17. Juni 1953: Aufstand der Arbeiter:innen

Jürgen Roth, Infomail 1226, 18. Juni 2023

Auf der 2. Konferenz der SED im Juli 1952 wurde der „Aufbau des Sozialismus“ proklamiert: Forcierung der Schwerindustrie, Kollektivierung der Landwirtschaft und Aufbau der Nationalen Volksarmee. Daraufhin auftretende Engpässe bei Konsumgütern wurden zunächst dem Privatsektor angelastet. Dann senkte die Partei- und Staatsführung aber auch den Lebensstandard der Arbeiter:innen u. a. durch Preiserhöhungen, Senkung der Sozialversicherungsleistungen und Streichung von Subventionen. Das Kleinbürger:innentum flüchtete verstärkt in den Westen.

Am 9.6.1953 vollzog die SED dann eine Kehrtwendung. Der „Neue Kurs“ brachte große Zugeständnisse an Bürger:innentum und Mittelklassen: günstige Kredite, mehr Bewegungsspielraum für bürgerliche Parteien und Kirche, teilweise Rückgabe von Fabriken an die alten Besitzer:innen, Lockerung der Abgabepflicht für die Bäuer:innenschaft, Recht auf Austritt aus der LPG.

Die Arbeiter:innenklasse dagegen wurde durch Normerhöhung und Teuerung zusätzlich belastet. Ein Regierungsdekret vom 28. Mai verfügte neue Akkordsätze für die Bau- und Metallindustrie. Die Kampagne der SED für „freiwillige“ Normerhöhung traf auf erbitterten Widerstand besonders der Berliner Bauleute, die trotz freiwilliger Einsätze ihr Soll nur zu 77% erfüllt hatten.

Eine Resolution der Großbaustelle Stalinallee an „ihre“ Regierung zur Zurücknahme der Steigerungen wurde nicht beantwortet. Die am 15. in den Streik getretenen Berliner Baustellen verlangten von Grotewohl die Rücknahme der Normenerhöhung. Dem schloss sich am 16. die Stalinallee an, nachdem ein Artikel im Gewerkschaftsorgan „Die Tribüne“ die Akkordsteigerung energisch verteidigte. Nach der Verhaftung zweier Streikender wurde beschlossen, die tags zuvor verabschiedete Resolution Ulbricht und Grotewohl zu überbringen. 6000 Leute vor dem Haus der Ministerien warteten jedoch vergeblich auf sie.

Ein Sprecher verlas die Forderungen: „Sofortige Verringerung der Normen um 10%! Sofortige Preissenkung für den Grundbedarf um 40%! Entlassung der Funktionäre, die schwere Irrtümer begangen haben. Demokratisierung von Partei und Gewerkschaften von unten. Man soll nicht auf die Initiative der Bonner Regierung zur Wiedervereinigung warten. Die DDR-Regierung soll umgehend die trennenden Barrieren niederreißen. Man muss das Land durch allgemeine, freie und geheime Wahlen einigen und einen Sieg der Arbeiter bei diesen Wahlen sichern.“

Ein anderer Arbeiter rief den Generalstreik für den folgenden Tag in ganz Berlin aus. Eine Delegation zum Westberliner Rundfunksender RIAS konnte zwar ihre Forderungen bekannt geben, durfte aber nicht den Generalstreik erwähnen!

Generalstreik

Am folgenden Tag streikten ca. 150.000 Beschäftigte in Ostberlin. 30.000 forderten im Walter Ulbricht-Stadion den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung, welche die Sache der Wiedervereinigung den Händen der Reaktion entreißen und praktisch durchführen soll. Die Streikenden wahrten bewundernswerte Disziplin. Das änderte sich mit dem Eindringen reaktionärer Provokateur:innen aus dem Westteil; sie holten die rote Fahne vom Brandenburger Tor, provozierten die Volkspolizei und brandschatzten am Potsdamer Platz.

Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Obwohl Panzer rollten, leerten sich die Straßen erst abends. Nach verschiedenen Quellen gab es 16 bis 19 Tote. Einige Betriebe streikten trotzdem noch bis zum 21. Juni.

Im übrigen Land gingen Streiks und Solidaritätsbekundungen von den Großbetrieben der Industriezentren aus, die schon 1919-23 die Hochburgen der KPD und KAPD waren: Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leipzig. Aber auch in Jena, Görlitz, Erfurt, Gera, Brandenburg und Rostock fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, wurden SED-Büros gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. Sozialdemokratische Illusionen drückten sich in Parolen aus wie „Fort mit Ulbricht und Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer“ (damaliger SPD-Vorsitzender).

Entgegen der westlichen Propagandalüge war der 17. Juni kein Volksaufstand für die Eingliederung der DDR in den „Freien Westen“, aber auch kein faschistischer Umsturzversuch, wie es die SED behauptete. Er war ein im Kern ein Arbeiter:innenaufstand. Nicht zufällig bildeten die strategisch bedeutsamen Grundstoff- und Schwerindustrien die Zentren des Widerstands.

Der erste unabhängige Schritt der Belegschaften bestand in der Einberufung von Versammlungen, oft noch auf dem „Dienstweg“ über die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL). Dann bestimmten sie ein unabhängiges Streikkomitee. Die Streikausschüsse setzten zumeist die Direktor:innen ab, lösten die SED-Betriebszelle auf, sicherten die Betriebe gegen Sabotage und organisierten den Notdienst.

Die klassenbewussteste Belegschaft im ganzen Land war wohl die des Leuna-Werks „Walter Ulbricht“, die am 17.6. forderte: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung des Werkschutzes, Absetzung der BGL, Namensänderung des Werks und Rücktritt der Regierung. Das Werk war besetzt, ein Fabrikkomitee gab Informationen und Anweisungen übers Radio. 1500 Betriebsangehörige wurden nach Berlin entsandt, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Der Streik dauerte trotz zahlreicher Verhaftungen bis zum 23.

Im Industriedreieck Halle – Bitterfeld – Merseburg waren die Doppelherrschaftsorgane am weitesten entwickelt und umfassten neben der Industriearbeiter:innenschaft auch andere Teile der Bevölkerung: Angestellte, Kaufleute, Hausfrauen, Student:innen. Sie wurden teilweise auf öffentlichen Plätzen durch Zuruf gewählt, nahmen die Verwaltung in ihre Hände: Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Feuerwehr, Lokalrundfunk, Druckereien.

In Bitterfeld kontrollierten Kampfgruppen der Arbeiter:innen die Stadt, schalteten Polizei und Verwaltung aus und befreiten politische Gefangene. Trotz dieser guten Ansätze entwickelte sich in der kurzen Zeit aus dem spontanen Generalstreik keine landesweite Kampfführung.

Instinktiv hatten die Arbeiter:innen aber begriffen, ihre Bewegung auf ganz Deutschland ausweiten zu müssen. Deshalb wurde der Generalstreik auch für Gesamtberlin ausgerufen!

Dem Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski wurde verboten, zum Solidaritätsstreik aufzurufen, ja das Wort auch nur in den Mund zu nehmen! Bourgeoisie, westliche Stadtkommandanten und sozialdemokratische Arbeiter:innenbürokratie in Partei und Gewerkschaft fürchteten eine Ausweitung des Streiks wie der Teufel das Weihwasser. Solidaritätsbekundungen, wie von der Sozialistischen Jugend und einigen Betrieben gefordert, wurden verboten. Nur BRD-staatstragende Protestversammlungen gemeinsam mit den Westalliierten, CDU und FDP erlaubt.

Auswirkungen

Die SED übte nach den Juniereignissen „Selbstkritik“ und senkten die Normen um 10%. Die meisten Gefangenen wurden entlassen; Wohnungsbau und Konsumgüterindustrie erhielten Ressourcen aus dem Schwerindustriefonds. Formal gestand der Justizminister sogar das Streikrecht zu.

Trotzdem forderten die Arbeiter:innen weiter die Absetzung bestimmter Funktionäre. Mit dem Vorwurf des „Sozialdemokratismus“ wurden viele Parteimitglieder ausgeschlossen. Wie lügnerisch dieser ist, kann man daran sehen, dass die „Abweichlerzentren“ ehemalige KPD-Hochburgen waren. Der Anteil ausgeschlossener SEDlerinnen, die bereits vor 1933 in der KPD organisiert waren, betrug in Halle 71%, in Leipzig 59%, 52% in Magdeburg, 68% in Ostberlin, 61% in Bautzen!

Paradoxerweise rettete der Generalstreik das Regime Ulbrichts und kostete seine Konkurrenten (Herrnstadt, Zaisser u. a.) ihre Posten. In der UdSSR stürzte Berija. Die sowohl utopischen wie reaktionären Deutschlandpläne der SU, die den degenerierten Arbeiter:innenstaat DDR zugunsten eines wiedervereinigten bürgerlichen, aber blockfreien Deutschland opfern wollten, waren danach ebenfalls vom Tisch.

Die revolutionäre Situation, die der Arbeiter:innenaufstand schuf, konnte aufgrund des Fehlens einer revolutionären trotzkistischen Arbeiter:innenpartei nicht in eine politische, antibürokratische Revolution münden. Sie war aber Signal für die Arbeiter:innen anderer „Volksdemokratien“: 1953 in Workuta (UdSSR), 1956 in Ungarn, Polen und der CSSR, 1968 wiederum in der CSSR, 1970, 1976 und 1980/81 in Polen sowie ab 1989 in ganz Osteuropa und der UdSSR bedrohten Unruhen, Aufstände und Revolutionen die Herrschaft der stalinistischen Kaste.

Die Ereignisse von 1989 zeigten, dass deren Stabilität viel geringer als die einer Klasse ist, weil sie kein eigenes soziales Fundament und darauf begründete politische Legitimation besitzt. In ihrer Rolle als politische Agentur des Weltimperialismus innerhalb der degenerierten Arbeiter:innenstaaten verteidigte sie deren Grundlagen nur auf Kosten des Verrats an der internationalen Revolution, der Unterdrückung der eigenen Arbeiter:innenklasse und nur solange, wie sie die Privilegien der Nomenklatura garantierten.

Aktionsprogramm

Ein kommunistisches Aktionsprogramm für die Situation 1953 musste auch die Frage der Wiedervereinigung beantworten. In der DDR hatte bereits eine soziale Umwälzung stattgefunden, wenn auch unter der Knute einer stalinistischen Bürokratie. Wiedervereinigung bedeutete folglich, unter keinen Umständen eine bürgerlich-kapitalistische Wiedervereinigung zuzulassen. Das lag aber auch nicht in der Absicht der Streikenden. Allerdings gab es auch demokratische Illusionen nach freien Wahlen in der Arbeiter:innenklasse der DDR. Die Forderung nach einer revolutionären verfassunggebenden Versammlung, die sich auf die Räte und Streikkomitees stützt und eine Planwirtschaft unterstützt, wäre eine zentrale Losung gewesen. Die Ausdehnung der Komitees auf Westdeutschland war Voraussetzung einer revolutionären Wiedervereinigung.

Abgesandte Delegierte der Streikkomitees zu den Westberliner Betrieben, um Versammlungen abzuhalten, gewerkschaftliche Aktionseinheit und Verbindungskomitees für einen Generalstreik von unten, gekoppelt mit Aufrufen an Gewerkschafts- und SPD-Führung den Streik zu führen, entschädigungslose Verstaatlichung der Schwerindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Abzug der alliierten Besatzungstruppen der NATO hätten zentrale Forderungen sein müssen. Der Sturz Adenauers und Ulbrichts müsste in der Losung nach einer Arbeiter:innenregierung, gestützt auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse, kulminieren. Die Schaffung einer revolutionären Partei stand in dieser Situation unmittelbar auf der Tagesordnung.




60 Jahre Bau der Berliner Mauer – Ein Monument der Bürokratie

Bruno Tesch, Infomail 1158, 13. August 2021

28 Jahre lang stand die Berliner Mauer – geschichtsträchtig wie nur wenige Bauwerke. Sie war eine Manifestation der besonderen Art, wie der Stalinismus Probleme zu lösen pflegte und dabei die Interessen der ArbeiterInnenklasse – in beiden Teilen Deutschlands – verriet. Der Mauerbau war ein Glied in der Kette bürokratischer Maßnahmen, die letztlich auch die Grundlagen des ArbeiterInnenstaats DDR und desssen Entwicklung untergruben, auch wenn die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 ihn zunächst zu retten schien.

Die Politik der SED folgte von Anfang an den Interessen der UdSSR-Bürokratie. Deren Blockade Berlins 1948 als Reaktion auf den Bruch des Vier-Mächte-Abkommens der Alliierten durch die Einführung einer westlichen Separatwährung erwies sich nicht nur als Desaster, sondern führte auch dazu, dass die Westmächte als Garanten für die Versorgung der Berliner Bevölkerung aufgewertet wurden. Mit der US-Luftbrücke wurde Stalins Berlin-Blockade zur Luftnummer.

Der „real existierende Sozialismus“ und die Gründung der DDR 1949 waren nicht auf die demokratische Diskussion, Organisierung und Aktion der Lohnabhängigen gegründet, sondern Abwehrreaktionen der stalinistischen Bürokratie auf die von den USA vorangetriebene Westintegration. Die (verspätete) bürokratische Enteignung der Kapitalisten als Klasse sowie die politische Entmündigung bewirkten, dass die ArbeiterInnenklasse die DDR nicht oder kaum als „ihren Staat“ begriff. Dieses Dilemma zeigte sich dann 1989 besonders deutlich, als Millionen ArbeiterInnen schließlich die Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft begrüßten – wenngleich sie damit verschiedene soziale Illusionen verbanden.

Die DDR litt – wie ganz Osteuropa – immer daran, dass die ArbeiterInnenklasse von der direkten Machtausübung ausgeschlossen war, dass sie keine Rätestrukturen hatte und der Staatsapparat daher der Form nach ein bürgerlicher war, obwohl er zugleich der Verteidigung der Planwirtschaft – allerdings mit bürokratischen Methoden – diente.

Der Aufstand vom Juni 1953

Der ArbeiterInnenaufstand in der DDR 1953 war eine Chance, die bürokratische Herrschaft zu zerbrechen. Doch er wurde von den StalinistInnen unterdrückt und von den westdeutschen ReformistInnen in SPD und Gewerkschaften bewusst hintertrieben. Beide opferten auf unterschiedliche Weise die revolutionäre Dynamik zugunsten ihrer Einfluss- und Machtinteressen.

Auslöser für den Aufstand waren wirtschaftliche Pressionen, u.a. Normerhöhungen. Doch die Bewegung der ArbeiterInnen stellte auch rasch politische Forderungen gegen die SED- Bürokratie auf und sandte Appelle an ihre Klassengeschwister im Westen, dort die KapitalistInnen zu stürzen. Die deutsche Teilung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so stark im Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse verankert. Aber die Schere zwischen BRD- und DDR-Wirtschaftsentwicklung begann sich schon zu öffnen. Das resultierte 1. aus der Unterbrechung innerdeutscher wirtschaftlicher Beziehungen (von westlicher Seite!), 2. aus der kontraproduktiven Demontagepolitik der UdSSR in ihrem Hoheitsgebiet und 3. aus der wachsenden Demotivierung der ArbeiterInnen aufgrund der bürokratischen Bevormundung.

Doch als ab Mitte der 50er Jahre die DDR ökonomisch immer weiter der BRD hinterher hinkte, brach sich die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR schon nicht mehr in politischen Kämpfen gegen das Regime Bahn, sondern als „Abstimmung mit den Füßen“: eine gewaltige Fluchtwelle in die Bundesrepublik setzte ein. Die Reaktionen des Regimes darauf waren zunächst ebenso politisch hilflos wie typisch bürokratisch. Mit den geänderten Passgesetzen von 1956 wurde der Straftatbestand der „Republikflucht“ eingeführt und in der Folge verschärft angewendet. Westreisen mussten genehmigt werden, ihre Zahl sank von 2,5 Millionen (1956) auf 700.000 (1958).

Eine „Aufklärungskampagne“ gegen die Westflucht wurde im selben Jahr von Regime-Chef Ulbricht folgendermaßen begründet: „Vor allem ist es notwendig, den Menschen zu erklären, warum das System des militaristischen Obrigkeitsstaats (gemeint ist die BRD, B.T.) keine Zukunft hat und warum die Erhaltung des Friedens die Stärkung der DDR erfordert und deshalb kein Arbeiter, kein Angehöriger der Intelligenz, kein Bauer aus kleinlichen wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen in den Westen ziehen darf.“

Dass den meisten ihre „kleinlichen wirtschaftlichen Gründe“, zumal im Westen relativ problemlos greifbar, näher waren als die „Erhaltung des Weltfriedens“, d.h. die Stabilisierung des stalinistischen Regimes, musste bald auch die DDR-Führung einsehen.

Im Sommer 1961 schwoll der Flüchtlingsstrom rasant an. Allein 150.000 Neuaufnahmen meldeten sich in den Auffanglagern in Westberlin. Nach dem Aderlass vornehmlich an Fachkräften gehobener Qualifikation wie ÄrztInnen, LehrerInnen oder IngenieurInnen verließen nun auch viele BäuerInnen, nachdem sie bis 1960 zwangskollektiviert worden waren, das Land. Alle Wirtschaftszweige waren gefährdet. Die BRD-Politik und die westlichen Medien ließen natürlich keine Gelegenheit aus, die ökonomische Überlegenheit des Kapitalismus heraus zu stellen und alle vergesellschafteten Errungenschaften des ArbeiterInnenstaats, z.B. Betriebskinderkrippen, Polikliniken usw. als wider die menschliche Natur zu diffamieren.

Die einzige Antwort, die den stalinistischen Bürokraten einfiel, waren Maßnahmen, die weniger den Klassenfeind trafen, sondern sich gegen die eigene Bevölkerung richteten: Einschüchterung, Verschärfung des Strafrechts und Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Es kam sogar zu Zwangsumsiedlungen in grenznahen Gebieten zur BRD. Die Grenzanlagen wurden immer weiter ausgebaut.

Die Schwachstelle aber blieb Berlin, das dem Alliiertenrecht unterstand und deren Mächte den Grenzverkehr regelten. Die Berliner Westsektoren diente dem Imperialismus als kapitalistisches Hochglanz-Schaufenster und propagandistischer Brückenkopf mit dem Rundfunksender RIAS und der Springerpresse, von dessen Hochhaus Tag und Nacht Nachrichtenbänder in Leuchtschrift liefen.

Die DDR-Staatsführung stand mit dem Rücken zur Wand; sie handelte am frühen Sonntagmorgen des 13. August 1961, als die Geheimaktion „Operation Rose“ anlief. Bautrupps, gesichert von Einheiten der Nationalen Volksarmee, sperrten zunächst die wichtigsten Verbindungswege an den Sektorengrenzen Berlins, später wurden Häuser- und Fensterfronten zugemauert. Anders als 8 Jahre zuvor war das politische Widerstandspotenzial in der DDR-Bevölkerung jetzt nur noch vereinzelt vorhanden oder hatte resigniert. Die reale Teilung und die Erfahrungen des gescheiterten Aufstands 1953 hatten tiefe Spuren hinterlassen.

Der Mauerbau verschaffte dem Regime eine Erholungspause, um sich wieder festigen zu können. Zugleich markierte er auch eine Abkehr der DDR-Spitze von einer gesamtdeutschen Konzeption, ließ die nationale Frage aber gleichwohl ungelöst. Die Mauer war das Sinnbild für eine erzwungene Teilung Deutschlands. Im Bewusstsein der Massen war es immer mit dem Makel behaftet, das hässliche Antlitz eines „Unrechtsstaats“ zu repräsentieren, der seine Bevölkerung einkerkert und diejenigen inhaftiert oder tötet, die ihm entfliehen wollen.

Wie hätten sich RevolutionärInnen zum Mauerbau verhalten?

Die Frage wird heute innerhalb der Linken kaum gestellt. Die ParteigängerInnen des Stalinismus u.a. Strömungen verteidigen den Mauerbau als notwendig, auch wenn ihnen die Form vielleicht Missbehagen bereitet. Sie entblöden sich dabei oft nicht, die Ulbrichtsche offizielle Lesart vom „antifaschistischen Schutzwall“ und der „friedenserhaltenden Maßnahme“ gegen „permanente Wühltätigkeit feindlicher Agenten und unmittelbar bevorstehendem Einmarsch von NATO-Truppen“ zu übernehmen.

Natürlich war der Mauerbau v.a. Ergebnis der Unvereinbarkeit zweier Gesellschaftsformationen in einem Land. Dass es aber überhaupt zu dieser Situation kam, war der antirevolutionären Politik der StalinistInnen wie der SPD geschuldet, die die Enteignung der Bourgeoisie und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates in ganz Deutschland verhindert haben. Jede selbstbestimmte Form von Organisierung bzw. Übernahme von Macht durch die ArbeiterInnenklasse wurde blockiert oder bürokratisch „entschärft“. Das Ergebnis war ein de facto schon zweigeteiltes Deutschland lange vor dem Mauerbau: ein kapitalistischer Westen und ein degenerierter ArbeiterInnenstaat im Osten.

RevolutionärInnen mussten natürlich die DDR als historisch „höher“ stehende Gesellschaftsstruktur verteidigen – nicht deren bürokratische Übel, sondern deren soziale Tugenden, v.a. aber die von der Bürokratie blockierten sozialen Entwicklungspotentiale. Nachdem die StalinistInnen sich selbst in das Dilemma manövriert hatten, dass die DDR gegenüber der BRD in der Entwicklung nachhinkte und die Leute massenhaft weg wollten, war der Mauerbau nach ihrer Logik als „letzte“ Maßnahme notwendig.

Die SED argumentierte nach dem Mauerbau u.a., dass diese auch den ökonomischen Zweck hatte, die Ausnutzung subventionierter Waren und sozialer Leistungen durch die vielen Ost-West-Pendler zu verhindern. Zweifellos war das ein Problem, das jedoch hätte auch anders behoben werden können, z.B. durch den Abbau der Subventionen und die Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen im selben Maße.

RevolutionärInnen hätten – mit dem Fakt der Mauer konfrontiert – natürlich nicht einfach für deren Abriss plädiert. Sie hätten aber sehr wohl gegen das Grenzregime u.a. represssive bürokratische Regelungen polemisieren müssen. V.a. aber hätten sie auf die tieferen Ursachen für deren Entstehen verweisen und für die Revolution in ganz Deutschland eintreten müssen – für die soziale Revolution in der BRD und die politische Revolution in der DDR. Die Mauer wäre letztlich nur dann überflüssig geworden, wenn die DDR bzw. der „Sozialismus“  attraktiver geworden wäre. Dazu wäre es aber notwendig gewesen, die Bürokratie mittels einer politischen Revolution zu stürzen.

Der Bau der Mauer war, obwohl sie kurzfristig eine Stabilisierung der DDR bewirkte, kein Sieg, sondern eine Niederlage der ArbeiterInnenbewegung in Ost und West. Es hätte eine öffentliche Kampagne geführt werden müssen mit Aufrufen an alle ArbeiterInnenorganisationen in Ost und West, diese Maßnahme zu diskutieren und die Frage zu stellen, wie die Grundlagen eines wirklich demokratischen ArbeiterInnenstaats geschaffen und gesichert werden können.

Im Herbst 1989 haben sich historisch zwei Dinge bestätigt: 1. ist eine grundlegende Änderung der Verhältnisse ohne Revolution – und die „Wende“ im Herbst 1989 war der Beginn einer politischen Revolution, die jedoch auf halbem Weg stehenblieb – unmöglich; 2. konnte auch die Mauer die DDR nicht davor bewahren, an ihren stalinistischen Geburtsfehlern zu Grunde zu gehen.

Ein halber Sozialismus in einem halben Land im Schatten der Mauer konnte auf Dauer nicht überleben. Der Sozialismus ist international oder gar nicht!




30 Jahre Wiedervereinigung – kein Grund zum Feiern

Martin Suchanek, Referat beim Live-Steam der Gruppe ArbeiterInnenmacht vom 15.10.2020

2020 blieben uns wegen der Pandemie inszenierte Einheitsfeiern weitgehend erspart. Die Festreden der Herrschenden und des politischen Establishments, die es natürlich trotzdem vom Bundespräsidenten abwärts gab, verbreiteten dabei ihre Sicht auf die Wiedervereinigung.

Die Einheit wäre insgesamt eine tolle Sache. Bundespräsident Steinmeier schlug sogar eine Gedenkstätte vor. Leider hatte sie, wie alles im Leben, ihre Schattenseiten v. a. für die Menschen aus der ehemaligen DDR. Die soziale Einheit wäre noch immer nicht ganz vollzogen, aber sie würde schon kommen. So oder ähnlich lautet die offizielle Linie der deutschen Politik – und so oder ähnlich lautete die offizielle Bilanz der kapitalistischen Wiedervereinigung auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.

Die Schattenseiten des Prozesses werden zwar erwähnt. Sie trüben freilich nicht das Licht der Einheit.

So verkündete auch 2020 Frank-Walter Steinmeier, dass wir „in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“, leben würden. „Wir seien Glückskinder Europas“.

Wer ist aber dieses „Wir“? Alle offiziellen, staatstragenden Reden über die Wiedervereinigung kennen, auch wenn sie mehr oder weniger willig die sozialen Verwerfungen des Prozesses anerkennen, keine Klassen. Sie kennen allenfalls Ost und West, das irgendwie zusammenwächst. Im Zentrum steht das nationale WIR, ein Deutschland, das vom  gesellschaftlichen Grundwiderspruch oder von der imperialistischen Weltordnung nichts wissen will, sondern nur noch seine Glückskinder kennt.

Bei vielen will sich freilich bis heute das Glücksgefühl nicht richtig einstellen. Bis heute wirken die Versprechen der Wiedervereinigung schal – und das mit gutem Grund.

Im  folgenden Vortrag werde ich mich mit folgenden Punkten beschäftigen:

  • Die hartnäckige Ungleichheit zwischen Ost und West
  • Ihre Ursache – die kapitalistische Wiedervereinigung
  • Die politische Entwicklung im Osten
  • Charakter der Wiedervereinigung und die Stärkung des deutschen Imperialismus
  • Ursachen für den Zusammenbruch der DDR
  • Lehren für aktuelle Auseinandersetzungen

1. Reproduktion sozialer Ungleichheit

Hier nur einige Zahlen, die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das, obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse (Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch schneller ausgedehnt haben als im Osten.

In den alten Bundesländern betrug 2017 der Anteil prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 % im Osten. Den Hintergrund dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im Westen.

Von 1991 bis 2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge aus dem Westen entgegen, die Wellen der innerdeutschen Migration entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen.

Die Migration von Ost nach West ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung der  Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen „erfolgreichen“ städtischen  Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten ländlichen und kleinstädtischen Gebiete bis zum Verlassen ganzer Dörfer entgegen.

Die Ungleichheit zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B. der „Teilhabeatlas Deutschland“, dass sich in den neuen Bundesländern die „abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“), geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung, Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen (Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Die Frauen zählen in besonderem Maß zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

2. Ursache: Kapitalistische Wiedervereinigung

Hintergrund der sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen wurde.

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig war und ist.

Zwischen 1990 und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter Aufsicht und Lenkung der Treuhandanstalt, einer Staatsholding, die die Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von 9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million „freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit geschickt oder verschwanden vom Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen).

Zugleich stiegen die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1) im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B. betriebliche Sozialleistungen).

Zweitens wog die Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen, fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige erledigte die Treuhand. Sie verkaufte die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden. Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende 1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer verscherbelt worden.

Die Filetstücke – z. B. Carl Zeiss Jena – eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu übernehmen und auszuschalten, und sie erhielten dafür Milliardensubventionen (Carl Zeiss Jena 3,5 Mrd. DM).

Die kapitalistische Wiedervereinigung stärkte also das deutsche Kapital mehrfach. Sie erweiterte den Markt für Waren, erlaubte die Aneignung von Betrieben faktisch für nichts, verschaffte ein Reservoir von Billigarbeitskräften, erhöhte den Druck am Arbeitsmarkt, machte den Osten zum Exerzierfeld für sog. Arbeitsmarktreformen. All das stärkte damit das deutsche Kapital auf dem Weltmarkt und insbesondere auch in Europa gegenüber seinen unmittelbaren imperialistischen KonkurrentInnen.

3. Polarisierung und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden. Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im Osten, zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die kapitalistische Wiedervereinigung stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine historische Niederlage dar. Auch wenn die Bewegung gegen die DDR-Bürokratie eine legitime Massenbewegung war, so machte sich ihre politische Schwäche, der kleinbürgerliche Charakter ihres Programms, rasch fatal bemerkbar. Sie hatte keine Antwort auf die grundlegenden ökonomischen Probleme der DDR – und eröffnete dem westdeutschen Imperialismus somit die Chance, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden. Aus einer halben Revolution gegen die Bürokratie wurde eine ganze Konterrevolution.

Diese stärkte den Imperialismus, die soziale, wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals, ungemein. Die soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und -zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise umgemodelt. In der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt, sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher auch die soziale Struktur der Gesellschaft selbst.

D. h. wir können während und nach der Wiedervereinigung von Beginn an verschiedene Formen der raschen politischen Veränderung beobachten.

Zuerst enorme Illusionen in die bürgerliche Demokratie und in die sog. soziale Marktwirtschaft.

Sehr rasch auch extrem reaktionäre, rassistische und faschistische Antworten – die pogromartigen Mobs von Rostock, Hoyerswerda waren zwar nicht auf den Osten beschränkt, hatten dort aber ihr Zentrum. Die Nazis fanden Zulauf.

