auf Verhandlungen zwischen jenen Akteur:innen, die spätestens seit 2014 regelmäßig Öl ins Feuer kippen.

Beide Ansätze verstehen den Krieg als externen Schock, den es zu beseitigen gilt, um die rechtmäßige (bürgerliche) Ordnung wiederherzustellen. Dabei ist der Krieg dem Kapitalismus innerlich. Er bietet eine Chance, dessen Überakkumulationskrisen durch massive Vernichtung von Kapital und Arbeit, aber auch Verdrängung imperialistischer Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu lösen. Sowohl der Fokus der Hardliner:innen als auch jener der Verhandlungsbefürworter:innen überlässt die Handlungsfähigkeit den Herrschenden. Beide bieten Arbeiter:innen und Unterdrückten keine eigenständige Handlungsperspektive.

Insgesamt lehnen wir Verhandlungspredigten ab. Sie haben auf verschiedenen Ebenen einen passiven Charakter. Erstens erhoffen sie gerade von jenen imperialistischen Regierungen einen „gerechten Frieden“, die selbst maßgeblich den Krieg befeuert haben und befeuern. Zweitens unterstellen sie den Krieg als etwas Außerordentliches, in dem es nur um Töten oder getötet Werden geht. Das Zurückholen der jeweiligen Staaten an den Verhandlungstisch, die den vorherigen „friedlichen“ Zustand wiederherstellen sollen, bleibt die letzte waffenlose Form der Vaterlandsverteidigung.

Wer ist das Subjekt einer Antikriegsbewegung?

Der Aufruf für den 25. Februar macht dies ganz deutlich. Die deutsche Bevölkerung – also auch die Arbeiter:innenklasse – können ihm zufolge nichts bewirken. Daher muss Olaf Scholz als Friedensarchitekt ran.

Doch nicht nur die deutsche Bevölkerung taucht als Subjekt nicht auf. In der Ukraine und in Russland gibt es anscheinend auch nur Herrschende. Die ukrainischen Massen, die die Hauptlast des Kriegs tragen müssen, erscheinen nur als bedauernswerte Opfer. Ihre eigenen sozialen und demokratischen Rechte und Interessen gibt’s anscheinend nur als Restgröße der Verhandlungen zwischen Putin und Biden, unter Vermittlung von Scholz und Macron. Die russische Arbeiter:innenklasse und die dortige Antikriegsbewegung werden erst gar nicht erwähnt.

Als Revolutionär:innen stellen wir im Kampf gegen diesen Krieg und seine Folgen den Klassenkampf, die Frontstellung zur herrschenden Klasse und zum „eigenen“ Imperialismus in den Mittelpunkt. Zugleich solidarisieren wir uns mit den Arbeiter:innen in der Ukraine und Russland. So haben wir schon im Mai letzten Jahres folgende Vorschläge für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Deutschland erbracht, die in ihren Grundzügen bis heute (leider) noch immer Gültigkeit haben:

„ – Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!

– Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!

– Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!

– Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

– Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

– Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition!

– Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

– Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!“

Doch um diese Perspektive zu verbreiten, müssen wir diese auch unter die Arbeiter:innen tragen – auch unter jene, die vom Pazifismus geprägt sind und aus diesem Grund den Aufruf unterzeichnet haben bzw. zur Kundgebung kommen. Für sie erscheint die Verhandlung, ein Mittel zur Beendigung der Barbarei darzustellen, ohne dabei jedoch die Frage nach deren Ursprung und Wiederholungspotential aufzuwerfen. In diesem Sinne rufen wir alle linken und klassenkämpferischen Organisationen dazu auf, sich an der Versammlung zu beteiligen und für eine Position des Klassenkampfes einzutreten.




Programm in der Praxis: eine Skizze

Jaqueline Katherina Singh, Debattenbeitrag zur Konferenz „Für einen revolutionären Bruch“, Infomail 1209, 10. Januar 2023

In unserem ersten Beitrag haben wir versucht, kurz herzuleiten, warum wir glauben, dass ein revolutionäres Programm die Grundlage für einen Bruch mit dem Reformismus darstellt. Im Folgenden wollen wir skizzieren, was die Kernelemente eines solchen sein könnten. Dabei ist uns bewusst, dass es im Kampf gegen die Inflation sowie gegen die Umweltzerstörungen viele Gemeinsamkeiten mit anderen, auf der Konferenz anwesenden Organisationen gibt. Wie bereits in der Vergangenheit sind wir auch in der Zukunft bereit, gemeinsam in Bündnissen dafür zu kämpfen. Zeitgleich gibt es jedoch viele Unterschiede. Wer das reale Interesse verfolgt, eine revolutionäre Organisation aufzubauen oder beispielweise eine Umgruppierung zu initiieren, muss deswegen nicht nur gemeinsame Aktionen fördern, sondern auch bereit sein, öffentlich über die existierenden Differenzen zu diskutieren. Anders können bestehende Unterschiede nicht aufgelöst werden und es droht entweder eine Einheit ohne Klarheit oder eine Abschottung, die der eigenen Mitgliedschaft suggeriert, dass Taktiken, die eine revolutionäre Organisation propagiert oder anwendet, nur durch die unmittelbaren Aufbaubedürfnisse und nicht durch die Interessen der Gesamtklasse bestimmt werden. Deswegen bieten wir allen Interessierten und beteiligten Kräften an, die aufgeführten Punkte vertieft weiter zu diskutieren und zu schauen, wo wir diese gemeinsam in der Praxis überprüfen können. Nun aber zum Wesentlichen:

A) Einschätzung der objektiven Lage selbst

Ein revolutionäres Programm – und auch ein Aktionsprogramm für Deutschland – muss von der Weltlage ausgehen. Ansonsten ist es nicht internationalistisch, sondern letztlich nationalzentriert. Dies beinhaltet eine klare Einschätzung der aktuellen Krisen (ökonomische, ökologische, Kampf um Neuaufteilung der Welt) und ihrer inneren Verbindung. Wir gehen davon aus, dass die aktuelle Weltlage vom Gegensatz zwischen den USA und China als den wichtigsten imperialistischen Mächten bestimmt wird, auch wenn die aktuell schärfste Konfrontation in Europa, an den Grenzen zwischen den imperialistischen EU-Mächten und dem imperialistischen Russland stattfindet. Den Gesamtcharakter des Kriegs um die Ukraine bestimmen wir als Konflikt zwischen zwei sich formierenden (und in sich durchaus gegensätzlichen) imperialistischen Blöcken. Daher treten wir in Russland und im Westen für eine Politik des revolutionären Defaitismus ein. Wir verteidigen zugleich aber auch das Recht der ukrainischen Massen, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen.

Die Charakterisierung Russlands und Chinas als imperialistische Großmächte inkludiert aber auch weitere wichtige programmatische Konsequenzen. So stellen den Hauptfeind der Arbeiter:innenklasse in Russland oder China deren eigene herrschende Klassen dar (während hingegen bei einer Charakterisierung diese Länder als nichtimperialistisch die Frage zumindest offen bleibt, wer eigentlich ihn in diesen Ländern darstellt). Ohne eine klare Antwort darauf kann aber von einem internationalen revolutionären Programm keine Rede sein.

Wer sich weigert, China als imperialistisch zu charakterisieren, verkennt nicht nur einen der zentralen kommenden Konflikte um die globale Hegemonie, sondern die Ausbeutung von Millionen von Menschen in Afrika und Asien durch eine der größten imperialistischen Mächte und kann diesen nicht mit voller Schärfe führen. Ebenso droht Gefahr, im Zuge eines Krieges eine falsche Position einzunehmen, wie es bspw. Teile der aktuellen Friedensbewegung tun und sich auf die Seite des russischen Imperialismus stellen. Vor allem ist es aber ein Anzeichen für ein falsches Verständnis des Imperialismus als Weltsystem.

Wir gehen außerdem davon aus, dass eine Reihe von Niederlagen und der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte auch zu einer Zerstörung proletarischen Klassenbewusstseins geführt haben. Das heißt, dass viele der Kämpfe, in die wir in den kommenden Jahren eintreten werden, als defensive Kämpfe beginnen dürften. Zugleich werden diese jedoch aufgrund der objektiven Lage sehr viel stärker zu Konfrontationen grundlegenden Charakters treiben, weil selbst die Durchsetzung umfassender Reformen Mittel des proletarischen Massenkampfes (Massenstreiks, Besetzungen) erfordert und gerade in den halbkolonialen Ländern auch viel rascher Formen des Aufstandes annehmen kann (Sri Lanka, Iran).

B) Kampf gegen Krieg und Krise

In Deutschland wird der Kampf gegen die Inflation und die kommende Rezession sicherlich im Zentrum der kommenden Monate, wenn nicht Jahre stehen. Anders als viele andere Länder verfügt der deutsche Imperialismus jedoch über gewisse Reserven zur Abfederung, was der Entstehung einer Antikrisenbewegung auch entgegenwirkt und einen gewissen Spielraum für faule sozialpartnerschaftliche Kompromisse bietet (Metall- und Elektroindustrie, Bergbau, Chemie, Energie. Ein solches Szenario könnte auch im öffentlichen Dienst drohen, auch wenn es dort schwerer durchzusetzen ist).

Es ist daher unbedingt notwendig für die subjektiv revolutionäre Linke, für den Aufbau einer bundesweiten, vor allem gewerkschaftlich orientierten Antikrisenbewegung zu agitieren. Diese darf sich jedoch nicht auf die „radikale“ Linke beschränken, weil diese allein letztlich nichts durchsetzen kann. Es muss vielmehr beständig Druck auf die bestehenden, bürokratisch geführten Massenorganisationen (Gewerkschaften, aber auch Linkspartei und SPD, insb. deren „linke“ Teile) ausgeübt werden. Es braucht eine aktive Politik der Einheitsfront, diese Organisationen – die Basis wie die Führung – zum Handeln aufzufordern. Dabei sollten sich solche Aufforderungen auf wenige Losungen und konkrete Absprachen zur gemeinsamen Aktion und zu Kampf- und Mobilisierungsstrukturen beschränken. Es geht nicht darum, gemeinsame „Programme“ zu entwickeln, sondern vor allem zur Massenaktion zu kommen.

Diese Herangehensweise betrifft nicht nur die Frage der Krise, sondern auch jene der Aufrüstung und Kriegstreiberei in politischer und ökonomischer Hinsicht.

Als Revolutionär:innen müssen wir darüber hinaus ein Aktionsprogramm gegen Krieg und Krise vorlegen, das einen Übergangscharakter hat, also unsere unmittelbaren Forderungen gegen die Inflation, für eine gleitende Skala der Löhne mit jenen nach Arbeiter:innenkontrolle und Enteignung des Großkapitals verbindet.

Als Revolutionär:innen muss es unser Ziel sein, in den Gewerkschaften das System der Bürokratie zu brechen. Dies passiert nicht, indem wir einfach nur solidarisch Arbeitskämpfe unterstützen oder uns als Organizer:innen „verstecken“. Wir müssen offen für den Aufbau einer basisdemokratischen, klassenkämpferischen Gewerkschaftsopposition kämpfen. Konkret heißt dies, nicht nur dafür einzustehen, dass linke Aktivist:innen Positionen im Gewerkschaftsapparat einnehmen, sondern diesen zu ersetzen durch rechenschaftspflichtige, wähl- und abwählbare Delegierte, die nicht mehr verdienen als der Durchschnittslohn von Arbeitenden. Das fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern bedarf kontinuierlicher Arbeit – im Betrieb, aber auch in Gewerkschaftsstrukturen. Realistisch müssen wir uns auch darüber klar sein, dass die materielle Basis der Gewerkschaftsbürokratie (wie der Arbeiter:innenbürokratie überhaupt) nicht zu brechen sein wird ohne vorhergehende reale Erschütterungen ihrer Macht durch heftige Klassenkämpfe und eine allgemeine Krise der Gesellschaft selbst.

C) Das vorherrschende Bewusstsein in der Klasse

Der Aufbau einer revolutionären Organisation muss von einer nüchternen und realistischen Einschätzung der Lage der gesamten Klasse, nicht nur des kleinen Teils ausgehen, mit dem wir direkt in Kontakt stehen. Während in Deutschland rund 2/3 der Bevölkerung der Arbeiter:innenklasse zuzuordnen sind, ist davon nur ein Bruchteil organisiert. Rund 6 Millionen sind in einer DGB-Gewerkschaft aktiv, ein noch geringerer Teil in den reformistischen, bürgerlichen Arbeiter:innenparteien, wie wir an den rund 57.000 Mitgliedern der Linkspartei sehen. An dieser Stelle ist es nicht möglich, eine ausführliche Skizze der Entwicklung aller Organisationen der Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahren zu entwerfen – auch wenn dies sicherlich hilfreich für die Diskussion auf der Konferenz wäre.

