China: Ende der Null-Covid-Politik

Peter Main, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die rasche Lockerung von Chinas Null-Covid-Sperren ist eine direkte Folge der Massenproteste, die das Land erschüttert haben. Die Proteste selbst korrigieren auch das weit verbreitete Bild, dass die Bevölkerung nur die ewig gehorsame, gedankenlose Sklavin der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist.

Die erste Reaktion des Einparteienstaates bestand jedoch im Versuch, die Demonstrationen zu unterdrücken. Das Aufgebot an gut ausgebildeter und ausgerüsteter Bereitschaftspolizei macht deutlich, dass sich das Regime seit langem auf solche Konfrontationen vorbereitet hat. Es weiß, dass seine weitere Herrschaft von der Repression abhängt.

Die Auswirkungen der Proteste bedeuten jedoch nicht, dass sie den einzigen Faktor für das Einlenken von Ministerpräsident Xi Jinping ausmachten. Die Entscheidungen einiger Provinzbehörden und lokaler Regierungen, die Lock-down-Regeln „neu zu interpretieren“, bevor es eine neue Entscheidung aus dem Machtzentrum Peking gab, weisen auf Spaltungen innerhalb der KPCh selbst hin.

Das ist nicht überraschend. Die unteren Ränge der Partei stehen in ständigem Kontakt mit der Öffentlichkeit, und zu ihnen gehören auch Zehntausende von „Geschäftsleuten“, d. h. Kapitalist:innen, die den Zusammenbruch ihrer Unternehmen erlebt haben. Parteimitglieder sind auch Schlüsselfiguren in den Kommunalverwaltungen auf allen Ebenen.

Ein Beamter der Stadt Dongguan sagte laut Financial Times, dass die lokalen Regierungen Schwierigkeiten hätten, die Subventionen aufrechtzuerhalten, um die Fabriken offen zu lassen, da sie auch für die Covid-Tests aufkommen müssten. Bei Millionen von Menschen, die sich täglich testen lassen müssen, nur um zur Arbeit zu gehen, wird es immer schwieriger, die Bilanzen auszugleichen.

Am anderen Ende der sozialen Skala, laut Forbes-Liste der 100 reichsten Menschen Chinas, ist das Vermögen der reichsten Tycoons des Landes im letzten Jahr um 39 Prozent gesunken. Das liegt nicht nur an den Covid-Maßnahmen, sondern auch an der Rezession in der übrigen Welt, von der China betroffen ist. Die Exporte, für die ein Wachstum von 4,5 % für das dritte Quartal bis September erwartet wurde, schrumpften tatsächlich um 0,3 %.

Nicht nur bei den Covid-Beschränkungen macht Xi einen Rückzieher. Auch die finanziellen Anforderungen, die sich auf die so wichtige Bau- und Immobilienbranche auswirken, wurden erheblich gelockert. Die Beschränkungen des Verhältnisses von Schulden zu Kapital, die so genannten „drei roten Linien“, bedrohten die Zahlungsfähigkeit vieler großer Unternehmen, von denen Evergrande nur das bekannteste ist.

Die chinesische Zentralbank hat eine ursprünglich für Ende des Jahres angesetzte Frist verlängert, innerhalb derer die Kreditinstitute ihren Anteil an Krediten im Immobiliensektor begrenzen müssen. Dies bedeutet, dass Banken und andere Kreditgeber:innen mehr Zeit haben, um den Anteil der immobilienbezogenen an ihren Gesamtschulden anzupassen. Die Zeit soll genutzt werden, um Projekte abzuschließen und so die ausstehenden Schulden zu verringern.

Insgesamt sehen die Aussichten für das kommende Jahr in China düster aus. Die zentrale Rolle der Exporte in der Wirtschaft, bisher eine der größten Stärken des Landes, wird zu einer Gefahr, wenn die Nachfrage im Rest der Welt zurückgeht, teils wegen der steigenden Zinsen, teils wegen der Lager, die immer noch mit unverkauften Waren gefüllt sind. Sportausrüsterkonzern Nike zum Beispiel meldete im September, dass seine nordamerikanischen Lagerbestände am Ende des dritten Quartals um 65 % höher waren als im Vorjahr.

Mit der Verlangsamung der Wirtschaft werden Arbeitsplätze, -bedingungen und Löhne unweigerlich unter Druck geraten, und es wird für Aktivist:innen immer wichtiger werden, die Lehren aus den Anti-Lockdown-Protesten zu ziehen. Die Geschwindigkeit, mit der Taktiken in einer Stadt oder Region in weit entfernten Orten aufgegriffen wurden, zeigt, dass Pekings Überwachungsprogramme, so mächtig sie auch sein mögen, die Kommunikation nicht gänzlich unterbinden.

In der Tat wird berichtet, dass die Zensur von „We Chat“ und anderen „sozialen Medien“ in den letzten zwei Wochen deutlich nachgelassen hat, wobei Beiträge, die früher innerhalb von Stunden entfernt worden wären, nun tagelang im Umlauf sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, müssen die Aktivist:innen an allen Fronten ihre völlige Unabhängigkeit von den sich entwickelnden Fraktionen in der KP bewahren, so wie sie auch unabhängig von den Kapitalist:innen sein müssen, die beginnen, sich mit der Partei zu zerstreiten.




China: Vor dem Scheitern des nationalen Projektes 0-Covid?