Es ist kein Zufall, dass es im Osten den starken Zulauf für die Pegida und die rassistische AfD zuerst gab,  auch weil die Verhältnisse nicht nur für die ArbeiterInnenklasse und Erwerbslosen, sondern auch für die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum weitaus instabiler sind.

Aber die soziale Lage kann auch nach links ausschlagen, wie die letzten Jahrzehnte gezeigt haben. So waren PDS, später auch die Linkspartei, beispielsweise jahrelang in der Lage, Arbeitslose als WählerInnen zu binden. Vor allem aber Bewegungen der Klasse sind zu erwähnen. So die teilweise sehr langen Betriebsbesetzungen gegen Schließungen Anfang der 1990er Jahre, z. B. des ehemaligen Kali-Bergwerks Bischofferode. So der IG Metall Streik im Osten 2003 und die Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze in den Jahren 2003 und 2004. Letztere waren fortschrittliche proletarische Massenbewegungen, die jedoch von der Gewerkschaftsbürokratie, von der SPD verkauft oder direkt bekämpft wurden oder denen die PDS und die Linkspartei keine Perspektive über Wahlen hinaus zu geben vermochten.

Der Aufstieg der AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die soziale Lage verschiedener Klassen, sondern auch Verrat und Niedergang der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

4. Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie nach erfolgreicher Demobilisierung und Integration der Massenbewegung von 1989 praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der radikalen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit der Bürokratie, statt mit einem Forderungsprogramm für ArbeiterInnendemokratie, demokratische Planung und eine revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution ausgestaltet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit.

Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2005 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn hätte bieten können.

Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird – in Ost und West.

5. Ursachen für den Zusammenbruch

Das erfordert aber, die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR und die kapitalistische Restauration zu verstehen. Hierzu einige Punkte:

  • Der Zusammenbruch der DDR war natürlich durch die Erschöpfung der bürokratischen Planwirtschaften bedingt. Der Westen verschärfte den Kalten Krieg und den ökonomischen Druck, nicht zuletzt auch durch Schulden usw.
  • Die Frage ist in diesem Zusammenhang jedoch auch zu stellen, warum der sog. Sozialismus der DDR und des gesamten Ostblocks scheiterte, unterlag und warum ihn die ArbeiterInnenklasse nicht verteidigte.
  • Die Antwort darauf kann nicht nur im Westen, im Druck des Imperialismus gesucht werden, sie erfordert auch, die Frage zu stellen: Was stellten die DDR oder andere Staaten des Ostblocks eigentlich dar? Waren sie sozialistisch? Herrschte die ArbeiterInnenklasse wirklich? Warum entstanden Massenbewegungen gegen die herrschenden Parteien und den Staatsapparat?
  • Die DDR und die anderen Länder Osteuropas waren zwar Planwirtschaften und hatten das Kapital enteignet, also wichtige Voraussetzungen für eine Entwicklung zum Sozialismus geschaffen, aber sie enteigneten die herrschende Klasse auf bürokratische Weise. Die ArbeiterInnenklasse bestimmte nie die politischen Entscheidungen. Das erledigte eine Kaste, eine Staatsbürokratie, die die politische Macht monopolisierte, die ArbeiterInnenklasse davon faktisch ausschloss und zugleich die Illusion verbreitete, den Sozialismus in einem Land, ohne internationale Ausweitung aufbauen zu können.
  • Diese bürokratische Herrschaft führte aber dazu, dass die ArbeiterInnenklasse von der Planwirtschaft entfremdet wurde. Statt ArbeiterInnendemokratie gab es ein billiges Imitat der bürgerlichen Demokratie, die Volkskammer. Statt verschiedener ArbeiterInnenparteien gab es die nationale Front. Statt Räten, gab es einen allumfassenden Staatsapparat. Von einem Absterben des Staates, wie es Marx und Lenin mit der Entwicklung des Sozialismus verbanden, konnte keine Rede sein.
  • Dies bedeutet aber auch, dass die ArbeiterInnenklasse in diesem Staat – wir nennen ihn degenerierten ArbeiterInnenstaat – von der politischen Macht ausgeschlossen und die Entwicklung des Klassenbewusstseins strukturell blockiert war.
  • Es brauchte also eine politische Revolution der Klasse gegen die Bürokratie, um überhaupt den Weg zum Sozialismus frei zu machen. Die Bewegung 1989 war anfänglich eine in diese Richtung. Es mangelte ihr aber an Bewusstsein ihrer Lage und Aufgaben. Sie war von kleinbürgerlichen Kräften geführt wie dem Neuen Forum. Am linken Rand dieser Bewegung bezogen sich zwar Vereinigungen wie die Vereinigte Linke um die Böhlener Plattform auf die ArbeiterInnenklasse, aber sie hatten kein klares politisches Programm, das eine konsequente Antwort auf die Krise der DDR zu geben vermochte. So waren sie zahlenmäßig nicht nur in einer ungünstigen Ausgangsposition, sondern auch vor allem politisch unvorbereitet, ratlos und damit zunehmend handlungsunfähig angesichts der sich im Zeitraffer überschlagenden Ereignisse.
  • In diesem weltgeschichtlichen Moment besaß die Klasse keine Führung, kein Konzept, ihr „linker Flügel“ setzte auf die Reform des Staates, nicht auf eine Revolution mit Rätedemokratie, demokratischer Planung und Ausweitung der Bewegung in den Westen und Verbindung mit Osteuropa. D. h. die Bewegung hatte keine Antwort auf die Krise der DDR-Ökonomie und der Lebensverhältnisse. Diese Frage griff die bürgerliche Konterrevolution mit der Losung der kapitalistischen Wiedervereinigung und der raschen Währungsunion auf. Aus der halben Revolution wurde rasch eine ganze Konterrevolution, deren endgültigen Vollzug der 3. Oktober symbolisierte. Die wesentlichen Entwicklungen fanden aber schon vorher statt.

6. Lehren

Die erste Lehre besteht also darin, dass es in einer revolutionären Krise eines entschlossenen Eingreifens und Programms bedarf, eines, das nicht bei halben Sachen stehenbleibt, sondern auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht zielt.

Zweitens müssen wir deutlich machen, dass ein „Sozialismus“, wie er in der DDR existierte, keine Zukunft hat. Es ist unmöglich, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, sondern dies kann nur international geschehen. Es ist aber auch unmöglich, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse ohne ArbeiterInnendemokratie, ohne Räte, ohne Selbstorganisation der Klasse erfolgt. Wir brauchen eine Planwirtschaft, aber eine, die von den ProduzentInnen und KonsumentInnen demokratisch gelenkt und kontrolliert wird, nicht von einer scheinbar allmächtigen Staatsbürokratie.

Drittens wir müssen dem nationalen „WIR“ die internationale Einheit der ArbeiterInnenklasse, deren gemeinsame Interessen entgegenstellen – in Ost und West, von einheimischen und migrantischen ArbeiterInnen.

Die schließt viertens ein, dass wir diesen bestehenden Staat als Staat der herrschenden Klasse begreifen müssen, wir müssen, auch wenn wir den deutschen Imperialismus als den Hauptfeind der ArbeiterInnenklasse hierzulande begreifen, seine militärischen Abenteuer, seine ökonomische Erpressung anderer Länder, die Abriegelung der deutschen und europäischen Grenzen gegen Geflüchtete und Arbeitsmigrantinnen bekämpfen. Wir müssen jeden nationalen Schulterschluss, jedes Zurückstellen des Klassenkampfes auf politischer wie auf gewerkschaftlicher Ebene ablehnen, ja bekämpfen.

Fünftens erfordert revolutionäre, kommunistische Politik ein Programm, eine politische Strategie, die den Kampf für unmittelbare, demokratische, soziale Forderungen – z. B. nach gleichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen – mit dem Ziel einer anderen Gesellschaft verbindet. D. h. wir brauchen ein Programm von Übergangsforderungen, das einen Weg zur sozialistischen Revolution in Deutschland und international weist.

Warum ist das heute so wichtig? Weil wir uns – wie 1989 und 1990 – in einer historischen Umbruchphase befinden, am Beginn eines geschichtlichen Wendepunktes. Die globale kapitalistische Krise, befeuert durch die Pandemie, die Umweltzerstörung, und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden alle zu massiven globalen politischen und sozialen Verwerfungen, Krisen führen – und damit auch zu enormen Klassenauseinandersetzungen. In diese müssen wir eingreifen. Dabei stehen wir vor der Aufgabe, revolutionäre Orientierung, Perspektive, Führung zu geben. Das werden wir aber nicht leisten können, wenn wir nicht Lehren aus den großen Kämpfen – darunter leider auch vielen Niederlagen – der Vergangenheit ziehen. Die Geschichte 1989 – 1990 gehört zu solchen Ereignissen.




30 Jahre Wiedervereinigung: Nichts zu feiern

Bruno Tesch, Neue Internationale 250, September 2020

Das große Fest zum Tag der Einheit in Potsdam muss der Pandemie wegen ausfallen. Zu feiern gibt es für die ArbeiterInnenklasse ohnedies wenig nach 30 Jahren kapitalistischer Wiedervereinigung. Ein gewisser Sicherheitsabstand tut nicht nur wegen der Corona-Gefahr gut, auch zur bürgerlichen Mär von den „überwiegend“ positiven Resultaten. Wen hat die Wiedervereinigung eigentlich vorangebracht? Sind die nach wie vor ungleichen Lebensverhältnisse, die Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen nach der Wiedervereinigung bloß letzte Mängel der bürgerlichen Freiheit oder notwendiges Resultat eines stärker gewordenen deutschen Kapitalismus und Imperialismus?

Todeskrise des Stalinismus

Die deutsche Teilung selbst war Ausdruck einer globalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Weltordnung geriet im Laufe der 1980er Jahre ins Wanken. Die Staaten des sog. real existierenden Sozialismus, in Wirklichkeit degenerierte ArbeiterInnenstaaten, in denen von Beginn eine Bürokratie die ArbeiterInnenklasse politisch beherrschte, hatten dem Imperialismus ökonomisch nichts mehr entgegenzusetzen.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bekam die Auswirkungen dieser Krise zu spüren, da sie zum einem über die einseitigen Bindungen im Energie- und Maschinen- sowie Rüstungsgütersektor an Lieferverträge an die Sowjetunion gekettet war, zum anderen im Handelsbereich mit dem Kapitalismus in eine stetig wachsende Auslandsverschuldung geriet. Damit versuchte die Bürokratie die Konsumbedürfnisse der ArbeiterInnenklasse einigermaßen zu befrieden, um die soziale Ruhe im Land zu gewähren. Doch die ökonomische Schieflage verschärfte sich weiter – auch durch einen Milliardenkredit, den die westdeutsche Bundesregierung Anfang der 1980er Jahre gewährte. Da hatte sich bereits der Allgemeinzustand der DDR-Wirtschaft dramatisch verschlechtert.

Der besondere Umstand der unmittelbaren Nachbarschaft zum durch den Imperialismus errichteten und geförderten BRD-Staat bewirkte, dass die DDR-Bevölkerung diesen als Schaufenster eines aufstrebenden Kapitalismus mit wachsendem Lebensstandard und scheinbarer Freizügigkeit vor Augen hatte. Die wirtschaftlich desolate Situation, die eingeschränkte Reisefreiheit sowie die Verweigerung demokratischer Rechte führten zu einem Gärungsprozess, der sich ab Spätsommer 1989 durch eine Fluchtwelle äußerte und im Herbst dann die Bevölkerung zu Protesten massenhaft auf die Straße trieb und in dem symbolträchtigen Mauerfall mündete.

Die bleierne Erblast des Stalinismus, also der politischen Diktatur einer bürokratischen Kaste, hatte die revolutionäre Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, die 1953 kurz aufgeflammt waren und Fragen nach einer gesamtdeutschen Anstrengung zur sozialistischen Überwindung der Teilung aufgeworfen hatten, erdrückt. Angeführt wurde die 1989er Bewegung durch ideologisch kleinbürgerliche Kräfte, die das Heil in der Errichtung demokratischer Institutionen nach bürgerlichem Vorbild bzw. in einer Reform der herrschenden stalinistischen Partei suchten. Die entscheidenden Fragen nach einer politischen Revolution und dem Aufbau einer ArbeiterInnendemokratie und einer Wirtschaft nach demokratisch kontrolliertem gesellschaftlichen Plan wurden ebenso wenig gestellt wie die nach einer gesamtdeutschen revolutionären Wiedervereinigung.

Weichenstellung Richtung Kapitalismus

Weite Teile des Machtapparats, die selbst den Glauben an die Fortführung ihres bürokratischen Plankonzepts verloren hatten, versuchten, sich mit der Oppositionsführung zu arrangieren. Beide einte das Interesse, die Bewegung zu kanalisieren und ihr einen möglichen revolutionären Boden zu entziehen. So wurden zwar nominell als Volkskammerwahlen ausgeschriebene, doch de facto bürgerliche Parlamentswahlen für den 18. März 1990 vereinbart. Die noch von der SED geführte Übergangsregierung stellte zuvor eine weitere wichtige Weiche für die Auflösung der nichtkapitalistischen Grundlagen der DDR. Der Beschluss zur Gründung der Treuhandanstalt am 1. März sah bereits die Aufgabe von Planwirtschaft, von Außenhandelsmonopol und Staatseigentum an Produktion und Grundbesitz am Horizont heraufdämmern, wenn auch die Aufgabe von Eigenstaatlichkeit noch nicht zur Diskussion stand.

Glaubte die DDR-Regierung noch, bei den ersten Unterredungen mit dem Weststaat über eine vorsichtige Annäherung und einen mehrjährigen Plan zur eventuellen Wiedervereinigung auf Augenhöhe verhandeln zu können, wurde ihre Blauäugigkeit schnell desillusioniert. Sie wurde von der BRD-Regierung ultimativ vor die Wahl gestellt, deren Fahrplan für eine schnelle Wiedervereinigung zu kapitalistischen Bedingungen anzunehmen oder das völlige Ausbluten des Landes zu verantworten.

Die amtierende bundesdeutsche CDU/CSU/FDP-Regierung hatte mit Raubtierinstinkt längst die einmalige historische Chance gewittert, nicht nur den Auftrag des Grundgesetzes, die Wiedervereinigung nach kapitalistischen Richtlinien herbeizuführen, zu erfüllen, sondern auch die Ambitionen des BRD-Imperialismus auf internationalem Parkett auf einen Hieb enorm zu stärken. Sie hatte angesichts der bröckelnden Machtstrukturen des DDR-Staates und der gärenden Wünsche nach Veränderung im Land die Jetzt-oder-nie-Situation erfasst. Das Winken mit der harten West-D-Mark gab den Erwartungen der DDR-Bevölkerung einen entscheidenden Richtungsimpuls. Damit konnte zugleich auch die Gefahr einer revolutionären Orientierung in der DDR gebannt werden, was das DDR-Regime allein nicht ohne weiteres in den Griff bekommen hätte.

Finanzpolitische Bedenken über die hohen Kosten einer vorschnellen Vereinigung, geäußert v. a. von Seiten der WährungshüterInnen der Bundesbank, aber auch von der SPD-Opposition, konnte die Kohl-Regierung mit dem Hinweis auf die politisch günstige Lage und die Vorleistungen der DDR-Übergangsregierung vom Tisch wischen. Nach den DDR-Wahlen vom März 1990, deren Ausgang maßgeblich von der Aussicht auf die klingende Münze der BRD beeinflusst worden war, trat eine offen bürgerliche Regierung als diensteifriges Hilfspersonal bei der Umsetzung der Pläne der BRD-Führung ins Amt. Sie verhalf durch den Einigungsvertrag vom 18. Mai 1990, der eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen festlegte, der Bundesregierung zur Entscheidungsgewalt über alle staats- und wirtschaftspolitischen Schritte der Wiedervereinigung, die nach bundesdeutschem Recht als Beitritt der DDR zur BRD deklariert wurde.

Vollendung der Konterrevolution

Das Treuhandgesetz trat am 1. Juli 1990 nicht zufällig zeitgleich mit der Einführung der Währungsunion in Kraft und regelte die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens unter bundesdeutsch hoheitlicher Aufsicht. Die Bundesregierung entschied, die Besetzung der Schaltstellen ab Juli 1990 mit marktökonomisch versierten WestvertreterInnen durchzuführen. Der Treuhand waren 8.500 DDR-Betriebe unterstellt und damit das Schicksal einer Belegschaft von über 4 Millionen Menschen in die Hand gegeben.

Der zweite Pflock zur kapitalistischen Restaurierung der DDR wurde mit der Einführung der D-Mark als allein gültiger Währung ab dem 1. Juli 1990 eingeschlagen. Damit ging auch der Wunsch vieler DDR-BürgerInnen in Erfüllung. Der Umtausch der DDR-Währung in D-Mark Wertberechnung erfolgte zwar 1 : 1. Um aber in den Genuss der Auszahlungen zu kommen, die auf 2.000 D-Mark pro Person begrenzt waren, musste zuvor ein Antrag auf Kontoumstellung auf D-Mark gestellt und von den Banken eine Auszahlungsquittung eingeholt werden, die jedoch nur bis zum 6. Juli 1990 gültig war, um sofort an das Geld zu kommen. Soweit die Kontoguthaben Beträge altersgestuft von im Schnitt 4.000 DDR-Mark pro Kopf  überschritten, wurde nur noch im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Guthaben, die erst nach dem 31. Dezember 1989 entstanden waren, konnten hingegen nur zu einem Kurs von 3 : 1 in D-Mark umgewandelt werden.

Das Volksvermögen an Produktionsmitteln und Grundbesitz jedoch, das nach DDR-Recht noch anteilig allen StaatsbürgerInnen zustand, wurde den Wertberechnungen des freien Markts überlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die ArbeiterInnenklasse, wurde praktisch ohne Einspruchsrecht enteignet.

Für den Sieg der Konterrevolution war es auch notwendig, neben fortschrittlichen sozialen Einrichtungen, die in der DDR bestanden hatten, bspw. im Gesundheits- und Bildungswesen, auch demokratische Errungenschaften, die die halbrevolutionären Veränderungen hervorgebracht hatten, zu beseitigen wie demokratische Foren, vergleichsweise große Kontrolle und Transparenz in den Medien und politische Verhandlungen. (Runde Tische)

Die organisierte reformistische ArbeiterInnenbewegung in der BRD krümmte zu deren Rettung keinen Finger, sondern diente sich dem Imperialismus an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund vollzog schon im Mai die Vereinigung als Übernahme der Ost-Gewerkschaften nach bewährtem sozialdemokratisch bürokratischen Konzept, das die strikte Trennung von Politik und Arbeitswelt festschrieb und jede unabhängige Tätigkeit der ArbeiterInnenklasse unterband.

Für die BRD-Regierung war nur noch eine wichtige Hürde zu nehmen: die Zustimmung der Mächte, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt und als feste Vorposten ihres jeweiligen Machtblocks in der Nachkriegsordnung aufgestellt hatten. Ein am 19. September ausgehandelter Staatsvertrag, den die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichneten, besiegelte das Ende der Nachkriegsära und wertete die Bundesrepublik Deutschland als politischen Faktor auch international auf. Zugleich offenbarte dies auch die angeschlagene Position des stalinistischen Systems, dessen Staatenblock auch in anderen Regionen bis in die Sowjetunion hinein in Auflösung begriffen war. Die deutsche kapitalistische Wiedervereinigung war ein historischer Meilenstein für den Untergang des Stalinismus und den Sieg des Imperialismus. Der offizielle Festakt am 3. Oktober 1990 war nur noch Formsache, er vollzog diesen Sieg.

Konsequenzen der Vereinigung

Nach 30 Jahren fällt die Bilanz geteilt aus. Die segensreiche Tätigkeit der Treuhandanstalt, die bis 1994 andauerte, bescherte den fünf neuen Bundesländern inklusive Ostberlin den Kahlschlag einer ganzen Region. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer sank um 40 % und der Industrieproduktion um zwei Drittel. Durch die Privatisierung volkseigener Betriebe gelangten 85 % in westdeutschen Kapitalbesitz. Eindeutig profitierte das Monopolkapital aus der BRD am meisten von Stilllegungen, Zerschlagung von Großbetrieben und Verkäufen zu Schleuderpreisen. Zudem ließ es sich Investitionen für den „Aufbau Ost“ noch kräftig von staatlicher Seite subventionieren.

Alles in allem sind die Großbetriebe im Osten weiterhin unterrepräsentiert. Außerhalb von Berlin haben sich einige urbane Ballungsräume mit Ansiedlung neuer Technologien, v. a. in Sachsen, herausgemacht, während viele ländliche Gegenden nach wie vor strukturell chronisch schwach sind. Dort sind oft veraltete Industrien wie Braunkohlebergbau ansässig, die die ökologisch unselige Tradition der DDR fortführen. Die Arbeitsbevölkerung ist überaltert, der Abwanderungsprozess gen Westen hält immer noch an. Die Arbeitslosenquote lag im August 2020 in den östlichen Bundesländern mit 7,8 % noch 1,4 Punkte über dem gesamtdeutschen Schnitt.

Zwar hatte sich die individuelle wirtschaftliche Lage für die meisten Menschen in den fünf neuen Ländern bald nach dem Anschluss verbessert, im zweiten Jahrzehnt jedoch verlangsamte sich das Aufholtempo und stagnierte schließlich. In der Lohnentwicklung hinkt der Osten 2020 dem Westen weiter um brutto 540 Euro hinterher. Bei den Renten liegt der Osten zwar vorn, aber nur weil in der DDR mehr Frauen berufstätig waren und besser verdienten als im Westen.

Die Frauen zählen jedoch auch zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

Staat und Sozialversicherungswesen haben Jahr für Jahr Milliardensummen in den Aufbau Ost gepumpt, bezahlt größtenteils aus den Taschen aller lohnabhängig Beschäftigten – in West wie Ost – durch die vom Lohn abgezogenen Sozialversicherungsbeiträge und den so genannten Solidarbeitrag. Von den Sonderabschreibungen, Übernahme- und Abwicklungsprämien, Investitionszulagen, Entschädigungen für Enteignungen von Produktions- oder Grundbesitz, die in der DDR vorgenommen worden waren, profitierten wiederum nur die westdeutschen KapitalistInnen und reichen ErbInnen.

Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der zentristischen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit dem Stalinismus, statt mit einem Forderungsprogramm für die revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution eingerichtet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit. Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

BRD-Imperialismus im Krisenmodus

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht. Der Investitionsstau für Neuunternehmungen im Ostdeutschland machte sich laut Ifo-Institut als Abwärtstrend bereits 1996 bemerkbar, u. a. aus Mangel an Fachkräften, auch in Großunternehmen. Die Konvergenz bei der Produktivität je Erwerbstätigem/r – im Osten 14.000 Euro weniger als im Westen – war ebenfalls seit der Jahrtausendwende ins Stocken geraten.

Strukturelle Probleme von Ungleichheit selbst im Inland konnten nicht gelöst werden: Verschuldung der Kommunen, Armutsschere geht weiter auf, Gefälle Stadt-Land, lebensunsichere Perspektive für die eigene Bevölkerungsmehrheit, geschweige denn für die noch stärker ins Elend gestürzten Massen der imperialisierten Länder.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2003 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn bieten hätte können. Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird, in Ost und West.




Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Vor 30 Jahren,
am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer – und mit ihr nicht nur ein Symbol
der Nachkriegsordnung. Mit ihr ging der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks,
des ökonomischen und politischen Systems des „real existierenden Sozialismus“
einher.

Diese Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ widmet sich der Entstehung wie dem Zusammenbruch dieser Gesellschaftsordnung einerseits, der Todeskrise und dem Untergang der DDR andererseits.

Der Untergang
dieses Staatensystem stellt eine historische Zäsur dar, die, wenn auch nicht in
ihrer Tragweite und ihrem konkreten Verlauf, auch den ZeitgenossInnen damals
durchaus bewusst war. Die bürokratische Herrschaft der „kommunistischen“
Parteien Osteuropas und der Sowjetunion stürzte aufgrund des Drucks des Weltimperialismus,
ihrer inneren Widersprüche und einer vor allem von den Lohnabhängigen und der
Intelligenz getragenen Massenbewegung zusammen. Das eröffnete kurzzeitig die
Möglichkeit einer politisch-revolutionären, fortschrittlichen Umgestaltung.
Diese stellte den einzigen möglichen geschichtlich progressiven Ausgang der
Ereignisse dar. Doch ihre Chancen waren schon damals aufgrund der Zerstörung
proletarischen Klassenbewusstseins und des kleinbürgerlichen Charakters der
Opposition – alles selbst Folgen von Jahrzehnten bürokratischer Herrschaft –
und der politischen Passivität und Perspektivlosigkeit der westlichen
ArbeiterInnenbewegung angesichts dieser Umwälzungen gering. Die wenigen,
anti-stalinistischen linken und subjektiv revolutionären Kräfte erwiesen sich
als zu schwach und oft auch als politisch zu unklar.

Die bürgerliche
Konterrevolution ergriff somit die Initiative und innerhalb weniger Jahre
wurden die Länder in den kapitalistischen Weltmarkt reintegriert. Anstelle der
bürokratischen Planung traten die Gesetze des Marktes und der Konkurrenz.
Litten die Massen zuvor an einem Mangel an Konsumgütern, so fehlte es nun an
Arbeit und Einkommen. Ein industrieller, ökonomischer und sozialer Kahlschlag
ging notwendigerweise mit der Restauration des Kapitalismus einher – eine
historische Niederlage. Die demokratische Konterrevolution triumphierte, auch
wenn sie längst nicht das „Ende der Geschichte“ einläutete, sondern vielmehr
den Weg frei machte für eine Expansion des Weltmarktes, die neo-liberale
Durchdringung der Ökonomie. Doch seinen eigenen Widersprüchen entkam der
Kapitalismus nicht – spätestens seit der großen Krise ist der Kampf um die
Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten neu entbrannt.

Die Ereignisse
von 1989 legten auch dafür einen Grundstein, als die politische
Nachkriegsordnung zerbrach.

Die Beiträge in diesem „Revolutionären Marxismus“ sind zum größten Teil Veröffentlichungen älteren Materials, das mittlerweile jedoch vergriffen ist. Die Artikel „Die verratene Revolution. Trotzkis Stalinismus-Analyse“, „Die Expansion des Stalinismus nach 1945“ und „Der Zusammenbruch des Stalinismus“ erschienen ursprünglich als Nummer 32 des „Revolutionären Marxismus“ im Winter 2001/2002. 2009 wurden sie, gemeinsam mit Trotzkis Artikel „Bolschewismus und Stalinismus“ aus dem Jahr 1937 veröffentlicht.

Wir publizieren die Texte hier erneut ohne weitere Überarbeitung, weil sie
nach wie vor unsere Position zusammenfassen. Unter anderem wird darin,
anknüpfend an Trotzkis Theorie und Verständnis des Stalinismus, deutlich
gemacht, dass ein materialistisch gefasster Stalinismus-Begriff für ein
Verständnis der Herrschaftsform einer bürokratischen Kaste in einer
Übergangsgesellschaft unerlässlich ist. Darauf zu verzichten, läuft entweder
auf einen mehr oder minder impressionistischen Begriff des Stalinismus oder auf
dessen Apologie hinaus.

Der zweite Teil der Texte ist der Geschichte und dem Zusammenbruch der DDR gewidmet. Es geht uns dort, wie auch in den anderen Beiträgen, nicht darum, ein akkurates und detailliertes Geschichtsbild zu zeichnen, sondern vielmehr um ein Verständnis der Entwicklung dieser Gesellschaft, ihrer inneren Widersprüche, der Ursachen ihrer Entstehung wie ihres Zusammenbruchs und der politischen Schlussfolgerungen daraus. Die Texte „Entstehung und Untergang der DDR“, „Planungsmangel und Mangelplanung“ wurden zuerst 1999 im „Revolutionären Marxismus“ Nr. 29 veröffentlicht. Der Text „Die nationale Frage in der DDR“ ist ein Auszug aus einer Resolution der „Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale“, der Vorläuferorganisation der „Liga für die Fünfte Internationale“, vom 21. November 1989. Die anderen Texte – „SED Gründung: Fusion und Verwirrung“ (erstmals veröffentlicht in Arbeitermacht 41, Mai 1996), „Vom Regen in die Traufe. Proletarische Frauen vom DDR-Stalinismus zum BRD-Kapitalismus“ (erstmals veröffentlicht in Revolutionärer Marxismus 26, 1998) und „War die DDR ein Unrechtsstaat?“ (Neue Internationale 143, Oktober 2009) – beschäftigen sich mit wichtigen Fragen der Entstehung und Entwicklung der DDR, der Restauration des Kapitalismus und der Ideologie des siegreichen Westens.

Nur der Artikel „30 Jahre danach“ wurde neu für diesen RM verfasst und behandelt die Ursachen und Folgen der ausbleibenden „sozialen Einheit“.

Wir haben uns in dieser Ausgabe des RM bewusst auf die Analyse des
Stalinismus wie auf die DDR und ihren Untergang konzentriert. Die
politisch-ökonomische Analyse des nach der Wiedervereinigung erstarkten
deutschen Imperialismus, der Weltwirtschaft, der imperialistischen Krise wie
der EU findet sich in anderen Ausgaben des „Revolutionären Marxismus“, auf die
wir die LeserInnen an dieser Stelle verweisen wollen.