Kurz gefasst kann man jedoch sagen, dass diese Kräfte über die Jahre betrachtet kontinuierlich an Verankerung in der Klasse verloren haben – oder wie im Falle der Linkspartei diese nur rudimentär ausbauen konnten. Dies liegt vor allem am ausbleibenden Erfolge der Antikrisenproteste und der stattdessen fortwährenden Sozialpartner:innenschaft. Die folgende Desillusionierung brachte Austritte und einen Gewinn innerhalb der Wähler:innenschaft für die AfD mit sich.

Im Falle der Linkspartei kommt das fehlerhafte Verständnis hinzu, was „Bewegungspartei“ eigentlich heißt. Natürlich ist es wichtig, soziale Proteste zu unterstützen. Aber einfach nur darauf zu warten, dass was passiert, oder davor zu scheuen, Proteste zuzuspitzen, damit „Bewegungen“ ihre Kämpfe auch erfolgreich gewinnen, bringt einem/r nicht viel, wie die Coronapandemie oder auch die wenig sichtbare Intervention in die Klimabewegung zeigen.

Reicht das aber, um den Reformismus nun in die Geschichtsbücher als erledigt niederzuschreiben? Schön wäre es. Zum einen liegt dies an der Tatsache, wie revolutionäres Bewusstsein in unserer Gesellschaft entsteht (ausgeführt im ersten Beitrag), zum anderen aber auch am Charakter der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien selbst.

Was also tun? Sicher, es stimmt, dass es einen großen Schritt für Linke in Deutschland bedeutete, wenn sich beispielsweise die linken Kräfte der Linkspartei und links davon in Deutschland zusammenschließen würden, um gemeinsam aktiv zu werden – auch wenn damit die Frage der politischen Ausrichtung einer solchen Strömung und möglichen politischen Organisation längst nicht gelöst, sondern nur gestellt wäre.

Zeitgleich ist es ein Fehlschluss, daraus abzuleiten, dass selbst dann die Stunde des Reformismus geschlagen hätte. Denn wer sich die reale Verankerung der Gewerkschaftsbürokratie ansieht, wird feststellen, dass man sich mit einer – ebenfalls oftmals für tot erklärten – SPD herumschlagen muss. Klar, politisch ist mittlerweile recht einfach die lange Liste mit deren Vergehen auszupacken und vorzulesen. Praktisch sorgt es aber nicht dafür, dass die Illusionen in solche Parteien gebrochen werden, wie man auch beispielsweise an der Verräterei der Berliner Linkspartei sehen kann.

Dies liegt am Charakter der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien selbst. Denn für Marxist:innen wird der politische Charakter, das Wesen einer Partei dadurch bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse sie verteidigt – nicht einfach durch eine soziologische Bestimmung ihrer Parteimitgliedschaft. In diesem Sinne bleibt sie bürgerlich, was ihr praktisches Agieren anbelangt, das v. a. auf Wahlen, Parlamentsarbeit und die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen setzt anstatt auf Klassenkampf und Mobilisierungen. Ihr bürgerlicher Charakter zeigt sich auch im inneren Regime, wo ein bürokratischer Apparat (inkl. der parlamentarischen und exekutiven Vertretungen) das Parteileben und die eher inaktive Mitgliederbasis bestimmt. Obzwar sie sich also politisch nicht wesentlich von „normalen“ bürgerlichen Parteien unterscheidet, so grenzt sie sich von den „traditionellen“ bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, aber auch den Grünen hinsichtlich ihres historischen und organisatorischen Verhältnisses zur Arbeiterklasse (wie überhaupt zu den Klassen der Gesellschaft) wesentlich ab, weil sie diesbezüglich eben eine Arbeiter:innenpartei ist. Historisch stützt sie sich zunehmend auf die besser gestellten Schichten der Lohnabhängigen, auf die Arbeiter:innenaristokratie – also jene Teile der Klasse, für die eine Politik der graduellen Verbesserung jedenfalls in bestimmten Perioden Sinn zu machen scheint.

Das heißt, dass der Kapitalismus, zumal in einem imperialistischen Land auch eine materielle Basis für Reformismus in der Arbeiter:innenklasse hervorbringt – eine Basis, die nur über einen langwierigen Kampf gebrochen werden kann. Das damit verbundene Problem der Einheitsfront und aller Taktiken, um Arbeiter:innen vom Reformismus zu brechen, wird sich dabei, wie alle historischen Erfahrungen zeigen, bis zur revolutionären Machtergreifung (in gewisse Weise auch darüber hinaus) stellen. Eine korrektes Verständnis der Einheitsfronttaktik stellt daher eine Voraussetzung für den Aufbau jeder revolutionären Organisation dar.

D) Die drohende ökologische Katastrophe

Die „Umweltfrage“ ist längst zu einer der entscheidenden Zukunfts- und Menschheitsfragen geworden. Die ökonomische Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese weiter zuspitzen, also noch drängender auf die Tagesordnung setzen.

Zugleich ist nicht nur die reformistische Klassenmehrheit, sondern auch ein großer Teil der „radikalen“ Linken von der Umweltbewegung eher isoliert oder steht ihr vorsichtig, abwartend oder gar passiv gegenüber. Dies wird nur dazu führen, dass sich kleinbürgerliche Ideologien in einer solchen Bewegung ausbreiten und Skepsis gegenüber der Arbeiter:innenklasse wächst, obwohl zur Zeit ein, wenn auch widersprüchlicher Diskussions- und Klärungsprozess in der Bewegung stattfindet. In diesen müssen wir aktiv eingreifen ebenso wie in die Arbeiter:innenklasse, weil die aktuelle soziale und ökonomische Krise gerade auch von Entlassungen und Kürzungen bedrohte Belegschaften dazu zu treiben droht, den Schulterschluss mit „ihrem“ Kapital auf Kosten ökologischer Nachhaltigkeit zu suchen.

Sie treibt zur Zeit einen größeren Keil zwischen Arbeiter:innenklasse und Umweltbewegung, wenn wir dem nicht bewusst entgegenwirken – und das erfordert nicht nur allgemeine Appelle zu einem gemeinsamen Kampf, sondern vor allem auch ein antikapitalistisches Programm zur Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft im Interesse der Arbeitenden wie ökologischer Nachhaltigkeit. Dies wird auch eine Veränderung von Produktionssystemen und des Konsums implizieren – einschließlich der Einstellung überflüssiger und gesellschaftlich schädlicher Produktion. Damit dies im Interesse der Lohnabhängigen stattfinden kann, sind Enteignung, Arbeiter:innen- und Konsument:innenkontrolle und gesellschaftliche Planung unerlässlich – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern letztlich im globalen Maßstab.

E) Bewusster Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung

Das Verhältnis von sozialer Unterdrückung (Rassismus, Frauenunterdrückung, LGBTIAQ-Unterdrückung, Jugend) und kapitalistischer Ausbeutung bildet eine weitere wichtige Aufgabe programmatische Konkretion. Entscheidend ist auch dabei, dass es nicht nur eine allgemeine Einheit gehen darf, sondern konkrete Übereinstimmung in Schlüsselfragen notwendig ist, was zentrale Forderungen betrifft wie z.B. jene nach offenen Grenzen,  Staatsbürger:innenrechten für Alle oder Vergesellschaftung der Hausarbeit. Ansonsten bleibt die Positionierung gegen diese Unterdrückungen nur reine Lippenbekenntnisse. Dasselbe trifft auch beispielsweise die Frage der bedingungslosen Unterstützung von Halbkolonien im Krieg gegen den Imperialismus zu. Darüber hinaus reicht es aber nicht nur abstrakt richtige Forderungen aufzuwerfen. Es ist Aufgabe von Revolutionär:innen, wenn sie können, diese in aktuelle Kämpfe der Klasse hereinzutragen um so Verbindungen zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen. Beispielsweise bedeutet der Kampf für bezahlbaren Wohnraum, dass wir dort wo wir dafür kämpfen auch hereintragen, gegen die Unterbringung in Lagern einzustehen, und die Vergesellschaftung für Wohnraum bedeutet, diese für alle nutzbar zu machen, unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. Darüber hinaus müssen wir anerkennen, dass es wir unterdrückten Gruppen auch die Möglichkeit geben, sich mit dieser in unseren Reihen auseinanderzusetzen. Deswegen halten wir es für notwendig, nicht nur in der revolutionären Organisationen, sondern in allen Organisation der Arbeiter:innenklasse für Schutzräume, beispielsweise in Form von Caucussen (das Recht sich gesondert zu treffen) einzutreten. Dies ermöglicht Betroffenen von Unterdrückung, sich über Erlebnisse innerhalb, aber auch außerhalb der Organisationen auszutauschen und diese  wieder in die Organisation hereinzutragen.

Wir haben hier nur einige wichtige Themenfelder für eine programmatische Klärung benannt, sollte die Konferenz den Schritt zur Inszenierung eine größeren Diskussion zwischen bestehenden subjektiv revolutionären Organisationen beginnen wollen. Ohne die systematische und organisierte programmatische Debatte obiger und zweifellos etlicher anderer Themen ist eine revolutionäre Einheit eine Utopie oder bloßer Schein.

Revolutionäre Einheit erfordert die Klärung solcher und andere Differenzen. Sie erfordert einen organisierten Rahmen der programmatischen Diskussion. Wir sind dafür bereit und freuen uns auf weitere Beiträge.

Empfehlung

Zur grundlegenden Bedeutung des Programms verweisen wir auf den Diskussionsbetrag „Revolutionäre Organisation braucht revolutionäres Programm“.




End Fossil: Occupy! Was können wir von den Unibesetzungen lernen?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Zwischen September und Dezember 2022 sollten unter dem Namen „End Fossil: Occupy!“ weltweit hunderte Schulen und Unis besetzt werden. Auch in Deutschland sind in über 20 Städten Uni- und Schulbesetzungen angekündigt. Startpunkt für die Aktionen war Uni Göttingen, an der wir uns am 24. Oktober auch beteiligten. Weitere folgten an der Technischen Universität Berlin oder in Frankfurt/Main. Aber was fordern die Aktivistist:innen von End Fossil: Occupy! eigentlich?

Ziele

Im Großen und Ganzen richtet sich End Fossil: Occupy! – wie der Name der Kampagne richtig vermuten lässt – gegen jede Form der fossilen Produktion. So heißt es auf der internationalen Website: „Unser Ziel ist es, das System zu verändern, indem wir die fossile Wirtschaft auf internationaler Ebene beenden. Je nach lokalem Kontext können die Forderungen variieren: Beendigung des Abbaus fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Infrastrukturen oder andere.“

Vom deutschen Ableger werden dabei weitere spezifischere Forderungen aufgeworfen. Im Fokus steht dabei die Beendigung der profitorientierten Energieproduktion mittels Übergewinnsteuer aller Energieträger und langfristiger Vergesellschaftung der Energieproduktion insgesamt. Ebenso tritt die Initiative für die Verkehrswende für alle ein, da der Verkehrssektor 18,2 % der jährlichen deutschen Treibhausgasemissionen ausmacht. Um dies zu ändern, braucht es laut Aktivist:innen  einen regelmäßigen, für alle erreichbaren ÖPNV sowie einen massiven Ausbau des überregionalen Schienennetzes. Damit er auch von allen genutzt werden kann, wird darüber hinaus ein 9-Euro-Ticket gefordert und langfristig ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr angestrebt. Daneben schließt sich End Fossil: Occupy! auch den Forderungen von Lützi bleibt!, Debt for Climate und Genug ist Genug an. Zusätzlich erheben viele Besetzungen auch lokale Forderungen, auf die wir später noch einmal zurückkommen werden.

Und wie soll das erreicht werden?

End Fossil: Occupy! ist eine Ansammlung von Aktivist:innen aus der Umweltbewegung, von denen ein guter Teil von Fridays for Future geprägt wurde. Diverse Organisationen unterstützen die Initiative, aber im Stil der Umweltbewegung gibt es keine offene Unterstützer:innenliste, um sich nicht zum „Spielball“ unterschiedlicher Interessen zu machen und „unabhängig“ zu bleiben. Darüber hinaus fallen weitere Ähnlichkeiten mit der bisherigen Klimabewegung auf. So wird auf der Website recht eindeutig gesagt, dass End Fossil: Occupy! von „unzähligen historischen Beispielen, wie der Pinguin Revolution 2006 in Chile, der Primavera Secundarista 2016 in Brasilien, der weltweiten Mobilisierung in und nach 1986 und vielen anderen“ inspiriert ist. Daran ist erstmal nichts verkehrt. Gleichzeitig muss aber bewusst sein, dass sowohl die Proteste in Chile 2006 als auch die  Bildungsstreikproteste in Brasilien, bei denen in kürzester Zeit über 100 Universitäten im ganzen Land besetzt wurden, in einer wesentlich anderen Ausgangslage stattgefunden haben. Bei beiden Beispielen gab es konkrete Angriffe auf das Bildungssystem. Die Besetzungen waren die Antwort von Schüler:innen, Studierenden und teilweise Lehrenden, um diese aktiv abzuwehren.