Resa Ludivien, Infomail 1185, 20. April

Jahrelang erschien Chinas 0-Covidstrategie eine erfolgreiche und lebensrettende Alternative zur vorherrschenden Pandemiepolitik im Westen. Bis heute sind dort nur wenige Tausend Menschen an Corona verstorben, während in den USA mittlerweile fast eine Million an Covid-19 verstorben sind (Stand 19.4.22: 989.331). In den Vereinigten Staaten verstarben bisher 300 Menschen je 100.000 Einwohner:innen, in Deutschland 160,1, in China eine Person.

Paradoxerweise erscheint jedoch die Politik Chinas, folgen wir dem Tenor der westlichen Öffentlichkeit, als die gescheiterte, während wir hier endlich wieder auf Freiheit und das „Leben mit der Pandemie“, also der stillschweigenden Inkaufnahme weiterer Wellen und Toter zu leben gelernt hätten.

Gründe dafür gibt es mehrere. Aber klar ist, dass die chinesische Strategie samt ihre drakonischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der Lage auf dem Weltmarkt, ökonomischer Probleme im Inneren, aber auch des autoritären Charakters der Pandemiepolitik der Bürokratie an ihre Grenzen stößt.

Dabei war die chinesische Politik zu Beginn der Pandemie über Monate, ja Jahre erfolgreich. Die Zahl der Toten und Infizierten konnte auf einem vergleichsweise geringen Niveau gehalten werden. Während sich Länder wie Deutschland von Lockdown zu Lockdown hievten und nun Impfpflicht oder Masken als unter „ferner liefen“ gelten, schien in China schnell wieder „alles beim Alten“. Hätte das Land eine den USA oder auch nur Deutschland vergleichbare Politik eingeschlagen, wären heute nicht Tausende, sondern Millionen Chines:innen der Pandemie zum Opfer gefallen.

Jetzt bestätigt sich wieder einmal, dass man globale Probleme wie eine Pandemie auch nur weltweit lösen kann. Chinas Abschottungspolitik sowie das Beharren auf einem eigenen Impfstoff haben den Ausbruch nur verschleppt, der auch durch mangelnde Maßnahmen und Mutationen in anderen Ländern provoziert wurde. Der derzeitige Ausbruch der Omikronvariante trifft auf eine nur in Teilen immunisierte Gesellschaft und zwingt die KP zum Handeln, damit sie an ihrem Narrativ der überlegeneren Strategie festhalten kann.

Grenzen der Strategie

Die chinesische Coronastrategie war auch im Rahmen des Systemkampfes wichtig. Überlegenheit wurde dem In- und Ausland suggeriert. Doch jetzt befinden sich Millionenstädte wie Shanghai, Beijing oder Shenzhen im Lockdown – ein Lockdown, der im Wesen seinesgleichen sucht. Der chinesische Alltag in diesen Städten bedeutet nun leere Straßen, abgeriegelte Viertel, sogar versiegelte Wohnungen, Ausgang nur zu den staatlich vorgeschriebenen Coronatests und eine steigende Überwachung, die sogar die bisherige übertrifft.

Die Versorgung der Menschen ist in Gefahr. In den betroffenen Gebieten beschweren sich die Anwohner:innen über eine schlechte staatliche Versorgung bis hin zu Lebensmittelknappheit. Selbst einzukaufen, ist so gut wie unmöglich. Daneben trifft die Omikronwelle auch in China auf ein belastetes und wahrscheinlich bald überlastetes Gesundheitssystem. Neben chinesischer traditioneller Medizin ist ein weiteres seiner Merkmale das Fehlen von Hausärzt:innen. Bist du krank, gehst du ins Krankenhaus. Viele Kollateralschäden sind hier zu erwarten: Menschen, die nicht hätten sterben müssen, wenn es genügend Ärzt:innen, Kapazitäten geben würde oder sie genügend Geld für eine Sonderbehandlung hätten. In westlichen Medien liest man nun von dramatischen Szenen, in denen Menschen abgewiesen oder infizierte Kleinkinder von ihren Eltern getrennt werden. Die soziale Sprengkraft der Situation ist greifbar. Auf Shanghais Straßen wird bereits das Militär eingesetzt, um der Lage und des Unmuts Herr zu werden.

Gerade scheint es, als könnte das Virus einen der schwersten Angriffe auf den chinesischen Imperialismus verkörpern, den dieser bisher gesehen hat. Derweil läuft die Propaganda weiter. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels, der Rüstung und Militarisierung, sondern auch als Kulturkampf ausgetragen – sowohl innerhalb Chinas als auch darüber hinaus. Die Propagandamaschinerie für das Militär und vor allem gegen die USA soll auch gegen den Trend arbeiten, dass seit Jahren chinesische Familien eine starke Westbindung entwickelt haben und bspw. in die USA gehen, um ihre Kinder auf die Welt zu bringen, oder sich für die Ausbildung an westlichen Universitäten entscheiden. Beides sollte den Kindern später bessere Lebensbedingungen garantieren.

Seit der Öffnungspolitik nach Maos Tod und spätestens nach der Machtübernahme Xi Jinpings inszenierte sich China als ein Land im Aufschwung. Tatsächlich gewann der Staat an Macht im internationalen Gefüge und auch die chinesische Wirtschaft holte massiv auf. Für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, also die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen galt das weitestgehend nicht. Außerhalb der schicken Innenstadtviertel von Großstädten zeigt sich ein ganz anderes Bild. Auch in Städten wie Beijing werden ärmere Menschen diskriminiert. Vor allem der Hukou (ein innerchinesischer Wohnsitzausweis), der besagt, wer sich wo aufhalten und ansiedeln darf, sorgt noch für ein weiteres Kontrollelement.