Hier nur so viel: Der Aufstieg des deutschen Imperialismus zu einer, wenn
nicht der zentralen Führungsmacht der EU wäre unmöglich gewesen ohne den
Zusammenbruch der DDR und des gesamten Ostblocks. Dieser historische Sieg
ermöglichte nicht nur die Expansion auf ein größeres Territorium, es
ermöglichte dem deutschen Kapital und Staat auch, Fesseln der Nachkriegsordnung
„friedlich“ abzustreifen. 30 Jahre danach verfängt er sich allerdings auch in
die Widersprüche dieser Ordnung, was sich nicht zuletzt an der Krise
bürgerlicher Politik, in einem Wandel des Parteiensystems usw. ablesen lässt.
Mit der ökonomischen Krise 2007/2008 trat auch die kapitalistische
Globalisierung in eine Krisenperiode, die sich aktuell zuspitzt. Ähnlich wie
vor 1989 bewegen wir uns rasch auf einen neuen Wendepunkt der globalen Ordnung
zu.

Als revolutionäre KommunistInnen stehen wir in unversöhnlicher
GegnerInnenschaft zum Kapitalismus. Doch dem Zusammenbruch der stalinistischen
Herrschaft trauen wir deswegen längst nicht nach. Dessen innere Widersprüche
haben jene MarxistInnen, die in der Tradition der Linken Opposition und des
Trotzkismus stehen, allemal klarer, besser und treffender auf den Punkt
gebracht als alle bürgerlichen, sozialdemokratischen oder anarchistischen
KritikerInnen. Die ApologetInnen dieser Herrschaft und der reaktionären Doktrin
des „Sozialismus in einem Land“ freilich weigern sich bis heute, den
arbeiterInnenfeindlichen, bürokratischen und antisozialistischen Charakter
dieses Regimes anzuerkennen. Dies ist keineswegs bloß eine historische Frage.

Wenn die kommende Krise die Frage nach einer Systemalternative erneut
aufwirft, müssen RevolutionärInnen auch darlegen können, was ihre Alternative,
ihr Programm, ihre Vorstellung von Sozialismus, Kommunismus und Übergangsgesellschaft,
also der „Diktatur des Proletariats“ von den untergegangenen Formen
bürokratischer Herrschaft unterscheidet. Daher wollen wir mit diesem RM nicht
nur zum Verständnis der Stalinismus, seiner Ursachen und seines wohlverdienten
Untergangs beitragen – wir wollen vor allem auch dazu beisteuern, dass ein
erneuerter Marxismus und eine neue revolutionäre Internationale nur auf Basis
eines konsequenten theoretischen, methodischen, politischen wie praktischen
Bruchs mit dem Stalinismus zu haben sind.




November 1989 – 30 Jahre danach

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Dass die
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen „Ost“ und „West“ auch 30
Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nicht angeglichen sind, sollte
KapitalismuskritikerInnen eigentlich nicht verwundern.

Nach drei Jahrzehnten
eines vereinigten, imperialistischen Deutschland klingen die
Einheitsversprechungen bürgerlicher PolitikerInnen aller Couleur nicht nur
abgedroschen und hohl. Sie hören sich auch an wie ein ständiges Replay. Das
Ausbleiben „sozialer Einheit“, die weiterhin klaffende Lücke bei Einkommen,
Arbeitszeiten, Lebensperspektive … wurden 1999 ebenso wie 2009 beklagt – und
„baldige“ Angleichung versprochen. In Wirklichkeit blieb diese aus – und wird
es auch weiter bleiben.

Reproduktion
sozialer Ungleichheit

Hier nur einige
Zahlen (1), die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des
Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das,
obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse
(Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und
Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch
schneller ausgedehnt haben als im Osten. In den „alten Bundesländern“ betrug
2017 deren Anteil an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 %
im Osten (2).

Den Hintergrund
dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im
Westen.

Von 1991 bis
2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel
der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge
aus dem Westen entgegen (3). Die Wellen der innerdeutschen Migration
entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen
Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen. Die
Migration von West nach Ost ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung
der Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen
„erfolgreichen“ städtischen Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten
ländlichen und kleinstädtischen Gebiete, bis zum Verlassen ganzer Dörfer
entgegen.

Die Ungleichheit
zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt
aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B.
der „Teilhabeatlas Deutschland“ (4), dass sich in den neuen Bundesländern die
„abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen
Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“),
geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches
Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung,
Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler
Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen
(Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Darin spiegelt
sich wider, dass in den neuen Bundesländern die schlechter entlohnten,
perspektivloseren und länger arbeitenden Teile der ArbeiterInnenklasse
überdurchschnittlich vertreten sind. Aber auch die Herausbildung und
Reproduktion des KleinbürgerInnentums, des Kleinkapitals wie der lohnabhängigen
Mittelschichten – also allen jener Klassen, die bürgerliche Demokratie und
freie Marktwirtschaft tragen – verläuft ungleicher, unsicherer, verglichen mit
dem Westen geradezu prekär.

Kapitalistische
Wiedervereinigung

Hintergrund der
sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden
selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse
der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem
Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines
schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen
wurde.

Nach der
kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang
und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig
war und ist.

Zwischen 1990
und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter
Aufsichtung und Lenkung der Treuhand-Anstalt, einer Staatsholding, die die
Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren
nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein
Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die
landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von
9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million
„freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit gesetzt oder verschwanden vom
Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen, die in dieser Zeit ihren
Höhepunkt erreichte; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen). (5)

Zugleich stiegen
die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des
für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1)
im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die
Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das
westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs
bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet
wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar
nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B.
betriebliche Sozialleistungen). Im degenerierten ArbeiterInnenstaat DDR gab es
im Unterschied zum Westen bezogen keine klare Trennung staatlicher/kommunaler
und betrieblicher Schulden/Kosten (und dies war auch nicht unbedingt
erforderlich). Nun erschienen diese Aufgaben und deren Kosten als
Verlustbringerinnen in den betrieblichen Bilanzen.

Zweitens wog die
Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und
Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange
nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen,
fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen
wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation
größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der
DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder
minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige
erledigte die Treuhand. Sie verkauft die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die
westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer
Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen
KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen
Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden.
Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern
für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm
die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende
1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer
verscherbelt worden.

Die Filetstücke
eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue
wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu
übernehmen und auszuschalten. Diese Übernahme großer Teile einer
Volkswirtschaft wurde dem Kapital auch noch durch Milliarden-Subventionen
vergoldet. So erhielt Carl Zeiss für die Übernahme von Carl Zeiss Jena 3,5
Milliarden DM, die Bremer Vulkan-Werft 6,2 Milliarden für die Übernahme
ostdeutscher Werften. Lufthansa konnte gegen den Widerstand von Betriebsrat und
Gewerkschaft die Abfertigung am Flughafen Schönefeld übernehmen usw. usf.

Diese Übernahme
der DDR- Volkswirtschaft spiegelt sich bis heute in der Rolle der ostdeutschen Ökonomie
im Rahmen des Gesamtkapitals der Bundesrepublik wider:

  • Die Produktivität lag 2017 in den neuen Ländern (einschließlich Berlin) bei durchschnittlich 82 Prozent des Westniveaus.
  • 93 Prozent der Großkonzerne sind immer noch im Westen angesiedelt. (6)

Die Kapitalakkumulation
im Osten bleibt bis heute abhängig von den Erfordernissen der Konzernzentralen
im Westen, von einem in der Bundesrepublik entstandenen und von dort geprägten
nationalen Gesamtkapital. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die massive
Vernichtung von Kapital günstige Akkumulationsbedingungen für das Gesamtkapital
und damit für einen kapitalistischen Aufschwung legte, der über mehrere Zyklen
bis Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre anhielt, brach der „Osten“ vor dem
Hintergrund struktureller Überakkumulation des Kapitals zusammen.

Interessant war
er als Markt für (westdeutsche) Produkte und als Reservoir zusätzlicher,
billiger und qualifizierter Arbeitskräfte. Als Investitionsstandort spielte er
jedoch nur für einzelne Branchen und somit für die Schaffung einzelner
„Wachstumsregionen“ eine Rolle. Eine „aufholende“ Entwicklung, gleiche
Bedingungen zwischen „Ost“ und „West“ waren vom Standpunkt der ökonomischen
Interessen der herrschenden Klasse nie vorgesehen.

Polarisierung
und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis
das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der
ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden.
Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von
sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung
von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im
Osten zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine
angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die
Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die
kapitalistische Wiedervereinigung, wiewohl aus einer legitimen,
kleinbürgerlich-demokratischen Massenbewegung gegen die DDR-Bürokratie
entstanden, stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine
historische Niederlage dar. Sie stärkte den Imperialismus, die soziale,
wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals ungemein. Die
soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates
DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht
zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen
Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die
gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und
alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und
-zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise
umgemodelt, in der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt,
sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven
Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher
auch die Klassenstruktur.

Noch in den
ersten Jahren nach der Wende artikulierte sich das in dreifacher Weise. Erstens
und am wichtigsten in Form der Demobilisierung einer Massenbewegung. Die
Millionen, die in der DDR auf die Straße gegangen waren und die SED-Herrschaft
zum Einsturz gebracht hatten, wurden über Wahlen, Parlamentarismus und die Versprechungen
der „sozialen Marktwirtschaft“ befriedet, später durch deren Auswirkungen
frustriert und auf Trab gehalten.

In dieser Lage
artikulierte sich auf der Rechten eine Welle rassistischer Gewalt und
faschistischer Organisierung, die sich in pogromartigen Mobs wie in Rostock
oder Hoyerswerda, Anschlägen auf Asylsuchende und MigrantInnen manifestierte
(und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen). Die deutsche Regierung
vermochte es, der rechten Hetze, Rassismus und Faschismus den Wind aus den Segeln
zu nehmen, indem sie selbst das Asylrecht mit Zustimmung der „oppositionellen“
SPD durch den sog. „Asylkompromiss“, der von Lafontaine mit ausgehandelt worden
war, beschnitt. Anders als heute fanden die Rechten damals keinen
politisch-organisatorischen Widerhall unter Fraktionen des deutschen Kapitals.
Mittelschichten und KleinbürgerInnentum befürworteten eine
konservativ-rassistische Regierungspolitik, die Nazis und rechten Straßenbanden
blieben letztlich auf eine relativ kleine Minderheit beschränkt.

Ein wichtige
Faktor für diese Entwicklung bestand zweifellos darin, dass es nicht nur rechte
Reaktionen auf die Wiedervereinigung gab, sondern auch wichtige, lange
andauernde, wenn auch letztlich isolierte Abwehrkämpfe. So besetzten rund 500
BergarbeiterInnen der von der Schließung durch die Treuhand bedrohten
Kali-Grube in Bischofferode (Thüringen) im Sommer 1993 den Betrieb bei
laufender Produktion, rund 100 traten in Hungerstreik. Dieser Kampf zog sich
über mehrere Monate hin. Ende 1993 wurde der Bergbau zwar geschlossen.
Entscheidend ist jedoch, dass Bischofferode durchaus für eine Schicht von
Beschäftigten stand, die mit Mitteln des Kampfes gegen Schließungen,
Entlassungen und Verarmung ankämpften.

In den 1990er
Jahren vermochte im Wesentlichen die PDS, diese Schichten für sich zu gewinnen.
Sie wurde zur Partei der „Ausgegrenzten“, der Arbeitslosen und konnte sich so
im Osten eine Massenbasis erhalten bzw. aufbauen. Als reformistische Partei war
die PDS auch damals eher eine der „KümmererInnen“ denn der KämpferInnen. Sie
konnte jedoch über eine solidarische Präsenz zahlreiche Massen- und
Vorfeldorganisationen (Volkssolidarität, …) an sich binden und ihnen einen
elektoralen Ausdruck verschaffen. Die Tatsache, dass die PDS damals noch von
den etablierten politischen Parteien des bundesrepublikanischen Systems
ausgegrenzt, als „rote Socken“ diffamiert wurde, stärkte eigentlich die
Glaubwürdigkeit der Partei in den Augen vieler.

In diesem
Zusammenhang darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass sich teilweise
auch die Gewerkschaften und selbst die SPD (z. B. in Form von
sozialpolitischen Galionsfiguren wie Regine Hildebrandt) als „natürliche“
gewerkschaftliche, soziale und politische Vertretung darstellten.

Bis Ende der
1990er Jahre waren die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse – insbesondere auch
der Erwerbslosen – auf eine Abkehr von der konservativ-liberalen Koalition und
auf eine „soziale Wende“ im Grunde an die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
SPD und PDS geknüpft.

Doch die
politische Lage und das Verhältnis von ArbeiterInnenklasse (wie auch großer
Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) zu diesen Parteien wandelte sich in
der ersten Hälfte des Jahrtausends.

Rot-Grün
lancierte mit Agenda 2010 und Hartz-Gesetzen einen strategischen Angriff auf die
Lohnabhängigen, ein Programm, das mit den Montagsdemonstrationen vor allem im
Osten eine Massenbewegung hervorbrachte, aus der später die WASG entstand (und
in deren Folge die Fusion mit der PDS zur Linkspartei).

Die Montagsdemos
entstanden im Sommer 2003 und breiteten sich in Windeseile zu einer
Massenbewegung aus, die vor allem von höher qualifizierten Arbeitslosen,
ehemaligen FacharbeiterInnen, IngenieurInnen getragen wurde. Diese Bewegung
wurde jedoch von der Sozialdemokratie wie auch von den sozialdemokratisch
geführten DGB-Gewerkschaften bekämpft. Dadurch wurde deren Ausweitung in den
Westen, vor allem aber die Verbindung von Montagsdemos und politischen
Massenstreiks verhindert. Der DGB sah sich zwar selbst gezwungen, 2004 gegen
die Agenda-Gesetze Massendemonstrationen zu organisieren, weil er die
Formierung einer bundesweiten Opposition in den Betrieben und auf der Straße
fürchtete, blies aber die Mobilisierung im Sommer 2004 nach Massendemos mit
nahezu einer halben Million Menschen ab.

Die zweite markante
Niederlage erfolgte ebenfalls 2003. Die Streiks um die 35-Stunden-Woche im
Frühjahr 2003 zeigten eine erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit. Als der Streik
begann, Auswirkungen auf die Betriebe im Westen zu haben, verschärfte sich das
Trommelfeuer nicht nur der Bourgeoisie gegen den Streik, sondern auch die
Konzernbetriebsräte der westdeutschen Autoindustrie und der IG
Metall-Vorsitzende Zwickel fielen ihm in den Rücken und setzten seine
Einstellung durch. Dabei geriet nicht nur die Gewerkschaftsdemokratie unter die
Räder, die ArbeiterInnenklasse in der ehemaligen DDR musste eine weitere
demoralisierende Niederlage durchmachen.

All diese
Faktoren – nicht nur geringerer gewerkschaftlicher Organisierungsgrad und
geringere tarifliche Bindung im Osten – haben dazu geführt, dass die SPD ihren
sozialen Rückhalt gerade unter den verarmten, arbeitslosen, prekär
beschäftigten und schlecht organisierten ArbeiterInnen verloren hat.
Gleichzeitig büßte sie auch ihre Bindekraft unter den lohnabhängigen
Mittelschichten ein.

Im letzten
Jahrzehnt machte aber auch die Linkspartei eine ähnliche Entwicklung durch.
Weigerten sich SPD und Grüne in den 1990er Jahren oft noch, Koalitionen mit der
„unzuverlässigen“ PDS einzugehen, so wurde sie schon vor der Jahrhundertwende
auch in den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer „normalen“ Partei.
Die Realpolitik der PDS und später der Linkspartei führte sie in
Landesregierungen in allen neuen Bundesländern mit Ausnahme Sachsens. Während
die Mitgliederzahlen schrumpften, wuchs der Anteil jener Mitglieder, die
Wahlämter innehatten. Ein großer Teil der aktiven Mitgliedschaft ist seit
Jahren fest in das bürgerlicher System integriert, ihre politische Aktivität
besteht darin, Wahlämter auf kommunaler, regionaler oder Bundesebene auszuüben.
Er prägt die Parteistrukturen, die Vorstände, Parteitage. Die Frage, ob die
Linkspartei eine „Bewegungspartei“ oder eine institutionelle
StellvertreterInnentruppe sei, ist eigentlich nur für jene eine, die partout
die Realität der Partei beschönigen wollen. Praktisch war sie für die PDS (und
damit auch für die Linkspartei) immer schon beantwortet. In den letzten Jahren
ist – unabhängig von den vertretenen reformistischen oder, neuerdings,
linkspopulistischen Ideologien – das Gewicht des Apparates und der in den
bürgerlich-parlamentarischen Institutionen tätigen FunktionärInnen immer mehr
gewachsen.

Mit deren
bürgerlicher Realpolitik und der Mitverwaltung der Misere schwand
notwendigerweise auch das Ansehen der Partei unter den Lohnabhängigen, vor allem
auch unter den Arbeitslosen, prekär oder gering Beschäftigten. Zugleich verlor
die Linkspartei trotz ihrer angepassten Politik auch die Bindekraft gegenüber
lohnabhängigen Mittelschichten und auch dem KleinbürgerInnentum im Osten.

Mit letzteren
verliert die Linkspartei WählerInnenschichten an AfD (und tw. auch Grüne), die
sie im Westen ohnedies nie hatte und die für eine „linke“ Partei eigentlich
untypisch sind, sondern vielmehr historisch aus den Wurzeln der PDS in der SED,
also der Partei der politisch herrschenden Kaste in der DDR herrühren.

Aufstieg der AfD

Der Aufstieg der
AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die
soziale Lage verschiedener Klassen im Osten, sondern auch Verrat und Niedergang
der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

Bezüglich einer Analyse der AfD verweisen wir an dieser Stelle auf den Artikel „Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter“ (7). Dass diese rechtspopulistische Partei, die sich als „Alternative“ zur „Elite“ präsentiert, im Osten besonders stark ist, sollte aber nicht verwundern. Gerade die instabilere Klassenstruktur bietet einen günstigeren Nährboden für das rasche Anwachsen solcher Kräfte. Das drückte sich auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg einmal mehr aus.

Zwei
Entwicklungen der AfD im Osten Deutschlands sind dabei entscheidend für den
Wahlerfolg. Erstens gelingt es, die kleinbürgerlichen Schichten äußerst stark
zu mobilisieren. So erhielt die AfD lt. Umfragen in Brandenburg 34 % der
Stimmen unter den „Selbstständigen“, in Sachsen immerhin auch 29 %. Sie
konnte damit eindeutig in die klassische CDU- und FDP-WählerInnenschaft
eindringen. Vor allem bei den ehemaligen NichtwählerInnen mobilisierte sie mit
Abstand die meisten Stimmen. Erschreckend ist sicherlich der hohe Anteil an den
„ArbeiterInnen“ – in Brandenburg 44 %. Auch wenn das nicht mit der
ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden darf und der Anteil unter den
Angestellten mit 26 % deutlich geringer ausfiel, so verdeutlicht es den
Einbruch in lohnabhängige Milieus. Sicherlich wurde das z. B. in
Brandenburg noch einmal durch die besondere Situation in der Lausitz angesichts
des Ausstiegs aus der Braunkohle verschärft. Jedenfalls hat die AfD in dieser
Region einige Direktmandate erobert.

Vor allem Angst
vor Veränderungen, die sozialen Abstieg bedeuten könnten, treibt alle
Bevölkerungsschichten um und an, dies sorgt für große Mobilisierung zur Wahl.
Dabei bilden Rassismus und Chauvinismus quasi den gemeinsamen „Kitt“, der
eigentlich gegensätzliche soziale Lagen verbindet und die AfD als zweitbeste
Vertretung „ostdeutscher Interessen“ erscheinen lässt. Mögen auch viele
Menschen subjektiv sie aus „Protest” gewählt haben, so hat sich dieser
verfestigt und die „ProtestwählerInnen” lassen sich von Rassismus,
Zusammenarbeit mit offenen Nazis von der Wahl nicht abschrecken.

Die AfD baut
sich gerade in der ehemaligen DDR als gesellschaftliche Kraft mit Massenanhang
im kleinbürgerlich-reaktionären Spektrum auf, die perspektivisch auch immer
größeren Teilen des BürgerInnentums und des Kapitals eine „verlässliche“
Machtalternative bieten will – von BürgermeisterInnen in den Kommunen bis hin
zur Beteiligung an Landesregierungen.

Dies tut sie z. B.
mit dem Slogan „Vollendet die Wende“, „Wende 2.0“. Sicher bringt diese
Formulierung auch eine große gesellschaftliche Tragik zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass sich 30 Jahre nach der kapitalistischen Restauration der DDR die
nationalistischen und faschistischen SchergInnen des Kapitals anschicken, die Wende
zu vollenden, ist selbst ein dramatischer Ausdruck der Niederlagen der
ostdeutschen ArbeiterInnenklasse wie des politischen Versagens von SPD und
Linkspartei.

Kandidat Andreas
Kalbitz, der in Athen schon mal die NS-Flagge hisste, begründete diesen Slogan
mit der sozialen Realität, nämlich den immer noch niedrigeren Rentenniveaus der
Ostdeutschen. Bevor „andere“ – gemeint sind MigrantInnen und Geflüchtete – Geld
bekämen, sollte doch erst mal die Rente angeglichen werden. So werden reale
soziale Skandale wie Altersarmut, Ungleichheit, das Abhängen ganzer Regionen
angesprochen. Dass Einkommen, Arbeitszeiten, Infrastruktur, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen auch 30 Jahre nach der Wende nicht angeglichen sind, hat
freilich die AfD nicht erfunden. Sie greift vielmehr diese Realität des
Kapitalismus auf und verbindet sie mit nationalistischer und rassistischer
Hetze. Dabei spielen ihr alle anderen Parteien mehr oder weniger willig in die
Hände, die die soziale Misere verharmlosen und Jahr für Jahr erklären, dass sie
die Lebensverhältnisse der Menschen doch verbessert hätten.

Dass die
AfD-Wirtschafts- und -Sozialpolitik eigentlich neoliberal bis auf die Knochen
ist, dass sie die öffentlichen Rentenkassen an Fonds verscherbeln will, spielt
in ihrer öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Zum anderen kann die AfD einfach
darauf setzen, dass sie die „Systemparteien“ – also alle anderen – ungestraft
einfach als „LügnerInnen” bezeichnet, selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen
sollten.

Irrwege und Wege

SPD und Linkspartei
starren auf den Aufstieg der AfD wie das Kaninchen auf die Schlange, indem sie
sich an ein parlamentarisches Bündnis nach dem anderen klammern. Statt auf
Mobilisierung und Klassenkampf setzen sie – nicht nur die SPD, sondern auch
weite Teile der Linkspartei – auf ein Bündnis mit bürgerlichen „DemokratInnen“.

In Zeiten
kommender Wirtschaftskrisen, akuter Handelskriege, baldiger Restrukturierungen
im industriellen Sektor, Massenentlassungen und weiterer Prekarisierung der
sozialen Bedingungen, einer vertieften ökologischen Gesamtkrise bedeutet diese
Politik nichts anderes, als die Lohnabhängigen an eine Allianz mit den
„demokratischen“ VertreterInnen des Kapitals zu binden und der AfD-Demagogie in
die Hände zu spielen, dass sie als einzige „die einfachen Leute“ vertrete. Die
Lehre kann nur lauten: Schluss mit dieser Politik!

Der Kampf gegen
rechts darf dabei nicht auf den Kampf gegen die AfD beschränkt bleiben. Eine
Linke, eine ArbeiterInnenbewegung, die Hunderttausende Lohnabhängige von den
rechten DemagogInnen wiedergewinnen will, muss den Kampf gegen die soziale
Misere, die realen Missstände in Angriff nehmen. Dazu braucht es einen Kampf
gegen Billiglohn und Hartz IV, gegen weitere drohende Entlassungen, für ein
öffentliches Programm zum Ausbau der Infrastruktur, von Bildung,
Gesundheitswesen, ökologischer Erneuerung im Interesse der Lohnabhängigen,
kontrolliert von der ArbeiterInnenklasse und finanziert durch die Besteuerung
der Reichen – um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, es braucht den gemeinsamen
Kampf der Linken, der Gewerkschaften wie aller ArbeiterInnenorganisationen.

Angesichts der
drohenden Angriffe, und um gemeinsamen Widerstand zu entwickeln, brauchen wir
Aktionskonferenzen auch bundesweit, um den Kampf gegen Rechtsruck, AfD,
militante faschistische Gruppierungen und gegen die laufenden und drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, auf Arbeitsplätze und
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu koordinieren.

Endnoten

(1) https://www.spiegel.de/karriere/beschaeftigte-in-ostdeutschland-laengere-arbeitszeit-weniger-lohn-a-1276092.html

(2) https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/181002_SF_Ergebnisse_im_Einzelnen_Arbeitsverhaeltnisse_in_Ost_und_West.pdf

(3) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwanderung-ostdeutschland-umzug

(4) https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Teilhabeatlas/Teilhabe_Online.pdf,
S. 16

(5) Martin
Suchanek, Zerstörung eines ArbeiterInnenstaates, in: Revolutionärer Marxismus
9, S. 25, Frühjahr 1993

(6) https://www.sueddeutsche.de/politik/studie-osten-westen-wirtschaft-deutschland-1.4354465

(7) Wilhelm Schulz, Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter, in: Revolutionärer Marxismus 50, November 2018, S. 116 – 142




Entstehung und Untergang der DDR

Bruno Tesch/Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)

Die Deutschlandpolitik
der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs war Ausdruck der neuen
Nachkriegsordnung. Mit der endgültigen Niederzwingung des „durchgeknallten“
innerimperialistischen Konkurrenten Deutschland und der kriegsbedingten
Unterordnung der imperialistischen Verbündeten Frankreich und Britannien stieg
der US-Imperialismus als neuer Hegemon empor. Zugleich bescherte der Sieg über
den deutschen Faschismus aber auch der UdSSR und damit der stalinistischen
Bürokratie eine Stärkung. Die im Krieg durch das volksfrontartige Zweckbündnis
verschleierten Klassengegensätze mussten wieder voll durchbrechen. Ein neuer, „Kalter“
Krieg war vorprogrammiert.

Weltpolitischer Rahmen

Deutschland wurde nun zu
dessen besonderem Austragungsort. Das Potsdamer Abkommen der Kriegsalliierten
vom August 1945 mit seinen Plänen zur Entmilitarisierung, Abschaffung der
Rüstungsproduktion, Entflechtung von Kartellen und Behandlung Deutschlands als
wirtschaftlicher Einheit war bald darauf Makulatur. Die Installation des
Besatzungsrechts drückte bereits das gegenseitige Misstrauen aus, denn die
Durchführung von Maßnahmen oblag den jeweiligen Militärregierungen der
verschiedenen Besatzungszonen. Der gemeinsame Kontrollrat stellte nur ein
Koordinationsgremium ohne direkte Weisungsbefugnisse dar. Zudem kam es schon
vor Potsdam zu empfindlichen atmosphärischen Störungen zwischen den „Waffenbrüdern“,
als die US-Administration der SU weitere Hilfsleistungen verweigerte.

In den USA gab es noch
während des Krieges Kontroversen über ein mögliches militärisches Vorgehen
gegen die Sowjetunion, weil das Kriegsgeschehen ein Vorrücken der Roten Armee
nach Mitteleuropa mit sich brachte. Eine neue kriegerische Konfrontation wäre
aber zu riskant gewesen. Immerhin zwang die veränderte Lage, den Blick über
Deutschland hinaus auf Gesamteuropa zu richten. Die Absichten zur Zerstückelung
und der Morgenthau-Plan von 1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden
fallengelassen zugunsten einer modifizierten imperialistischen Strategie, die
schließlich im Marshall-Plan mündete. Danach sollten die von der Roten Armee
besetzten und von bürgerlichen ArbeiterInnen- oder Volksfrontregierungen
verwalteten Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der
Kreml-Bürokratie friedlich wieder entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So
wurden die geopolitisch und ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands
mittels Marshall-Plan zum Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus
ausgebaut.

Die stalinistische
Politik war von einem extremen Sicherheitsdenken dominiert. Was wie
weltrevolutionäre Ausweitungsgelüste wirkte, war in Wahrheit nichts weiter als
der Versuch, die durch den Kriegsverlauf errungenen Gebietsgewinne zu einem
Schutzgürtel für die bürokratischen Interessen auszubauen. So wurden das
Baltikum und Ostpolen unmittelbar dem eigenen Territorium einverleibt, die
Staaten Osteuropas von Polen bis Bulgarien sollten die eigentliche Pufferzone
bilden, während Deutschland (zu dieser Überlegung gehörte ursprünglich auch
Österreich) als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich
geführtes und ungeteiltes Land vorgeschaltet sein sollte.

Jedoch weder der
US-imperialistische noch der Plan Moskaus gingen wie anfangs konzipiert auf.
Ein Erstarken der Bourgeoisie in Osteuropa konnte die Kreml-Bürokratie nicht
hinnehmen; sie entschied sich für deren Enteignung und die Errichtung von ArbeiterInnenstaaten.
Ihre Pläne für einen gesamtdeutschen Staat wiederum wurden durch den Aufbau
eines westdeutschen Separatstaates durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine
Wahl mehr, und die Kreml-Bürokratie musste nachziehen und auf ihrem
Besatzungsgebiet ebenfalls einen ArbeiterInnenstaat als Schutzzone etablieren.