Aufbauend auf diesen Bezugspunkten setzt die Kampagne jedenfalls mehrere Prinzipien für ihre eigenen Aktionen fest:

„Die Besetzungen sind organisiert von jungen Menschen. Der politische Rahmen hinter den Besetzungen ist der der Klimagerechtigkeit. Wir wollen ein Ende der fossilen Industrie, um Klimaneutralität und weltweite soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Unser Ziel wollen wir durch einen globalen und sozial gerechten Prozess erreichen. Unsere Intention ist es, (Hoch-)Schulen an verschiedensten Orten zu besetzen und so das öffentliche Leben zu stören, bis unsere Forderungen umgesetzt sind.“

Kurzum, die Besetzung soll Druck auf Institutionen aufbauen. Diese müssen dann den Forderungen der Aktivist:innen zustimmen und so sollen der fossilen Produktion Stück für Stück Absatzmärkte entzogen werden.

Unibesetzungen

Besetzungen stellen hier also ein zentrales Mittel zur Veränderung der Lage dar. Gemäß aktuellem Kräfteverhältnis folgt allerdings eher dem Muster der direkten Aktion, also mit dem Hintergedanken, dass Menschen durch eine radikale Tat selbst in Aktivität gezogen werden. Vor Ort, also an den Unis oder Schulen, gibt es unter den Studierenden eigentlich keine systematische Vorbereitungsarbeit. Die Masse soll vielmehr durch die unmittelbare Besetzung und ihre mediale Bewerbung so inspiriert werden, dass sich mehr und mehr Leute spontan anschließen. Dabei gibt es jedoch mehrere Probleme, auf die wir im Folgenden eingehen wollen.

Schulen und Universitäten sind keine oder nur im sehr begrenzten Rahmen – z. B. wenn die Forschung direkt mit industrieller Entwicklung verbunden ist – Orte der Mehrwertproduktion. Das heißt, Streik hier wirkt anders als beispielsweise in Sektoren wie der Bahn oder Autoindustrie. Dementsprechend ist es zwar logisch, von „Störung des öffentlichen Lebens“ zu sprechen, gleichzeitig sorgt sie aber auch dafür, dass diese Auseinandersetzungen länger ausgesessen werden können und weniger Druck erzeugen als Betriebsbesetzungen. Das sollte einem bewusst sein, insbesondere, wenn die Gegner multinationale Konzerne sind.

Heißt das, dass wir das alles schwachsinnig finden? Nein, im Gegenteil. Grundsätzlich halten wir die Initiative für sinnvoll und glauben, dass sie Potenzial entfalten kann. Deswegen haben wir Besetzungen, wo wir vor Ort sind, auch aktiv mit unterstützt und wollen dies künftig weiter tun. Gleichzeitig halten wir es sinnvoll, eine offene Debatte über die Strategie der Klimabewegung zu führen, um so aus den Initiativen sowie Fehlern der Vergangenheit zu lernen und unserem gemeinsamen Ziel näher zu kommen. Besetzungen stellen ein wichtiges Kampfmittel der Student:innenbewegung, von Schüler:innen, Indigenen, Bauern/Bäuerinnen, aber vor allem auch der Arbeiter:innenbewegung dar und bieten in diesem Rahmen eine Menge Potenzial. Bevor wir dazu kommen, wollen wir uns jedoch anschauen, was für uns Besetzungen bedeuten.

Was steckt eigentlich hinter einer Besetzung?

Für uns Marxist:innen sind Besetzungen ein recht starkes Mittel im Klassenkampf. Auch wenn dies manchen Leser:innen als altbacken daherkommen mag, wollen wir an der Stelle einen kurzen Abschnitt aus dem Übergangsprogramm Trotzkis zitieren:

„Die Streiks mit Fabrikbesetzungen, eine der jüngsten Äußerungen dieser Initiative, sprengen die Grenzen der ‚normalen’ kapitalistischen Herrschaft. Unabhängig von den Forderungen der Streikenden versetzt die zeitweilige Besetzung der Unternehmen dem Götzenbild des kapitalistischen Eigentums einen schweren Schlag. Jeder Besetzungsstreik stellt praktisch die Frage, wer der Herr in der Fabrik ist: der Kapitalist oder die Arbeiter.“

Das heißt, Besetzungen werfen unmittelbar die Fragen auf: Wer kontrolliert das besetzte Gebäude, die besetzte Unternehmung? Damit stellen sie die Verfügungsgewalt des Privateigentums und/oder etablierte kapitalistische Herrschaftsstrukturen infrage. Der besetzte Betrieb ist eine lokal begrenzte Form der Doppelmacht. Selbstverwaltete Strukturen von Arbeiter:innen und Unterdrückten existieren parallel und im Gegensatz zum eigentlich staatlich gesicherten Privateigentum.

Deswegen können sich Besetzungen je nach Lage der gesamten Situation recht schnell auch zuspitzen, wie man in der Vergangenheit sehen konnte, beispielsweise von französischen Arbeiter:innen, die ihm Rahmen von Streiks Raffinerien besetzten. Solche Situationen können aber nicht ewig bestehen bleiben, da die eine Struktur immer wieder die Legitimität der anderen in Frage stellt und beide letzten Endes auch Ausdruck zweier unversöhnlicher Interessen sind.

Das heißt: Im klassischen Marxismus geht es bei Besetzungen nicht nur darum, „die Normalität zu stören“, sondern sie sind ein Mittel, um den Klassenkampf bewusst zuzuspitzen. Auf der anderen Seite sind sie auch ein Ausdruck vom Kräfteverhältnissen. D. h., die Lohnabhängigen müssen selbst eine gewisse Entschlossenheit, Bewusstheit, also auch politische und organisatorische Vorbereitung sowie ein Wissen über den/die Gegner:in besitzen, um eine solche Aktion gezielt durchzuführen und den Kampf weiterzutreiben. Ansonsten bleibt eine spontane Besetzung leicht bloßer Ausdruck von Verzweiflung und kann nicht länger gehalten werden.

Dieses Verständnis erklärt übrigens, warum isolierte Besetzungen in der Regel nicht erfolgreich sein können. Sie greifen das kapitalistische System nur an einem Punkt an und steht dem von Besetzer:innenseite keine massive, dauerhafte Mobilisierung entgegen, verfügt der/die Kapitalist:in bzw. der etablierte, bürgerliche Staat, der sein/ihr Privateigentum schützt, über weitaus mehr Ressourcen, diese zu räumen. Heißt das im Umkehrschluss, dass man nur Besetzungen machen sollte, wenn man eine Basisverankerung vor Ort hat? Die Antwort ist: Kommt drauf an, was man erreichen will. Als symbolischer Protest kann eine Besetzung auch genutzt werden, um Basisarbeit aufzunehmen. Das heißt, in diesem Sinne kann es durchaus zweckmäßig sein, dass „die Normalität gestört wird“. Wenn es aber darum geht wie im Hambacher Forst, im Dannenröder Wald oder auch bei End Fossil:Occupy!, aktiv Errungenschaften zu verteidigen oder zu erkämpfen, dann bedarf es unbedingt vorheriger Basisarbeit an dem Ort, der besetzt werden soll. Dann muss dafür auch in den bestehenden gewerkschaftlichen oder studentischen Strukturen gekämpft werden. Im Folgenden wollen wir skizzieren, wie das aussehen kann.

Wir glauben, dass Besetzungen, die mehr als einen symbolischen Charakter haben, erfolgreich sind, wenn eine Massenbasis bzw. eine Verankerung besteht, beispielsweise wenn man gesamte Gebäude einer Universität statt einzelner Hörsäle oder gar Betriebe besetzen will. Werden diese Besetzungen nicht von den Studierenden oder Arbeiter:innen getragen, werden sie schnell geräumt oder im Falle der Unis geduldet, bis die Besetzer:innen nicht mehr können.

Das heißt, sie sind ebenfalls eine bewusste Entscheidung für die Besetzung durch die Mehrheit aller, zumindest aber durch die aktiven Student:innen. Ansonsten ist sie letztlich auf Dauer nicht zu halten, organisiert keine Basis, sondern spielt faktisch Stellvertreter:innenpolitik.

Wie kommt man nun zum Ziel? Vollversammlungen sind ein sinnvolles Mittel wie beispielsweise bei der Besetzung der TU Berlin. Wichtig dabei ist, dass man a) für diese gezielt mobilisiert, indem man beispielsweise Forderungen, die man vor Ort aufstellt, präsentiert und b) die Anwesenden aktiv in die Debatte einbindet und so die Besetzung auch zu ihrer kollektiven Entscheidung gestaltet.

Letzteres ist dort leider nicht passiert und eine der Ursachen dafür, warum die Besetzung auf eine kleine Gruppe und einen Hörsaal beschränkt blieb. Die „gezielte Mobilisierung“ ist für eine wirkliche Besetzung, die das bestehende Kräfteverhältnis in Frage stellt, unumgänglicher, essentieller Teil der Vorbereitung. Das bedeutet praktisch: wochenlanges Flyern, Plakatieren, mit dem Megaphon vor der Mensa zu stehen und Gespräche mit Studierenden bzw. der Belegschaft vor Ort zu führen. Dabei kann man Termine vorschlagen, um den Kreis der Vorbereitenden zu erhöhen und mehr Aktivist:innen in die Arbeit einzubeziehen, und wenn gewollt, auch weitere kreative Mobilisierungsformen entwickeln.

Zentral ist dabei, diese mit Forderungen zu verbinden, die lokale Probleme aufzeigen bzw. thematisieren, wie es positiver Weise an der TU Berlin geschehen ist. So wurden unter anderem die Transparenz über Fördermittel sowie weitere Geldquellen der TU Berlin und  Abkehr von fossiler Finanzierung gefordert. Dabei sollten „alle Einnahmen und sonstige finanziellen Unterstützungen durch Unternehmen transparent und übersichtlich aufgeschlüsselt werden, um sowohl die Verwendung der Gelder als auch den Einfluss der Unternehmen auf akademische Strukturen für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“

Dies gleicht der Offenlegung der Geschäftsbücher, die wir unterstützen, und bietet beispielsweise auch die Möglichkeit, um mit Beschäftigten an der Uni ins Gespräch zu kommen, was die Höhe ihrer eigenen Gehälter angeht und dass die Unterstützung der Besetzung letzten Endes in ihrem Interesse liegt.

Dies sind alles kleine, mühselige Schritte – aber notwendig, wenn wir Erfolg und Besetzungen nicht bloß einen symbolischen Charakter haben sollen.




Zur Kritik an #ZeroCovid: Dürfen Linke Forderungen an den Staat stellen?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 253, Februar 2021

#ZeroCovid stellt den ersten linken Vorstoß mit potenziellem Massencharakter der, der sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie stellt und die Auseinandersetzung in die Betriebe tragen möchte. Es stellt eine zentrale Aufgabe auch der subjektiv revolutionären Linken dar, die Initiative und ihren Erfolg nach Kräften zu stärken und sie politisch zu prägen. Daher unterstützen wir sie kritisch und fordern alle linken und proletarischen Kräfte auf, es uns nachzutun.

Während an die 100.000 den Aufruf unterschrieben haben, bleibt die Reaktion unter sozialistischen Linken bislang recht verhalten. Die SAV unterstützt die Kampagne nicht, weil sie es nicht für mehrheitsfähig in der Klasse hält, einen Shutdown auch auf die Wirtschaft auszuweiten. Der Funke (IMT) verweigert sich, weil der Aufruf die Methoden des Klassenkampfes nicht anwende, sondern  den Staat als Subjekt der Veränderung sieht und damit Illusionen in eben jenen schüre.

In verschiedenen Stellungnahmen aus linken Organisationen, Parteien und Plattformen können wir in den letzten Tagen eine relative Paralyse gegenüber der Forderung nach einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beobachten. Forderungen an den Staat erscheinen manchen prinzipiell, also unabhängig von ihrem Inhalt, als Teufelszeug.

Staat und Reformen

Bevor wir auf die Frage näher eingehen, wollen wir kurz fünf Forderungsblöcke von #Zero-Covid darlegen:

„1. Wir schränken unsere Kontakte auf ein Minimum ein – auch am Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.

2. Niemand darf zurückbleiben: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.

3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort ausgebaut werden. Das heißt auch: Löhne rauf und weg mit dem schädlichen Profitprinzip im Gesundheitswesen.

4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen: Impfstoffe dürfen nicht den Profiten von Unternehmen dienen, sondern müssen allen Menschen überall zur Verfügung stehen.

5. Die nötigen Maßnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.“

Diese fünf Forderungen könnten natürlich noch deutlicher und konkreter gefasst werden. Das ist hier aber nicht das Wesentliche. Alle zielen auf den Gesundheitsschutz, die soziale Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen, von Selbstständigen, unabhängig von Alter, Nationalität, Geschlecht sowie auf die Finanzierung dieser Maßnahmen durch Umverteilung von oben nach unten.