Illegale Arbeit im Untergrund stellt hier die einzige Möglichkeit dar. Nun steht die Wirtschaft vielerorts still und auch Pendler:innen von außerhalb kommen nicht in die Städte zur Arbeit. Das Essen wird rationiert und in die isolierten Viertel gebracht. Nur wie sollen Menschen überleben, die es eigentlich gar nicht geben darf? Auch ins Krankenhaus zu gehen, wird dadurch erschwert. Am meisten leiden arme Menschen, denn kein Ausgang bedeutet keine Arbeit, keine Arbeit bedeutet kein Gehalt und kein Gehalt bedeutet kein Essen.

Hinzu kommt, dass aufgrund der raschen Verbreitung von Omikron nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch der Städte und Regionen und somit der Menschen, die von Lockdowns betroffen sind, weitaus höher ist als bei vorhergehenden Wellen. Greift die Regierung hier nicht ein, drohen nicht nur weitere Unruhen, sondern auch eine selbst verursachte Hungerkrise, sofern die Zahlen weiter steigen und die einzige noch vorhandene Maßnahme Lockdowns sind.

Wie China gegen Proteste und Abweichler:innen vorgeht, hat die Regierung in den letzten Jahren deutlich gemacht. Das Militär wurde gestärkt und die Überwachung ausgebaut. Deren Relevanz für einen vermeintlichen sozialen Frieden hat sich vor allem in Hongkong und Xinjiang gezeigt, wobei die Politik der Bürokratie auch an eine Ausrottungsmaßnahme grenzt, ob gewollt oder ungewollt. Überall wo Protest entsteht, verschwinden Menschen und landen in „Gefängnissen“, die eher an Folterlager erinnern. Dennoch gab es in den letzten Jahren immer wieder Einzelne und Gruppen, die das in Kauf genommen haben, bspw. im Rahmen der #MeToo-Proteste, und auch jetzt gibt es immer mehr Videos in den sog. sozialen Netzwerken, die Proteste zeigen. Auf diese folgen oft Verhaftung und Verurteilung. Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Sowohl in China als auch hierzulande haben die letzten Monate und Jahre sehr deutlich gezeigt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise und imperialistisches Machtstreben keinen gesellschaftlichen Frieden bringen, keinen Wohlstand für alle und globale Konflikte nicht lösen können. Im Gegenteil: Das Versagen im Kampf gegen die Coronapandemie hat einmal vor Augen geführt, dass die Unterordnung der Gesundheit der Bevölkerung unter kurzfristige Profitinteressen Millionen das Leben kostet.

Krise und Widerstand

Doch in Zeiten der Krise und wachsender ökonomischer Schwierigkeiten stößt die Coronapolitik der chinesischen Regierung selbst an Grenzen – und damit auch auf den Unmut von Millionen. Sie betrachten wahrscheinlich schon heute die Politik der KP aus einem anderen Blickwindel. Aus dieser Erkenntnis kann Handeln, einschließlich spontaner Protestaktionen verzweifelter Menschen, folgen. Zugleich ist mit massiver Repression zu rechnen.

Damit Unmut und etwaige Proteste jedoch nicht einfach Episoden bleiben oder brutal zerschlagen werden, brauchen sie erstens klare soziale und politische Forderungen. Diese müssen eine Sicherung der Versorgung aller – also auch der Menschen ohne gültige Papiere, der Armen und Wohnungslosen – beinhalten, also Nahrungsmittel, Zugang zu Gesundheitsvorsorge. Wo Knappheit an Ressourcen herrscht, müssen diese gemäß den Bedürfnissen, nicht den Privilegien in der Gesellschaft verteilt werden. Um überhaupt eine rationale Versorgung zu sichern, muss die Offenlegung aller bestehenden Ressourcen wie auch des wirklichen Stands der Pandemie eingefordert werden. Plattformen wie Weibo (ein chinesischer Mikrobloggingdienst ähnlich Facebook und Twitter) sollten dazu genutzt werden.

Solche Forderungen stellen faktisch die Kontrolle der Bürokratie in Frage. Um die Zuteilung von Gütern zu sichern, sollen in den Betrieben, Gesundheitseinrichtungen, in den Wohnblöcken und Stadtvierteln von der Bevölkerung Ausschüsse zur Organisation und Kontrolle dieser Arbeiten gewählt werden. Von entscheidender Bedeutung wird es dabei sein, dass diese Strukturen in den Betrieben verankert sind und ihre Forderungen mit Aktionen Nachdruck verleihen können. Regionen wie Shanghai bilden heute nicht nur Zentren der chinesischen, sondern der Weltwirtschaft. Angesichts der Pandemie wäre es auch essentiell, solche Strukturen nicht nur in den Regionen unter Lockdown aufzubauen, sondern auch die Arbeiter:innen in den anderen Landesteilen zur Unterstützung aufzufordern. Die Pandemie wird schließlich vor niemandem/r Halt machen und die Alternative zum bürokratisch-autoritären Lockdown lautet nicht Öffnung fürs Kapital, sondern Lockdown unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innen.