Die beiden deutschen
Teilstaaten sind also Frucht eines weltpolitischen Prozesses und vereinen die
Gegensätze der Nachkriegsordnung auf unmittelbar benachbartem und daher
besonders spannungsgeladenem Raum, im Sonderstatus von Berlin sogar
schicksalhaft in einer Stadt. Die DDR blieb sogar bis 1952, also drei Jahre
nach ihrer Gründung, als die deutschlandpolitische „Stalin-Note“ den
Westbesatzungsmächten den Abschluss eines Friedensvertrags und die deutsche
Wiedervereinigung (als kapitalistische) anbot, bloße Verhandlungsmasse für die
Interessen der Kreml-BürokratInnen. Im Grunde hat sich diese Haltung bis zum
Ende der DDR nicht geändert und all jene enttäuscht, die sich an den Strohhalm
klammerten, Gorbatschow würde die kapitalistische Wiedervereinigung nicht
zulassen.

Die DDR-Gründung

Die Errichtung von
degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach dem Vorbild der UdSSR war für die
StalinistInnen stets nur ein Mittel, um sich mit dem Imperialismus zu
arrangieren. So sehr diese Gebilde der Weltbourgeoisie auch ein Dorn im Auge
waren, garantierte die Bürokratenherrschaft doch andererseits eine gewisse
Berechenbarkeit und Stabilität der Verhältnisse, die dem Imperialismus seine
politischen und ökonomischen Geschäfte erleichterte. Als oberstes Gebot für die
Kreml-Bürokratie, bevor sie zur Schaffung dieser besonderen, bürokratisierten
Form von ArbeiterInnenstaat schritt, galt stets, sicherzugehen, dass jedwede
Art von Eigenständigkeit der ArbeiterInnenbewegung, die ihre Herrschaft in
Frage stellen könnte, restlos zerstört war. Erst wenn sie die Keime einer revolutionären
Entfaltung ausgerottet hatte, nahm sie die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse
in Angriff.

Notwendige Voraussetzung
für diesen Weg war auch in Deutschland die Ausschaltung eigenständiger
revolutionärer Bestrebungen aus der ArbeiterInnenklasse in Gestalt von
Antifa-Ausschüssen und Betriebsräten, die vielfach auf örtlicher und
betrieblicher Ebene das Machtvakuum der alten geflohenen oder desavouierten
Verwaltungs- und BetriebsdirektorInnen ausfüllten. Diese Organe einer
potentiellen rätedemokratischen ArbeiterInnenmacht wurden von der sowjetischen
Militärverwaltung und ihren HelfershelferInnen aus den Reihen der entstehenden ArbeiterInnenbürokratie
zerschlagen. Damit erwies sich der Stalinismus als Agentur des Imperialismus
auf dem Boden eines noch bürgerlichen Staates und bediente sich dessen
Instrumentarien.

Wie das Beispiel
Ostösterreichs zeigt, war die Enteignung der Kapitalistenklasse und die
Errichtung eines von Beginn an bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaates
keineswegs ein unvermeidliches Produkt der stalinistischen Kontrolle über den
Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone. Dieser Schritt zur Enteignung
der Bourgeoisie durch die StalinistInnen war vielmehr Produkt der
internationalen Entwicklung und der Herausbildung der Nachkriegsordnung.

Ausschaltung der ArbeiterInnenklasse…

Dieses Vorgehen der StalinistInnen
hatte wesentliche Konsequenzen. Die Etablierung nachkapitalistischer
Eigentumsverhältnisse – für sich genommen zweifellos ein Fortschritt – wurde
auf konterrevolutionäre Weise vollzogen. Ihre innerdeutschen, aber vor allem
ihre internationalen Auswirkungen waren mit einer Stabilisierung der
imperialistischen Weltherrschaft und einer Ruhigstellung des revolutionären
Potentials des Proletariats verbunden.

Die ArbeiterInnenklasse
in der DDR (und in der BRD) spielte nicht nur keine aktive politische Rolle.
Ihr wurde mit dem „ersten ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenstaat auf
deutschem Boden“ auch gleich die erste bürokratische Diktatur verpasst und
damit von Beginn an der „Sozialismus“ in Ost und West diskreditiert. Die
DDR-Staatsmaschinerie war vom Typus her bürgerlich, ein abgehobener
allmächtiger Apparat, ein Heer an Repressionskräften und StaatsdienerInnen. Es
ist kein Wunder, dass dieser Apparat später keinerlei Widerstand gegen die
Restauration des Kapitalismus leistete, sondern im Gegenteil die meisten
BürokratInnen versuchten, im vereinten imperialistischen Deutschland
unterzukommen. Dass ihnen das oft nicht allzu gut gelang, liegt daran, dass die
westdeutsche Kapitalistenklasse schon einen erprobten Staatsapparat hatte und
auf einen großen Teil der NVA, der Volkspolizei und der Beamtenschaft nicht
angewiesen war.

… und ihre
konterrevolutionären Folgen

Dass sich das Proletariat
keineswegs freiwillig in die Etablierung der Nachkriegsordnung fügte, beweisen
der ArbeiterInnenaufstand 1953 in der DDR ebenso wie die Kämpfe um die
Verstaatlichung der Grundstoffindustrie und gegen die Einführung des
Betriebsverfassungsgesetzes im Westen. Der „Kommunismus“ war rasch in der ArbeiterInnenklasse
in Ost und West diskreditiert. Hinzu kam, dass die stalinistische Diktatur in
der DDR jede unabhängige Subjektbildung der ArbeiterInnenklasse, selbst
verglichen mit vielen osteuropäischen „Bruderländern“ besonders systematisch
kontrollierte und somit das Subjekt jeder sozialistischen Umgestaltung
zerstörte.

Zweitens war die
Errichtung der DDR (wie des gesamten Ostblocks) Teil der Etablierung einer
reaktionären Nachkriegsordnung, die neben der territorialen Ausdehnung
bürokratischer Planung v. a. die konterrevolutionäre Aufteilung zwischen
Ost und West, unter unbedingter Anerkennung der Herrschaft des Kapitals in den
imperialistischen Sphären, implizierte. Die Errichtung degenerierter ArbeiterInnenstaaten
war nur die andere Seite der Preisgabe des griechischen Widerstandes gegen die
Bürgerlichen und die BritInnen, der Entwaffnung der ArbeiterInnen durch PCI und
KPF. In der Teilung Deutschlands fassten sich alle Probleme und Widersprüche
dieser reaktionären Nachkriegsordnung zusammen.

Hier standen einander
nicht nur die militärischen Apparate der DDR und der BRD gegenüber, sondern
Deutschland war auch zentraler Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte
die deutsche Teilung auch zu einer territorial fixierten Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung
unter die Apparate von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen
Mitteln – ein politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten.
Zweifellos hatten beide ein beachtliches Eigeninteresse an diesem Monopol und
der Säuberung der ArbeiterInnenbewegung von allen widerspenstigen Elementen.
Zugleich waren sie aber auch verlängerter Arm der führenden
politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Anders als die
Oktoberrevolution brachte die Schaffung degenerierter ArbeiterInnenstaaten in
Osteuropa keinen revolutionären Impuls für die internationale ArbeiterInnenbewegung
mit sich. Im Gegenteil, sie führte zur Versteinerung der politischen
Verhältnisse und läutete eine rund zwei Jahrzehnte andauernde
konterrevolutionäre Periode ein.

Diese Politik des
Stalinismus konnte sich natürlich nicht nur auf die Rote Armee stützen. Um
rasch ein politisches Gegengewicht gegen die Gefahr einer revolutionären
Organisierung der ArbeiterInnenklasse schaffen zu können, wurden von der
sowjetischen Militärverwaltung nicht nur früher als in den Westzonen Parteien
zugelassen, sondern es sollte ein verlässliches Kontrollorgan der ArbeiterInnenschaft
entstehen. Dazu bediente man sich seitens der StalinistInnen der tiefen
Sehnsucht in der ArbeiterInnenklasse nach Einigkeit, die gerade aus der
schmerzlichen Erfahrung der historischen Niederlage des deutschen Proletariats
gegen den Faschismus resultierte.

Die Gründung der SED

Die deutschen StalinistInnen
der KPD folgten auch nach dem Krieg der seit 1935 für alle KPen verbindlichen
Volksfront-Linie, d. h. sie forderten eine bürgerliche Republik unter
Einschluss aller antifaschistischen demokratischen Kräfte und schlossen ein
Rätedeutschland aus. Sie verfochten ein Etappenmodell, wonach durch die
Blockaden der deutschen Geschichte zunächst die bürgerlich-demokratischen
Aufgaben von 1848 erfüllt werden müssten. Dann erst könne an die Aufgaben eines
gesellschaftlichen Zukunftsmodells, des Sozialismus, gedacht werden. Programmatisch
fiel die KPD damit deutlich hinter die andere ArbeiterInnenmassenpartei, die
SPD, zurück, die immerhin für die sofortige Verstaatlichung der
Schlüsselindustrien eintrat und von der auch das Motto „Deutschlands Zukunft
wird sozialistisch oder gar nicht sein“ (Dr. Kurt Schumacher) stammte.

Die Vereinigung beider
Parteien wurde im Ostteil von den StalinistInnen aktiv betrieben, als sie sich
sicher sein konnten, die Kontrolle über diesen Prozess ausüben zu können. Es
handelte sich jedoch nicht einfach um eine „Zwangsvereinigung“. Dieser Prozess
reflektierte auch Bedürfnisse nach Einheit der ArbeiterInnenklasse und reale
Unterstützung dieses Projekts durch bedeutende Teile der SPD-Mitgliedschaft.
Hinzu kommt, dass sich SPD und KPD politisch-programmatisch keineswegs
grundsätzlich unterschieden. Beide waren bürgerliche ArbeiterInnenparteien,
Parteien der sozialen Reform, wenn auch mit grundlegend anderer internationaler
Ausrichtung.

Dadurch geriet die
Ost-SPD mehr und mehr in die Defensive. Die Mentorin der KPD – die sowjetische
Besatzungsmacht – kontrollierte den Staatsapparat im Osten. Die West-Führung
der SPD hintertrieb gleichzeitig jede Vereinigungsbestrebung ebenso
bürokratisch, wie sie von der KPD-Führung ihrerseits vorangetrieben wurde. Die
Führung um Schumacher setzte vor allem auf den britischen Imperialismus und
dessen Labour-Premierminister Attlee.

Der Zusammenschluss von
KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1946 war
nicht das Ergebnis prinzipienfester Bilanz- und Perspektivdiskussionen, die
eine Vereinheitlichung des Bewusstseins der ArbeiterInnenbewegung auf einem
höheren Niveau sich auch nur zum Ziel gesetzt hätte. Es ging um einen rein
organisatorischen Akt, der ins nackte Machtkalkül der stalinistischen BürokratInnen
passte, die damit eine Legimitationsbasis für ihre spätere Rolle als
Staatspartei schufen. Die Strukturen der SED waren von Anfang an
undemokratisch, ihr Programm reformistisch und ihre Praxis konterrevolutionär
und immer an den Erfordernissen der Kreml-Bürokratie orientiert. Als erste
Visitenkarte ihrer frisch erlangten Monopolstellung in den Ost-Gewerkschaften
schaffte die SED das Streikrecht ab. Die unabhängigen Betriebsräte wurden mit
Beginn des 2-Jahresplans 1948 ausgemerzt.

Zick-Zack-Kurs der SED

Im Laufe der 40-jährigen
DDR-Geschichte hat es verschiedene Kurswechsel der SED gegeben. Der erste kam
sehr bald nach der Verkündung des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der
zweiten Parteikonferenz 1952. Zwangskollektivierung von Kleinbauern/-bäuerinnen
und Vorgehen gegen das Kleinbürgertum in Handel und Dienstleistung verursachten
eine dramatische Verschlechterung der Versorgungslage, so dass diese Maßnahmen
schon ein Jahr später wieder wirtschaftlichen Vergünstigungen für die
kleinbürgerlichen Schichten und gleichzeitigen Belastungen des Proletariats
(Normenerhöhungen in der Produktion) wichen. Dies brachte wiederum die ArbeiterInnen
der DDR in Aufruhr. Die Regierung Ulbricht stand kurz vor der Ablösung, doch
paradoxerweise rettete gerade der Aufstand das Regime, das er eigentlich
stürzen wollte, denn die Kreml-Bürokratie konnte sich in der Situation keinen
Rückzug oder Schwäche leisten, sonst hätten sie womöglich die unterdrückten
Massen anderswo in ihrem Einzugsgebiet zu ähnlichen Aufständen ermutigt.

Dass die Ulbricht-Ära
doch zum Auslaufmodell wurde, lag daran, dass das 1963 ins Leben gerufene NÖSPL-
(Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung)-Experiment, das erhebliche
Mehrbelastung v. a. des Arbeitszeiteinsatzes für die ArbeiterInnenklasse
mit sich brachte, Mitte der 1960er Jahre verhältnismäßig erfolglos wieder
abgebrochen werden musste, aber keine neuen Impulse mehr von dieser
Regierungsspitze ausgingen.

Das sie 1971 ablösende
Honecker-Regime konnte kurzfristig ebenfalls wirtschaftliche Erfolge vorweisen:
Kaufkraft und Warenangebot stiegen. Dies wurde erreicht durch die taktische
Wende, „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ genannt, womit eine
Einengung des Entscheidungsspielraums der einzelnen Betriebe gemeint war. Die
sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Bedingungen mit gestiegenen
Rohstoffpreisen, Verschuldung und erhöhten technologischen Anforderungen
schlugen in den 1980er Jahren voll durch. Mangelerscheinungen konnten in der
DDR zunehmend weniger kaschiert werden. Das Honecker-Regime war untragbar
geworden.

Deutsche Teilung – nationale
Frage

Bevor wir zum
Zusammenbruch der DDR kommen, wollen wir noch einmal auf die Bedeutung der
nationalen Frage eingehen.

Die beiden deutschen
Teilstaaten blieben immer ein Symbol für die Weltordnung nach dem Zweiten
Weltkrieg und ihre gegenseitige Beziehung ein Barometer für den jeweiligen
Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Hauptmächten des Status quo, dem
US-Imperialismus und der UdSSR. Nicht zufällig fällt gerade das sinnbildhafteste
Ereignis der deutschen Teilung, der Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als
die internationalen Beziehungen auf dem Gefrierpunkt angelangt und der Kalte
Krieg in einen heißen atomaren Krieg (Kubakrise) umzuschlagen drohte.

1961 markierte einen Wendepunkt
in den innerdeutschen Verhältnissen und auch eine Abkehr der in der DDR
herrschenden SED-Bürokratie selbst von einem verbal positiven Bezug zur
deutschen Einheit und eine Hinwendung zum Versuch des Aufbaus einer
eigenständigen Nationalidentität der DDR. Maßnahmen von Zwangskollektivierung,
Enteignung und Denunziation hatten bereits seit den frühen 1950er Jahren zur
Flucht von Bauern/Bäuerinnen, HandwerkerInnen und KleineigentümerInnen in den
deutschen Weststaat geführt. Nach der Niederschlagung des ArbeiterInnenaufstands
1953 und dem am Ende des Jahrzehnts immer spürbarer werdenden
Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West drohte die DDR an
qualifizierten industriellen Arbeitskräften, die ebenfalls in die BRD
abwanderten, auszubluten. Dagegen musste etwas unternommen werden.

Das Nadelöhr Berlin mit
Flüchtlingsauffangstellen, hundertausenden Ost-West-ArbeitspendlerInnen und den
Wechselstuben, wo sich der Verfall der DDR-Währung empfindlich bemerkbar
machte, wurde zugemauert. Die PendlerInnen waren für Westfirmen besonders
lukrativ und für die DDR verheerend, da die ArbeiterInnen mit Wohnsitz im Osten
und Arbeitsstelle im Westen Sozialleistungen der DDR bezogen und die Valuta im
Verhältnis 1:10 rückgetauscht wurde. Auch ein gesunder ArbeiterInnenstaat hätte
die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse schützen müssen, aber niemals um
den Preis, die Bevölkerung in einer geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung
nur in die „sozialistischen Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die
deutsche Spaltung auf Dauer buchstäblich betoniert zu sein.

Ökonomische Durchdringung

Zwar erholte sich die DDR
bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer noch günstigen
Weltkonjunktur, doch in den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung
hatte sich das stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und
besonders in der BRD dem Antikommunismus auch in der ArbeiterInnenschaft immens
Vorschub geleistet. Die DDR-ArbeiterInnenklasse erstickte ideologisch im
Provinzmief, verfiel durch die nun noch effektivere Gängelung seitens der
Bürokratie in politische Apathie und wurde so erst recht zum „Fallobst“ für die
BetreiberInnen der kapitalistischen Restauration.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, das Paradoxon eines größeren ökonomischen
Bewegungsspielraums in der DDR. Auf dieser Grundlage konnten sich die
innerdeutschen Beziehungen „normalisieren“, die ein prima Klima v. a.
unter der CDU-geführten Regierung der 1980er Jahre schufen.

Das scheinbare politische
Laisser-faire war allerdings begleitet durch eine neue imperialistische
Offensivstrategie der „Totrüstung“ gegen die ArbeiterInnenstaaten, die
zusätzlich die Wirtschaft der DDR neben den hausgemachten Problemen mit den
abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in Mitleidenschaft zog. So ließ
sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als einvernehmliche Hilfe
anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit der DDR von der BRD, da
die RGW-Zusammenarbeit des Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz
am Bein wurde.

Aus der Schuldenfalle und
der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung von Devisen auf
Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die DDR schließlich
mit den herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus eigener Kraft
befreien, so dass der BRD-Imperialismus die Wiedervereinigung in seinem Sinne
über diesen Umweg vorbereiten half.

40 Jahre unterschiedlicher
Gesellschaftssysteme und eine praktische Abschottung gegeneinander sind
natürlich nicht spurlos am Bewusstsein insbesondere der ArbeiterInnenklasse
diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze vorübergezogen, dennoch ist
die nationale Frage immer wieder aufgetaucht: 1953, 1961, 1970 (Brandt-Besuch).
Der Mauerfall 1989 war die Bestätigung, dass die seit dem Mauerbau scheinbar
negativ gelöste Frage der deutschen Wiedervereinigung plötzlich wieder zur
realen Perspektive wurde. Es war nicht entscheidend, dass in diesem Augenblick
kaum jemand der DDR-BesucherInnen im Westen an die Möglichkeit geglaubt hatte,
sondern vielmehr, dass das frisch gewonnene Selbstbewusstsein, durch Druck
etwas zu erreichen, aber auch die Verinnerlichung der beeindruckenden
Konsumkulisse der BRD beide Optionen, sowohl die der revolutionären
Wiedervereinigung wie die der kapitalistischen Restauration der DDR zuließen.

Nationale Frage und
politische Revolution

Die nationale Frage in
Deutschland war immer eng mit der Nachkriegsordnung verbunden. Die Frage der
politischen Revolution in der DDR und der sozialen Revolution in der BRD sowie
ihrer Kombination zur Errichtung einer gesamtdeutschen Räterepublik musste
notwendigerweise immer zum direkten Angriff auf diese Ordnung werden.

Jede Revolution in
Deutschland nach 1945 hätte nicht nur mit dem BRD- oder DDR-Staatsapparat,
sondern auch mit der Sowjet-Armee bzw. den US-amerikanischen, britischen und
französischen Truppen zu tun gehabt. Das bestätigte auch die politisch
revolutionäre Krise in der DDR, wenn auch mit konterrevolutionärem Ausgang.
Ohne Einverständnis v. a. der Sowjetunion zur praktischen Einverleibung in
die BRD, zum „Beitritt“ der DDR, v. a. aber zur Ausdehnung der NATO auf
dieses Territorium wäre die deutsche Einheit in dieser Form fraglos nicht
zustande gekommen.

Die Teilung Deutschlands
führte natürlich auch zu einer massiven Einschränkung demokratischer Rechte,
der Reisefreiheit im Besonderen. Diese war immer ein wichtiger Nährboden für
politische Unzufriedenheit und Proteste, vor allem gegen das SED-Regime.

Es ist damit klar, dass
die Teilung Deutschlands als solche bei der ArbeiterInnenklasse keine wie immer
geartete Legitimität erwarten konnte. Die Versuche des SED-Regimes, die
Existenz einer DDR-Nation zu beweisen, waren von Beginn an zum Scheitern
verurteilt. Mit der immer tiefer werdenden Krise der bürokratischen Planung und
dem damit verbundenen Schwinden der sozialen Stützen des SED-Regimes musste die
nationale Frage daher früher oder später akut werden.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen des SED-Regimes

Die Existenz der DDR als
ökonomisch immer schwächer werdender Teil Deutschlands stand und fiel in
Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens der Stabilität der Nachkriegsordnung.
Zweitens damit, den Arbeitern und Arbeiterinnen in der DDR eine wirtschaftliche
und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können. Wie jedes Regime der
Welt konnte sich auch die stalinistische Herrschaft nicht nur auf Repression
stützen, sondern beinhaltete ein Element des Kompromisses mit der ArbeiterInnenklasse,
besonders mit den oberen Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung, die
teilweise in die unteren Ebenen der Bürokratenkaste übergingen.

Dieser Ausgleich
erstreckte sich auch auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, ja musste diese
als sozial stärkste Schicht umfassen. Er bestand vor allem darin, dass das
Regime – politische Ruhe vorausgesetzt – zumindest eine spürbare Steigerung des
Lebensstandards bringen müsse. Diese Notwendigkeit reflektierte auch Honeckers
Wende zu vermehrter Konsumgüterproduktion am Beginn der 1970er Jahre.

Die DDR blieb jedoch
ökonomisch immer mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse
spürte diese Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der
Produktionsmittel, immer stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den
Export bei gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der
Lebensbedingungen, immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem
Westen. Hinzu kam, dass die „Betonköpfe“ in der SED-Führung verglichen mit den
polnischen oder ungarischen „Bruderländern“ sehr viel unbeweglicher und „reformfeindlicher“
wirkten, was die Hoffnung in eine schrittweise Reform à la Gorbatschow immer
unrealistischer erscheinen ließ.

Daraus ergibt sich, dass
erstens eine tiefe politische Krise der SED-Herrschaft recht rasch die Frage
der wirtschaftlichen Zukunft aufwerfen musste; dass zweitens die Kernschichten
der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System der bürokratischen Planung
schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990 geschichtlich zur Disposition
stand. In der Wirklichkeit hatte, wie sich herausstellen sollte, selbst die
Bürokratie die Hoffnung verloren, dass dieses System durch eine reformierte
Variante der SED-Herrschaft wieder in Schwung zu bringen sei.

Damit war das gesamte
DDR-Gesellschaftssystem in Frage gestellt. Dass die nationale Frage im Herbst
1989 rasch solche Bedeutung erlangen musste, hatte also vor allem
gesellschaftliche Ursachen (wie das bei der nationalen Frage immer der Fall
ist). Sie war keineswegs reaktionären „Urinstinkten der Deutschen“ geschuldet,
schon gar nicht wurde sie einfach „von außen“ durch die Kohl-Regierung „hineingetragen“
oder „künstlich“ aufgebauscht.

Es handelt sich vielmehr
um eine spezifische historische Form, in der die nationale Frage aufgeworfen
wurde: um die Infragestellung der reaktionären Nachkriegsordnung, die sich in
der deutschen Teilung manifestierte. Der Zusammenbruch eines der Pfeiler dieser
Nachkriegsordnung eröffnete die Möglichkeit, dass die in der Blockbildung
erstarrten Klassenwidersprüche auch im anderen Teil dieser Nachkriegsordnung
wieder in Bewegung gerieten.

Gerade wenn wir die
zentralen Aufgaben der politischen Revolution in der DDR – der Eroberung der
Staatsmacht und Reorganisation der Planwirtschaft – betrachten, wird unmittelbar
deutlich, dass diese von Beginn aufs Engste mit der ArbeiterInnenklasse und
sozialen Revolution im Westen verbunden waren. Wie hätte die DDR-Wirtschaft
reorganisiert werden sollen und können, wenn nicht im engen Verbund mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Westen?

Revolution und
Konterrevolution als historische Alternativen

Der Zusammenbruch eines
Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine politisch-revolutionäre Krise in der
DDR konnte nur zu drei Resultaten führen: bürokratische Konterrevolution,
politische Revolution oder soziale Konterrevolution. Die bürokratische
Konterrevolution wäre zwar im Herbst 1989 noch möglich gewesen. Sie hätte aber
angesichts der wirtschaftlichen Krise der bürokratischen Planung ziemlich rasch
zur nächsten manifesten politischen Krise führen müssen, wahrscheinlich mit
einer ArbeiterInnenklasse, die von „Sozialismus“ endgültig genug gehabt hätte
und die noch empfänglicher für bürgerlich-demokratische Lockungen gewesen wäre.
Daher waren im größeren geschichtlichen Maßstab nur zwei Optionen wirklich
offen: politische Revolution oder soziale Konterrevolution.

Die Bedeutung der
revolutionären Wiedervereinigung

Die Frage eines mutigen
und revolutionären Aufgreifens der nationalen Frage ergab sich daher für
Kommunisten und Kommunistinnen nicht aus irgendwelcher Einheitstümelei, sondern
aus der Analyse der sozialen Voraussetzungen, der politischen und
wirtschaftlichen Dynamik der Krise des SED-Regimes. Daher war die Losung einer
Vereinigten Sozialistischen Räterepublik in ganz Deutschland eine zentrale
Frage vom Beginn der Massenbewegung in der DDR an.

Sie musste jedoch konkret
übersetzt werden in Schritte zum sofortigen Aufbau von direkten Verbindungen
zwischen den Gewerkschaften, betrieblichen AktivistInnen in Ost und West, in
ein Aktionsprogramm zur Lösung der dringendsten Aufgaben auf wirtschaftlichem
und politischem Gebiet, das mit der Losung einer revolutionären ArbeiterInnenregierung
verbunden werden musste. Die LRKI (Vorläuferin der LFI) hat von Beginn an die
Frage der revolutionären Wiedervereinigung sehr konkret aufgeworfen und
gleichzeitig die Notwendigkeit dargelegt, jede Rekapitalisierung der DDR
einschließlich einer kapitalistischen Wiedervereinigung entschieden zu
bekämpfen. Wir dokumentieren den Abschnitt zur nationalen Frage aus einer der
ersten Stellungnahmen unserer internationalen Tendenz vom November 1989 am Ende
dieses Textes.

Die Frage der
Wiedervereinigung war von Beginn an virulent, obwohl sie in den ersten Wochen
der Mobilisierung gegen die Bürokratie nicht offen gestellt wurde. Das hing
damit zusammen, dass gerade in den Stellungnahmen des Großteils der
kleinbürgerlich geprägten „Bürgerbewegung“ die Forderungen im Wesentlichen auf
demokratische Reformlosungen beschränkt waren. Diese Ziele drückten zweifellos
berechtigten Unmut aus und ihr Gehalt musste von RevolutionärInnen in dieser
Phase aufgegriffen und zugespitzt werden. Das trifft besonders auf Losungen wie
Organisationsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit zu.

Die Blindheit gegenüber
den ökonomischen Fragen fand ihren Ausdruck allerdings nicht nur in direkter
Ignoranz. Wo die Bürgerbewegung und besonders ihr linker Flügel wirtschaftliche
Forderungen und Konzepte entwickelten, stellten sie der bürokratischen
Planwirtschaft entweder eine Spielart des utopischen „Dritten Weges“ zwischen
Kapitalismus und Kommunismus oder eine Form des „Marktsozialismus“ entgegen.
Das traf auch auf die linkesten Strömungen wie die Vereinigte Linke zu, die in
der „Böhlener Plattform“ einer Form der „ArbeiterInnenselbstverwaltung“
nach jugoslawischem Muster das Wort redete.

Hinzu kam, dass die
Bürgerbewegung insgesamt politisch eine Reformperspektive des SED-Staates
vertrat. Die Macht lag zwar auf der Straße, wie ein geflügeltes Wort dieser
Tage hieß – aufheben wollte sie allerdings in dieser Phase niemand. Der Druck
der Massenbewegung führte Ende 1989 zur Installation der sogenannten „Runden
Tische“, die sowohl der perspektivlosen und konfusen Opposition wie auch der
noch herrschenden SED-Bürokratie zupasskamen.

Sie erlaubten allen
Kräften, vor allem die Massen zu demobilisieren, auf die Arbeit in den „neuen“
Gremien zu vertrösten. Hinzu kam außerdem, dass auch die zunehmende
Orientierung auf bürgerliche parlamentarische Wahlen zur Volkskammer dazu
beitrug, die politische Energie von der Straße an die Wahlurnen zu verlagern.

Die Bürgerbewegung
übergab in dieser Phase die Initiative, die sie ohnedies nie haben wollte, an
die teilweise aus ihr, teilweise aus den Blockparteien entstandenen, offen
bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie einerseits, an die SED-PDS
andererseits.

Vom Sommer 1989 bis zur
Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre Krise, die
schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Bis zum November 1989
befand sich die Massenbewegung, befand sich die Revolution in der Offensive. Es
schien hier nur vorwärtszugehen. Der scheinbar aus Stahl gegossene Parteiapparat,
die Stasi usw. mussten Schritt für Schritt zurückweichen, zeigten, wie marode
das Regime schon war.

Nachdem Gorbatschow klargemacht
hatte, dass die sowjetischen Truppen nicht gegen die Bevölkerung eingesetzt
würden und die SU ein solches Vorgehen von den Staatsorganen der DDR
missbilligen würde, waren die Tage der Honeckers und Co. gezählt. Wie oft in
solchen Krisen tat die herrschende Schicht ihr Übriges, den letzen Kredit zu
verlieren, so z. B. als Honecker den hunderttausenden, die im Sommer die
DDR fluchtartig verlassen hatten, noch ausrichten ließ, dass er ihnen keine
Träne nachweine. Solche „Botschaften“ der stalinistischen Führung haben dazu beigetragen,
dass die unten nicht länger bereit waren, die oben wie bisher weitermachen zu
lassen.