Forderungen im Kapitalismus

Solange wir den Kapitalismus noch nicht gestürzt haben, richten sich solche Forderungen nach sozialen und politischen Verbesserungen oder Reformen immer notwendigerweise an den Staat. Das trifft z. B. auch auf die Forderungen nach einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung, nach einem Mindestlohn, nach Enteignungen großer Konzerne, nach dem Ausbau demokratischer Rechte zu.

Würden die VertreterInnen einer solchen Kritik ihre eigenen Argumente ernst nehmen, so müssten sie jede Bewegung, jeden Kampf für politische und soziale Reformen kategorisch ablehnen und, ähnlich wie die „antiautoritären“ und anarchistischen KritikerInnen von Marx und Engels in der Ersten Internationale, den Weg des politischen Abstentionismus beschreiten, also der Enthaltung vom und Ablehnung des politischen Klassenkampf/es für Verbesserungen im bestehenden System.

Die Geschichte lehrt hingegen, dass der Kampf um solche Reformen als Mittel genutzt werden muss, um die ArbeiterInnenklasse zu organisieren und in Bewegung zu bringen. Schließlich hat der bürgerliche Staat als Sachwalter des Kapitals nichts zu verschenken. Und jede/r weiß, dass die Ziele von #ZeroCovid nur durch massive Mobilisierungen erzwungen werden können, um diese gegen den Widerstand von Kapital, bürgerlichen Parteien und Regierung zu erzwingen.

Nur wenn die Forderungen mit weiterführenden Kampfmaßnahmen wie Demonstrationen, Streiks und Besetzungen verbunden werden, kann die Klasse Zugeständnisse erzwingen und im Zuge ihrer dafür notwendigen Selbstorganisation die Umsetzung kontrollieren. Im Nachfolgenden wollen wir also die Frage, ob und inwiefern wir Forderungen an den Staat stellen sollten, weiter beleuchten.

Was ist der bürgerliche Staat?

Der bürgerliche Nationalstaat ist in erster Linie ein Instrument zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung und Eigentumsverhältnisse – er ist ein kapitalistischer Klassenstaat. Er fungiert als ideeller Gesamtkapitalist, d. h. er muss die allgemeinen Produktionsbedingungen aufrechterhalten und auch als Sachwalter des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse dienen. Dieses darf jedoch nicht als Addition der Interessen der konkurrierenden Einzelkapitale verstanden werden. Vielmehr muss er auch die Konkurrenzbedingungen unabhängig von diesen garantieren, was auch zu einzelnen Konflikten führt. Dieser Gegensatz zeigt sich aktuell auch durch die Schließung von Restaurants und Freizeiteinrichtungen, während die für die Mehrwertproduktion „essentiellen“ Konzerne um jeden Preis offen gehalten werden.

Zweitens verkörpert der Staat im Kapitalismus das gesellschaftlich Allgemeine, wenn auch das „falsche Allgemeine“, weil seine proklamierte „Neutralität“ und formale Gleichheit der BürgerInnen nur den Überbau bilden können, auf dessen ökonomischer Grundlage sich die Klassen reproduzieren. Damit die Sicherung dieser gesellschaftlich grundlegenden Verhältnisses gelingt, muss die bürokratische Staatsmaschinerie (Parlamente, Repressionsapparat, Verwaltung, Justiz, …) strukturell an die herrschende Klasse gebunden sein.

Daher kann der Staat nicht einfach übernommen, transformiert oder demokratisiert werden. So sind die Staatsbediensteten materiell und ideologisch an ebendiesen Staat gebunden. Auch ist der Großteil des Staates eben nicht demokratisch wählbar, was im Besonderen für die exekutiven Organe (Polizei, Militär, Geheimdienste) gilt.

Zugleich aber bildet der Kampf um politische und soziale Reformen einen Ort des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft. Unsere Politik muss daher notwendig zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens geht es darum, die Klasse durch Forderungen wie jene nach einem Shutdown der Wirtschaft zusammenzuschließen und zu einer politischen Bewegung zu formieren, die nicht nur an einzelne UnternehmerInnen Forderungen nach Durchsetzung gesundheitlicher Unversehrtheit richtet, sondern diese als allgemeine politische erhebt. Als Zweites zielen diese Forderungen darauf ab, Illusionen in den Klassenstaat zu brechen, um dabei eine Perspektive zu weisen, die von den bestehenden Problemen aus die Notwendigkeit der Selbstorganisation und schlussendlich den Bruch mit dem Privateigentum aufzeigt.

Kann man also Forderungen an den Staat stellen?

Die zentrale Zielsetzung unserer Forderungen besteht nicht in Erreichung kleiner Teilerfolge, sondern sie muss darauf abzielen, einen unversöhnlichen Klassenstandpunkt aufzuzeigen und zu popularisieren (vergl. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution). Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Vorstoß von #ZeroCovid eine gewisse Doppeldeutigkeit annimmt, konkret an der Frage, wie die aufgestellten Forderungen umgesetzt werden können. Der Adressat der Online-Petition sind die „Deutsche Bundesregierung, Schweizer Bundesregierung, Österreichische Bundesregierung, Europäische EntscheidungsträgerInnen“ (siehe Petitionstext), während im Aufruf die Gewerkschaften aufgefordert werden, den Shutdown im Betrieb zu organisieren. Was von manchen somit als Appell an den Staat bezeichnet wird, ist unter Bedingungen einer klassenkämpferischen Bewegung in den Gewerkschaften und Betrieben ein Erzwingen zur Umsetzung der Maßnahmen gegenüber dem Staat.

Besonders interessant wird die verkürzte Darstellung von Forderungen an den Staat als rein appellierende Haltung, wenn wir uns andere soziale Bewegungen anschauen, allen voran Fridays for Future – eine Bewegung, die die meisten der ach so konsequenten linken Gruppen vermutlich (kritisch) unterstützen werden. Die Hauptforderung von FFF ist die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, womit sie sich direkt auf den Staat bezieht, sogar ganz ohne Bezugnahme auf Gewerkschaften. Hier wiederum kämpfen viele der SozialistInnen in und um FFF für ein Klassenprogramm. Eine kurze Frage an die SAV an der Stelle: Ist die Umsetzung der Forderungen der Umweltbewegung denn in der ArbeiterInnenklasse aktuell mehrheitsfähig? Eventuell ist die Sorge auch eher, dass dies in der Linkspartei schwer mehrheitsfähig ist bzw. einen politischen Kampf mit sich brächte.

Um die Notwendigkeit, Forderungen an den Staat zu stellen, zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den drei Dimensionen des Klassenkampfes befassen, dem ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampf (vgl. Lenin: Was tun?). Verkürzt gesagt, umrahmen sie idealtypisch folgendes Feld: Der ökonomische Klassenkampf bezieht sich auf die Verbesserungen des Verhältnisses bezahlter zu ausgebeuteter Lohnarbeit, der ideologische hingegen ist der Kampf um die Köpfe, besser um die Entwicklung von der Klasse an sich zur Klasse für sich, und im politischen Klassenkampf – um den es im Kern an dieser Stelle geht – richtet sich die ArbeiterInnenbewegung schlussendlich gegen das politische wie soziale System des Kapitalismus als Ganzes. Ziel ist es, die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, somit auch ihren Staat zu schwächen, gar zu entmachten.

Charakter des „Autoritarismus“

Weiter oben haben wir verdeutlicht, dass die Forderung an den Staat mit der Mobilisierung der Klasse verbunden werden muss. Aus dem oben Gezeigten lässt sich auch leicht die Antwort auf eine Frage finden, die viele Linke anscheinend umtreibt: Führen Forderungen an den Staat denn automatisch zum Autoritarismus? Im Allgemeinen lässt sich sagen: Nein! Es hängt vielmehr jeweils davon ab, wessen Klasseninteressen, welche Anliegen sie zum Ausdruck bringen, nicht ob sie „autoritär“ sind oder nicht.

Bestünde ein solcher Automatismus hingegen, müsste jede Forderung nach sozialer Absicherung den Staat ein Quäntchen autoritärer machen, beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Auch bei #ZeroCovid geht es nicht um irgendwelche Forderungen an den Staat, sondern um die Forderung nach einem Shutdown des Gesamtkapitals.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung bereit ist, einzelne, für die Mehrwertproduktion weniger wichtige Branchen zu schließen. Im Falle der Großindustrie setzt der reale Staat jedoch seine Macht ein, um solche Maßnahmen zu verhindern. Er sichert die Profite der Konzerne auf Kosten unserer Gesundheit. Die konkreten Maßnahmen, die #ZeroCovid vorschlägt, werden daher nur durch eine Bewegung erzwungen werden können. Selbst wenn sich der Staat genötigt sähe, diesem Druck vorübergehend nachzugeben, würden viele BürokratInnen und UnternehmerInnen kreativ nach Schlupflöchern suchen – ganz so wie wir das von der „autoritären“ Besteuerung der Unternehmen oder „autoritären“ Hygienevorschriften in Schlachtereien kennen. Große Konzerne würden versuchen, sich den Shutdown vergolden zu lassen. D. h. hier zeigt sich, dass die Frage der Erzwingung dieser Maßnahmen mit jener der Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse in den Betrieben und Stadtteilen verbunden werden muss.

Welche Forderung in wessen Interesse?

Vom Standpunkt der KapitalistInnenklasse und des KleinunternehmerInnentums sind staatliche Arbeitszeitbeschränkungen, Kündigungsschutz oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz natürlich „autoritär“. Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus betrachtet hingegen oft löchrig wie Schweizer Käse. Für das Kapital wirkte sich die Kontrolle durch die Lohnabhängigen noch viel autoritärer aus als jene des Staates. Daher muss jede Kritik am „Autoritarismus“ auf ihren Klassencharakter hin überprüft werden. Der abstrakte, vom politischen und sozialen Inhalt einer Forderung abstrahierende „Antiautoritarismus“ entpuppt sich nämlich bei näherer Betrachtung als bürgerliche, arbeiterInnenfeindliche Ideologie.

Ist es denn kleinbürgerlich-moralisierend, Forderungen an den Staat zu stellen? Wie bereits verdeutlicht: Nein, nicht prinzipiell! Die Aufgabe ist es, die Forderungen, die in der Online-Petition formuliert werden, mit weiterführenden Kampfmaßnahmen zu füllen. Die Darstellung deren als kleinbürgerlich und staatsbejahend ignoriert vollkommen die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Wirklichkeit dem Gedanken anzunähern und hat ausschließlich den praktischen Nutzen, im Nachhinein die eigene Passivität zu legitimieren. Eine solche Haltung tut in der Situation der Paralyse nichts anderes als dem vorherrschenden Bewusstsein in der Klasse, somit einem bürgerlichen, hinterherzulaufen. Deshalb: Nicht meckern, machen! Kämpft mit und in #ZeroCovid für eine proletarische Aktionsplattform im Kampf gegen Pandemie und Krise!




25 Jahre Trend-Online: Aufgaben der „Klassenlinken“

Martin Suchanek, Infomail 1133, 4. Januar 2020

Politische Nachrufe nehmen oft die Form einer kritischen Würdigung an und münden in Lehren und Folgerungen für eine – hoffentlich – bessere Zukunft. Dem Format wollen oder können wir uns im Beitrag zu letzten Ausgabe der Trend-Online-Zeitung auch nicht entziehen.

Wer 25 Jahre lang ein Magazin herausbrachte, das von unterschiedlichen Strömungen und Personen der „radikalen Linken“ als Medium genutzt wurde, muss auch etwas richtig gemacht haben. In jedem Fall hat Trend-Online einem realen Bedürfnis einer politisch zersplitterten Linken links von der Sozialdemokratie Rechnung getragen – dem Bedürfnis, ein breiteres Publikum zu erreichen, als es die eigenen Organe vermochten, wie auch dem nach Austausch und Diskussion. Trend-Online stellte somit auch einen Ansatzpunkt dar, eine Art Gegenöffentlichkeit zur bürgerlichen herzustellen.

Dies bildete natürlich kein Alleinstellungsmerkmal. Andere Plattformen waren und sind jedoch entweder auf bestimmte Formen der Auseinandersetzungen zentriert – wie z. B. das Labournet – oder sie wurden wie indymedia faktisch zum exklusiven Privatmedium einer bestimmten ideologischen Strömung – im konkreten Falle von indymedia eines libertären, anarchistischen, mehr oder minder autonomen Sektors der „radikalen“ Linken, der schon bald Statements und Positionspapiere von Gruppen, zumal von „autoritären“, blockierte.

Natürlich war auch Trend-Online nie eine „über den Parteien und Strömungen“ stehende, vorgebliche selbstlose Plattform. Und das war gut so. Anders als z. B. indymedia proklamierte das Trend-Online nicht. Schließlich stellt die Behauptung, dass es ein solches, vorgeblich neutrales, über den verschiedenen Gruppierungen der antikapitalistischen Linken stehendes Medium überhaupt geben könne, im besten Fall eine ideologische Selbsttäuschung dar – oft genug eine schlichte Lüge, mit der sich missliebige Strömungen unpolitisch ausschließen lassen.