Eine Politik der Arbeiter:innenklasse wird sicherlich auf den Widerstand der chinesischen KP-Spitzen und erst recht der Kapitalist:innen im Land treffen. Daher muss nicht nur mit Repression gerechnet werden. Ihre politisch bewusstesten Teile müssen die Lage auch nutzen, um den politischen Bruch mit der KP voranzubringen, die das Wort kommunistisch im Namen nicht verdient hat und eher einer Politkaste gleicht, die die imperialistischen Interessen des chinesischen Kapitals vorantreibt. Daher braucht es in China eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die unter den Bedingungen der Diktatur und Unterdrückung aufgebaut werden kann. Die aktuelle Krise der Coronapolitik, die ökonomischen Probleme Chinas und mögliche Massenproteste und Aktionen können die Bedingungen für deren Entstehung extrem begünstigen.

Für uns in Europa oder den USA muss die internationale Solidarität im Vordergrund stehen, die Unterstützung jeden Schrittes zur Bildung einer von der Bürokratie unabhängigen Arbeiter:innenbewegung einerseits sowie des Kampfs gegen die imperialistische Propaganda auf allen Seiten andererseits. Das bedeutet für uns auch, sich von der chauvinistischen und rassistischen Rhetorik über Chines:innen zu lösen wie auch von dem westlich-imperialistischen Narrativ, dass China in der Pandemie auf eine Politik der Öffnung und Durchseuchung hätte setzen sollen, damit seine Produktion für den Weltmarkt nicht ins Stocken gerät. Das Problem der chinesischen Coronapolitik besteht nicht darin, dass das Land „zu viel“ getan hat, sondern dass sie bürokratisch und repressiv erfolgt ist und die Pandemie nicht international koordiniert bekämpft wurde.




„Neue starke Männer“ zum Kampf für Chinas Vormachtstellung in der Welt?

Resa Ludivien (Sympathisantin von REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Schaut man chinesische Serien, so finden sich immer mehr starke Frauenfiguren auf dem Bildschirm. Noch verwunderlicher ist es, dass, im Vergleich zum westlichen Pendant ganz normale Dinge einen Platz in 45 Minuten bekommen. Wann hatte in einer deutschen Serie das letzte Mal eine Frau ihre Tage, was nicht nur erwähnt wurde, um ihre schlechte Stimmung zu erklären?

Fernab von Fiktion ist die Entwicklung in Festland-China allerdings seit Jahren eine andere und sie spitzt sich zu. Militarisierung, Stärkung tradierter Männlichkeitsideale und ein neuer Rechtfertigungszwang für diversere Frauenbilder bestimmen den Alltag. Im folgenden Artikel soll diese Entwicklung beschrieben und analysiert sowie ein Überblick des Frauenbildes in China geliefert werden.

Geschlechterverhältnisse in China: Long Story Short

Im konfuzianischen Weltbild gibt es nur eine Beziehung, die als gleich dargestellt wird: nämlich zwischen Freund_Innen, wobei hier in erster Linie Männer gemeint sind. Der Ideologie zufolge sind alle dem Staat untergeordnet, Kinder den Eltern und Frauen den Männern. Dieses Weltbild war jahrhundertelang prägend. Doch es hatte eine materielle Grundlage. Die ökonomischen Verhältnisse in China unterschieden sich von der vorkapitalistischen Wirtschaft in Europa. Marx fasste diese unter asiatische Produktionsweise (auch wenn sie auch in anderen Teilen der Welt vorkam) zusammen.

In dieser erfüllte der Staat wesentliche, stark zentralisierte Funktionen zur Sicherung der Gesamtreproduktion der Gesellschaft (Bewässerung, Handel, Austausch zwischen den Agrargemeinden, Militär). Auf dieser Grundlage konnten nicht nur große Agrarterritorien regiert werden, wo die Dorfgemeinde (später tw. auch individuelle Bauern) noch Eigentümer von Grund und Boden war/en, an den Staat ein Mehrprodukt in Form von Tribut ablieferten.

Obwohl es immer wieder zu Aufständen kam, die sogar zu Herrschaftswechseln und Einsetzung einer neuen Herrschaftselite führten, blieben die eigentlichen Produktionsverhältnisse am Land davon weitgehend unberührt.

Eine starke Rolle in diesem Staat der herrschenden Klasse bildeten Beamte (nur Männer). Diese besaßen nicht nur das Macht-, sondern auch das Wissensmonopol. Die Rolle der Frau war demnach, bis auf den kaiserlichen Hof, eher eine arbeitende.

Beschäftigt man sich mit den Geschlechter- und Schönheitsidealen des vormodernen China, so ist davon auszugehen, dass vor allem die Verhältnisse der herrschenden Klasse bis heute überliefert sind. Über die normale Bevölkerung wissen wir hingegen wenig, da sie in Abbildungen und Texten weniger vorkommt und diese nicht selber hervorgebracht habt. Sie war zu sehr mit Produzieren beschäftigt. Allerdings waren Schönheitsideale bereits vor 1.000 Jahren nicht nur auf Frauen konzentriert. Immer wieder gab es Zeiten, in denen Männer, die sich schminkten, ganz normal waren. Außerdem darf man nicht vergessen, dass in den vormodernen Gesellschaftsstrukturen Chinas die Geschlechterverhältnisse keineswegs deckungsgleich mit europäischen waren.