Mehr noch, die tiefe
Krise in der DDR hatte auch in der SED, z. B. auf dem Parteitag von
Dezember 1989, zu einer politischen Differenzierung geführt. Unter den
Millionen, die in der DDR auf die Straße gingen, waren auch hunderttausende
SED-Mitglieder, die von „ihrer Parteiführung“ endgültig die Schnauze voll
hatten.

Es war in den ersten
Monaten der Wende keineswegs der Fall, dass die Restauration des Kapitalismus –
sei es in der DDR selbst oder in Form einer kapitalistischen Wiedervereinigung
bewusstes Ziel der Massenbewegung war. Auch der BRD-Imperialismus, die SPD und
noch viel mehr die westlichen imperialistischen Mächte sahen hier noch nicht
die Chance einer raschen Ausdehnung des Kapitalismus in den Osten (und viele
imperialistische PolitikerInnen waren darüber auch froh, da sie keineswegs ein
Interesse an einem erstarkenden deutschen imperialistischen Rivalen hatten).

Wie kam es zum
konterrevolutionären Umschwung?

Die Antwort darauf liegt
grundsätzlich nicht darin, dass besonders kluge oder dumme Aktionen einzelner
PolitikerInnen dazu geführt hätten. Natürlich war z. B. die Maueröffnung
auch auf einen Akt der „Panik“ des Politbüros zurückzuführen. Er macht
allerdings durchaus Sinn vom Standpunkt der Selbsterhaltung der Bürokratie, die
zu diesem Zeitpunkt ein Interesse daran hatte, dass die Bürger und Bürgerinnen
der DDR „Dampf ablassen“ frei nach dem Motto: Wer bei Aldi einkauft, läuft
nicht auf Demos gegen das DDR-Regime. Es ist überhaupt eine
verschwörungstheoretische Geschichtsinterpretation, wenn gemeint wird, dass der
Fortbestand des reaktionären Grenzregimes irgendeine grundsätzliche Änderung
gebracht hätte.

Die tieferen Ursachen des „Umkippens“ der Bewegungsrichtung bestanden in folgenden Faktoren:

  1. Erschöpfung der Potentiale der bürokratischen Planwirtschaft;
  2. Fehlen einer politischen Führung, die eine Alternative für die Avantgarde der ArbeiterInnenbewegung mit der Perspektive des revolutionären Sturzes des SED-Regimes und einer revolutionären Wiedervereinigung hätte weisen können;
  3. weitgehende Zerstörung des Klassenbewusstseins des Proletariats.

Diese Faktoren und die
internationale Bedeutung der politisch-revolutionären Krise implizierten von
Beginn an, dass sich die Ereignisse in der DDR überaus rasch entwickeln würden.
Doch trotz ungünstiger Voraussetzungen – Zerstörung des proletarischen
Klassenbewusstseins und Fehlen einer revolutionären Avantgardepartei weltweit –
entwickelten sich im Zuge der Krise politische Strömungen, die den Wunsch nach
einer fortschrittlichen, proletarisch-revolutionären Lösung zum Ausdruck
brachten. Das betraf vor allem in der Frühphase der Bewegung die Vereinigte
Linke, die sich auf eine landesweite Bekanntheit und einen Anhang unter der
Intelligenz und Teilen der bewussten ArbeiterInnenschaft stützen konnte und
einige hundert Aktivisten und Aktivistinnen und zehntausende AnhängerInnen
umfasste. Ebenso führten die Ereignisse zur politischen Oppositionsbildung in
den Gewerkschaften – z. B. in der Initiative Unabhängige Gewerkschaften –
und, vor allem Ende 1989, zu einer tiefen politischen Krise in der SED-PDS.

In diesen politischen
Bewegungen nach links hätten Revolutionäre und Revolutionärinnen das
Rohmaterial für eine wirklich revolutionäre Partei finden können.

Die Entwicklung in der
DDR wurde allerdings noch dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht
nur nicht als bewusstes politisches Subjekt auftauchte, sondern auch
betriebliche und kommunale Formen proletarischer Selbstorganisation sehr rar
blieben (obwohl es dokumentierte Fälle von betrieblichen Räten in der DDR
gibt). Es wäre jedoch verkürzt, das Ausbleiben proletarischer Machtorgane im
Betrieb und in der Gesellschaft nur auf ein geringes Niveau des
Klassenbewusstseins zurückzuführen.

Die SED-Bürokratie war
sehr rasch zurückgewichen. Im Betrieb erschien die Bürokratie kaum noch als
Gegnerin. Damit entfiel ein unmittelbarer praktischer Grund, die Macht im
Betrieb, gestützt auf Machtorgane der Arbeiter und Arbeiterinnen, direkt in die
Hand zu nehmen.

Zentrale politische Probleme

Revolutionäre Agitation
und Propaganda mussten sich auch stark auf die Notwendigkeit der Schaffung von
räteähnlichen Strukturen und Kampforganen der Arbeiter und Arbeiterinnen
konzentrieren und diese mit der Notwendigkeit der Errichtung einer demokratischen
Planwirtschaft verbinden. Eine solche wäre jedoch unmöglich gewesen, ohne den
revolutionären Sturz der SED, die Zerschlagung des Staatsapparates, die
Forderung nach Abzug der sowjetischen Armee, nach Entwaffnung von Polizei,
Armee, Betriebskampfgruppen und der Übergabe ihrer Waffen in die Hände von ArbeiterInnenmilizen.

Ein zweiter zentraler
Punkt war der Kampf gegen demokratische Illusionen. Dazu war es angesichts des
fehlenden Klassenbewusstseins des Proletariats unbedingt notwendig, die Kritik
des Charakters der bürgerlichen Demokratie und die Propagierung des Rätesystems
mit Forderungen zu verbinden, die die Hoffnungen in die bürgerliche Demokratie
einem Test unterzogen hätten und gleichzeitig dazu angetan waren, den Schaden
dieser Illusionen zu minimieren.

Eine solche
Herangehensweise war umso dringlicher, als der politisch-revolutionäre Prozess
November/Dezember 1989 seinen Schwung verloren hatte, die spontane
Massenmobilisierung mehr und mehr unter die Fuchtel offen restaurationistischer
Führungen geriet und auch SED, SED-PDS (später die PDS) unter Krenz, Modrow und
Gysi auf den Kurs der kapitalistischen Wiedervereinigung umschwenkten.
Bezeichnenderweise war es in dieser Phase Krenz, der als erster von einem „Vierten
Reich“ sprach, das er entstehen sah.

Demobilisierung und
Rechtsentwicklung

Die „Runden Tische“ waren
in dieser Hinsicht für alle bürgerlichen, kleinbürgerlichen und bürokratischen
Kräfte ein Mittel, sich dem Druck der Arbeiter und Arbeiterinnen zu entziehen.
In dieser Phase wurde von der westdeutschen Bourgeoisie und der SPD auch die
Frage der kapitalistischen Wiedervereinigung offensiver ins Treffen geführt.

Im Januar 1990 versuchte
die SED-PDS einen letzten Vorstoß zur Restabilisierung der Stasi, zu der sie
auch das Auftauchen faschistischer Schmierereien nutzte. Doch dieser Versuch
versandete rasch und die SED-PDS willigte ein, im März 1990 Wahlen abzuhalten.

Die Massenbewegung war
damit von der Straße weg vor die Fernsehschirme verbannt. Anfang 1990 war es
die SPD, die nun die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten
in der DDR auf sich zog. Aber die SPD hatte einen Wiedervereinigungsplan, der
weder die historisch-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus voll
befriedigte noch den Werktätigen der DDR eine vernünftige Perspektive bot:
Wiedervereinigung in zehn Jahren (womit die SPD in trauter Gemeinsamkeit mit
den MonetaristInnen der Deutschen Bundesbank gegen das „Abenteuer
Wiedervereinigung“ stand).

Die zögerliche Haltung
der SPD hatte nichts mit antiimperialistischen Überlegungen zu tun, sondern
spiegelte ihre soziale Basis in der westdeutschen ArbeiterInnenaristokratie
wider, die borniert, aber nicht zu Unrecht fürchtete, die Zeche für die
Expansion des deutschen Imperialismus zahlen zu müssen. Statt gemeinsam mit den
Klassenbrüdern und -schwestern im Osten in die Offensive zu gehen, blieb die ArbeiterInnenklasse
im Westen gegenüber den Ereignissen passiv, skeptisch, abwartend.

Statt gemeinsam gegen die
Angriffe des Kapitals zu kämpfen, dem Feldzug des deutschen Kapitals im Osten
gemeinsam entgegenzutreten und gleichzeitig für die Reorganisation der
Planwirtschaft auf Kosten der Profite der deutschen Multis zu kämpfen, redete
die SPD einer Variante der kapitalistischen Wiedervereinigung das Wort, deren
Kosten allerdings nur die ostdeutschen Arbeiter und Arbeiterinnen hätten
begleichen müssen.

Diese sahen sich daher zu
Recht von der SPD in Stich gelassen. Die Reformkonzepte der Bürgerbewegung, die
Sonntagsreden vom „Dritten Weg“ hatten nicht nur einen recht offensichtlichen
utopischen Charakter, sie klangen auch nach der allzu bekannten
Ankündigungspolitik der SED. Dass die DDR-Wirtschaft mit bürokratischer Planung
light nicht aus der Krise gebracht werden konnte, wusste auch die/der
unpolitischste DDR-ArbeiterIn.

Selbst eine einigermaßen
große kämpfende Propagandagruppe revolutionärer Kommunisten und Kommunistinnen
hätte in dieser Phase zumindest der Avantgarde eine politische Orientierung
geben können. Es existierte aber kein solcher Kern.

Die Haltung der
westdeutschen ArbeiterInnenbewegung, die Politik der SPD, aber selbst die
Position der „radikalen“ Linken, dass die Revolution (und Konterrevolution) in
der DDR ausschließlich eine Angelegenheit der DDR-Bevölkerung sei, führten
nicht nur zum stetigen Terrainverlust im Osten, sie sicherten dem westdeutschen
Imperialismus nebenbei auch ein ruhiges Hinterland.

Kohls Sieg

Andererseits hatte die
BRD-Regierung unter Kohl als einzige Kraft die weltgeschichtlichen Potentiale
der Situation nicht nur begriffen, sondern auch sehr selbstbewusst im Interesse
der langfristigen Perspektiven des deutschen Imperialismus die Initiative
ergriffen. Der „ideelle Gesamtkapitalist“ hat in dieser Situation auch ganze
Sektoren des deutschen Kapitals, nicht zuletzt die Bundesbank, zur Seite
geschoben und Kurs auf eine rasche kapitalistische Wiedervereinigung genommen.
Wenige Wochen vor der letzten Volkskammerwahl ging der westdeutsche
Imperialismus in die Offensive. Die Ost-CDU, nunmehr Marionette der Bonner
Regierung, gewann die Wahl. Der eigentliche Sieger war Kohl.

Keine einzige größere
Partei, die zur Wahl stand, hatte auch nur die Absicht, die kapitalistische
Wiedervereinigung und Abwicklung der DDR zu verhindern. Entscheidende
ökonomische Mechanismen – darunter die Gründung der Treuhand und die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Juli 1990 – waren schon
unter der Regierung Modrow auf den Weg gebracht worden. Nun folgte die
endgültige Zerstörung des degenerierten ArbeiterInnenstaats DDR mit der
Wirtschafts- und Währungsunion. Die Wiedervereinigung im Herbst war dann bloß
der staatliche Nachvollzug dieser Regelung.

Nein zur kapitalistischen
Vereinigung!

Zu den letzten
Volkskammerwahlen konnten Revolutionäre und Revolutionärinnen keine der
antretenden Parteien unterstützen. Sie waren in einer ganz entscheidenden
Stunde einer Wahl, die im Grunde eine Abstimmung über die Existenz der
Errungenschaften der DDR war, allesamt auf der falschen Seite der Barrikaden.
Die soziale Konterrevolution nahm dadurch auch wie in den meisten
osteuropäischen Ländern eine bürgerlich-demokratische Form an.

Im Frühjahr 1990 hätte
das Schwergewicht der Intervention revolutionärer Kommunisten und
Kommunistinnen auf folgende Punkte konzentriert werden müssen: die Verteidigung
der existierenden Errungenschaften, den Kampf gegen den beginnenden Ausverkauf
der DDR-Wirtschaft an das Kapital, ein klares Nein zur kapitalistischen
Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Herstellung enger Verbindung zu den
Arbeitern und Arbeiterinnen im Westen (besonders in jenen Konzernen und Banken,
die sich anschickten, den Osten zu „erobern“), den Kampf für volle
demokratische Rechte für die ArbeiterInnenbewegung und die Schaffung von den
Belegschaften verantwortlichen Kampforganen, die bei einer Generalisierung und Zuspitzung
der Abwehrkämpfe zu landesweiten räteähnlichen Organen, zu Organisatorinnen von
Massenstreiks gegen Kapital und Bürokratie, gegen NATO und sowjetische Truppen hätten
ausgebaut werden müssen.

Solche Organe hätten
gleichzeitig die Grundlage für eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung sein
können, für die Zerschlagung der Reste des SED-Staatsapparates und die
Errichtung einer proletarischen Räterepublik in Deutschland. Eine solche
Entwicklung hätte die revolutionäre Wiedervereinigung mit unzweifelhaft
progressiver Dynamik auf die Tagesordnung gesetzt. Vor allem aber hätte der
Zusammenbruch der alten Weltordnung mit einem Fanal für die Ausweitung der
Revolution nach Ost- und Westeuropa begonnen.

Dass es nicht so gekommen
ist, lag zweifellos an ungünstigen politischen Voraussetzungen und der geringen
Zeitspanne, die für die Entstehung proletarischen Klassenbewusstseins und für
eine grundlegende Umgruppierung der Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung genutzt
werden hätte müssen. Die kapitalistische Wiedervereinigung war eine Niederlage
für die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und eine besonders schwere für das
Proletariat in der ehemaligen DDR.

Es ist kein Zufall, dass
seit den frühen 1990er Jahren fast alle zentralen Angriffe auf die
Errungenschaften im Westen durch „Probeläufe“ und „Vorstöße“ im Osten gestartet
werden. Die Deindustrialisierung und die riesige industrielle Reservearmee,
aber auch der Verlust an gewerkschaftlicher Kampferfahrung und Bereitschaft des
Proletariats in den neuen Bundesländern haben die ArbeiterInnenklasse in der ganzen
BRD geschwächt. Gleichzeitig wurde die weltpolitische Rolle des deutschen
Imperialismus im letzten Jahrzehnt enorm gestärkt. Die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland steht heute einem Klassengegner gegenüber, der sich viel mehr
gestärkt hat, als es die Betrachtung der rein territorialen Ausdehnung
wiedergibt.

Der Kampf ist nicht zu
Ende!

Welches Potential in der ArbeiterInnenklasse
noch immer steckt, lässt sich freilich daran ermessen, dass es der Bourgeoisie
trotz ihres historischen Erfolgs 1990 noch nicht gelungen ist, die
Errungenschaften der westdeutschen ArbeiterInnenbewegung und die Stärke dieser
Bewegung zu vernichten. Zweifellos hat sich das Kräfteverhältnis insgesamt
zugunsten der Kapitalistenklasse verschoben – aber diese Verschiebung hatte
bisher einen im Wesentlichen graduellen, keinen qualitativen Charakter. Für die
deutsche Bourgeoisie ist dieser Schritt aus internationalen politischen und
ökonomischen Erwägungen notwendig, da nur so für den deutschen Imperialismus
alle Früchte aus der kapitalistischen Wiedervereinigung geerntet werden können.

Um diesen noch
ausstehenden Kampf gewinnen zu können, muss die ArbeiterInnenbewegung in
Deutschland auch die Ursachen der Niederlage des ostdeutschen Proletariats
begreifen und die politischen Lehren daraus ziehen!




Die nationale Frage in der DDR

Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 21. November 1989, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Obwohl die Teilung Deutschlands eine reaktionäre
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen war, führte sie zur
Schaffung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, dessen grundlegende
ökonomische Merkmale ein Hindernis für kapitalistische Ausbeutung, die Basis
einer geplanten Wirtschaft und soziale Fortschritte sowie den Ausgangspunkt
zukünftigen Fortschritts der Arbeiterinnenklasse der DDR darstellen.
Kommunistinnen treten daher prinzipiell gegen eine Wiedervereinigung von DDR
und BRD ein, falls diese die Zerstörung der nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnisse in der DDR und die Expansion des BRD- Imperialismus zum
Inhalt hat.

Alles in allem hat die Massenbewegung in der DDR die Frage
der Wiedervereinigung bisher nicht als vordringliches Thema aufgeworfen. Das
folgt teilweise aus der Dominanz der offiziellen Ideologie mit ihrer ständigen
Versicherung der Legitimität des Staates, teilweise aus einer „realistischen“
Einschätzung, was die Imperialistlnnen und die UdSSR erlauben werden, und zum
Teil auch aus der Einsicht in den reaktionären Charakter der BRD. Trotzdem ist
es praktisch undenkbar, dass die fortgesetzte politische Krise in der DDR nicht
dazu führen wird, dass die Wiedervereinigung als mögliche Lösung der
ökonomischen Schwäche und der politischen Instabilität gesehen wird.
Revolutionärinnen müssen sich auf die fortschrittlichen Elemente dieser Idee
beziehen. Deshalb ist die Forderung nach revolutionärer Wiedervereinigung
Deutschlands keine untergeordnete taktische, sondern ein Bestandteil des
Programms. Damit meinen wir nicht, dass ein wiedervereinigter deutscher
Arbeiterinnenstaat notwendige Voraussetzung oder Ergebnis siegreicher
ArbeiterInnenrevolutionen in Europa sein muss. Wir erkennen aber, dass die nationale
Frage eine Achillesferse der DDR ist, die kein anderer osteuropäischer
degenerierten ArbeiterInnenstaat besitzt. Eine revolutionäre Antwort auf dieses
spezielle Problem bekommt damit sogar entscheidenden Stellenwert, wenn
nationale Illusionen in den Vordergrund des proletarischen Bewusstseins rücken.
Revolutionärinnen müssen hervorstreichen, dass es natürlich keine Lösung für
die Probleme der DDR in ihren eigenen Grenzen gibt. In diesem Kontext erkennen
wir auch das große ökonomische Gewicht der BRD und ihre Kapazität, den
ökonomischen Wiederaufbau und die Entwicklung in allen degenerierten
ArbeiterInnenstaaten zu unterstützen an. Aber Revolutionärinnen weisen die Idee
zurück, dass das durch die Wiedervereinigung unter einer imperialistischen BRD erreicht
werden könnte.

Die Prosperität der BRD war keineswegs das Ergebnis
irgendeiner dem kapitalistischen System innewohnenden Überlegenheit. Während
der ganzen Nachkriegsgeschichte hat die in der BRD angesiedelte deutsche
herrschende Klasse aus der Existenz ihrer stalinistisch kontrollierten
Nachbarin Vorteile gezogen. Ideologisch half diese Konstellation, die
ArbeiterInnenklasse in der BRD an ihre kapitalistischen, aber „demokratischen“
HerrInnen zu binden. Ökonomisch brachte sie sowohl die Zufuhr gut ausgebildeter
Arbeitskraft (EinwanderInnen vor dem Bau der Berliner Mauer) und den Zugang zu
osteuropäischen Märkten. Die herrschende Klasse der BRD sieht angesichts einer
eigenen exportorientierten Wirtschaft, die eine Rezession und einen darauf
folgenden Niedergang des Welthandels auf sich zukommen sieht, die Krise in der
DDR und in den anderen degenerierten ArbeiterInnenstaaten als Möglichkeit für
eine Weiterführung, ja Ausdehnung der eigenen Produktion. Zweitens sieht sie
darin die Grundlage einer neuen eigenen Rolle im europäischen und schließlich
im weltweiten Rahmen.

Die BRD-Bosse rechnen sich schon jetzt aus, wie sie am
besten aus der Krise des Stalinismus profitieren, wie sie Arbeitslöhne durch
„Flüchtlingsarbeit“ drücken können, wo neue Industrien errichtet werden sollen
und woher sie billigere Rohmaterialien erhalten können. Die
Metall-UnternehmerInnen fordern bereits eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, die
durch den Druck der Gewerkschaften Mitte der 1980er Jahre abgeschafft worden
war. Um ihre eigenen Interessen und die der ArbeiterInnen in der DDR zu
verteidigen, müssen die Lohnabhängigen in der BRD die Pläne der KapitalistInnen
durchkreuzen. Sie müssen lernen, mit ihren Bossen in derselben Sprache wie die
polnischen, russischen und ostdeutschen ArbeiterInnen zu sprechen, der Sprache
der Massenstreiks und Demonstrationen. Sie müssen nicht nur gleichen Lohn und
gleiche Rechte für alle ArbeiterInnen fordern, sondern auch das Ende der
gegenwärtigen Offensive gegen die DDR. Solange die DDR auf nachkapitalistischen
Eigentumsverhältnissen basiert, muss ihr Existenzrecht verteidigt werden, die
BRD muss ihre Legitimität und die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen.

RevolutionärInnen in der BRD fordern außerdem die Öffnung
aller Bücher der KapitalistInnen, die aus Handelsbeziehungen mit degenerierten
ArbeiterInnenstaaten profitiert haben. Sie werden die Aufnahme direkter
Beziehungen zwischen den Basisorganisationen der ArbeiterInnenklasse auf beiden
Seiten und die Bewilligung auflageloser Kredite und Hilfe für die DDR fordern.
Den Plänen, die DDR als Teil einer Rekapitalisierung in die BRD einzugliedern,
stellen wir das für ganz Europa fortschrittliche Potential einer revolutionären
Wiedervereinigung Deutschlands gegenüber, das heißt den Sturz des
kapitalistischen Staates in der BRD und den der Stalinistinnen in der DDR.

(Aus: Die Krise in der DDR, Resolution der LRKI, 21.11.1989)




Planungsmangel und Mangelplanung

Hannes Hohn, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1999)

Ein DDR-Witz ging so:
„Was passiert, wenn die Sahara sozialistisch ist? Antwort: Zunächst sehr lange
gar nichts, dann wird nach und nach der Sand knapp“. Plastischer als in mancher
Analyse werden hier zwei wichtige Merkmale der DDR-Gesellschaft beschrieben –
Stagnation und Mangel.

Im folgenden Beitrag
wollen wir versuchen, wichtige Mechanismen und Bedingungen der Planwirtschaft
in der DDR aufzuzeigen, und dabei Ursachen der Probleme dieser bürokratischen
Wirtschaft benennen. Es ist jedoch nicht Anliegen dieses Artikels, eine
umfassende Analyse vorzunehmen. Vielmehr fügt sich dieser Beitrag in die Reihe
von Arbeiten zur Theorie und Geschichte der Planwirtschaft ein, welche die
LRKI/LFI in den letzten Jahren vorgelegt hat.

Widersprüchliches
Staatsgebilde

Die DDR war ein
degenerierter ArbeiterInnenstaat – ein Staat also, in dem einige grundlegende
kapitalistische Wirtschaftsprinzipien weitgehend, wenn auch nicht vollständig,
überwunden waren. Ökonomisch – weil ohne Bourgeoisie, konkurrierendes
Privateigentum und Markt – war die DDR ein ArbeiterInnenstaat. Politisch war
sie degeneriert, d. h. anstatt des Proletariats hatte eine bürokratische Kaste
die politische und administrative Macht in Händen. Anstatt eines räteartigen
Halbstaates, der im Laufe der Entwicklung aufgehoben werden kann, installierte
die Machtelite ein der Form nach bürgerliches Staatsmonstrum, das den Massen
als verselbstständigter, unkontrollierbarer Apparat Selbstorganisation und
Kreativität erschwerte oder gar unmöglich machte.

Obwohl diese staatlichen
Strukturen dem Selbstverständnis der StalinistInnen gemäß Ausdruck der Diktatur
des Proletariats waren, standen sie den Prinzipien von ArbeiterInnendemokratie
und ArbeiterInnenmacht diametral entgegen.

Dieser Zusammenhang
zwischen Staatsstruktur und Wirtschaftsweise ist in einer nichtkapitalistischen
Gesellschaft von wesentlich größerer Bedeutung als im Kapitalismus. Während
dort die ökonomischen Mechanismen im Kern dieselben bleiben, ob das Regime
demokratisch, bonapartistisch oder faschistisch ist, steht die Frage im
ArbeiterInnenstaat gänzlich anders. Nicht das Ziel der Profitmaximierung
einer/s PrivateignerIn (oder einer Gruppe von PrivateignerInnen) ist das
treibende Moment der Produktion, sondern die bewusste Entscheidung der
Gesellschaft darüber, was wie von wem produziert wird. Das impliziert, dass die
Produktion statt der Profitrentabilität der Befriedigung realer Bedürfnisse der
Gemeinschaft dient. Anstelle des Tauschwertes tritt der Gebrauchswert als Ziel
der Produktion.

Die Planwirtschaft in der
DDR hatte grundsätzlich mit dem Mangel zu kämpfen, dass das Subjekt in
Wirtschaft und Gesellschaft – das Proletariat oder, anders ausgedrückt, die
ProduzentInnen und KonsumentInnen – keinen wesentlichen Einfluss darauf hatten,
wie, was, womit und wozu produziert wurde. Der an ihrer Stelle handelnden
Bürokratie gelang es zwar, den Wirtschaftsmechanismus am Laufen zu halten, doch
die in Richtung Kommunismus führenden revolutionären Veränderungen der
Gesellschaft insgesamt wollte und konnte sie nicht durchsetzen.

Die von Marx postulierten
strategischen Ziele des Sozialismus/Kommunismus wie Aufhebung der
kapitalistischen Arbeitsteilung, Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit und
Erreichung eines Produktivitätsstandards, der eine Überflussproduktion
ermöglicht – all das war nicht das Interesse der Bürokratie und ohne die
schöpferische Gestaltungskraft der Massen auch nicht zu erreichen. Im Endeffekt
blieb die Übergangsgesellschaft DDR mitten in dieser Periode  – oder besser: am Anfang – dieses
Übergangs stecken. Die Bürokratie erwies sich nicht als Prometheus der
Entwicklung, sondern als Prokrustes.

Bevor wir die
Ausgangsbedingungen und die Entstehung der DDR-Planwirtschaft, die inneren
Widersprüche bürokratischer Planung untersuchen sowie ein historisches Fazit
ziehen, müssen wir kurz auf einige grundlegende Probleme der Übergangsperiode
eingehen.

Übergangsperiode und
bürokratische Herrschaft

Die analytische Trennung
zwischen den allgemeinen Problemen der Übergangsperiode, denen in jeweils
verschiedener historischer Ausformung die revolutionäre Diktatur des
Proletariats gegenüberstehen würde, und den Krisen, die durch die reaktionäre,
weltgeschichtlich illegitime und zur Restauration des Kapitalismus drängende
Herrschaft einer Bürokratenkaste hervorgerufen werden, ist politisch aus zwei
Gründen notwendig.

Erstens lässt sich nur so
eine inhaltlich fundierte, genaue Kritik der bürokratischen Planung und
Herrschaft entwickeln. Ohne hinreichend klares Verständnis des Charakters der
Übergangsperiode, der notwendigen Herrschaftsform dieser Entwicklungsphase –
der Diktatur des Proletariats – und der prinzipiellen Aufgaben, die daraus
erwachsen, läuft die Kritik der Bürokratie leicht Gefahr, in ultralinkem
Utopismus, kleinbürgerlichem Demokratismus oder diversen Spielarten des
Marktsozialismus zu enden.

Zweitens können damit das
revolutionäre Programm und die Aufgaben der KommunistInnen viel klarer bestimmt
und Lehren aus dem Scheitern der bürokratischen Planwirtschaft gezogen werden.

Anders als beim Übergang
vom Feudalismus zum Kapitalismus kann das Proletariat beim Sturz der
Bourgeoisherrschaft nicht auf eine schon in der untergehenden bürgerlichen
Gesellschaft entwickelte historisch überlegene Produktionsweise zurückgreifen.
Die kapitalistische Produktionsweise entwickelte sich schon in der
Feudalgesellschaft und besonders im Absolutismus. Die bürgerlichen Revolutionen
vollzogen den weltgeschichtlichen Wechsel politisch. Vermochten Adel und
Monarchie der Bourgeoisie die politische Macht zu entreißen oder historisch
verspätete Kapitalistenklassen zu weitgehenden Klassenkompromissen zu zwingen –
so war an der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer Basis der
Gesellschaft nicht mehr zu rütteln. Die Gefahr einer feudalen Restauration auf
wirtschaftlichem Gebiet bestand schlechterdings nicht.