Trend-Online stand es gut zu Gesicht, nie vorzugeben, dass es nicht selbst Partei und parteiisch wäre, nicht selbst Teil einer seit Jahrzehnten auf das Stadium kleiner Propagandagesellschaften, Zirkel oder „Sekten“ zurückgeworfenen subjektiv, also dem eigenen Anspruch nach, revolutionären Linken.

Trend-Online bot in den letzten Jahren den von der Redaktion selbst „Klassenlinke“ bezeichneten Gruppierungen ein Forum, die sie sonst nicht gehabt hätten, da sie in weiten Teilen der kleinbürgerlich geprägten „radikalen“ Linken der Bundesrepublik selbst ausgegrenzt werden. Innerhalb der „Klassenlinken“ stand die Trend-Online-Redaktion dem Maoismus näher als jeder anderen Strömung. Aber sie erfüllte ihr Ziel einer strömungsübergreifenden Veröffentlichungspolitik weitgehend, jedenfalls weit mehr als alle sog. antiautoritären Plattformen.

Für viele kleinbürgerlich-(post)autonom geprägte „Linksradikale“ mag das paradox erscheinen – und paradox ist dies auch von einem Standpunkt aus, für den das revolutionäre Subjekt letztlich eine Sammlung von Individuen darstellt. Für eine marxistische, also klassenpolitische, Linke hingegen bedeutet das revolutionäre Subjekt immer ein Klassensubjekt, nicht bloß eine Sammlung von mehr oder weniger vielen Menschen guten Willens.

Daher erfordert die Herausbildung eines solchen Subjekts – des Werdens einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich – immer eine Verbindung zu den Grundfragen von Theorie, Programm, Strategie, Taktik und des Aufbaus einer revolutionären Partei und Internationale in einer konkreten geschichtlichen Lage.

Trend-Online wollte einen Beitrag zur Lösung dieser ungelösten Hauptaufgabe der kommunistischen Linken leisten und versuchte z. B., in den NaO-Prozess einzugreifen, aus dem der „Arbeitskreis Kapitalismus aufheben“ (AKKA) entgegen der Einwände der Gruppe ArbeiterInnenmacht sehr früh ausgegrenzt wurde.

Unabhängig davon zeigten sich in der Programm- und Organisationsfrage aber auch Schwächen und Grenzen des Projekts. Trend-Online bot zwar eine Tribüne, aber es organisierte weder eine darüber hinausgehende Diskussion noch vertrat es eigene politische und programmatische Vorschläge zur Überwindung der Zersplitterung der „Klassenlinken“. Im Grunde, so unsere Kritik, erhoffte sich die Redaktion eine organische Zusammenführung von Positionen, die aus guten Gründen, also aufgrund realer und ernster theoretischer und programmatischer Differenzen, als verschiedene Organisationen existieren.

Eine Vereinigung solcher Gruppierungen bzw. deren Neuzusammensetzung in einer größeren, revolutionären Organisation kann jedoch, so unsere Erfahrung, nur durch eine Verbindung von gemeinsamer Aktion/Praxis und theoretischer und programmatischer Klärung erfolgen, also durch die Vereinheitlichung auf Basis eines revolutionären Programms.

Ansonsten existieren unterschiedliche, letztlich in verschiedene Richtungen drängende Gruppierungen unter einem Dach ohne theoretisch fundierte Grundlage weiter. Eine davon angeleitete, gemeinsame Praxis wie auch die Verallgemeinerung kollektiver Erfahrung ist ohne diesen gemeinsamen Bezugsrahmen letztlich jedoch unmöglich. Einer solchen Konstruktion steht das Zerfallsdatum schon eingeschrieben.

In der Online-Zeitung äußerte sich diese Problem letztlich nur indirekt, in deren Erscheinungsform. Alle möglichen Beiträge unterschiedlicher Gruppen standen oft unvermittelt nebeneinander, quasi als  „klassenlinke“ Rundschau, als Sammlung von Statements, teilweise auch als innere Nabelschau und als Update neuester Spaltungen samt politischer Schmutzwäsche.

Es wäre ungerecht, diese Probleme bloß Trend-Online anzulasten. Die Veröffentlichungspraxis reflektierte schließlich nicht nur dessen Redaktion, sondern auch die „Klassenlinke“ selbst – und damit deren eigene Schwächen. Sie existiert weitgehend unvermittelt voneinander, weil sie Zusammenarbeit und Kritik oft genug als einander ausschließende Faktoren betrachtet. Das hat zwar mit Marxismus, Leninismus oder Trotzkismus wenig zu tun – umso mehr aber mit der politischen Dünnhäutigkeit und theoretischen wie programmatischen Dürftigkeit eines großen Teils der „radikalen“ Linken. Diesem hielt Trend-Online zum Teil den Spiegel vor Augen, kam aber über die Bespiegelung nicht wirklich hinaus.

Dabei wäre das dringend nötig – und mit einigen Gedanken und zur Diskussion dieser Frage wollen wir schließen. Die aktuelle Mehrfachkrise des Kapitalismus – globale Rezession; Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten; drohende ökologische Katastrophe und die Pandemie, die mittlerweile schon 1,8 Millionen Tote gefordert hat – erfordern eigentlich ein koordiniertes, bundesweites wie internationales Eingreifen der „Klassenlinken“. Dazu braucht es unserer Meinung nach eine Verständigung über ein Aktionsprogramm, also zentrale ökonomische, soziale und politische Forderungen sowie eine Politik der Einheitsfront gegenüber den Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse. An dieser Stelle wollen wir nur kurz auf unser Corona und Krise: Aktionsprogramm für die ArbeiterInnenklasse! verweisen.

Nicht minder wichtig und damit verbunden, bedarf es einer Diskussion zu theoretischen und programmatischen Grundfragen revolutionärer Politik. Mit der neuesten Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ widmen wir uns einem solchen Themenkomplex, der Frage des Imperialismus, der marxistischen Theorie, ihrer Aktualität, aber auch der Notwendigkeit ihrer Aktualisierung. Dazu werden wir im kommenden Halbjahr auch eine Reihe von Online-Veranstaltungen durchführen. Wir hoffen, so einen Beitrag zur politischen Stärkung, Formierung und zur revolutionären Vereinheitlichung einer „Klassenlinken“ zu leisten, die in nicht allzu ferner Zukunft das Stadium des Zirkelwesens zu überwinden fähig ist.

Redaktioneller Hinweis

Der Artikel erschien ursprünglich in Nr. 1/2021 der von Trend-online Zeitung. Alle Ausgaben von Trend-online sind weiter als Archiv auf http://www.infopartisan.net/ zugänglich.




Perspektive Kommunismus: mit Nachbarschaftshilfe zum revolutionären Bruch?

Robert Teller, Infomail 1101, 27. April 2020

Perspektive Kommunismus (PK) hat ein Papier mit dem Titel „Thesen zu den Aufgaben der revolutionären Linken in der Corona-Krise“ veröffentlicht. Völlig zu Recht gehen sie davon aus, dass auch in der Coronavirus-Krise eben nicht alle Klassen im selben Boot sitzen:

„Die aktuelle Krise ist nicht nur eine des Gesundheitssystems und offenbart nicht nur die völlig mangelhafte Vorbereitung auf eine Pandemie. Das Corona-Virus trifft auf eine kapitalistische Wirtschaft, die schon seit Monaten in eine tiefe Krise schlittert. Alles spricht dafür, dass diese nun verstärkte Krise massive gesellschaftliche, politische und ökonomische Verwerfungen produzieren wird.“ (Thesen)

Das Virus selbst unterscheidet zwar an sich nicht zwischen oben und unten, aber für „die oben“ und „die unten“ ist das Oben- oder Untensein nicht erst im Krankheitsfall wichtig. So hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung auch von der Wohngegend ab, also ob die zuständige Intensivstation noch Beatmungsplätze frei hat. Ein privilegierter privater Versicherungsstatus, bessere medizinische Versorgung von Vorerkrankungen und Wohnort in besserer Gegend geht mit erhöhten Heilungsaussichten einher. Natürlich hängt bereits das individuelle Infektionsrisiko maßgeblich davon ab, ob jemand im nach wie vor gut frequentierten Nahverkehr zur „unentbehrlichen“ Lohnarbeit pendeln muss. Viele aus der Unterschicht aber werden die Krankheit nicht als Lungenentzündung kennenlernen, sondern als Kurzarbeit mit Lohn- oder Sparprogramm mit Jobverlust. PK zieht daraus die richtige Schlussfolgerung:

„In dieser Situation müssen wir jede Form der ‚Burgfriedenspolitik’ zurückweisen. Wir dürfen in keine ‚nationale Einheitsfront gegen das Virus’ einschwenken!“ (Thesen)

Schon in „normalen“ kapitalistischen Krisen fordern die Bosse von den ArbeiterInnen gewöhnlich „Zusammenhalt“ ein – was konkret bedeutet, dass letztere die Kosten der Krise selbst bezahlen sollen. In der aktuellen Situation erhält diese Forderung natürlich erhöhte Überzeugungskraft, weil der Auslöser der Krise eben rein mechanisch betrachtet kein gesellschaftlicher, sondern ein biologischer ist, und biologisch sind wir alle gleich. Doch die „nationale Koalition“ macht eben gerade nicht alle gleich: So entscheiden hierzulande nach wie vor die KapitalistInnen selbst, ob die Produktion von SUVs oder der Versandhandel mit Krimskrams wichtiger ist als die Gesundheit der hierfür notwendigen LohnarbeiterInnen. So manche KapitalistIn wird die Stunde der Einheit nutzen, um lange bekannte strukturelle Überkapazitäten abzubauen.

All das schreibt auch PK und folgert korrekt: Linke müssen nun der Burgfriedenspolitik den Kampf ansagen  – auch gegen die Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte, welche eine massive Schwächung, wenn nicht Verunmöglichung ernsthafter gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe bedeutet.

Burgfrieden und Bürokratie

Leider ist in den Thesen von PK verlorengegangen, dass in den reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung die „Burgfriedenspolitik“ unter der Bezeichnung „Sozialpartnerschaft“ hoch im Kurs steht und die Krisenpolitik der Großen Koalition maßgeblich auch auf der aktiven Demobilisierung betrieblicher Kämpfe durch die reformistischen Apparate beruht. Die Absage jeglicher Kampfaktionen in der Metall-Tarifrunde bereits im Januar (wohlgemerkt, bevor COVID-19 zu einer Pandemie und globalen Krise geworden war) und der Abschluss einer Corona-Nullrunde am 20.03. stellen eine Art nationalen Schulterschlusses dar, der von der Bürokratie über den grünen Klee gelobt wird. „Dieser Abschluss ist ein Beitrag zur Abfederung der Corona-Krise und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, verkündet der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Die „Unterbrechung“ der Tarifrunde Nahverkehr durch ver.di wird mit ähnlichen Worten begründet: „Wir halten die Uhr an, denn für uns steht jetzt an erster Stelle, in dieser Krise mit einmaligem Ausmaß verantwortungsvoll zusammenzustehen und Gesundheit und Einkommen zu sichern.“ Dies ist die Gestalt der, wie PK es nennt, „nationalen Einheitsfront“. PK widmet der systematischen Klassenzusammenarbeit durch die Führung der DGB-Gewerkschaften aber nur eine, noch dazu beschönigende Randnotiz:

„Die – leider sehr defensiven – Tarifverhandlungen der IG Metall beweisen den allgemeinen Ernst der Lage.“ (Thesen)

PK beansprucht richtigerweise, die Corona-Krise im Allgemeinen wie im Konkreten, also etwa in der Nachbarschaftshilfe, mit politischer Propaganda hinsichtlich des Klassencharakters der beschlossenen Maßnahmen zu verbinden. Sie lehnt dabei aber den entscheidenden Punkt ab: hierfür innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zu kämpfen, also auch innerhalb der Gewerkschaften den Kampf gegen die reformistischen Apparate als wichtigem Standbein der Großen Koalition in ihrer Krisenbewältigung zu führen und eine klassenkämpferische Opposition aufzubauen. Stattdessen die hoffnungsvolle Ankündigung, dass das gar nicht nötig ist, denn:

„Die Krise wird zu ideologischen Brüchen führen. Viele Menschen, die bislang für uns kaum erreichbar waren, werden nach Orientierung suchen und für revolutionäre Forderungen offener werden. Wir müssen daher noch stärker als bisher auf diese Menschen zugehen, ihnen die Perspektive des Sozialismus und einer klassenlosen Gesellschaft verständlich machen. Wir müssen an ihren Problemen andocken, uns dabei einfach und verständlich ausdrücken und den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Letzteres verweist auf einen weiteren, eigentlich logischen, Punkt: Es muss erkennbar sein, von welchem Standpunkt aus wir agieren. Wir sind nicht nur die netten NachbarInnen, die beim Einkaufen helfen, und nicht einfach GewerkschafterInnen, die da sind, wenn es um Entlassung und Kurzarbeit geht (die sind wir natürlich auch): Wir sind KommunistInnen und müssen als solche erkennbar sein.“ (Thesen)

Anstatt den politischen Charakter der Gewerkschaftsbürokratien offenzulegen, die im Sinne der Sozialpartnerschaft auch noch so geringe Tarifforderungen kampflos preisgeben, brauchen wir: auf die Menschen zuzugehen, uns zu erkennen zu geben und ihnen die Vorzüge der klassenlosen Gesellschaft darzulegen. Die sicher kommenden ideologischen Brüche erfordern dann nur noch die angemessene pädagogische Behandlung.