Durch das Vordringen des Weltmarktes und damit verbundene Umwälzung der Klassenbeziehungen, soziale Bewegungen und nicht zuletzt die maoistische Führung wurde dieses Weltbild v. a. im 20. Jahrhundert stark aufgebrochen. So hinkte die Technik unter Mao Wirtschaftsplänen hinterher und Frauen wurden als Arbeiter_Innen gebraucht. Dies spiegelte sich auch in der Propaganda wider. Gleichzeitig kann man nicht von einer gänzlichen Gleichberechtigung von Frauen sprechen. Denn dazu zählt nicht nur die Gleichstellung auf rechtlicher und ökonomischer Ebene, sondern auch gesellschaftlich und somit auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die Ein-Kind-Politik und auch die starke Bevorzugung von männlichen Babys stehen im krassen Widerspruch zur Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Jedoch gab es nach Maos Tod eine Zeit der Entspannung in China. Doch diese war nicht nachhaltig. In der KP von heute stehen vor allem Männer in den ersten Reihen. Und spätestens mit der Übernahme durch Xi Jinping wurden die chinesische Politik und Gesellschaft neustrukturiert. Dazu gehört auch die bewusste Förderung tradierter konfuzianischer Vorstellungen von Ordnung und Unterordnung sowie reaktionären Geschlechterrollen.

Xi Jinping zieht die Zügel an

Im ostasiatischen Raum ist Südkorea in der Popkultur seit mehreren Jahren der Maßstab. Von K-Pop, bis Serien begegnen einem dort auch Männerbilder, die fernab westlicher Vorstellungen sind. Werden hierzulande schon Menschen wegen etwas Nagellack schief angesehen, ist es dort kein Problem, als Nicht-XX-Chromosomensatz geschminkt aufzutreten und großen Wert auf die äußere Erscheinung zu legen. Auch chinesische Schauspieler nähern sich diesem Ideal oft an. Doch sind „verweichlichte“ Männer, womit Schminke von reaktionären Kräften auch assoziiert wird, der Parteiführung mittlerweile ein Dorn im Auge. Die nationale und somit KP-gesteuerte Filmindustrie soll sich diesem Trend entgegenstellen. Zum Teil bedeutet das sogar die Zensur solcher Filme und Serien. Doch warum werden Männer mit Schminke als so große Gefahr angesehen?

Bedenkt man, dass Menschen, die nicht in das binäre und heteronormative System passen, vor allem LGBTIQA, in China stark bekämpft werden, ist das nicht sehr verwunderlich. Sie werden als krasses Gegenstück für die herrschenden Geschlechterverhältnisse und als Angriff auf die soziale Ordnung gesehen. Des Weiteren gibt es auch einen politischen Hintergrund für das Verstärken eines vermeintlich traditionellen Männerbildes.

Im Rahmen zunehmender globaler Konkurrenz und eines Blockbildungsprozesses auf Militarisierung und „traditionelle“ Männlichkeit zu setzen, ist nichts Neues. Auch Putin greift zu diesem Narrativ „des Hüters der Männlichkeit“. Dieses betrifft nicht nur die offizielle politische Ebene, sondern auch die scheinbar private. Schönheitsideale werden politisch. Schminke gilt als Verweichlichung der starken Männer. Dieses Weltbild betrifft nicht nur Männer, die sich dem nicht unterwerfen, sondern auch vor allem Frauen und nonbinäre oder trans Personen. Denn das Pendant ist nicht die kämpferische Frau, sondern das krasse Gegenteil: Die „gute“ Frau sorgt sich um den Herd und trägt einen Rock, ähnlich dem westlichen Familienbild der 1950er Jahre.

Dieser reaktionäre Wandel des Frauenbildes wird vor dem Hintergrund der veränderten Rolle Chinas als aufstrebende imperialistische Macht verständlich. Mittlerweile stellt es den Hauptrivalen der niedergehenden Hegemonialmacht USA dar. Schaut man sich die Versuche an, Halbkolonien in die eigene Einflusssphäre einzubinden, ist sein Weg zur Weltmacht z. B. bei der „Neuen Seidenstraße“ deutlich erkennbar. Doch auch im Inland gibt es Auswirkungen des Blockbildungsprozesses.

Das Militär ist in China mittlerweile omnipräsent: seien es stetig wiederkehrende Militärreklame, die an Werbespots erinnert, Truppen bei Zugreisen oder in Bahnhöfen, wie man sie in wahrscheinlich keinem europäischen Land in diesem Umfang zu sehen bekommt. Die letzten Jahre und Monate hat China nicht nur auf ökonomischer und diplomatischer Ebene, vor allem in halbkolonialen Ländern in Afrika, Asien oder Südosteuropa, seinen Einfluss verstärkt. Auch im Inland bzw. dem Gebiet, welches die chinesische Regierung als solches betrachtet, wurden Militäraktionen immer präsenter und aus Sicht der Regierung notwendiger. In Taiwan läuten unaufhörlich die Alarmglocken, da das chinesische Militär immer stärker in dessen Luftraum eindringt. Des Weiteren kam es auch bei den Protesten in Hongkong zum Einsatz. Wie es in Xinjiang oder Tibet aussieht, lässt sich aufgrund der immer schlechter werdenden Informationslage nur vermuten. Sucht man nach „Zhongguojunren“ (chinesische Soldat_Innen), erscheinen in erster Linie Bilder von Männern in Uniform. Frauen und Militär sind an sich eigentlich kein Widerspruch und Frauen und Kämpfer_Innen schon gar nicht. Allerdings scheint der neue Kurs vor allem auf Männer ausgerichtet zu sein. Diese Entwicklung symbolisiert auch das staatlich verordnete Männlichkeitsbild.