Besonderheiten des
Übergangs zum Sozialismus

Die ArbeiterInnenklasse
kann beim Sturz des Kapitalismus auf keine solche Produktionsweise
zurückgreifen. Der Kapitalismus entwickelt zwar die geschichtlichen
Voraussetzungen für die kommunistische Gesellschaft und seine inneren
Widersprüche drängen notwendig zur revolutionären Freilegung eben dieser
Potentiale. Aber der Akt der proletarischen Revolution sichert als solcher noch
nicht den Übergang zum Sozialismus. Vielmehr ist die Eroberung der Staatsmacht
durch das Proletariat eine notwendige Voraussetzung für den Übergang zum
Sozialismus. Es muss die politische Macht erobern, um zur bewussten und
planmäßigen Umgestaltung der Gesellschaft voranschreiten zu können. Daher
spielt in der proletarischen Revolution die Frage des Bewusstseins und der
Organisierung eine viel größere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

Die Übergangsperiode
erzwingt die Fortexistenz eines Staatsapparats, wenngleich eines qualitativ vom
bürgerlichen verschiedenen: eines proletarischen Halbstaates. Sie erfordert
eine bewusste politische und ökonomische Führung während dieser Periode. Der
ArbeiterInnenstaat ist kein Staat, der sich aufgrund seiner ökonomischen
Überlegenheit, einer schon etablierten höheren Produktionsweise, des Übergangs
zum Sozialismus sicher sein könnte.

Vielmehr ist die
Übergangsperiode eine Periode, die durch den unversöhnlichen Kampf zwischen
zwei Produktionsweisen, zwischen dem System der Warenproduktion und den mehr
oder weniger entwickelten Elementen einer zukünftigen sozialistischen
Wirtschaft bestimmt wird. In dieser Periode kann und muss das Wertgesetz zwar
durch bewusste planwirtschaftliche Elemente in seiner Wirkung eingeschränkt und
zurückgedrängt werden. Es kann aber nicht einfach „abgeschafft“ werden. Solange
die Weltrevolution nicht gesiegt hat, wirkt es weiter über den kapitalistischen
Weltmarkt.

Auch der revolutionärste
ArbeiterInnenstaat kann sich dem ökonomischen Vergleich mit der kapitalistischen
Weltwirtschaft, einer sehr realen Systemkonkurrenz, die v. a. auf dem Feld der
Arbeitsproduktivität ausgetragen wird, nicht entziehen. Hier findet ein
Vergleich des Entwicklungsstandes, des Fortschritts oder Zurückbleibens der
Planwirtschaft statt, den jeder Arbeiter, jede Arbeiterin vollkommen zu Recht
zieht.

Die ökonomischen und
politischen Erfordernisse dieses Vergleichens fließen auch in die beste und
demokratischste Planung ein, sowohl im Guten – dem Versuch, bestimmte
Bedürfnisse besser und effektiver zu befriedigen – wie im Schlechten – zum
Beispiel darin, dass die Selbstbehauptung des ArbeiterInnenstaates bestimmte
unproduktive Ausgaben erzwingt (z. B. Rüstung). Die Wirkung des Wertgesetzes
erfolgt ferner über den Außenhandel.

Das Wertgesetz wirkt auch
im Inneren des ArbeiterInnenstaates, je nach Entwicklungsstufe, weiter. Ganz
offenkundig ist das, wo weiter kleine PrivatproduzentInnen für einen Markt
produzieren oder aufgrund von ökonomischer Not sogar Kapitalakkumulation
zugelassen werden muss. Wie das Beispiel der DDR (und aller stalinistischen
Staaten) zeigt, ist das aber nur ein besonders augenfälliger und prekärer
Aspekt, da er mit dem Weiterbestehen und u. U. sogar mit der Stärkung von
Klassen einhergeht, die historisch auf dem Boden des Privateigentums an
Produktionsmitteln stehen.

Warenform und Übergang

Wiewohl in den
degenerierten wie gesunden ArbeiterInnenstaaten (abgesehen von kurzen
Übergangsphasen nach der Machtergreifung wie z. B. unmittelbar nach der
Oktoberrevolution) nicht von einer verallgemeinerten Warenproduktion gesprochen
werden kann, so muss für eine bestimme Phase der Fortbestand der Warenform des
Arbeitsproduktes, des Geldes und der Lohnform in Rechnung gestellt werden.

Natürlich ist jede Kritik
an der stalinistischen Bürokratie, dass Geld, Lohn, Warenproduktion nicht
einfach per Dekret abgeschafft wurden, Kinderei. Eine solche Sicht läuft im
Grunde darauf hinaus, dass der Übergang zum Sozialismus ein reiner Willensakt
wäre, wo die von der bürgerlichen Gesellschaft ererbte Teilung der Arbeit, der
Mangel an Gütern, die politischen, ökonomischen und militärischen Zwänge des
Kampfes mit dem Imperialismus usw. einfach durch das Wollen der Führung
überwunden werden könnten. Sie unterstellt, dass der Sozialismus in einem Land
schon aufgebaut werden könne, sofern man einfach Geld, Lohn, Staat, Politik
usw. „abschafft“.

Die stalinistische
Bürokratie hat nie versucht, den Kampf zur Zurückdrängung des Wertgesetzes und
zur fortschreitenden Entwicklung einer Ökonomie der Arbeitszeit systematisch
und bewusst zu führen. So wurden keine Schritte unternommen, die Lohnform
zurückzudrängen und durch eine Verteilung der Konsumgüter auf Basis geleisteter
Arbeit (also einer Kalkulation der gesellschaftlichen Arbeitszeit) zu ersetzen.
Natürlich ist – wie Marx darlegt – auch dieses Prinzip der Verteilung noch
immer ein bürgerliches und kein sozialistisches. Es beinhaltet jedoch schon den
Überganz zu einer rationalen, auf der bewussten Planung des gesellschaftlichen
Arbeitsvermögens basierenden Ökonomie, der Überwindung der tradierten
Arbeitsteilung.

Es beinhaltet in seiner
Entwicklungslogik ein sukzessives überflüssig Machen auch des proletarischen
Staates, einer Aufhebung von Politik und proletarischer Demokratie in die
Selbstverwaltung der assoziierten ProduzentInnen. Die Entwicklung zu einer
Ökonomie der Arbeitszeit wäre für die Bürokratie unmöglich gewesen, da sie
notwendigerweise nicht nur ihr Machtmonopol in Frage gestellt, sondern
überhaupt ihren parasitären Charakter offenbart hätte. Jede Ökonomie der
Arbeitszeit setzt offene Diskussion, einen „Kassensturz“ der gesellschaftlichen
Arbeit und Bedürfnisse, die Aufteilung der Arbeit und Produkte, der kurz-,
mittel- und langfristigen Entwicklungslinien voraus.

Daher ist die
ArbeiterInnendemokratie, die Räteherrschaft, die bewusste und systematische
Einbeziehung und direkte politische Herrschaft der Massen, kein bloßes
„politisches“ Anhängsel des Übergangs zum Sozialismus, sondern seine
unverzichtbare staatliche Form. Nur so können die Bedürfnisse der Massen zum
wirklichen Motor der Planung, ihrer Ziele, ihrer Methoden werden. Nur so kann
der Staat auch wirklich absterben, überflüssig werden. Nur so kann die
ArbeiterInnenklasse aufhören, eine ausgebeutete, unterdrückte, entfremdete
Klasse zu sein.

Der Sturz der Herrschaft
der Bourgeoisie ist ein notwendiger und befreiender Schritt in diese Richtung.
Das Proletariat hört auf, eine Klasse freier LohnarbeiterInnen zu sein, die
gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Aber der Stalinismus hat – in
dieser Hinsicht den „sozialstaatlichen“ Vorstellungen der Sozialdemokratie ganz
ähnlich – keinen Schritt über diese Errungenschaft hinaus getan. Er war nicht
daran interessiert (und konnte es auch gar nicht sein), die arbeitenden
Menschen mehr und mehr zu allseitigen Individuen zu entwickeln – er hat
vielmehr die ganze Gesellschaft auf die Statur der/s entfremdeten,
bewusstseins- und daseinsmäßig verkleinbürgerlichten LohnarbeiterIn
herabgedrückt.

Die bürokratische
Herrschaft im degenerierten ArbeiterInnenstaat stellt auch nicht einfach eine
„Verlangsamung“ des Weges zum Sozialismus dar, sondern führt notwendigerweise
zum weltgeschichtlichen Rückschritt zum Kapitalismus, sofern sie nicht durch
die politische Revolution gestürzt wird. Die bürokratische Planung musste sich
– waren die prinzipiellen Vorzüge der Planung einmal aufgebraucht – mehr und
mehr erschöpfen, zurückbleiben.

Die stalinistische
Bürokratie schwankte in ihrer Wirtschaftspolitik zwischen der vollmundigen
Behauptung, das Wertgesetz „abgeschafft“, „planmäßig“ in den angeblich ohnehin
schon erreichten Sozialismus integriert zu haben oder ebendieses Wertgesetz in
marktsozialistischen Reformen verstärkt nutzen zu wollen.

Geburtsfehler

Um die Grundprobleme der
DDR-Wirtschaft verstehen zu können, ist es notwendig, einen Blick auf die
Entstehung der DDR und die Politik des Stalinismus zu werfen. Stalins Strategie
sah vor, dass Deutschland unter der gemeinsamen Verwaltung der Alliierten ein
neutraler, demokratischer, auf bürgerlichen ökonomischen Grundlagen beruhender
Staat sein sollte, der für die UdSSR keine Bedrohung mehr darstellen konnte und
als „Puffer“ zwischen den Einflusssphären des Westens und des Ostens liegen
sollte. Der Sturz der Bourgeoisie als Klasse und die Machtübernahme durch das
Proletariat waren definitiv nicht vorgesehen.

Diese Konzeption (und
damit die Strategie des Agreements mit dem Weltimperialismus) erwies sich
allerdings sehr schnell als völlig illusorisch. Diese Erkenntnis dämmerte
Stalin jedoch später als dem Westen. Die Entwicklung führte schließlich an den
Punkt, an dem Moskau vor der Alternative stand, seinen Einfluss in Deutschland
angesichts von Marshallplan und Westintegration gänzlich zu verlieren oder aber
die Reste kapitalistischer Ökonomie ganz abzuschaffen.

Die Einführung einer
geplanten Wirtschaft, des Staatseigentums und des Außenhandelsmonopols sind
also nicht Ergebnisse der politischen Strategie Stalins, sondern eher das
Resultat ihres Scheiterns.

Schwierige
Ausgangsbedingungen

Nach Kriegsende befand
sich die ostdeutsche Wirtschaft in einem dramatischen Zustand, der durch
folgende Bedingungen gekennzeichnet war:

  • Große Teile der Produktionsstätten und Verkehrswege waren zerstört (die vorrangige Bombardierung Ostdeutschlands durch die Westalliierten in den letzten Kriegsmonaten verweist an sich schon auf das Ziel des Imperialismus, potentiell Sowjetrussland zu schädigen, statt – wie Stalin meinte – mit ihm zu kooperieren.
  • Durch die Verluste von Männern an der Front, die Rückkehr der ZwangsarbeiterInnen und die Ausfälle durch jahrelange Gefangenschaft gab es einen empfindlichen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Dazu kam der Aderlass an administrativen und technischen SpezialistInnen, die sich oft (weil sie aktive Nazis waren) nach dem Westen absetzten.
  • Die deutsche Wirtschaft wurde durch die Teilung, zuerst in Besatzungszonen, schließlich in zwei separate Staaten gespalten. Die ostdeutsche Ökonomie war dadurch wichtiger Teile beraubt, v. a. des Großteils der Stahlindustrie und der Steinkohle. Dadurch litt sie von Anfang an unter dem Mangel an Rohstoffen (hochwertige Energieträger, Erze) und einer Grundstoffindustrie. Stark ausgeprägt waren hingegen der Maschinenbau, Fahrzeug- und Flugzeugbau sowie die Leichtindustrie. Dazu kommt ein relativ großer agrarischer Sektor. (1)

Erschwerend für den
wirtschaftlichen Aufbau wirkten auch der immense informelle Sektor
(Schwarzmarkt) sowie die Notwendigkeit der Umstellung der Produktion auf
„Friedenszwecke“. Zu diesen ungünstigen Startbedingungen kam noch hinzu, dass durch
die Reparationsleistungen, die von der Sowjetunion von „ihrer“ Besatzungszone
besonders intensiv und lange eingefordert worden waren, erhebliche Verluste an
ökonomischem Potential entstanden. (2)

Ökonomisches Dilemma und
politisches Desaster

Angesichts der
schwierigen wirtschaftlichen Startbedingungen wäre eine korrekte Politik von
KPD und SED und v. a. der Führung in Moskau von besonderer Bedeutung gewesen.
Doch v. a. der Einfluss Stalins wirkte sich katastrophal aus.

Es handelte sich dabei
jedoch nicht einfach um ökonomisches Missmanagement, sondern um die logischen
Folgen einer völlig falschen, gegen die Interessen des Proletariats und auf
einen Kompromiss mit dem Imperialismus ausgerichteten und letztlich den
bornierten Interessen der sowjetischen Bürokratie untergeordneten Politik.

Schwarzmarkt,
Wirtschaftssabotage seitens der EigentümerInnen und des Managements sowie der
Mangel an grundlegenden Gütern hätten am besten überwunden werden können, indem
Machtorgane der ArbeiterInnenklasse auf betrieblicher und staatlicher Ebene
geschaffen wurden. Diese hätten Produktion und Verteilung in Gang setzen und
nach und nach eine allgemeine Planung der Gesamtwirtschaft einführen können.
Durch die Zerstörung der Betriebe und die Flucht der EigentümerInnen waren die
ArbeiterInnen ohnehin dazu gezwungen, die betrieblichen Abläufe zu
kontrollieren und praktisch als EigentümerInnen zu handeln.

Diese ersten Schritte zur
Schaffung von politischen und ökonomischen Machtorganen des ostdeutschen
Proletariats wurden jedoch durch die ReformistInnen von SPD und KPD bzw. der
SED in Kooperation mit der Sowjetischen Militäradministration (SMAD)
boykottiert. Die betrieblichen Organe der ArbeiterInnenschaft wurden – ebenso
wie die Betriebsräte – aufgelöst und durch bürokratische Reglements und
Institutionen (z. B. die Betriebsgewerkschaftsleitung, BGL) ersetzt. Auch die
Enteignung der Bourgeoisie als Klasse wurde zunächst nicht durchgeführt.
Lediglich der Besitz von Nazis und KriegsverbrecherInnen wurde enteignet. Zum
großen Teil entstanden daraus Aktiengesellschaften in der Hand oder der
Verwaltung durch die SMAD.

Dieser bürokratische Akt
der Enteignung spiegelt sehr deutlich das Eigeninteresse der Moskauer
Bürokratie wider, welches im Widerspruch zur Notwendigkeit und Möglichkeit der
Enteignung der gesamten Bourgeoisie durch das Proletariat stand. Wie die
Volksabstimmungen in mehreren deutschen Ländern zeigten, gab es eine große
Mehrheit in der (gesamtdeutschen) Bevölkerung für die Überführung des
Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.

Besonders schwer litt die
ostdeutsche Wirtschaft unter den Reparationsleistungen. Diese verweisen auch
darauf, dass es der Sowjetbürokratie nicht etwa um den Aufbau eines
ArbeiterInnenstaates und einer nichtkapitalistischen Wirtschaft ging. Vielmehr
spielten hier ganz andere Interessen eine Rolle: die Stärkung der sowjetischen
auf Kosten der (ost-)deutschen Wirtschaft, die Schaffung eines gesamtdeutschen
Pufferstaates auf (schwach entwickelter) bürgerlicher Ökonomie bzw. die Nutzung
der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) als Verhandlungsmasse mit dem Westen.

Diese Strategie erklärt
auch die ökonomisch anfangs besonders „dumme“ Art der Reparationsleistungen.
Anstatt Fertigprodukte zu beziehen, demontierte man die Produktionsanlagen, um
sie nach wochen- und monatelangem Transport wieder aufzubauen, was massive
Verluste beim Output bedeutete. Dieser ungeheure, gegen die Lebensinteressen
der deutschen (und letztlich auch sowjetischen) ArbeiterInnenklasse gerichtete
Aderlass wurde politisch auch von den ArbeiterInnenparteien SPD, KPD bzw. SED
befürwortet.

Die Entstehung der
Planwirtschaft

In den ersten Jahren nach
1945 existierte die Wirtschaft Ostdeutschlands bzw. der DDR im Wesentlichen
noch auf Grundlage von Privateigentum und Marktbeziehungen. Die Enteignung der
Bourgeoisie als Klasse wurde in mehreren Schritten vollzogen, wobei die
ArbeiterInnen diese Expropriation nicht aktiv und bewusst vollziehen konnten –
sie war vielmehr das Ergebnis willkürlicher Akte der Bürokratie.

Erste Enteignungen
erfolgten schon 1945/46, betrafen aber fast nur den Besitz von Nazis und
KriegsverbrecherInnen. Diese Enteignungen betrafen bis 1948 ca. acht Prozent
der Betriebe, die allerdings etwa 40 Prozent der Gesamtproduktion umfassten.
Ein großer Teil dieser Betriebe ging in die Hände der Sowjetunion über, die als
Hauptaktionärin bzw. Treuhänderin auftrat. Dadurch wurde das ostdeutsche
Proletariat daran gehindert, selbst Eigentümer zu sein und die ökonomischen
Prozesse zu gestalten. Die Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaften (SDAG) –
deren bekannteste der Uranbergbau der SDAG Wismut war – waren in die
Planwirtschaft der UdSSR integriert.

Die wirtschaftlichen
Beziehungen in der SBZ jedoch unterlagen keinem gesamtstaatlichen Plan, sondern
funktionierten noch nach den Zwängen des Wertgesetzes. Eingriffe des Staates
gab es unter den Zwängen des Wiederaufbaus zwar häufig, jedoch folgten diese
eben keinem Plan, sondern eher der Aufrechterhaltung der dringendsten
Versorgung und der Produktion der einzelnen Unternehmen. Der Finanzsektor war
ebenfalls staatlich, aber Investitionen, Kredite usw. waren noch nicht
Instrumente einer allgemeinen Wirtschaftsplanung.

Von einem
ArbeiterInnenstaat DDR, d. h. einem Staat, der auf nichtkapitalistischen
ökonomischen Grundlagen basiert, können wir erst ab 1951 sprechen. Zu diesem
Zeitpunkt war der größte Teil der Industrie in Staatshand überführt. (3) Es gab
aber immer noch eine Anzahl von privaten oder halbstaatlichen Kleinbetrieben,
die z. T. erst Mitte der 1970er Jahre mehrheitlich verstaatlicht worden sind.
Aber auch diese Betriebe waren in die Planwirtschaftsbeziehungen integriert und
konnten keineswegs wie reine Privatfirmen agieren.

Die in den 1950er Jahren
begonnene Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ebenfalls bis 1961 bis auf
kleine private Reste abgeschlossen.

Schon 1948 gab es erste
Ansätze von zentraler Wirtschaftsplanung. Sie dienten v. a. der Überwindung von
Kriegsschäden und dem Ausbau jener Sektoren der Ökonomie, die durch die Teilung
Deutschlands im Osten nur schwach entwickelt waren. Der qualitative Sprung zu
einer Wirtschaft, deren wesentlicher Mechanismus der Plan und nicht mehr das
Wertgesetz war, erfolgte aber erst 1951 mit der Einführung des ersten
Fünfjahrplanes. Dieser Plan umfasste die Kernsektoren der Wirtschaft, denen er
verbindliche Vorgaben machte, was von wem zu produzieren sei. Investitionen und
Ressourcenvergabe erfolgten nicht nach Gewinnkriterien privater EignerInnen,
sondern gemäß den Erfordernissen der Gesamtwirtschaft bzw. Gesellschaft
(zumindest, was die Bürokratie als solche verstand). Damit war die Dominanz des
Wertgesetzes gebrochen und die Wirtschaft auf eine qualitativ neue Basis
gestellt.

Doch der erste
Fünfjahrplan kollidierte mit den objektiven Möglichkeiten und v. a. der Reparationspolitik
Moskaus und war z. T. eher Ausdruck der politischen Eigeninteressen Ulbrichts
als den Umständen angemessen. Die Bürokratie in der Sowjetunion war über die
weitere Deutschlandpolitik gespalten, was sich auch in den Flügelkämpfen in der
SED ausdrückte. Wiewohl von Moskaus Gnaden inthronisiert, war die SED nicht nur
das bürokratische Anhängsel der sowjetischen herrschenden Kaste, sondern
zugleich auch herrschende Partei mit bürokratischen Eigeninteressen und dem
Wunsch, sich selbst auf Dauer als Staatsbürokratie zu etablieren. Daher auch
das begrenzte „Vorpreschen“ Ulbrichts, um durch die Einführung der
bürokratischen Planwirtschaft schwer revidierbare Fakten und soziale
Voraussetzungen für einen degenerierten ArbeiterInnenstaat DDR zu schaffen.

Schon damals verfing sich
die Planung in der kruden Logik der Bürokratie. Einerseits konnte man Fehler
und das Nichterreichen von Zielen nicht zugeben, da man damit die eigene
„Unfehlbarkeit“ untergraben hätte, andererseits mussten – nicht zuletzt durch
den Systemvergleich mit der BRD – die Planziele immer höher geschraubt werden.
So wurde häufig genug an der Realität vorbei geplant.

Verfehlte Ziele

Eine geplante Wirtschaft
ist kein Selbstzweck, sondern der ökonomische Mechanismus, mit dem ein
ArbeiterInnenstaat die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Kommunismus
ökonomisch vorantreibt. Insofern muss jede Planung an den historischen Zielen
des Kommunismus gemessen werden. Wie stand es damit in der Planung als Teil der
Gesellschaftsstrategie des Stalinismus?

Obwohl Marx kein
geschlossenes Modell des Sozialismus oder Kommunismus zeichnen konnte, gab er
doch eine Reihe von Prämissen vor, die er aus Analyse und Kritik des realen
Kapitalismus zog. Die Aufhebung der Klassen und des Staates implizierte für ihn
die Überwindung der kapitalistischen Teilung der Arbeit – der Teilung in
„SpezialistInnen“ und HelferInnen, in BefehlsgeberInnen und Befohlene, in
Ungebildete und FachidiotInnen, in Kopf- und HandarbeiterInnen.

Die allgemeine Verkürzung
der notwendigen Arbeit und die Aufhebung der Trennung von freiwilliger und
notwendiger Arbeit sind allgemeine Ziele genauso wie die Ersetzung
willkürlicher, sich „hinter dem Rücken“ der AkteurInnen vollziehender
ökonomischer „Sachzwänge“ und Krisen. Das aber bedeutet das Ende entfremdeter
Arbeit, die Ersetzung des Marktmechanismus durch den bewussten ökonomischen
Willen der Gesellschaft – den Plan.

Rund vier Jahrzehnte
DDR-Planwirtschaft zeigen, dass diese Ziele weder erreicht noch wenigstens
allgemein als politisch wünschenswert aufgestellt worden sind. Die DDR-Ökonomie
war weit davon entfernt, „sozialistisch“ zu sein, sondern war in der ersten
Phase der Übergangsgesellschaft steckengeblieben. Die Verkürzung der
Arbeitszeit um rund fünf Stunden in vier Jahrzehnten auf zuletzt 43 1/2 Stunden
ist kein Ruhmesblatt der Entwicklung und lag über der Norm der BRD. Es ist auch
kein Zufall, dass die Einsparung von Arbeit und Arbeitszeit keine reale Größe
in den Plänen war.

Entfremdung

Die allgegenwärtige
Bürokratie auch auf betrieblicher Ebene ließ die alte Trennung in
BefehlsgeberInnen und Befohlene auf neue Art weiterleben. Das völlige Fehlen
authentischer Formen von ArbeiterInnendemokratie führte zum weitgehenden
Ausschluss der Massen von Kontroll- und Entscheidungsprozessen und somit zum
Weiterbestehen der Entfremdung der ArbeiterInnen von ihrer Arbeit und ihren
Produkten. Im Unterschied zum Kapitalismus war zwar die Willkür des Marktes und
der PrivateigentümerInnen ausgeschaltet oder weitestgehend minimiert, doch
standen nunmehr an deren Stelle ein autoritärer bürokratischer Staat und die
„unergründlichen“ Ratschlüsse der politischen FührungsgreisInnen.

Die allgemeine Mühsal des
Lebens wurde nicht geringer, sie nahm nur andere Formen an. Der größeren
sozialen Sicherheit und der geringeren sozialen Ungleichheit standen
allgemeiner Mangel, politische Entmündigung und internationale Isolation (auch
gegenüber den Ostblock-Staaten) entgegen.

Das Fehlen positiver, auf
den Kommunismus gerichteter Ziele war kein Irrtum der Bürokratie, sondern die
logische Folge ihrer Kastenherrschaft selbst; hätte doch jede Form wirklicher
Selbstverwirklichung der ProduzentInnen und KonsumentInnen sogleich ihre
Überflüssigkeit offenbart.

Im Unterschied zum
Kapitalismus, wo Konkurrenz und Privatinteresse die Gesellschaft ständig
umwälzen, kann eine Planwirtschaft – in der diese Antriebe ja fehlen –
unmöglich auf Dauer entwickelt werden, wenn das Subjekt jeder Dynamik – das
Proletariat – von der Gestaltung dieser Entwicklung ausgeschlossen ist.

So verwundert es nicht,
dass Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und schließlich das fast
widerstandslose Hinnehmen der Wiedereinführung des Kapitalismus – neben Fleiß
und Einsatzbereitschaft – das Verhalten der DDR-ArbeiterInnenklasse
kennzeichneten. Diese Eigenschaften sind allerdings keine „typisch
proletarischen“ sondern Folge der Politik des Stalinismus, der die Massen
ideologisch traktierte und sie gleichzeitig daran hinderte, SchöpferInnen ihrer
eigenen Verhältnisse zu sein.

Bürokratische Planung

Die Grundidee einer
Wirtschaftsplanung besteht darin, im Ergebnis einer demokratischen
Selbstverständigung der ProduzentInnen und KonsumentInnen entsprechend den
Bedürfnissen und Möglichkeiten der Gesellschaft festzulegen, was wie von wem
erzeugt wird. Selbstverständlich gehören dabei Bedürfnisse wie die Erhaltung
der Umwelt, der Gesundheit usw. dazu.

Neben dem Fehlen
kommunistischer Ziele mangelte es in der DDR zunächst einmal an der
Feststellung der realen Bedürfnisse. Obwohl das sehr einfach gewesen wäre,
vermochte die Bürokratie meist nur das als Bedürfnis zu sehen, was sie sehen
wollte. Der Maßstab war dabei im Prinzip die Ausgestaltung eines „Sozialstaats“
ähnlich den Vorstellungen der alten Sozialdemokratie: sicherer Arbeitsplatz,
gute Wohnung, Kinderbetreuung, satt zu essen usw. Weniger als ein abstrakter
Humanismus spielte dabei das Interesse der Bürokratie mit, die Massen durch
soziale Geschenke ruhig zu halten. Die riesigen Dauersubventionen für
Lebensmittel, Mieten, Fahrpreise usw. sowie die immensen Summen für den
Wohnungsneubau verweisen auf dieses Ziel der Planung ebenso wie auf den
Umstand, dass im Gegensatz zum Kapitalismus diese massiven ökonomischen
Aufwendungen eben nicht gewinnorientiert waren, sondern im Gegenteil zu
erheblichen ökonomischen Belastungen führten.

Die Festlegung der Pläne
erfolgte über das Zusammenspiel verschiedener Ebenen der Bürokratie, letztlich
in der zentralen Plankommission (die dem Ministerrat unterstand), wurde aber
seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend von willkürlichen Interventionen der
Wirtschaftsabteilung des ZK der SED unter Günter Mittag beeinflusst.

Durch die quasi
Geheimhaltung statistischer Daten bzw. deren „Verschönerung“ war es sowohl der
Bürokratie als auch den Massen nur schwer möglich, real einzuschätzen, in welchem
gesellschaftlichen Gesamtrahmen Planung überhaupt stattfand. Ob ein Plan
richtig oder falsch war, war so nur schwer einzuschätzen.

Im Unterschied zur
Planung etwa in der Sowjetunion, wo die Bedürfnisse des
Produktionsmittelsektors im Zentrum standen und die extensive Erweiterung der
Produktion objektiv länger möglich war als in der ressourcenarmen DDR,
versuchte man besonders seit den 1970er Jahren, die Befriedigung der
Alltagsbedürfnisse der Bevölkerung besser zu berücksichtigen. Die „Konsumgüterproduktion“
wurde als zentrales Ziel der Planung postuliert. In der Praxis zeigte sich
jedoch, dass man außerstande war, dieses Ziel zu erreichen. Die
Konsumgüterproduktion wurde nicht das Zentrum der Planung, sondern eine Art
Zusatzaufgabe. So mussten vielfach Betriebe, die ein völlig anderes
Produktionsprofil hatten, zusätzlich Haushaltswaren, Kinderspielzeug etc.
herstellen. Das führte oft zu absurden Mehrfachproduktionen oder zu Produktion,
die auf völlig unrationelle Weise erfolgte, da das Know-how dafür nicht
vorhanden war. Trotzdem wurde die Plangröße „Konsumgüterproduktion“ dadurch
erfüllt.

Fehlen einer
Arbeitszeitrechnung

Ein generelles Problem
waren die durch die Subventionen stark verzerrten Preise, wodurch sich
ökonomische Effekte letztlich schwer einschätzen ließen. Doch das Problem des
Messens ökonomischer Leistungen lag tiefer – es gab zwei nicht nur
unterschiedliche, sondern gegensätzliche Wertmesser: das Geld auf der einen und
die Quanta realer Ressourcen auf der anderen Seite. Auf Dauer ist eine
Planwirtschaft nur anhand der exakten Berechnung der in den Arbeitsprodukten
enthaltenen Arbeitszeit durchführbar. Diese allgemeine Arbeitszeitrechnung gab
es jedoch nicht einmal in Ansätzen.