Übergangsforderungen

Dieser Ansatz umgeht die Frage, welches Programm, welche Forderungen, welche Politik die KommunistInnen in den Gewerkschaften, in den Betrieben oder auch in der Nachbarschaftshilfe vertreten sollen. Und er tut so, also müssten die KommunistInnen nicht zugleich einen politischen und ideologischen Kampf gegen bürgerliche Einflüsse, bürgerliches Bewusstsein in der Klasse ausfechten – vor allem die Notwendigkeit, ihn gegen die wichtigsten Träger- und VerbreiterInnen einer falschen Politik der Klassenzusammenarbeit und des nationalen Schulterschlusses in der ArbeiterInnenklasse –  zu führen – also gegen die Strategie und Politik der reformistischen Apparate.

Dieser Ansatz verkennt von Grund auf, dass die Frage der Kampfmethoden auch in gewerkschaftlichen Kämpfen immer eine politische ist und KommunistInnen in allen Detailfragen des Klassenkampfes mit konkreten Positionen und Aktionen versuchen müssen, die Teilkämpfe in den Kontext ihres historischen Ziels zu stellen, d. h. der Errichtung der ArbeiterInnenmacht. Ansonsten bleibt „Sozialismus“ eine abstrakte Phrase. Folgerichtig bleibt die einzige konkret anwendbare Schlussfolgerung bei PK der Ratschlag für die Nachbarschaftshilfe: erzählt den NachbarInnen vom Kommunismus. Der gewerkschaftliche wie der Kampf für Minimalziele überhaupt (darunter auch in der Nachbarschaftshilfe) sind bei PK strikt getrennt vom hehren Ziel der klassenlosen Gesellschaft. Zwischen diesen beiden Extremen besteht keine Vermittlung. Verbesserungen im Hier und Jetzt werden nicht mit einem strategischen und programmatischen Bezug zum Kampf für eine andere Gesellschaft verknüpft. Somit kann die PK den Kommunismus nur als ein fernes Endziel verkündeten. Im Hier und Jetzt vertritt sie – ähnlich wie die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg oder der Reformismus generell – nur ein Minimalprogramm. Dabei bestünde die Aufgabe von RevolutionärInnen gerade darin, die beiden Extreme durch ein System von Übergangslosungen zu verbinden. So müssten z. B. Forderungen nach ausreichendem Gesundheitsschutz mit der Losung der ArbeiterInnenkontrolle über deren Umsetzung verbunden werden. So könnten z. B. Nachbarschaftskomitees durch die Forderung nach Kontrolle über staatliche oder kommunale Hilfsgelder und deren Verteilung politisiert werden.

Ohne eine solche Methode von Übergangsforderungen steht der von PK nicht näher definierte „revolutionäre Bruch“ unvermittelt neben der Forderung, sich mehr in der Bevölkerung zu verankern.

Um die aktuelle Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen, wären aber zuallererst konkrete Schritte gegen die Abwälzungspolitik des Kapitals notwendig. Der Kampf gegen Kurzarbeit und Entlassungen und für die Weiterbeschäftigung aller bei vollen Lohnzahlungen durch die Unternehmen, die Bildung von Komitees aus Belegschaften und ArbeiterInnenbewegung, die über notwendige Produktionsstopps beraten und entscheiden, der schnellstmögliche Ausbau der medizinischen Versorgung durch Einstellung von Personal zu vollen tariflichen Gehältern, bezahlt durch Besteuerung von Unternehmen und unter Kontrolle der ArbeiterInnen – das sind nur einige Forderungen, die notwendig sind, um die gesundheitlichen und sozialen Folgen auf die Klasse zu begrenzen. Diese Verknüpfung von unmittelbaren Zielen mit der Selbstorganisation der Klasse und der Bildung von Machtorganen würde zudem die Möglichkeit schaffen, dass die Massen tatsächlich „revolutionär brechen“ können.

Diese Maßnahmen stehen aber eben nicht auf der Agenda der Gewerkschaften. Sie können offensichtlich nicht erkämpft werden, ohne zugleich der Politik der Sozialpartnerschaft den Kampf anzusagen. Für PK scheinen Reformismus und Sozialpartnerschaft Dinge der Vergangenheit zu sein, die im Zuge der Krise von alleine diskreditiert werden. Klar ist, dass die Krise zu sozialen Verwerfungen und zu Kämpfen führen wird. Aber im genannten Verhalten vom IGM und ver.di zeigt sich, dass gerade in der Krise die Bürokratie stramm in der Front zur Rettung der Nation steht – und dies ist nicht nur in der Konzeption der Sozialpartnerschaft, sondern generell in rein gewerkschaftlicher und reformistischer Politik angelegt, die immer einen Klassenkompromiss anstreben muss.

Um in der Krise die ArbeiterInnenklasse aus der Passivität zu holen und Widerstand zu organisieren, müssten revolutionäre Linke jetzt die Maßnahmen der GroKo zurückweisen – die Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten, die Einführung von 12h-Tag und 60h-Woche, die Abwälzung der Kosten auf die Klasse durch Ausweitung der Kurzarbeit, die nationale Abschottungspolitik und die Schließung der Grenzen für Flüchtlinge.

Stattdessen müssen Linke dafür kämpfen, den Gesundheitssektor und die pharmazeutische Industrie sofort entschädigungslos zu enteignen und unter ArbeiterInnenkontrolle zu stellen, für ein Sofortprogramm zur Erhöhung der Behandlungskapazitäten, bezahlt aus den Profiten der Unternehmen, für die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses und die Offenlegung aller Forschungsergebnisse zu Impfstoffen und Medikamenten, damit möglichst schnell wirksame Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden können. Derartige Forderungen sucht man bei PK vergeblich. Statt Menschen für einen Kampf gegen die Krise zu organisieren, der ihnen erlaubt, die Verhältnisse zu verstehen – auch die Stützung der Bourgeoisie durch die ReformistInnen – will PK den „Bruch“ dadurch erreichen, dass die Menschen sehen, dass KommunistInnen doch auch gute Menschen sind.




Neue Strömungen in der Linkspartei: Alter Wein in neuen Schläuchen

Tobi Hansen, Neue Internationale 244, Februar 2020

Bereits im Mai 2019 hielt die neue Strömung „Bewegungslinke“ um den Europaparteitag der Linkspartei herum ihr Gründungstreffen ab. Um auch die formellen Kriterien einer Strömung zu erfüllen, gründeten 170 Versammelte die Strömung am 14./15. Dezember 2019 neu.

Teile der Sozialistischen Linken (SL), die früher dort gegen
das „Aufstehen/Wagenknecht“-Lager eintraten, vor allem Aktive und
MandatsträgerInnen vom Netzwerk marx21 (Buchholz, Gohlke, Wissler,
Movassat…), der Interventionistischen Linken oder deren Umkreis bilden den
Kern des Zusammenschlusses, der sich explizit gegen die Regierungsperspektive
„Grün-Rot-Rot“ ausspricht und für eine aktivistische, antikapitalistische Kraft
vor Ort eintritt, quasi das Gegenteil vom Status quo.

Bei Lichte betrachtet, hält diese Opposition, wie die
bisherige Anpassung von marx21 an den Apparat zeigt, nicht, was sie verspricht.
Mit der Regierungspraxis der Partei bricht sie eben nicht programmatisch, den
Kampf um die Führung gegen die „RegierungssozialistInnen“ nimmt diese Allianz
aus ZentristInnen und linken ReformistInnen nicht wirklich auf.

Strategiedebatte vor Bundesparteitag

In Anbetracht des Zustands der Linkspartei wäre ein Kampf um
Programmatik und Taktik notwendig, es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieser
stattfindet.

Während die Grünen inklusive der Umwelt- und Klimabewegung
nun mit Abstand führende parlamentarische Oppositionskraft sind und in den
Umfragen deutlich vor SPD, AfD, FDP und Linkspartei liegen, fordern führende
Mitglieder fast aller Lager der Partei, dass Ramelow Ministerpräsident bleiben
muss.

Dafür greift Ramelow sogar die Vorschläge des
Ex-Bundespräsidenten Gauck auf, die CDU-Thüringen zur Unterstützung einer
rot-rot-grünen Minderheitsregierung zu bewegen. Den Gang nach Canossa geht
letztlich freilich nicht Mohring, sondern Ramelow, der sein „Reformprojekt“ von
Gaucks Gnaden, v. a. aber die Linkspartei diskreditieren wird.

Doch genau an dieser „Praxis“ üben praktisch alle
Führungsfiguren keine Kritik, sonst gibt’s eigentlich wenig an Gemeinsamkeiten.
Die Wahl der neuen Fraktionschefin Amira Mohamed Ali gegen die Abgeordnete
Caren Lay bildete ein Paradebeispiel des Kampfes zwischen den verschiedenen
Lagern im Parteivorstand. Marx21 stimmte mit dem Parteivorstandslager für Lay,
während ehemalige „Linke“ wie Dehm und Co., die als UnterstützerInnen von
Wagenknecht gelten, wie auch das FDS (Forum Demokratischer Sozialismus) um
Fraktionschef Bartsch für Ali votierten. Letztere bildeten das sog.
„Hufeisenbündnis“. Manche Posten konnten wegen der massiven internen Friktionen
bis heute nicht besetzt werden und viele entblöden sich auch noch dazu nicht,
über die bürgerlichen Medien zweitrangige, aber „skandalträchtige“ Interna der
Fraktionskonflikte preiszugeben.

Bewegungslinke

In dieser Situation könnten die „Bewegungslinken“ wie auch
die Antikapitalistische Linke (AKL) zumindest die verbliebenen
anti-reformistischen, kämpferischen Teile der Partei sammeln und müssten einen
konsequenten Fraktionskampf zum Bruch mit den „RegierungssozialistInnen“
führen. Nur fehlt (nicht nur uns) der Glaube, dass dies noch möglich ist.

In den Verlautbarungen der „Bewegungslinken“ zur
Strategiedebatte – aktuell zwei aus Nordhessen – wird die kämpferische Kraft
vor Ort eingefordert, eine Partei, die mit und in der Klasse kämpft und
sämtliche Illusionen an Grün-Rot-Rot über Bord wirft.

Doch hier stellt sich die Frage, ob der Verweis auf einzelne
positive Beispiele einer organisierenden, kämpfenden Aktivität reicht, um den
reformistischen Charakter und die Praxis der Gesamtpartei zu ändern. Wer diese
Fragen gar gleichstellt, greift schon automatisch zu kurz. Stattdessen werden
in den Papieren gewissermaßen zwei Parteien einander gegenübergestellt. Eine vollstreckt
den bürgerlich-kapitalistischen Normalzustand im Parlament, in den
Landesregierungen oder in kommunalen Verwaltungen. Die andere soll vor Ort
antikapitalistisch für Sozialismus eintreten. Gewissermaßen ist dies seit
Beginn der Linkspartei „Normalzustand“ – ein Flügel regiert brav mit SPD und
Grünen, der andere verbreitet Illusionen in eine sozialistische,
antikapitalistische Partei.

Die Beiträge zur „Strategiedebatte“, deren Ergebnisse in den
Parteitag im Juni einfließen, sollen vom 29. Februar bis 1. März in Kassel
diskutiert werden. Dort stehen auch Neuwahlen zum Bundesvorstand an. Laut
Satzung ist die Amtszeit der Vorsitzenden auf 8 Jahre begrenzt. Im März wollen
sich Kipping und Riexinger erklären. Dass sie die Satzung ändern wollen, um
persönlich im Amt zu bleiben, wäre nach den schlechteren Ergebnissen 2018
wirklich eine Überraschung. Allerdings scheint derzeit auch unklar, wer die
Nachfolge antreten soll. Rund um die verbliebene Sozialistische Linke wird die
Idee einer Urabstimmung nach SPD-Vorbild beschworen, wohl mit dem
Hintergedanken, so z. B. Wagenknecht wieder ins Rennen zu schicken.

Auch die Bewegungslinke hat sich schon zum nächsten Vorstand
geäußert. Schließlich ist Janine Wissler, Vizevorsitzende der Bundespartei und
Fraktionschefin im hessischen Landtag, durchaus bereit, „Verantwortung“ zu
übernehmen. Wenn sich denn der aktuelle Vorstand erklärt hat, so könnte die
„linke“ Strömung schnell zur Vorstandsströmung werden.