Frauen als Systemstörung!?

Die Frauen werden in den Hintergrund gedrängt, zurück an den Herd, während die Männer kampfbereit gemacht werden sollen. Neben der strategischen Militarisierung Chinas spielt noch ein weiteres Element hinein. Auch der chinesischen Wirtschaft hat die Corona-Pandemie, vor allem zu Beginn, geschadet. Zusätzlich muss eine innerchinesische Schuldenkrise abgewendet werden (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/).

Zwei Krisen auf einmal also, die den Aufstieg gefährden könnten! Der eingeschlagene Kurs auf Stärkung reaktionärer Geschlechterrollen und das Zurückdrängen der Frauen stellt dabei auch ein Mittel zur Spaltung der Ausgebeuteten und zur Schwächung und Isolierung von Widerstand und Protest dar. Dabei manifestierten sich in den letzten fünf Jahren durchaus Proteste unter der Beteiligung von Frauen und gesellschaftlich unterdrückten Gruppen, die der Linie der KP-Führung im Weg stehen. Dazu zählen Proteste der LGBTIAQ-Bewegung ebenso wie Streiks im Care-Sektor oder „#MeToo“-Ableger in chinesischen „sozialen Medien“ oder der Versuch, in China als Single-Frauen anerkannt und in Ruhe gelassen zu werden. (Siehe Frauenzeitung 2020: „Frauen in China: die Verliererinnen des Aufschwungs?“)

Diese Bewegungen haben auch gezeigt: Frauen stellen eine „Gefahr“ dar. Gleichzeitig sind sie unabdinglich für Reproduktion und Reproduktionsarbeit, zuhause und gesellschaftlich, sowie als Reserve im Kriegsfall. Daher muss ein Weg gefunden werden, um sie in Schach zu halten. Sie aus dem ökonomischen Kreislauf heraus- und zurück nachhause zu drängen, ist ein Mittel, um ihre Unabhängigkeit und Mitbestimmung zu beschneiden. Um die längerfristige Machterhaltung der KP zu ermöglichen und gleichzeitig den Einfluss in der Welt zu stärken, ist die stärkere Unterordnung der Gesellschaft und vor allem der Frauen unabdingbar.

Die Rhetorik Xi Jinpings greift zur Formierung einer kampfbereiten Gesellschaft auf altbewährte Phrasen zurück. Das alte philosophische Konstrukt des „Tianxia“, was so viel wie alle unter einem Himmel bedeutet, ist sein Credo. In diesem Fall ist es nicht nur ein philosophisches Modell, sondern ein Kampfbegriff, unter dem sich imperialistische Politik betreiben lässt und der sich geradezu anbietet. Alte Größe wiederherstellen, indem man auf lange tradierte, funktionierende und stark verankerte Konstrukte zurückgreift, funktioniert. Erstens, weil die Ideen stark in der chinesischen Kultur verankert und daher in der Bevölkerung anschlussfähig sind. Zweitens, weil gerade der Konfuzianismus stark hierarchisch geprägt ist. Die Unterordnung unter den Staat steht an erster Stelle, die Durchsetzung des patriarchalen Systems folgt darauf und stützt wiederum den Staat. Schließlich basieren Kapitalakkumulation und Herausbildung einer Kapitalist_Innenklasse im chinesischen Imperialismus darauf, dass die Staatsbürokratie eine aktive, vorantreibende Rolle spielt.

Gemeinsamer Kampf!

Daran zeigt sich, dass die Forcierung reaktionärer Geschlechterrollen eng mit der Entwicklung des Kapitalismus und Militarismus verknüpft ist. Der Kampf gegen die neuen Formen der Unterdrückung und die Stärkung patriarchaler Strukturen und Ideologien braucht einerseits ökonomische Organisierung, aber auch gemeinsamen Widerstand gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im öffentlichen und privaten Raum.

Ein Kampf gegen die Verhältnisse ist jedoch keiner von Frauen allein. Auch eine Organisierung von LGBTIAQ-Menschen liegt in unserem Interesse, u. a. weil es hier bereits Strukturen gibt und auch Erfahrungen mit der Arbeit im Untergrund. Doch eine sozialistische Antwort ist nicht nur auf ein Geschlecht fokussiert.

Das Vorgehen der chinesischen Regierung richtet sich nicht nur gegen die Stellung von Frauen in der Gesellschaft, sondern birgt auch für Männer eine Gefahr, weil es ein Teil der Formierung des chinesischen Kapitalismus darstellt und eng mit dem Kampf um die Weltmachtrolle Chinas verknüpft ist.

Der Kampf muss dabei unter Bedingungen der Illegalität geführt werden müssen, was auch einschließt, Dynamiken für offene Auseinandersetzungen z. B. in Betrieben zu nutzen, wo sie entstehen. Vor allem aber geht es darum, eine politische Organisation, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen und den Sexismus auf allen Ebenen mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbindet. Auch in China steht der Hauptfeind der Arbeiter_Innenklase und der ländlichen Armut im eigenen Land.