In der Wirtschaft führte
das beispielsweise zu folgendem Widerspruch: Ein Unternehmen orientierte sich
einerseits an den durch den Plan vorgegebenen Ressourcen, andererseits am
Betriebsergebnis, welches sich u. a. in der Kennziffer „Warenproduktion“, die
in Geld bemessen wurde, ausdrückte. Die häufigen Veränderungen der
Industriepreise drücken die Versuche der Bürokratie aus, dieses Dilemma zu
lösen.

Fehlen einer Arbeitszeitrechnung

Ein generelles Problem waren die durch die
Subventionen stark verzerrten Preise, wodurch sich ökonomische Effekte
letztlich schwer einschätzen ließen. Doch das Problem des Messens ökonomischer
Leistungen lag tiefer – es gab zwei nicht nur unterschiedliche, sondern
gegensätzliche Wertmesser: das Geld auf der einen und die Quanta realer
Ressourcen auf der anderen Seite. Auf Dauer ist eine Planwirtschaft nur anhand
der exakten Berechnung der in den Arbeitsprodukten enthaltenen Arbeitszeit
durchführbar. Diese allgemeine Arbeitszeitrechnung gab es jedoch nicht einmal
in Ansätzen.

In der Wirtschaft führte das beispielsweise
zu folgendem Widerspruch: Ein Unternehmen orientierte sich einerseits an den
durch den Plan vorgegebenen Ressourcen, andererseits am Betriebsergebnis,
welches sich u. a. in der Kennziffer „Warenproduktion“, die in Geld bemessen
wurde, ausdrückte. Die häufigen Veränderungen der Industriepreise drücken die
Versuche der Bürokratie aus, dieses Dilemma zu lösen.

Wesentlich nachteiliger wirkten sich auf
die Wirtschaftstätigkeit jedoch die Versuche der Betriebe aus, den
Unwägbarkeiten der Bürokratie gegenzusteuern. So wurde, wenn möglich, alles,
was für die Produktion wichtig war, gehortet, um Versorgungsengpässe
ausgleichen zu können. Dadurch wurden natürlich die Engpässe und
Disproportionen der Planung nur noch größer. Das hatte aber eine Ursache: Es
wurden nur bei erfülltem Plan Prämien an die Belegschaft bezahlt, was die
BetriebsleiterInnen teilweise veranlasste, die Planerfüllung vorzutäuschen, um
die ArbeiterInnen nicht zu verprellen. Besonders lukrativ war die
Planübererfüllung, was dazu führte, dass BetriebsleiterInnen möglichst niedrige
Planvorgaben erreichen wollten, die dann umso leichter zu überbieten waren.

Dieses Vorgehen verweist auf das
spezifische Verhältnis der Bürokratie zur ArbeiterInnenklasse. In der Praxis
wurde diese Art von „Planerfüllung“ von der zentralen Planung als Signal
genommen, die folgenden Planvorgaben noch zu steigern. Disproportionen in der
Planung waren so vorprogrammiert. Es ist ein Paradox stalinistischer Planung,
dass die Überbietung von geplanten Produktionsergebnissen – also eine
Nichteinhaltung der Planung – als besonders positiv angesehen wurde.

Eine richtige Planung hätte vielmehr die
möglichst sparsame, rationelle Produktionsdurchführung gefördert, was wiederum
mit den strategischen Zielen von Planung zu tun hat. Ein weiterer und wesentlicher
Grund für Fehlplanungen lag in der allgemein zu niedrigen Produktivität. Diese
resultierte u. a. aus dem Desinteresse vieler ArbeiterInnen an der Produktion
aufgrund der bürokratischen Gängelei. Sie ergab sich auch daraus, dass
Hunderttausende in unproduktiven bürokratischen Sektoren arbeiteten (Stasi,
politische Apparate usw.). Doch die Grundfehler stalinistischer Politik führten
dazu, dass diese Probleme fortgeschleppt wurden, ja sich verstärkten. Aufgrund
des Fehlens der allgemeinen Zielstellung der Einsparung von Arbeitszeit war es
weder ein allgemeines Planziel, noch gab es ausreichende technische
Möglichkeiten, Personal durch Maschinerie zu ersetzen und somit für andere
Tätigkeiten freizumachen.

Doch auch der Planmechanismus selbst hatte
einen Pferdefuß – das Fehlen bzw. die zu niedrige Veranschlagung von freien
Kapazitäten. Jede Schwankung der Produktion oder der Nachfrage führte sofort zu
einer Störung der Planung, weil es keine ausreichenden Reserven gab, mit denen
operiert werden konnte. Das wiederum verweist aber auf andere Probleme.

Ein weiterer wichtiger Grund für die
zunehmende Stagnation der DDR-Ökonomie (wie auch der anderer degenerierter
ArbeiterInnenstaaten) bestand darin, dass die technische Basis des
Produktionsprozesses, war sie einmal etabliert, kaum erneuert, geschweige denn
umgewälzt wurde. Für einen ArbeiterInnenstaat ist es an sich kein Problem,
veraltete Produktionsstätten zu schließen und durch neue, arbeitssparendere zu
ersetzen.

Doch die bürokratischen Strukturen
behinderten diese notwendigen Umstrukturierungen. Die Bürokratie konnte ihren
trägen, parasitären Charakter ausleben. Die ArbeiterInnen selbst standen
Veränderungen ebenfalls oft skeptisch gegenüber, war deren Vollzug und
Ausgestaltung doch letztlich Monopol der herrschenden Bürokratie, deren
gelegentliche Experimente nicht minder arbeiterInnenfeindlich als ihre
generelle Trägheit waren.

RGW versus Nationalökonomie

Sowenig wie Sozialismus in einem Land
möglich ist, sowenig ist eine international isolierte Planwirtschaft auf Dauer
machbar. Der Sinn des Sozialismus liegt schließlich nicht in verallgemeinerter
Gleichheit von Armut und nationaler Selbstgenügsamkeit, sondern in der
Schaffung einer viel höher und effizienter organisierten internationalen
Arbeitsteilung und Kooperation, als sie im Kapitalismus möglich ist.

Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW), dem die DDR angehörte, hätte ein Verbund sein müssen, der die
wirtschaftlichen Beziehungen auf eine höhere qualitative Ebene hebt. Leider war
dem nicht so. Die Praxis orientierte sich vielmehr an drei Prämissen: 1. dem
ökonomischen Eigeninteresse der sowjetischen Bürokratie; 2. der
Aufrechterhaltung des stalinistischen Blocks, d. h. der Herrschaft der
Bürokratie und 3. der Stärkung der jeweiligen Nationalökonomien durch
Kooperation mit anderen RGW-Staaten.

Der RGW erarbeitete nie einen Gesamtplan,
denen die nationalen Pläne untergeordnet waren. Genauso wenig führte der RGW
generell dazu, dass die ökonomischen Stärken einzelner Ökonomien
verallgemeinert und schwach entwickelte Sektoren dadurch zurückgedrängt wurden.
So wurden oft jahrzehntelang veraltete Produkte hergestellt oder ineffiziente
Produktionen weitergeführt, obwohl es in anderen Ländern einen höheren Standard
gab. Der RGW diente häufig genug dazu, sich gegenseitig den „Schund“, der
hergestellt wurde, zuzuschieben.

Für die innerhalb des RGW hochentwickelte
DDR-Wirtschaft hatte das fatale Folgen. So konnten Hightech-Produkte oft nur
aus dem Westen bezogen werden, obwohl sie z. T. in anderen RGW-Staaten (v. a.
in der SU) vorhanden waren. Der oft zitierte Devisenmangel resultiert im Grunde
nur aus dem Mangel an Produktivität innerhalb des RGW. Als einziger Ausweg bot
sich an, Konsumgüter in den Westen zu exportieren (was den Mangel vergrößerte
und die Bevölkerung demoralisierte) oder Handel zu Dumpingpreisen zu führen,
was jede Wirtschaft auf Dauer ausblutet. Gerade unter Honecker war es ein
wichtiges Element der Planung, für den Bedarf des Westens zu produzieren, um an
Devisen zu kommen.

So wurde die Wirkung des
Außenhandelsmonopols als Schutz vor den Unwägbarkeiten des kapitalistischen
Weltmarktes von der Bürokratie selbst unterhöhlt. Das muss man jedoch v. a. als
Reaktion der DDR-Elite auf die Schwächen des RGW erklären. Technologie-,
Devisenmangel und Embargopolitik des Westens führten schließlich dazu, dass die
DDR alles selbst produzieren musste. Für die relativ kleine DDR-Ökonomie war
die enorme Produktbreite zugleich erstaunlich und ruinös, weil es unmöglich
war, auf allen Gebieten gleichermaßen Weltniveau zu erreichen. Immerhin etwa 50
% der Weltproduktpalette bei Anlagen- und Maschinenbau wurde von der „kleinen“
DDR gefertigt. Diese Fertigungsbreite ging einher mit relativ kleinen Serien
und stark begrenzten Investitionsvolumina, so dass die Produktion nie besonders
effektiv sein konnte und technologisch auf Dauer zurückbleiben musste.

Als Mitte der 1970er Jahre die Umstellung
von extensiver zu intensiver Erweiterung der Produktion propagiert wurde,
versuchte die DDR verstärkt, Hochtechnologien zu entwickeln. Erhebliche
Ressourcen wurden in diese Bereiche gelenkt, was dazu führte, dass die
technologische Erneuerung anderer Bereiche immer mehr zurückblieb und die
Disproportionen noch größer wurden. Selbst wenn es der DDR gelungen wäre, in
einzelnen Bereichen Anschluss an die Weltspitze zu halten, so hätte sich sehr
schnell herausgestellt, dass Spitzentechnik mit einer bürokratisch verkrusteten
Gesellschaft nicht kompatibel ist.

Diesen Schritt zur modernen Technologie
hätte selbstverständlich auch eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung machen
müssen. Aber die Politik der Bürokratie scheiterte nicht nur an den objektiv
ungünstigen Voraussetzungen, solche Technik in Konkurrenz zu den großen
imperialistischen Kapitalen entwickeln zu müssen, sondern auch an einem
strategisch entscheidenden Missverständnis, das darin bestand, Wissenschaft und
Technik als Triebkräfte der Entwicklung zu sehen, ohne zu begreifen, dass die
Veränderung der Verhältnisse, unter denen Produktivkräfte wirken, im
Sozialismus selbst zu einer entscheidenden Produktivkraft wird und die
Hauptproduktivkraft das Proletariat selbst ist.

Errungenschaften

Trotz aller Kritik an den
Unzulänglichkeiten der DDR-Planwirtschaft und gerade angesichts der durch die
bürgerlichen Medien kolportierten Meinung, dass Planwirtschaft a priori nicht
funktionieren könne, soll hier darauf hingewiesen werden, dass die DDR große
soziale Errungenschaften aufzuweisen hatte. Diese sind nicht nur Ausdruck einer
bestimmten Politik, sondern ursächlich mit der geplanten, auf staatlichem
Eigentum beruhenden Ökonomie verbunden.

Die wesentlich größere soziale Sicherheit
der Bevölkerung und der wegen des geringeren sozialen Gefälles deutlich
geringere Sozialneid und die damit verbundenen psychischen Erscheinungen
innerhalb der DDR-Gesellschaft sind markante Merkmale einer Sozietät, die sich
aus den Zwängen von Markt, Privateigentum und Konkurrenz partiell befreit hat.

Auch das im Verhältnis zu den ökonomischen
Möglichkeiten relativ gut entwickelte Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen
der DDR ist ohne die Überwindung des allgegenwärtigen Gewinnstrebens, das den
Kapitalismus kennzeichnet, nicht denkbar. Diese Fakten sind keineswegs nur
Auswüchse von DDR-Nostalgie, sondern historische Errungenschaften eines
nichtkapitalistischen Systems nicht wegen, sondern trotz der bürokratischen
Herrschaft.

Doch eine Reihe nahezu immer – auch von
einem Großteil der Linken – übersehener Phänomene verweist noch viel
drastischer auf die eigentlichen Entwicklungspotentiale, die in einem
ArbeiterInnenstaat schlummern.

Während der Kapitalismus aufgrund der
Konkurrenz zwischen Privatkapitalen einen riesigen Apparat von Bürokratie in
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unterhalten muss, um die inhärenten
Widersprüche seiner Produktionsweise wenigstens einigermaßen zu bändigen, hat
ein ArbeiterInnenstaat die Möglichkeit, diese riesigen Sektoren unproduktiver
Arbeit deutlich zu verkleinern.

Ungenutzte Potentiale

Die Entwicklung der DDR zeigt, dass in
verschiedenen Sektoren schon sehr früh gravierende Veränderungen stattfanden.
Berufsgruppen wie VertreterInnen oder MaklerInnen waren aus dem
gesellschaftlichen Leben vollständig verschwunden. Andere, z. B. juristische
Berufe (v. a. NotarInnen, SteuerberaterInnen) waren wesentlich schwächer
vertreten als in einer kapitalistischen Gesellschaft. Diese Tatsache ist
deutlich an der seit 1990 wieder sprunghaft gestiegenen Zahl von Beschäftigten
in diesen Bereichen erkennbar.

Dieser Trend des Abbaus unproduktiver
Arbeit und der Umlenkung der Arbeitskräfte in produktive bzw. sozial nützliche
Sektoren der Gesellschaft bewirkt ohne Frage einen deutlichen Anstieg der
gesamtgesellschaftlichen Arbeitsproduktivität. Dazu zählt natürlich auch der
einfache Umstand, dass nicht wie im Kapitalismus eine erhebliche Minderheit
nicht produktiv ist, weil sie entweder erwerbslos ist oder aber als reiche/r
SchmarotzerIn nicht arbeiten muss. Allerdings ist gerade dieser
Entwicklungsfortschritt mit den Methoden bürgerlicher Produktivitätsrechnung,
die sich im Banne des „Bruttosozialprodukts“ bewegt, nicht oder kaum erfassbar.

Auch der Umstand, dass Wirtschaftsbereiche,
die im modernen Kapitalismus einen beträchtlichen Teil des
„Bruttosozialprodukts“ „erzeugen“ wie Versicherungen, FinanzdienstleisterInnen,
Werbung etc., in der DDR eine eher marginale Rolle spielten, zeigt, dass die
Gesellschaft sich diese unproduktiven Bereiche nicht mehr oder nicht mehr im
alten Maße leisten können musste.

Diese massenhafte Umschichtung von Arbeit
ist eigentlich das Phänomen, auf das der Begriff „Arbeitslosigkeit“ (im
Gegensatz zu „Lohnarbeitslosigkeit“) zutreffen würde. Diese Erzeugung von
Arbeitslosigkeit ist jedoch aufgrund der allgemeinen Stagnation der
DDR-Entwicklung nicht nur nicht weitergeführt worden, im Gegenteil: Die
bürokratische Herrschaft hat sogar den größten Teil dieses Wachstumspotentials
wieder aufgefressen, indem ein riesiger Apparat von politischen Kadern,
Staatssicherheitsleuten usw. geschaffen wurde, der nicht nur die Bevölkerung
unterdrückte, sondern auch eine unerhörte Vergeudung gesellschaftlicher
Arbeitskraft war. Die Wende-Losung „Stasi in die Produktion!“ impliziert neben
der politischen Sprengkraft gerade auch diesen Aspekt.

Die Änderung der Produktionsverhältnisse
durch die Planwirtschaft ist historisch in gewissem Sinne mit der Durchsetzung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse im späten Feudalismus vergleichbar. So
wie damals eine Vereinheitlichung von Maßen, Geld, Gewichten, Normen usw.
überhaupt erst bürgerliche Verkehrsformen auf steigendem Niveau ermöglichte, so
muss auch eine Planwirtschaft einen qualitativen Sprung gegenüber den
Möglichkeiten einer kapitalistischen Wirtschaft bewirken.

Doch auch bei der Verwirklichung dieser
Aufgabe ist die Bürokratie auf halbem Wege stehen geblieben. Zwar gelang es,
eine weitgehende Vereinheitlichung von Produktionsnormen zu erreichen – jedoch
nicht auf der Ebene des RGW. Schwerer noch als die Divergenz der Normen wog die
Unfähigkeit, aus den Produkten und Fertigungstechniken diejenigen auszuwählen,
die am besten sind. Auch die Tatsache, dass im Unterschied zum Kapitalismus
nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert eines Produktes maßgebend ist,
war durchaus unterbelichtet. Ständige Erneuerung und Verbesserung der Produkte
und der Fertigung unter diesem Aspekt fand nie konsequent statt. Die Ursachen
hierfür sind zum einen in der Ausschaltung der Entscheidungskompetenz der
ProduzentInnen und KonsumentInnen zu suchen, zum anderen im Fehlen
entsprechender Mechanismen in der Planung, die solche Innovationen erzwingen
bzw. motivieren.

Fazit

Wir haben zu zeigen versucht, dass die
Unzulänglichkeiten, die Krise und schließlich die Möglichkeit der fast
widerstandslosen Beseitigung der Planwirtschaft nicht in der Unmöglichkeit
einer geplanten Wirtschaft zu suchen sind, sondern in der bürokratischen Form
und den bürokratischen Zielen dieser Planung. Eine Planwirtschaft kann nicht
funktionieren, wenn das historische Subjekt der Entwicklung, das Proletariat,
nahezu aller Möglichkeiten der Kontrolle, Durchführung und Korrektur von
Wirtschaftstätigkeit beraubt ist. Auf einen Nenner gebracht heißt das: ohne
Rätedemokratie keine funktionierende Planung!

Doch selbst eine wesentlich demokratischer
organisierte Planung würde sich in unentwirrbaren Widersprüchen verwickeln,
wenn sie nicht als ökonomischer Mechanismus dem Erreichen kommunistischer
Gesellschaftsziele dient.

Schließlich ist auch die perfekteste
Planung von einer wesentlichen Komponente abhängig – einer funktionierenden
internationalen Arbeitsteilung der ArbeiterInnen–staaten und der Ausweitung der
proletarischen Weltrevolution.

Anmerkungen

(1) „Im Jahre 1936 wurden auf dem Gebiet
der späteren sowjetischen Besatzungszone 27 % der gesamten deutschen
Nettoproduktion der eisen- und stahlverarbeitenden Industrie produziert, deren
Rohstoffe … jedoch nur zu fünf Prozent in diesem Gebiet erzeugt wurden. …
Im Jahre 1938 betrug der Anteil Mitteldeutschlands an der Produktion des
Deutschen Reiches bei Steinkohle 1,9 %, bei Eisenerz 6,0 %, bei Roheisen 4,3 %,
bei Rohstahl 6,6 %.“ (Wenzel, Siegfried: Plan und Wirklichkeit, Scripta
Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1998, S. 7)

(2) „Gemessen am Sozialprodukt umfassten
diese (Reparationen, d. A.) … für den Zeitraum 1946-1953 … 22 % der
laufenden Produktion … . Das Verhältnis DDR/BRD betrug für diese belastendste
Form von Kriegskontributionen 98:2.“ (ebenda, S. 3/4)

(3) „Im Jahre 1947 erzeugten diese
staatseigenen Betriebe 36,8 % der damaligen Bruttoproduktion. Dieser Anteil
erhöhte sich 1948 auf 39 % und 1949 auf 46,6 %. Im Jahre 1950 betrug der Anteil
der volkseigenen Betriebe an der Produktion der Industrie bereits 74,9 %“.
(ebenda, S. 24)




SED-Gründung vor 50 Jahren: Fusion und Verwirrung

Hannes Hohn, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 1996)

Vor 50 Jahren, am 21. April 1946, schlossen sich in der
sowjetischen Besatzungszone KPD und SPD zur SED zusammen. Die Bewertungen
dieses Ereignisses sind konträr genug: eine Seite bejubelt diese Vereinigung
als Überwindung der Spaltung der ArbeiterInnenklasse und richtige Konsequenz
aus den blutigen Erfahrungen des deutschen Proletariats unter dem Faschismus;
die Gegenseite lehnt die SED-Gründung als Zwangsvereinigung unter dem Diktat
des Kremls ab. Heute schlagen die Wogen dieser Debatte vor allem in der PDS und
der SPD erneut hoch.

Hinterrund der
Vereinigungsdebatte

Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um ein Ereignis, das
schon 50 Jahre zurückliegt, gerade jetzt wieder sehr intensiv geführt wird. Den
Hintergrund der Debatte bildet die derzeitige Krise der SPD und damit in
Zusammenhang die Stabilisierung ihrer sozialdemokratischen Konkurrentin PDS.
Für beide Seiten geht es darum, die eigene politische Daseinsberechtigung aus der
Geschichte abzuleiten.

Die SPD und ihr nahestehende HistorikerInnen gehen zumeist
von der These aus, dass die SED-Gründung eine erzwungene Vereinigung gewesen
sei, die ein wesentlicher Meilenstein zur Etablierung der undemokratischen,
totalitären Verhältnisse der DDR war. Die Ablehnung der Vereinigung ist somit
v. a. ein Mittel der Abgrenzung von der PDS, der als SED-Nachfolgepartei
das Attest „undemokratisch“ ausgestellt wird. Die einzige demokratische
Alternative der ArbeiterInnenbewegung sei die SPD, der allein schon aus diesem
Grund heute auch die Stimmen der PDS-WählerInnen zustünden. Die
Vereinigungskritik suggeriert gleichzeitig auch, dass durch die Vereinigung von
1946 mindestens in der Ostzone eine andere, demokratische Entwicklung
verhindert worden wäre.

Der PDS und ihren GeschichtsbewerterInnen geht es um das
gerade Gegenteil. Ihr überwiegend positiver Bezug auf den politischen Kern der
Vereinigung von KPD und SPD soll das Projekt einer „pluralistischen“ linken Bewegungspartei
vom Typ der PDS historisch legitimieren. Damit werden jene politischen Brücken
zur SPD offengehalten, über die man aufeinander zugehen kann, wenn gegen Kohl
ein linkes Regierungsbündnis aus SPD, PDS und GRÜNEN hergestellt werden soll.
Diese Option ist für die PDS zwingend, weil sie ohne bundesweit präsente
PartnerInnen nur in Ostdeutschland Bedeutung hätte, während die SPD zwar die
Stimmen der PDS braucht, aber nicht die PDS selbst.

Es ist bezeichnend, dass während der Entstehung der PDS aus
der SED 1989/90 die Frage der Entstehung der SED fast keine Rolle in der
Debatte spielte und flugs zur Tagesordnung, sprich zur Schaffung der PDS,
übergegangen wurde. Grund dieser Vorgehensweise war der Versuch, eine Spaltung
(womöglich sogar ein Verschwinden) der Partei zu verhindern, wenn evtl.
festgestellt worden wäre, dass das Projekt SED von Anfang an eine
Fehlkonstruktion und den Interessen des Proletariats entgegengesetzt war.
1989/90 gab es immerhin eine starke Strömung in der SED, die für eine Aufspaltung
der SED in KPD und SPD eintrat. Das hätte aber nicht nur einen Streit über die
programmatischen Grundlagen, sondern auch über die Aufteilung der
Parteifinanzen bedeutet und die Gefahr heraufbeschworen, dass die neue Nomenklatura
der PDS, die aus der zweiten und dritten Reihe des SED-Apparats kam, keine
neuen Posten im Gefüge des Parlamentarismus gefunden hätte. Ohne Frage: eine
gewisse Masse ist notwendig, um im parlamentarischen Geschäft mitmischen zu
können – dem wesentlichen Anliegen der PDS-Führung.

Bezeichnend für die allgemeine Debatte ist auch, dass der
eigentliche politische Inhalt der SED, ihre programmatischen Grundlagen, kaum
betrachtet werden und die sekundäre Frage, ob die Vereinigung erzwungen war
oder nicht, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird. Dieses Herangehen
ist Ausdruck des Unwillens der Führungen von PDS und SPD, die theoretischen
Grundlagen und die Methode der eigenen Politik zu hinterfragen.

Zwangsvorstellungen

Verfolgt man die Medien, so vergeht kaum ein Tag, an dem nicht
Fakten und AugenzeugInnen für die These sprechen, die Gründung der SED sei ein
Akt des Zwangs gewesen, der von KPD und Sowjetischer Militäradministration in
Deutschland (SMAD) als böses Bubenstück auf Kosten der SPD inszeniert worden
sei. Doch die historischen Tatsachen ergeben kein so einseitiges Bild.

In der DDR gelang es der SED, durch gezielte Unterdrückung
der Meinungs- und Forschungsfreiheit die Vereinigung von KPD und SPD als bewusste
und freiwillige Vereinigung der großen Mehrheit ihrer Mitglieder hinzustellen.
VereinigungsgegnerInnen wurden als SpalterInnen, SektiererInnen und ReaktionärInnen
verteufelt. Doch nachdem die ideelle Käseglocke der SED zersplittert ist,
riecht manches nicht mehr so gut.

Zahlreiche Quellen belegen eindeutig, dass vor allem von
Seiten der SMAD in vielfältiger Form Druck auf die SPD ausgeübt worden ist. SPD-Versammlungen
wurden beeinflusst, FunktionärInnen, die gegen eine Fusion waren, abgesetzt,
unliebsame Mitglieder mitunter verhaftet und SPD-FührerInnen unter Druck gesetzt.
Ein Beispiel dafür, wie die SMAD Einfluss ausübte, ist ihre Rolle bei der
Mitgliederbefragung zur Vereinigung, die von vielen SozialdemokratInnen
gefordert wurde: Sie wurde einfach verboten. In den westlichen Zonen von Berlin
kam sie aber am 31.3.1946 mit dem Ergebnis zustande, dass nur 12,2 % für
eine Vereinigung stimmten. In anderen Regionen dürfte die Stimmung allerdings
weniger eindeutig gegen die Vereinigung gerichtet gewesen sein. Darauf deutet
auch die Tatsache hin, dass es bereits vor der offiziellen Kampagne spontane
Zusammenschlüsse von Basisorganisationen der SPD und der KPD gab. Gerade im
Lager der SPD wird dieses Votum der (West-)Berliner Mitglieder als Beweis für
die allgemeine Ablehnung einer Vereinigung mit der KPD in der SPD-Mitgliedschaft
gewertet. Gerade der Druck auf die SPD von Seiten der SMAD hat die ablehnende
Haltung mancher/s SozialdemokratIn zur Vereinigung verstärkt. Umgekehrt
bedeutet das aber auch, dass ohne diesen Druck die Vorbehalte kleiner und damit
der Aspekt der Freiwilligkeit bedeutender gewesen wäre. Insofern war das
Vorgehen der SMAD wirkungsvoll, doch nicht sehr geschickt. Auch in der KPD
waren deshalb viele Mitglieder und FunktionärInnen mit diesem Vorgehen nicht
einverstanden, ohne freilich dagegen anzukämpfen.

Vom Zwang zur Vereinigung zu sprechen, bedeutet aber v. a.,
auch zu berücksichtigen, dass es schon 1945 und bis zum Untergang der DDR unter
dem politischen Diktat der SMAD und später der SED-Bürokratie nicht möglich
war, substanzielle politische Kritik zu äußern, Tendenzen oder gar Fraktionen
in der SED zu bilden, geschweige denn alternative Organisationen zu gründen.
Ohne diese demokratischen Rechte ist es jedoch faktisch unmöglich, legale politisch-organisatorische
Alternativen zur SED zu schaffen. Diese Einsicht hat, wie Quellen belegen,
viele SozialdemokratInnen, aber auch KPD-Mitglieder, die der Fusion kritisch
gegenüberstanden, bewogen, der SED beizutreten, weil es keine Alternative gab.

Trotz der geschilderten Umstände ist jedoch der Begriff
„Zwangsvereinigung“ ungeeignet, um die Art und Weise der Vereinigung zu
kennzeichnen. Zu viele historische Fakten sprechen dagegen:

  • Es gab an der Basis zwischen KommunistInnen und SozialdemokratInnen bereits im Mai 1945 spontane Zusammenarbeit in den Antifaausschüssen und in betrieblichen Komitees;
  • bereits im Sommer 1945 existierte ein gemeinsamer Arbeitsausschuss von KPD und SPD auf der Ebene der Parteiführungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ);
  • es existierten bereits vor dem Beginn der offiziellen, von oben eingeleiteten Einheitskampagne Zusammenschlüsse von KPD und SPD auf Ortsebene sowie gemeinsame Versammlungen, Aktivitäten verschiedener Art und öffentliche Kommuniqués zur Notwendigkeit der Vereinigung.

Diese Bereitschaft zur Zusammenarbeit kam auch in der
erwähnten Berliner Urabstimmung zum Ausdruck, bei der über 62 % für eine
Aktionseinheit mit der KPD votierten. Diese Einheitstendenzen erklären sich wesentlich
aus zwei Umständen: zum einen aus der blutigen Erfahrung des Faschismus, der
nur darum sein Terrorregime errichten konnte, weil SozialdemokratInnen und KommunistInnen
keine antifaschistische Einheitsfront gebildet hatten, was wesentlich Schuld
der falschen Politik ihrer Führungen war. Zum anderen waren es die anstehenden
Aufgaben nach Kriegsende, die die proletarische Mitgliedschaft beider Parteien
in der Praxis einander näherbrachten: Beseitigung der Reste des Faschismus,
Ingangsetzung des öffentlichen Lebens und der Produktion. Wie im Folgenden
gezeigt werden wird, ging es im Kern darum, dass die ArbeiterInnenklasse vor
der Möglichkeit und der Notwendigkeit stand, den Kapitalismus zu beseitigen und
die Macht zu übernehmen.