Inhaltlich brauchen sich die „RegierungssozialistInnen“ vor der Bewegungslinken ohnedies nicht allzu sehr fürchten. Auch wenn sie in ihrer Grundsatzerklärung richtig festhält, dass der bürgerliche Staat „Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens“ sichert, so darf der Verweis auf dessen positive Seiten nicht fehlen. „Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich.“

Folgerichtig lehnt die Bewegungslinke die Beteiligungen an
einer bürgerlichen Regierung nicht grundsätzlich ab. Nur „manche“ betonen das
Scheitern linker Regierungsbeteiligungen, während andere auf die
„Strategie  einer Reformregierung,
die mit dem Neoliberalismus bricht und sozial-ökologischeEinstiegsprojekte auf
den Weg bringen kann“, setzen.

Links*Kanax

Neben der Bewegungslinken hat sich im Juni 2019 auch ein neues Netzwerk, LINKS*KANAX, gebildet, welches vor allem MigrantInnen in der Partei sammeln will. Anlass war die Debatte um Migration und Zuwanderung in der Linkspartei, speziell um die Positionen von Wagenknecht, Lafontaine und „Aufstehen“.

LINKS*KANAX will die programmatischen Positionen von offenen
Grenzen, von Flüchtlingshilfe, von legaler Einreise, von Integration in der
Partei verteidigen.

Ferat Kocak, der mehrmals Ziel rechter Anschläge wurde,
gehört dieser Strömung ebenso an wie Kreise des Medienportals „Freiheitsliebe“.

Es ist bezeichnend, dass es nach 2015 in der Linkspartei
notwendig geworden ist, eine antirassistische Strömung zu gründen. Eigentlich
sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine „linke“ Partei klar für
den Schutz der Geflüchteten und für offene Grenzen steht. Allerdings zeigte das
Wagenknecht-Lager, dass auch bei ihm der Rechtsruck wirkt.

Linkspartei vor dem Parteitag

All dies wirft nicht nur ein Schlaglicht auf den Zustand der
Partei, sondern erklärt zumindest zum Teil, warum die Linkspartei von der Krise
der GroKo und der SPD nicht profitieren kann.

Außerdem ist bislang nicht absehbar, welcher neue Vorstand
die Partei führen soll. Der Lager- und Ost/West-Proporz, der zur Wahl von
Riexinger und Kipping führte, scheint nicht gesichert bzw. gibt es wohl auch
keinen Plan, wie der neue Vorstand die Partei führen soll.

Dahinter stehen weniger politisch-programmatische
Unterschiede oder Klärungen als rein machtpolitische, opportunistische
Erwägungen. Die verschiedenen reformistischen Führungszirkel zanken nicht
darum, ob sie die Partei – falls parlamentarisch irgendwie möglich – in eine
„linke“ Bundesregierung führen sollen, sondern nur über das Wie.

In dieser Lage braucht es freilich nicht auch noch eine
„Opposition“, die linke Illusionen in eine Reformierbarkeit der Partei und eine
links-reformistische Reformpolitik verbreitet. Ohne einen klaren Bruch mit dem
reformistischen, programmatischen Kern der Partei und einen organisierten Kampf
gegen die Führung, verkommt eine „linke“ Strömung zur Begleitmusik der
herrschenden Politik der Partei.




Debatte: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Rex Rotmann, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2009)

Obwohl 1989 untergegangen, ist die DDR
immer noch lebendig. In schöner Regelmäßigkeit, oft aus Anlass von Jahrestagen
oder wenn es darum geht, die PDS bzw. DIE LINKE zu attackieren, ist sie
Gegenstand von Skandalen oder mehr oder weniger seriösen Diskussionen. Meist
ist es das Thema „Stasi“, welches wie ein Damoklesschwert über jeder
Darstellung der DDR oder der Beschäftigung mit bestimmten Aspekten dieses
Staates schwebt. Bisweilen ist die Beschäftigung mit dem Erbe der DDR auch
seriöser, z. B. wenn es um das Bildungs- oder das Gesundheitswesen des
ersten deutschen ArbeiterInnenstaates geht, an denen man dann manchmal positive
Seiten entdeckt. Mitunter geht es einfach nur um Ostalgie.

In jüngster Zeit war das Jubiläum von 60
Jahren (west-)deutschem Grundgesetz einigen Leuten wieder einmal Anlass, eine
grundsätzliche „Charakterisierung“ der DDR vorzunehmen. Das Jubiläum des
Mauerfalls vor 20 Jahren sowie die aktuelle Krise, welche Probleme wie die
Verstaatlichung aufwarf oder ganz und gar den Kapitalismus in Frage stellte,
rückten die DDR erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Dass über die Demokratie-Frage erneut oder
immer noch so heftig diskutiert wird (oder zumindest die bürgerlichen Medien
darüber berichten), hat nicht etwa neue Erkenntnisse zur Ursache, sondern den
einfachen Umstand, dass die Demokratie der heutigen Bundesrepublik ins Gerede
gekommen ist. Die Wahlbeteiligung sinkt, die „Volks“parteien schwächeln, viele
demokratische Grundrechte wurden und werden unterhöhlt: das Asylrecht, das
Streikrecht, der Datenschutz usw. usf. Gründe genug also für die ApologetInnen
der bürgerlichen Demokratie, eifrig einen monströsen „Unrechtsstaat DDR“ zu
konstruieren, damit vor dessen finsterem Hintergrund die Bundesrepublik, deren
demokratischer Lack immer mehr abblättert, umso heller leuchtet.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die DDR
ein „Unrechtsstaat“ war. Dabei geht es natürlich nicht etwa darum zu betonen,
dass es in der DDR an wichtigen demokratischen Rechten (z. B.
Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit, Streikrecht usw. ) mangelte. Das
ist allgemein bekannt und wird höchstens noch von den allerdümmsten
StalinistInnen bestritten.

Es geht in der Debatte vielmehr darum zu
zeigen, dass die DDR im Vergleich zur BRD grundsätzlich undemokratischer war.
Die Frage der Demokratie, des „Rechtsstaats“ wird dabei zur zentralen, ja in
gewisssem Sinn zur einzigen Frage, um die es bei der Einschätzung der DDR geht.
Allein schon daran wird die idealistische Methode der Betrachtung deutlich.
Nicht etwa die Frage nach den materiellen, ökonomischen Verhältnissen, auf
denen sich rechtliche, politische u. a. Systeme gründen, ist von
Interesse, sondern die „Demokratie an sich“. Dass jedes Recht wie auch jede
Politik letztlich den (ökonomischen) Interessen einer Klasse dient, bleibt
dabei ausgespart. Doch immerhin setzt z. B. das Eigentumsrecht auch ein
handfestes Eigentum voraus, ohne das ein Gesetz einfach nur eine Fata Morgana
wäre.

Diese „Aussparung“ hat freilich Gründe. Einmal
lenkt man von der wesentlichen Frage des Eigentums an Produktionsmitteln ab,
zum anderen stellt man so die „Demokratie“ auch gleich als Wert an sich, als
Struktur dar, die sich scheinbar nur aus abstrakten Ideen ableiten würde. Doch
schon Marx postulierte, dass das Recht nie höher stehen könne, als die
materielle Basis, auf dem es sich erhebt.

Demokratie konkret

Ein Beispiel. Dass es in der DDR nur wenige
hundert RechtsanwältInnen gab, wird von einigen KommentatorInnen so
interpretiert, dass ein wichtiges Rechtsinstrument fast ganz fehlte.
Tatsächlich gibt es auch in Ostdeutschland inzwischen tausende, ja vielleicht
zehntausende RechtsanwältInnen. Doch ob es deren in der DDR nun zu wenige gab
oder nicht – die entscheidende Frage ist eine ganz andere: Warum musste es so
wenige geben? Die Antwort darauf ist relativ leicht, wenn man bedenkt, dass es
wesentliche Dinge, die eine/n Anwalt/Anwältin erfordern, nicht gab: erstens
konkurrierende PrivateigentümerInnen, die miteinander um ihr Eigentum oder
deren Verwertung streiten; zweitens einen Markt, der nach Verwertungskriterien
funktioniert. So waren Grund und Boden Volkseigentum oder – soweit privat –gab
es klare Regelungen, so dass niemand wie im Kapitalismus als MaklerIn mit
Immobilien Profit machen konnte. Dieses Fehlen so wesentlicher Merkmale des
Kapitalismus ist – ganz nebenbei – auch ein klares Indiz dafür, dass die DDR
kein Staatskapitalismus war.

Nach der „Wende“ konnten die
DDR-BürgerInnen mit der Wiedereinführung des Kapitalismus ganz hautnah erleben,
wie diese auch mit einer alles und alle erfassenden „Verrechtlichung“
einherging; jede Sache war plötzlich hoch kompliziert. So, wie die Konkurrenz,
wie „die Wirtschaft“, sich anarchisch hinter dem Rücken der AkteurInnen
durchsetzt, genauso spreizt sich die Demokratie vor unseren Augen.

Der „Rechtsstaat“ Bundesrepublik zeichnet
sich u. a. dadurch aus, dass er ein riesiges Gestrüpp von Regelungen,
Gesetzen, Institutionen kennt, um das Phänomen der Arbeitslosigkeit zu regeln
(Hartz IV-EmpfängerInnen würden eher sagen: um Arbeitslose zu schikanieren).
Soviel Juristerei gab es in der DDR dazu nicht. Da gab es tatsächlich einen
echten Mangel – an Lohnarbeitslosigkeit.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch
darauf hingewiesen, dass die Juristerei komplett unproduktive Arbeit darstellt.
Eine Gesellschaft, die sich davon eine Menge sparen kann – nicht, weil sie sie
willkürlich abschafft, sondern weil diese nicht mehr nötig ist –, ist dann
insofern eine produktivere. Dass die DDR in einigen Bereichen dazu fähig war,
zeigt, dass sie tatsächlich – trotz all ihrer riesigen stalinistischen
Verkümmerungen, ihrer bürokratischen Wucherungen und ihrer nationalbornierten
Kleinbürgerlichkeit – im Ansatz auch eine Gesellschaft des Übergangs zu einer
neuen Ordnung verkörperte. Diese Dimension des „Nicht mehr Brauchens“ steckt
schon in Marx´ Postulat, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein wird.

Welche Demokratie?

Ein Zweck der Unrechtsstaats-Debatte ist
(ob gewollt oder ungewollt) eine doppelte Verschleierung. Zum einen wird der
wahre Charakter der Demokratie im Westen vertuscht. Sie erscheint nicht als ein
spezifisches Instrument der Herrschaft der Bourgeoisie (neben anderen,
z. B. der Militärdiktatur oder des Faschismus), um deren Herrschaft zu
verhüllen. Auch die formelle Form dieser Demokratie wird nicht betrachtet,
geschweige denn kritisiert. So sind Gewählte weder jederzeit kontrollierbar
noch abwählbar. Das Gros des Staatsapparates ist nicht wählbar (Armee, Polizei,
BeamtInnen, RichterInnen usw.). Entscheidende Fragen der Gesellschaft wie die
Wirtschaft, das Privateigentum usw. stehen überhaupt nicht zur Wahl.

Doch auch die Demokratie der DDR wird
verschleiert, nämlich insofern, als sie als typisch für den
Sozialismus/Kommunismus dargestellt und deren Geschichte, die eben auch und vor
allem eine Geschichte der Verhinderung, ja Zerstörung alternativer Formen von
Demokratie durch den Stalinismus war, ausgeblendet wird.

Im Grunde hat schon Walter Ulbricht die
Demokratie gut beschrieben, als er einmal sagte: „Wir müssen alles in der Hand
haben und es trotzdem demokratisch aussehen lassen.“ Ulbricht meinte damit die
DDR, aber es würde auch auf die BRD perfekt passen. Wenn man die DDR-Demokratie
auf eine kurze Formel bringen wollte, könnte man sagen, dass sie zwei Seiten hatte.
Eine war die fast lückenlose Machtmaschine aus Stasi, Polizei, Bürokratie und
Partei. Trotzki bemerkte einmal durchaus zutreffend, dass der stalinistische
Staat in seiner Form (nicht in seiner Funktion!) dem faschistischen sehr
ähnlich ist. Die andere Seite bestand aus dem Torso einer bürgerlichen
Demokratie mit Parteien, Wahlen usw. Es ist bezeichnend, dass der Stalinismus
fast jede Form von direkter Massendemokratie, von Räten, Fabrikkomitees usw.
verbot oder zerschlug, jedoch keinen Aufwand scheute, seine aberwitzige
Karikatur von bürgerlicher Demokratie aufzupolieren.