Pakistan: Gwadars Kampf gegen den kapitalistischen „Fortschritt“

Sheraz Arshad, Infomail 1178, 21. Februar 2022

Die Hafenstadt Gwadar in der pakistanischen Provinz Belutschistan ist der Ausgangspunkt für den Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC), eine wichtige strategische Verbindung im Rahmen von Pekings „Neuer Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“). Doch von Prestigeprojekten wie einem internationalen Flughafen, Kraftwerken, neuen Hafenanlagen und Schnellstraßen haben die Menschen in der Region keine Vorteile. Schlimmer noch, die Hauptstütze der lokalen Wirtschaft, die Küstenfischerei, wurde durch die Ankunft der gigantischen Trawler aus China praktisch zerstört.

Bewegung

Nach Jahren gebrochener Versprechungen in Bezug auf neue Arbeitsplätze und Industrien wandelte sich im November das Ausmaß der Proteste radikal, als eine neue Bewegung, Gwadar Ko Haq Do (Rechte für Gwadar), ins Leben gerufen wurde. Bei einer Sitzblockade in der Stadt unterstützten Hunderttausende die 19 Kernforderungen der Bewegung. Diese beinhalten unter anderem ein Verbot von Fischtrawlern, die Beseitigung von Hindernissen für den grenzüberschreitenden Handel mit dem Iran, die Beseitigung von Sicherheitskontrollpunkten, ein hartes Durchgreifen gegen den illegalen Drogenhandel, die Schaffung von Arbeitsplätzen vorrangig für die örtliche Bevölkerung, Beendigung der Schikanen und Maßnahmen gegen Hunderte von „Vermissten“ durch die Polizei – Aktivist:innen, von denen angenommen wird, dass sie von den Sicherheitskräften entführt wurden.

Schon das Ausmaß der Bewegung machte sie zu einem Meilenstein im Kampf um die Entwicklung Belutschistans. Noch bedeutender war jedoch die Tatsache, dass zum ersten Mal eine große Zahl von Frauen daran beteiligt war. Sie sagten, sie seien aus ihren Häusern vertrieben worden, weil ihre Männer wegen des illegalen Fischfangs durch Trawler und der Handelsbeschränkungen an der iranischen Grenze ihre Arbeit verloren hätten. Sie beklagten ihre extreme Armut, den Hunger in den Familien, den Mangel an sauberem Wasser und Strom sowie das völlige Fehlen von Gesundheits- und Bildungsangeboten.

Die Bewegung von Gwadar breitete sich auf andere Städte aus und erhielt Unterstützung aus ganz Belutschistan. Dies alles geschah auch, weil sich seit dem Ausbruch der Covid19-Pandemie eine bedeutende Veränderung vollzogen hat. Die Pandemie sorgte dafür, dass die große Masse der Menschen mobilisiert wurde, deren Zahl ihre Angst vor dem Staat übersteigt.

Mittlerweile protestieren auch Student:innen aus Belutschistan für ihre Rechte. Trotz Polizeigewalt und Festnahmen fordern sie beharrlich, dass die Regierung die Privatisierung des Bolan Medical College und der Universität von Belutschistan zurücknimmt. Die Student:innen besetzten die Universität aus Protest gegen das gewaltsame Verschwinden von zwei ihrer Kommiliton:innen. Zu ihrer Unterstützung wurden in großem Umfang Bildungseinrichtungen in ganz Belutschistan geschlossen, bis die Regierung sich gezwungen sah, zu verhandeln und die Rücknahme der Privatisierungen zu versichern. Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich dies sein wird, bedeutet aber in jedem Fall einen großen Erfolg für die belutschischen Student:innen.

Die Gesellschaft der Belutsch:innen wird insgesamt politisch aktiver. Früher gab es lediglich Konfrontationen zwischen den Sicherheitskräften und Guerillakämpfer:innen, jetzt sind auch Student:innen, Frauen, Arbeiter:innen, die untere Mittelschicht und die Armen, kurz gesagt: die Masse der Bevölkerung, auf die politische Bühne getreten und fordern Mitbestimmung über ihre eigene Zukunft.

Diese Bewegung bedeutet deshalb einen großen Schritt nach vorne für die belutschische Gesellschaft, aber um Fortschritte zu erreichen, muss sie sich selbst organisieren. Es überrascht nicht, dass die Bewegung zunächst von religiösen Persönlichkeiten angeführt wurde, insbesondere von Maulana Hidayat-ur-Rehman, dem Generalsekretär der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in Belutschistan. Er war es auch, der das Abkommen mit der Regierung aushandelte, das den Sitzstreik beendete. Jamaat-e-Islami war jedoch zuvor eine Verbündete der Sicherheitskräfte. Deshalb braucht die Bewegung eine zuverlässigere und vor allem kontrollierbare Führung.

Perspektive

Wir fordern, dass alle Sektoren – Fischer:innen, Arbeiter:innen, Frauenorganisationen, Student:innen – ihre eigenen Aktionskomitees wählen und sich untereinander abstimmen. Wir fordern, dass alle Projekte, die in Gwadar in Angriff genommen werden, der Zustimmung dieser Volksorganisationen bedürfen. Unabhängig von den politischen oder religiösen Bindungen stellt die Bewegung objektiv einen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung und die Unterordnung der Region unter die Interessen des chinesischen Imperialismus dar, weshalb Sozialist:innen sie in jeder möglichen Weise unterstützen sollten.