Die Tatsachen weisen klar darauf hin, dass es trotz Nötigung
und Zwang seitens der SMAD und der KPD und trotz fehlender Alternativen eine
breite Bewegung in KPD und SPD Richtung Einheit in Aktion und Organisation gab.

Bei der Einschätzung der Vereinigung müssen noch weitere
Umstände berücksichtigt werden, die gegen die These von der Zwangsvereinigung
sprechen. Es ist belegt, dass die Mehrzahl der Gründungsdelegierten und auch
der SED-Mitgliedschaft aus der SPD kamen. Obwohl es Formen direkten wie indirekten
Drucks auf die SozialdemokratInnen gab, so bestand doch die individuelle Möglichkeit
für jedes Mitglied, aus der SPD vor dem Zusammenschluss auszutreten, der SED
nicht beizutreten oder sie zu verlassen. Massenhafte Schritte in diese Richtung
gab es jedoch nicht. Dass es aber bei vielen SED-Mitgliedern schon bald nach
der Vereinigung Differenzen zur weiteren Entwicklung der SED und ihrer Umformung
zu einer offen stalinistischen Partei gab, belegen zahlreiche Repressionen
gegen Mitglieder und FunktionärInnen.

SPD und KPD erreichten nach Kriegsende sehr schnell wieder
alte Mitgliederstärke. Allein die KPD hatte schon im Frühjahr 1946 mit rund
500.000 trotz Naziterror, Emigration, Kriegsopfern und noch in Gefangenschaft
Befindlichen mehr Mitglieder als vor 1933. Ähnlich war die Situation in der
SPD. Ohne Frage waren diese vielen neuen, parteipolitisch weniger beeinflussten
Mitglieder mit weniger Ressentiments gegenüber der anderen Partei beladen als
alte Mitglieder und konnten somit leichter für die Einheit motiviert werden.
Eine gründliche Debatte der politischen Grundlagen beider Parteien und ihrer
Rolle in den Klassenkämpfen der Jahre zuvor fand jedoch nicht statt und war vor
allem von den Führungen beider Parteien auch nicht ernsthaft beabsichtigt.

Die Schaffung der
SED

Warum wurde im April 1946 die SED gegründet, obwohl noch ein
knappes Jahr zuvor weder SPD noch KPD die Vereinigung beider Parteien
unmittelbar als Ziel aufgestellt hatten? Dafür gibt es mehrere Ursachen: Die
SMAD fürchtete, dass ihre politische Juniorpartnerin in Deutschland, die KPD,
bei den bevorstehenden Wahlen gegenüber der SPD unterliegen würde und damit der
direkte Einfluss der UdSSR auf die Entwicklung (Ost-)Deutschlands vermindert
würde. Diese Befürchtung war nur berechtigt, da der Einfluss der SPD im
Vergleich zur KPD – obwohl letztere von der SMAD stärker gefördert wurde – sich
zunehmend stärker bemerkbar machte. Auch die Wahlen in Ungarn und Österreich,
bei denen die KPen deutliche Schlappen erlitten hatten, nötigten zu einem organisationspolitischen
Schwenk, der nicht auf die Zurückdrängung, sondern auf das Aufsaugen der SPD
per Fusion orientiert war. Die Wahlen vom Oktober 1946 in Berlin bestätigten
alle Befürchtungen hinsichtlich des Einflusses der SPD: sie erhielt über
48 %, die SED dagegen nur 19,8 % der Stimmen.

Die politische Grundlage der Vereinigung bestand aus zwei
wesentlichen Elementen: 1. den demokratischen Illusionen des Proletariats und
2. dem Wandel der KPD seit 1935 von einer zentristischen zu einer
reformistischen Partei.

Nach der faschistischen Diktatur waren die demokratischen
Illusionen wieder erstarkt. Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass alle
Ansätze proletarischer Machtentfaltung von der SMAD in Einklang mit den
Führungen von KPD und SPD ignoriert und bewusst sabotiert worden waren. Unter
diesen Umständen konnte die Restauration bürgerlich-demokratischer Zustände den
Arbeiterinnen und Arbeitern als Tugend erscheinen. Das Fehlen einer
marxistischen Partei mit einem revolutionären Programm war dabei natürlich ein
entscheidender Faktor dafür, dass die Bewegung des Proletariats über Ansätze
eigener Machtkonstituierung nicht hinaus gelangte und die reformistischen
Führungen von KPD und SPD ohne politische Konkurrenz blieben.

Die richtige Einsicht der Mitgliedsbasis, dass die fehlende
Einheitsfront vor 1933 Hitlers Sieg ermöglichte, ging nicht mit einer
schonungslosen Kritik der Politik von SPD und KPD konform. In gewissem Sinn
können wir sagen, dass 1933 vor lauter Prinzipien die Einheit übersehen wurde,
während 1946 vor lauter Einheit die Prinzipien vergessen worden waren. Im Grunde
bestand die Vergangenheitsbewältigung nicht nur der KPD, sondern auch die der
SPD darin, eine Verbeugung vor der Volksfrontpolitik zu machen. Da die Politik
beider Parteien nicht revolutionär, sondern reformistisch – auf die Schaffung
bürgerlich-demokratischer Verhältnisse gerichtet war –, gab es kaum prinzipielle
programmatische Gegensätze, die einer Parteivereinigung grundsätzlich
widersprochen hätten. Die SPD-Politik folgte trotz einiger wichtiger
Differenzen z. B. bezüglich ihres Verhältnisses zur SU oder der Stellung
zur Demokratie der gleichen Logik wie die KPD und nahm auch in vielen konkreten
Fragen die gleiche Position ein. Hier soll nur die Zustimmung zu den
Reparationen oder die passive, ja unterstützende Haltung zur Auflösung der
Antifa-Komitees und der spontan entstandenen betrieblichen Strukturen der
ArbeiterInnenklasse genannt werden. Die KPD, die nur wenige Jahre zuvor die SPD
„Zwilling des Faschismus“ genannt hatte, war inzwischen selbst zum Zwilling der
reformistischen Sozialdemokratie mutiert. Doch die Entstehung der SED kann
nicht nur aus innerparteilichen Umständen erklärt werden; sie muss im Kontext
der Politik Stalins gesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die SED nur in der
Ostzone entstand und nicht in den Westzonen. Dem „Büro Dr. Schumacher“, der
Machtzentrale der SPD im Westen, gelang es unter Mithilfe der Westalliierten,
die Vereinigung zu verhindern. Denn von Beginn an war die SED Machtinstrument
der Politik Moskaus und somit objektiv verlängerter Arm der in der SU
herrschenden bürokratischen Kaste. Doch so sehr deren konterrevolutionäre
Strategie dem Imperialismus auch entgegenkam – dort, wo er selbst herrschte, in
den deutschen Westzonen, wollte er selbst bestimmen; eine vereinigte Arbeiterpartei
von Stalins Gnaden konnte er nicht gebrauchen.

Volksfront contra
Revolution

Nachdem die stalinisierte KPD vor 1933 durch ihren
ultralinken Zentrismus gemeinsam mit der Kapitulantenpolitik der SPD das Zustandekommen
einer breiten antifaschistischen Einheitsfront gegen Hitler unmöglich gemacht
und kampflos kapituliert hatte, erfolgte nach Hitlers Machtübernahme mit dem
VII. Kominternkongress 1935 ein scharfer Schwenk nach rechts. Die dort
beschlossene Volksfrontpolitik, die auch nach Kriegsende allgemeine Linie
blieb, verpflichtete die stalinistischen Parteien programmatisch und praktisch,
strategische Bündnisse und Regierungsallianzen mit Teilen der Bourgeoisie
einzugehen und dafür auf die Diktatur des Proletariats zu verzichten. Schätzte
man die Sozialdemokratie noch 1933 als „sozialfaschistisch“ ein und weigerte sich
beharrlich, den sozialdemokratischen ArbeiterInnen und ihrer Führung eine
Einheitsfront vorzuschlagen, so waren 1935, (also nur zwei Jahre später!)
plötzlich nicht nur die Sozialdemokratie, sondern sogar rein bürgerliche
Parteien Koalitionspartnerinnen geworden. Ein größeres Verwirrspiel ist kaum
denkbar!

Der methodische Grundfehler der Volksfrontkonzeption war
aber der, dass zwischen Faschismus und Demokratie, zwei Herrschaftsformen ein
und desselben Imperialismus, ein qualitativer Unterschied gemacht wurde, der
scheinbar ein Bündnis des Proletariats mit einem (demokratischen) Teil der
Bourgeoisie notwendig machte. Nach dieser Logik hieß die Alternative nicht mehr
Sozialismus oder Kapitalismus, sondern Faschismus oder (bürgerliche)
Demokratie. Dieses Konzept blieb auch nach der Niederlage des Faschismus für
die KPD gültig.

Die Gründung der SED und das politische Nachkriegssystem in
Ostdeutschland bzw. später der DDR stellten eine Variante dieser
Volksfrontkonzeption dar. Einerseits, weil originäre Einheitsfrontorgane der ArbeiterInnenklasse
beseitigt worden sind, zum anderen durch den antifaschistisch-demokratischen
Block. Dieser Block unter Einschluss bürgerlicher Parteien wie der CDU oder der
LDP, deren Gründung von KPD und SMAD unterstützt oder im Fall der NDP, einer
Partei für ehem. Wehrmachtsoffiziere und sonstige bürgerliche Kräfte, sogar
initiiert wurde, bildete ein pseudoparlamentarisches System auf Basis eines
bürgerlich-demokratischen Programms. Auch in der späteren DDR bestand dieser
Block weiter als Mittel der Integration kleinbürgerlicher Schichten und der
Maskierung der Alleinherrschaft der SED.

Stalins
Deutschlandpolitik

Als im Mai 1945, nach 12 blutigen Jahren, das
„tausendjährige Reich“ der Nazis zerschlagen war, war die Macht der deutschen
Bourgeoisie noch stärker als am Ende des 1. Weltkrieges diskreditiert und
erschüttert. Ihre bewaffneten Kräfte waren besiegt, der Staatsapparat befand
sich in Zersetzung, die faschistischen Organisationen waren kollabiert, die
nationalistisch-chauvinistische Massenbegeisterung für den Faschismus hatte
sich längst in Agonie und Entsetzen gewandelt. Die gesamte exekutive Macht lag
in den Händen der Besatzungsmächte.

Sofort nach Beendigung der letzten Kämpfe begann aber auch
die deutsche ArbeiterInnenklasse, Ohnmacht und Atomisierung der Jahre unter dem
Faschismus zu überwinden: die zerschlagenen Organisationen – KPD und SPD,
Gewerkschaften und Betriebsräte sowie linke Gruppierungen – entstanden neu.
Kader der SPD und der KPD, viele von ihnen gerade erst aus den KZs und Zuchthäusern
gekommen, spielten dabei eine große Rolle. Kaum waren die letzten Schüsse
verhallt, organisierte sich das Proletariat: in den Antifa-Ausschüssen, um die
Reste der Nazidiktatur zu beseitigen, in den Betrieben, um die zerstörte Produktion
wieder in Gang zu bringen. Vor allem diese betrieblichen Komitees zeugen davon,
dass die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter bereit und in der Lage waren, die
Produktion zu kontrollieren und zu organisieren. Betriebskomitees und
Antifa-Ausschüsse waren Ansätze zur Bildung von proletarischen Machtorganen –
den Räten. In der ArbeiterInnenschaft und weiten Teilen der Bevölkerung bis
hinein in bürgerliche Kreise war nach dem totalen Zusammenbruch Hitlerdeutschlands
eine mehr oder weniger bewusste und klare antikapitalistische Stimmung
verbreitet. Doch im Unterschied zu 1918 fehlte eine revolutionäre
Massenbewegung.

Entgegen der Ideologie der Alliierten, nach der
Nachkriegsdeutschland vor der Alternative Faschismus oder Demokratie stand,
ging es in Wahrheit darum, den deutschen Kapitalismus in demokratischer Form
wiederzuerrichten oder ihn zu stürzen und die Diktatur des Proletariats
aufzubauen. Obwohl 1945/46 in Deutschland keine revolutionäre Situation
bestand, so gab es doch, wie oben ausgeführt, Ansätze proletarischer Machtorkane.
Doch die Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnung, die Brisanz der sozialen
Probleme konnten in der Nachkriegsperiode jederzeit die Frage der Macht auf die
Tagesordnung stellen. Wie schon 1933 lag der Schlüssel der Entwicklung bei den
Arbeiterinnenorganisationen und insbesondere bei der Führung in Moskau.

In Potsdam hatten sich die Alliierten der
Antihitlerkoalition endgültig über das Schicksal Deutschlands geeinigt. Nach 12
Jahren Naziherrschaft sollte das neue Deutschland von nun an demokratisch, entmilitarisiert
und entnazifiziert sein. Die Kontrolle dieser deutschen Verwandlung oblag den
Besatzungsmächten Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien, die jeweils
eigene Besatzungszonen kontrollierten. Der alliierte Kontrollrat sollte als
oberstes Gremium die Politik der Alliierten koordinieren. Stalin, Truman und
Churchill waren sich darin einig, Deutschland als Staat nicht zu zerschlagen,
sondern nur soweit zu schwächen, dass er keine den Großmächten gefährliche
Rolle mehr spielen konnte. Quasi als Gegenleistung für ihren humanistischen
Großmut sollte ein Großteil der materiellen Werte Deutschlands als Reparationen
an die Besatzungsmächte fallen.

Die Antihitlerkoalition, ein strategisches Bündnis des
degenerierten ArbeiterInnenstaates Sowjetunion mit den „demokratischen“
Imperialismen; die in Jalta, Teheran und Potsdam vorgenommene Aufteilung der
Welt in Einflusssphären sind Ausdruck des Wunsches der StalinistInnen gewesen,
ein strategisches Übereinkommen mit dem Weltimperialismus zu treffen, um somit
die Möglichkeit des Aufbaus des „Sozialismus in einem Lande“ sicherzustellen.
Abgesehen davon, dass eine sozialistische Gesellschaftsqualität in einem isolierten
Land und ohne Ausdehnung der Weltrevolution nicht erreicht werden kann,
bedeutete die Politik Stalins auch den Verzicht auf alle Versuche des Proletariats,
den Kapitalismus zu stürzen und seine eigene Macht zu errichten. Die günstigen
Bedingungen für den revolutionären Kampf um die Macht z. B. in Frankreich
oder Italien 1944/45 wurden bewusst nicht ausgenutzt. Der Aufstand des
griechischen Proletariats wurde im Stich gelassen, weil Griechenland im
britischen Interessensgebiet lag.

Mehr als alle revolutionären Beschwörungen offenbarte die
praktische Politik Stalins dessen konterrevolutionäre Rolle, die in ihrer Konzeption
auf wesentlichen Elementen des Menschewismus beruht und in scharfem Gegensatz
zu Praxis und Programm der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki stand.

In Deutschland entwickelte sich die Lage prinzipiell genauso
wie in den von der SU besetzten Ländern Osteuropas. Stalins Versuch, auf die Bajonette
der Roten Armee gestützt, eine Pufferzone um die SU aus
bürgerlich-demokratischen Staaten zu schaffen, auf deren Politik er durch die
Besatzungstruppen einerseits und die jeweiligen KPen andererseits direkten
Einfluss

nehmen konnte, ging nicht lange gut. Die nichtenteignete
Bourgeoisie strebte nach der Wiedererlangung der ganzen Macht und musste mit
den Interessen des einheimischen Proletariats, aber auch mit der Moskauer
Politik kollidieren. Die bürgerliche Wirtschaft und ihre politischen Subjekte,
die Parteien und Staaten der Bourgeoisie, haben ihre Eigendynamik, die sich
nicht an Stalins Datscha-Träumereien halten. Dieser Interessenkonflikt spitzte
sich noch zu, als Amerika Ende der 1940er Jahre durch das Marshallplanprojekt
die europäischen Staaten noch enger an die USA zu binden suchte. Wollte Stalin
nicht alles verlieren, was er im Krieg gegen Hitler gewonnen hatte, musste er
entgegen seiner ursprünglichen Absicht die Bourgeoisie als Klasse enteignen.
Dazu war er auch gezwungen, wenn er nicht eine Konfrontation mit dem Proletariat
riskieren wollte, dessen Bedürfnisse ohne konsequente antikapitalistische Maßnahmen
nicht befriedigt werden konnten – es sei denn mit dem Zuckerbrot des Marshallplans.
Stalin scherte „nach links“ aus. Der Sieg über Hitler entzweite die SiegerInnen,
die Antihitlerkoalition zerbrach.

In der Ostzone Deutschlands erfolgte dieser Schwenk erst
1951, als wesentliche Elemente einer Planwirtschaft das Wertgesetz als
Grundmechanismus kapitalistischen Wirtschaftens ablösten. Diese antikapitalistischen
Umwälzungen erfolgten aber unter Ausschaltung der selbstständigen
schöpferischen Rolle des Proletariats auf bürokratische Weise und verbunden mit
der Etablierung eines der Form nach bürgerlichen Staatsapparates.

Die KPD-Politik nach
1945

Auch in Deutschland, besonders in dessen Ostteil, wo die
Rote Armee die Macht bereits besaß, wurde diese also nicht dazu genutzt, den
Kapitalismus zu beseitigen. Gerade die von den KPD-FührerInnen propagierte  „Ausrottung des Faschismus mit allen
Wurzeln“ hätte eigentlich bedeutet, dessen kapitalistische Grundlagen
abzuschaffen. Doch den FührerInnen der KPD und der KPdSU ging es lediglich
darum, den Faschismus zu beseitigen, um demokratische Verhältnisse auf der Basis
kapitalistischer Eigentumsformen zu schaffen.

Die in Moskau abgesegnete Politik der Gruppe Ulbricht, der
Führung der KPD, lässt keine Fragen über die politischen Absichten Stalins und
seiner deutschen Gefolgsleute offen. So heißt es im „Programm der antifaschistisch-demokratischen
Ordnung“ der KPD vom Juni 1945, dass „unsere grundlegende Orientierung in der
gegenwärtigen Situation die Vollendung der bürgerlich-demokratischen
Revolution, die im Jahre 1848 begonnen hatte (ist). Das heißt, die Junker,
Fürsten und Großgrundbesitzer sollen enteignet … werden. Die aktiven Nazis
… müssen von den deutschen Gerichten hart abgeurteilt werden. Die
großindustriellen Kriegsverbrecher aber werden von den Gerichten der alliierten
Mächte … ihre Strafe erhalten.“ (1)

Kein Wort über die Enteignung der Bourgeoisie als Klasse.
Kein Wort von der Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse selbst die Macht
übernehmen muss. Sogar die SPD gab sich 1945 linker als die KPD und bekannte
sich wenigstens abstrakt zum Sozialismus und zu einer „Sozialisierung der
Wirtschaft“.

Zwar gibt das Juni-Programm der KPD offen zu, dass „manche
Arbeiter … sofort den Sozialismus errichten (wollen)“, aber diese Absicht
wird als angeblich unmöglich abgelehnt. (2) Die Gründe, warum die ArbeiterInnen
nicht sofort mit dem Aufbau des Sozialismus – sprich der Errichtung der
Diktatur des Proletariats – beginnen können, sind bezeichnend für die völlige
politische und theoretische Degeneration der offiziellen KP-FührerInnen vom
Kaliber Ulbrichts und für uns auch deshalb interessant, weil die in diesem
Dokument ausgedrückte Denkweise weitgehend auch der in der SPD entsprach und
geradewegs Richtung SED weist.

Das Programm verweist darauf, dass die ArbeiterInnen noch
keine einheitliche Partei (von einer revolutionären Partei ist erst gar nicht
die Rede) haben. Doch die Oktoberrevolution, auf die sich die StalinistInnen so
gern und oft beriefen, ist gerade ein Beweis dafür, dass die Partei der
Revolution aus einer Minderheitsposition heraus durch eine richtige Politik die
Massen hinter sich zu bringen wusste. Hätte sie gemäß dem Rezept der Ulbrichts
gehandelt, hätte sie sich mit den konterrevolutionären Parteien erst vereinigen
müssen, ehe die Revolution hätte durchgeführt werden können. Das Ergebnis
dieser Politik wäre allerdings gewesen, weder eine revolutionäre Partei noch
eine sozialistische Revolution zu haben…

Das KPD-Programm bedauert auch die fehlenden Erfahrungen der
Massen in der Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist sicher richtig.
Doch mit diesem Problem ist das Proletariat immer konfrontiert, denn der
Kapitalismus, und umso mehr der Faschismus, verhindert ja eben die
Machtausübung des Proletariats. Der Inhalt jeder revolutionären Umgestaltung
der Gesellschaft besteht aber wesentlich darin, dass das Proletariat beginnt,
über die Kontrolle von Produktion zur Übernahme der Macht in der Wirtschaft zu
gelangen. Nur so kann sich auch die Emanzipation des Proletariats auf der
politischen Bühne vollziehen. Nach dem Ausschluss von der Macht unter den
Bedingungen der kapitalistischen Diktatur (ob in demokratischer oder faschistischer
Form) erlernt es in Betriebs- und Streikkomitees, in ArbeiterInnenmilizen und
schließlich den ArbeiterInnenräten den Gebrauch der Macht, um sie schließlich
auf der Ebene des gesamten Staates auszuüben. Die oben geschilderten Ansätze
von unabhängigen Organisationsstrukturen der deutschen Arbeiterinnen und
Arbeiter unmittelbar nach Kriegsende belegen, dass das Proletariat schon selbst
spontan über den Rahmen hinausgehen wollte, den ihm die moskautreue KPD vorgab.
Dass das KPD-Programm vom Juni 1945 die mangelnden Vorraussetzungen zum Aufbau
des Sozialismus beklagt, ist nur ein allzu löchriger Deckmantel dafür, dass die
unabhängigen Organisationsansätze des Proletariats v. a. auf betrieblicher
Ebene letztendlich beseitigt wurden, indem man die Betriebe den alten
EigentümerInnen beließ, um sie später – unter Ausschluss jeglicher Form von
ArbeiterInnendemokratie – auf bürokratische Art zu verstaatlichen.

Die SED – eine neue
Partei?

Trotz aller Zwänge ist die SED auch Ergebnis einer
massenhaften Tendenz nach Überwindung der Spaltung der ArbeiterInnenbewegung.
Zu Anfang war sie sicher stärker durch Elemente von Demokratie und lebendiger
Mitgestaltung der Parteitätigkeit durch die Mitglieder selbst geprägt als die
SED der folgenden Jahrzehnte. Die Funktionen der Partei waren paritätisch
besetzt, das Programm enthielt Passagen, die nur wenige Jahre später als
„ketzerisch“ galten und mit den stalinistischen bürokratischen Stereotypen
nicht gut vereinbar waren. Doch deshalb von der frühen SED als einer
demokratischen Partei – im Sinne von wirklicher proletarischer Demokratie zu
sprechen –, wäre falsch. Dafür fehlten z. B. statuarische Rechte wie das
Recht auf Bildung von Fraktionen oder Tendenzen. Allein diese Tatsache verweist
darauf, dass aus der Fehlentwicklung der Komintern unter dem Stalinismus keine
Schlüsse gezogen worden waren. Auch die Hoffnung der SozialdemokratInnen, durch
die Kraft der Zahl die innerparteiliche Demokratie (oder was man dafür hielt)
zu sichern, war mehr als blauäugig. Nur wenige Monate nach dem
Gründungsparteitag waren tausende von Mitgliedern und FunktionärInnen, zum Großteil
ehemalige SozialdemokratInnen, abgelöst, ausgeschlossen, abgeschoben oder
verhaftet worden. Wolfgang Leonhard schreibt dazu u. a.: „So sind von den
14 Mitgliedern des Zentralsekretariats, die bei der Vereinigung unter dem Jubel
der Delegierten gewählt wurden, 10 Spitzenfunktionäre im Verlauf von wenigen Jahren
ihrer Funktionen beraubt, degradiert, teilweise sogar als ,Parteifeinde‘
entlarvt und aus der Partei ausgeschlossen worden.“ (3) Die Machtmaschine des
Stalinismus hatte schnell und gründlich gearbeitet …

Schon die Gründung der SED – sie erfolgte, nachdem die
unabhängigen Organisationsansätze der Arbeiterinnen und Arbeiter beseitigt
worden waren – ist ein Element der Unterdrückung von proletarischer Demokratie.
Die stalinistische Maßregelung, die in der SED sofort nach ihrer Gründung
einsetzte, ist nur der Vollzug dieser Politik in der Partei selbst. Oasen können
in der Wüste überleben, doch demokratische ArbeiterInnenorganisationen in einer
Umgebung ohne lebendige ArbeiterInnendemokratie nicht.

Einheitlich
antisozialistisch

In den „Grundsätze(n) und Ziele(n) der SED“, die auf dem
Vereinigungsparteitag beschlossen worden waren, kommt klar heraus, dass es sich
bei der neuen Partei um eine politische Konstruktion handelt, deren Material
durchweg aus dem Lager des Reformismus stammt. In ihnen wird deutlich, dass
seitens der KPD alles, was an revolutionäre Politik und die Positionen der
frühen Komintern unter Lenin und Trotzki erinnerte, vollständig über Bord
geworfen worden war. Das ist das programmatische Fundament, auf dem sich SPD
und KPD einigen konnten.

Die Gegenwartsforderungen liegen voll auf der Linie, die
übereinstimmend von KPD und SPD nach 1945 verfolgt worden war:

  • Beseitigung des Faschismus;
  • Herstellung demokratischer Verhältnisse;
  • Bodenreform und Überwindung der Überreste des Feudalismus;
  • Bewahrung bürgerlicher Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse.

Diese bescheidenen, reformistischen Forderungen wurden in
einer Situation aufgestellt, in der die Bourgeoisie am Boden lag und die
Arbeiterinnen und Arbeiter, ohne ernsthaften Widerstand fürchten zu müssen, alle
Macht hätten übernehmen können. Allein die Tatsache, dass die SMAD eine solche
Entwicklung weder wünschte noch propagierte und sie sogar aktiv verhinderte,
hätte die SED die Politik Moskaus anprangern und bekämpfen lassen müssen. Doch
gerade, damit das nicht passiert, wurde diese Partei schließlich gegründet!

Immerhin enthält dieses Dokument auch Forderungen wie das
Koalitions- und Streikrecht, die in der späteren DDR nicht einmal mehr auf dem
Papier standen, geschweige denn in der Praxis zu verwirklichen waren.

Der bürgerlich-demokratischen Tagespolitik der „Grundsätze
und Ziele“ wird noch ein abstraktes Bekenntnis zum Sozialismus angehängt –
typisches Merkmal eines Minimal-Maximal-Programms, wie es für reformistische
Parteien durchaus üblich ist. Keine Übergangslosungen, keine Forderungen nach
Schaffung von wirklichen Machtorganen des Proletariats (Räten, ArbeiterInnenmilizen
usw.), keine Forderung nach Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse oder nach
Zerschlagung des bürgerlichen Staats und Enteignung der Bourgeoisie als Klasse.
Die Revolution wird von der SED wie folgt definiert: Die SED „erstrebt den
demokratischen Weg zum Sozialismus; sie wird aber zu revolutionären Mitteln
greifen, wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verlässt.“
(4) Die Revolution als Notmaßnahme, nicht als notwendiger und einzig möglicher Akt
zum Sturz des Kapitalismus und Schaffung der Diktatur des Proletariats. Wie
weit mussten „KommunistInnen“ sich schon theoretisch vom Marxismus entfernt
haben, um dem zuzustimmen?!

Schon einmal, als sich 1919 die KPD mit dem linken Flügel
der USPD vereinigt hatte, bildeten KommunistInnen und frühere SozialdemokratInnen
eine gemeinsame Partei. Doch 1919 war die KPD noch eine revolutionäre Partei
und die USPD-Linke bewegte sich auf revolutionäre Positionen zu, um sich auf
einem revolutionären sozialistischen Programm mit der KPD zu vereinigen. 1946
bildeten zwei reformistische Parteien eine neue – auf einem reformistischen,
bürgerlichen Programm mit sozialistischer Zusatzklausel. Welch Unterschied und
welch tragischer Irrtum, über der Notwendigkeit der Einheit ihren politischen
Inhalt zu vergessen!

Die SED war weder eine demokratische noch eine revolutionäre
Partei. Sie war, wie ihre Gründung, ihre Dokumente, ihre praktische Politik und
schließlich ihr unrühmliches Scheitern 1989/90 beweisen, ein Instrument der
herrschenden Bürokratie in der Sowjetunion und ihrer StatthalterInnen in (Ost-)Deutschland
bzw. der DDR zur politischen Knebelung des Proletariats und der Eindämmung der
internationalen proletarischen Revolution. Sozialistisch war an der SED, wie an
ihren auf ähnliche Art und unter ähnlichen Bedingungen entstandenen „Bruderparteien“
in Polen oder Ungarn allenfalls der Name. Gründung und Untergang der SED sind Momente
stalinistischer Politik, ihrer zeitweiligen Konjunktur und ihrer Todeskrise.
Nicht die Nachauflage PDS als entstalinisierte sozialdemokratische
SED-Nachfolgepartei, sondern der Aufbau einer revolutionären marxistischen
Partei ist die Lehre aus der Geschichte der SED.

Quellen

(1) Ulbricht, Walter: Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen
Staates 1945–1958. Dietz Verlag, Berlin/O. 1958, S. 27

(2) ebenda, S. 28

(3) Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990, S. 545

(4) KPD: 1945-1968, Dokumente. Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989, S. 201