ArbeiterInnendemokratie

Doch auch auf dem Boden der ehemaligen DDR
gab es Ansätze einer anderen Demokratie. Als nach 1945 die Nazis geflohen oder
verhaftet waren, nahmen die ArbeiterInnen es selbst in die Hand, die Betriebe
wieder aufzubauen und in Gang zu setzen. Das war ArbeiterInnenselbstverwaltung.
Doch es fehlte eine politische Führung, die diese Ansätze zu einem System von
geplanter Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle hätte weiterentwickeln können
oder wollen. So war es der sowjetischen Militäradministration (SMAD) möglich,
die Betriebe der realen Verfügungsgewalt der ArbeiterInnen wieder zu entwinden,
indem sie sie zu sowjetischem Eigentum erklärte, womit diese dann der Moskauer
Bürokratie unterstanden. Das war der erste, besondere Schritt Richtung
bürokratische Planwirtschaft, bei der die ArbeiterInnenklasse viel zu arbeiten,
aber wenig zu sagen hatte.

Auch wenn die KommentatorInnen alljährlich
des ArbeiterInnenaufstands in der DDR im Juni 1953 gedenken, wird fein
säuberlich ausgespart, dass es damals eben nicht nur um bürgerliche
„Demokratie“ ging, sondern viele Losungen und Forderungen dezidiert die direkte
Machtausübung der ArbeiterInnenklasse forderten und diese sich nicht nur auf
die politische Ebene bezogen wie die bürgerliche Demokratie, sondern auch und
gerade soziale Fragen und die Wirtschaft selbst betrafen.

Wenn die Urteile der Bürgerlichen über die
DDR meist nur fade sind, so erweist sich die Verteidigung der DDR durch viele
Linke – und nicht nur StalinistInnen! – nur als peinlich. Diese Linken glauben
ernsthaft, sie täten etwas Gutes, wenn sie zu beweisen suchen, dass die DDR
kein „Unrechtsstaat“, sondern durchaus demokratisch – und zwar im Sinne von
bürgerlich-demokratisch war.

Peinlich ist an diesen Verteidigungsreden
dabei weniger, dass es natürlich auch in der DDR in vielen Bereichen nicht ganz
so wenig Rechtsstaat gab, wie es in den Medien oft hingestellt wird. Peinlich
ist vielmehr, dass diesen Linken offenbar gar nicht in den Sinn kommt, dass zu
einer nichtkapitalistischen Gesellschaft ein bürgerlicher Überbau nicht
besonders gut passt.

Nein, diese Liberos/Liberas des Stalinismus
verteidigen die DDR, weil sie keine Vorstellung davon haben, welche
Staatsstruktur, welche Art von Demokratie der ArbeiterInnenstaat zu seinem
Gedeihen braucht. Sie glauben offenbar tatsächlich, dass solche bizarren
demokratischen Staffagen wie die Volkskammer, die Wahlen, die Nationale Front,
die vom Schnürboden des demokratischen Theaters DDR heruntergelassen worden
waren, verteidigenswert seien.

Diese linken „RechtsstaatlerInnen“ sind es
aber auch, die dann in Diskussionen, in Bündnissen und in realen Konflikten im
Klassenkampf jede Forderung nach ArbeiterInnenkontrolle, nach direkter Wähl-
und Abwählbarkeit von Streikkomitees usw. ablehnen. Dort, wo
ArbeiterInnendemokratie anfängt, hört bei diesen Leuten das Denken auf.

Wenn es einen zentralen Widerspruch in der
DDR gab, dann jenen, dass die bürgerliche Form des Staatsapparates völlig
unvereinbar war mit den Entwicklungsbedürfnissen einer nichtkapitalistischen
Gesellschaft. Die Bourgeoisie in der DDR war enteignet, doch an deren Stelle
als bestimmendes Subjekt der Gesellschaft trat nicht die ArbeiterInnenklasse,
sondern eine bürokratische Kaste. Sie musste durch eine politische Revolution
der ArbeiterInnenklasse gestürzt werden. Das gelang – trotz mehrerer Versuche
in den Ostblockstaaten – leider nicht.

Wenn MarxistInnen die DDR verteidigen, dann
verteidigen sie deren soziale Errungenschaften – nicht die stalinistische
Bürokratie, die das Land geknebelt, die den Weg der internationalen Revolution
verlassen und die Straße zum Kommunismus blockiert hat. Die Bürokratie und ihre
beschränkten reaktionären Ideen sind historisch gescheitert – verschwunden sind
sie noch nicht. Sie fristen in der DKP oder der MLPD weiter ein kümmerliches
Dasein; jene, die einst die zweite und dritte Reihe der SED-Bürokratie
stellten, dominieren heute die Linkspartei. Sie haben sich etabliert, eine neue
Welt etablieren sie nicht mehr.

Systemalternative

Die Weltwirtschaftskrise hat viele Menschen
dazu animiert, den Kapitalismus als alternativlose Normalität in Frage zu
stellen. Die zaghaften Erwägungen der Regierung, marode Betriebe eventuell zu
verstaatlichen, haben andererseits aber auch Konservative dazu gebracht, Zeter
und Mordio ob dieser drohenden „Einführung des Sozialismus“ zu schreien.

Die schweren Turbulenzen der
Weltwirtschaft, ja die Gefahr des Zusammenbruchs des ganzen Ladens haben die
Frage nach einer Systemalternative erneut angefacht. Insofern soll die
„Unrechtsstaatsdebatte“ auch in dieser Hinsicht eine klare Botschaft
vermitteln: Staatseigentum und Planwirtschaft haben schon einmal nicht
funktioniert, sind also Teufelswerk.

Natürlich: Unterm Strich hat die Wirtschaft
der DDR und der anderen stalinistischen Länder nicht gut genug funktioniert, um
die Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend zu befriedigen. Und sie war schon
gar nicht dem Westen – genauer: den führenden imperialistischen Ländern – überlegen.
Doch daraus den Schluss zu ziehen, dass Staatseigentum und Planung per se nicht
funktionieren würden, ist falsch.

Falsch ist an der Kritik zunächst einmal,
dass nicht hinterfragt wird, wie das Staatseigentum konkret aussah und wie die
Planung funktionierte.

Gemäß Marx und allen anderen großen
MarxistInnen sind es im ArbeiterInnenstaat bzw. im Sozialismus die
ProduzentInnen und KonsumentInnen, also das Proletariat, das die Produktion
kontrolliert, organisiert und plant. Dazu braucht es Strukturen wie Räte,
Betriebskomitees, Gewerkschaften, Kontrollorgane usw.

In den stalinistischen Ländern gab es
solche Organe nie oder sie wurden bewusst zerstört oder ihres sozialen Inhalts
beraubt. Die Steuerung der Wirtschaft oblag einer bürokratischen Schicht, deren
Entscheidungen nicht transparent, diskutierbar oder gar änderbar waren. Auf der
Ebene der Verteilung von Ressourcen funktionierte diese Planung aber durchaus
nicht so schlecht; doch sie erwies sich als zunehmend hilflos, als es darum
ging, technische Innovationen zu fördern und in die Produktion zu überführen.
Das Wissen, die Erfahrungen der ArbeiterInnen, also der am engsten mit der
materiellen Produktion verbundenen Klasse, konnten so nicht zur Wirkung kommen.
Die permanente Gängelung und Bevormundung durch die Bürokratie, das Fehlen
offenen gesellschaftlichen Meinungsstreits führten zudem zu einer immer größer
werdenden Entfremdung der Klasse von dem Eigentum, das ihnen angeblich gehörte.

In der DDR wurde die Bourgeoisie entmachtet
–durchaus entgegen der ursprünglichen strategischen Zielsetzung Stalins, in
Mittel- und Osteuropa eine „neutrale“ Pufferzone zum Westen zu etablieren. Der
Stachel des Profitmachens war als zentraler Motor des Wirtschaftens eliminiert,
die Bourgeoisie als herrschende Klasse gestürzt worden. Doch der eigentliche
Antrieb, die eigentliche Quelle des Wirtschaftens, ja überhaupt allen
gesellschaftlichen Handelns im ArbeiterInnenstaat – die Bedürfnisse der
ArbeiterInnenklasse bzw. der Massen – wurden nicht zum Stachel der neuen Gesellschaft.
Diese Rolle des „Motors“ der Entwicklung übernahm die Bürokratie – ohne ihr
gerecht werden zu können.

Die Entmachtung, die Fesselung der
ArbeiterInnenklasse als sozialer Kraft bedeutete, dass die DDR immer mehr
verkrustete, erlahmte und schließlich – implodierte, letztlich weil das
revolutionäre Subjekt der Veränderung und des Übergangs zum Sozialismus
systematisch an der Bildung revolutionären Klassenbewusstseins gehindert wurde
– und, solange die Bürokratie herrschte – daran gehindert werden musste.

Nicht „das Staatseigentum“, nicht „die
Planung“, sondern deren stalinistische, bürokratische Formen und Methoden haben
nicht funktioniert. Dazu kam u. a. , dass die internationale Kooperation
und  Arbeitsteilung im Ostblock
aufgrund der Eigeninteressen der nationalen Bürokratien und der
Vormachtstellung Moskaus ein niedrigeres Niveau hatten als der kapitalistische
Weltmarkt.

Perspektive

Trotzki, die Linksopposition und später die
IV. Internationale hatten schon seit den 1920er Jahren die Fehlentwicklungen
des aufsteigenden Stalinismus kritisiert und für eine revolutionäre und
arbeiterInnendemokratische Alternative gekämpft. Gestützt auf diese Tradition
und bereichert durch die Erfahrungen unter dem Stalinismus haben wir heute ein
deutlich klareres Bild davon, welche Gefahren der Entwicklung eines
ArbeiterInnenstaates drohen, aber auch, welche großartigen Möglichkeiten eine
demokratische Planwirtschaft der Welt zu bieten hat. Angesichts der Krise und
der durch den Kapitalismus immer größer werdenden globalen Probleme der
Menschheit verbietet es sich fast, von einer Möglichkeit zu reden – die
Planwirtschaft ist eine existenzielle Notwendigkeit für die Menschheit.

Gerade die Tatsache, dass die DDR kein
kapitalistischer Staat mehr war, sondern eine Übergangsgesellschaft, deren
Fortschreiten zum Sozialismus jedoch durch die Herrschaft einer bürokratischen
Kaste strukturell blockiert war, verweist darauf, dass die Begriffe
„Rechtsstaat“ oder „Unrechtsstaat“ höchst untauglich sind, die Verhältnisse des
Landes zu erfassen.

Natürlich war die DDR, wie jeder Staat,
einer, der unterdrückt. Aber er – war 
und daran muss eine marxistische Kritik der DDR ansetzen – ein Staat der
Unterdrückung nicht nur jeder Opposition, sondern der ArbeiterInnenklasse.

Ist die BRD deshalb ein Rechtsstaat? Aber
ja. Doch was bedeutet das schon?

Der Begriff des „Rechtsstaats“ wurde im
Kampf gegen die feudale Aristokratie entwickelt und fand Eingang in die
Verfassungen der bürgerlichen Staaten, insbesondere in die US-Verfassung. Die
Staatsgewalt sollte als „Herrschaft des Gesetzes“ verstanden werden, nicht als
die eines/r MonarchIn oder DespotIn. Das Gesetz habe „über allem zu stehen“.

Natürlich war das immer eine Ideologie,
welche die realen Verhältnisse verschleiert und auf den Kopf stellt. Bequem
konnten die „Rechtsstaaten“ so auch mit der Sklaverei leben. Vor allem aber
blendet die Vorstellung vom Rechtsstaat die ökonomischen Grundlagen der
Gesellschaft aus.

Die bundesdeutsche Demokratie ist hohl und
heuchlerisch. In Wahrheit ist die Macht des Kapitals brutaler, größer und
folgenreicher als die aller Stasi-Generäle zusammen. Das ist die Realität des
heutigen „Rechtsstaats“. Einen Grund, ihn zu glorifizieren, ihm etwa
„sozialistisch“ nachzueifern, gibt es nicht. Im Kapitalismus in der Krise, in einer
Gesellschaft des Niedergangs werden auch die „demokratischen“ Rechtsformen
nicht mehr zur humanitären Blüte gelangen.

Trotzdem, oder gerade deshalb müssen auch
RevolutionärInnen, ja alle aufrechten DemokratInnen und klassenbewussten
ArbeiterInnen jede demokratische Errungenschaft gegen die Angriffe von Schäuble
und Co. verteidigen. Aber nicht, weil wir einer Fiktion huldigen und
irgendwelchen „Idealen“ des Rechtsstaats nachfeiern, sondern weil wir unsere
Kampfbedingungen verteidigen müssen.

Wenn derzeit wieder über die „Wende“ in der
DDR von 1989/90 geredet wird, dann wissen wir: der Kapitalismus hat seine Wende
noch vor sich. Dann wird es nicht um einen halben Sozialismus in einem halben
Deutschland gehen, sondern um die internationale sozialistische Revolution.
Wenn es stimmt, dass jede Generation ihre revolutionäre Möglichkeit bekommt,
dann ist die Zeit 20 Jahre nach der „Wende“ reif …