Die beste Unterstützung besteht darin, das Verständnis für die Bewegung und die Solidarität mit ihr unter der Arbeiter:innenklasse und den armen Bauern/Bäuerinnen im übrigen Pakistan zu verbreiten. Im ganzen Land sehen sich Millionen von Menschen mit zunehmender Not konfrontiert, nicht nur als direkte Folge der Pandemie und der steigenden Preise für lebensnotwendige Güter, sondern auch auf Grund der Regierungspolitik zum Schutz der Interessen der größten pakistanischen und imperialistischen Konzerne.

Sozialist:innen müssen bei der Organisierung der Kämpfe für wirtschaftliche und politische Forderungen eine führende Rolle spielen, indem sie zu demokratischer Selbstorganisation in Gewerkschaften und kommunalen Organisationen aufrufen. Nur solche können sowohl eine effektive und kontrollierbare Führung im Kampf bieten als auch die Grundlage für den Sturz des bestehenden Systems und seine Ersetzung durch eine demokratisch geplante, sozialistische Gesellschaft schaffen. Alle Aktivist:innen, die die Notwendigkeit dieses Kampfes verstehen, müssen sich selbst organisieren und eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei in Pakistan aufbauen.




China: Xi Jinping rüstet sich gegen stürmisches Wetter

Peter Main, Infomail 1170, 19. November 2021

Eine Schlagzeile aus China lautet, dass das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Parteiam 11. November eine „historische Resolution“ zur Geschichte der Partei verabschiedet hat, in der Xi Jinping der gleiche Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) und Deng Xiaoping zuerkannt wird. Zusammen mit der vorangegangenen Verfassungsänderung, mit der die Begrenzung auf zwei Amtszeiten für PräsidentInnen aufgehoben wurde, unterstreicht diese Auszeichnung Xis Machtkonsolidierung innerhalb der Partei. Zumindest hat es den Anschein.

Die wichtigste Nachricht aus China aber ist, dass der zu erwartende Konkurs von Evergrande die Zahlungsunfähigkeit vieler anderer großer Immobilienunternehmen in den Fokus rückt und die Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. (Siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/)

Andere große Unternehmen wie Sinic, Fantasia und China Modern Land sind mit Tilgungen ihrer Anleihen in Verzug geraten und auch Kaisa, eine Immobilienverwaltungsgesellschaft, ist gefährdet. Die Lage von Evergrande wurde durch die Enthüllung verschlimmert, dass das Unternehmen große Summen von einer Bank geliehen hatte, die ihm teilweise gehört, was einen Verstoß gegen die Bankvorschriften darstellen könnte.

Auf internationaler Ebene brachten die Schwierigkeiten von Evergrande verheerende Auswirkungen auf die auf Dollar lautenden Anleihen, mit sich die andere chinesische ImmobilienentwicklerInnen Finanzmittel beschaffen. Im Juni boten diese 10 Prozent Zinsen, jetzt müssen sie 29 Prozent offerieren, was weit in den Bereich der „Schrottanleihen“ hineinreicht. Das bedeutet, dass chinesische BauträgerInnen keine internationalen Kredite aufnehmen können.

Am 12. November berichtete die Financial Times außerdem, dass chinesische Anleihen in der Regel zu einem höheren Kurs, aber einer niedrigeren Umlaufrendite als andere angeboten wurden, weil sie als sehr risikoarm galten – der „China-Aufschlag“. KommentatorInnen sprechen jetzt von einem „China-Abschlag““ – was bedeutet, dass die Anleihen zu einem niedrigeren Kurs, aber einer höheren Marge angeboten werden müssen, weil das Risiko höher eingeschätzt wird.

Partei

Hat irgendetwas davon Einfluss auf Xi Jinpings neuen und erhabenen Status? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Die Kommunistische Partei ist für das gesamte chinesische Regierungssystem von derart zentraler Bedeutung, dass sich jede Veränderung ihrer Struktur, ihrer Führung oder ihrer propagandistischen Schwerpunkte mit Sicherheit in umfassenden Entwicklungen in der Gesellschaft ausdrücken wird.

Die zentrale Stellung der Partei ist in ihrer Geschichte verwurzelt. In der langen Periode der territorialen Doppelherrschaft zwischen der Niederlage von 1927 und dem Sieg von 1949 war die Partei der entscheidende Faktor für den Zusammenhalt der Landesteile, die insgesamt doppelt so groß wie Frankreich waren und etwa 100 Millionen EinwohnerInnen zählten.

Neben der Verwaltung der von ihr kontrollierten Gebiete steuerte die Partei natürlich auch die Entwicklung der Volksbefreiungsarmee. Kurzum, die Partei stellte das Personal für einen sich entwickelnden Staatsapparat, der durch die Kombination ihrer Volksfrontstrategie zur Erlangung der Macht und ihrer bürokratisch-zentralistischen Disziplin zusammengehalten wurde, die beide von der Kommunistischen Internationale unter Stalin eingeführt worden waren.

Es wurde ein bürgerlicher Staatsapparat mit einer zivilen Verwaltung, einem Rechtssystem und einer Armee aufgebaut. Nach der Niederlage der Guomindang (Kuomintang) im Jahr 1949 konnten die entsprechenden Elemente des bestehenden chinesischen Staates, die von politisch unzuverlässigem Personal gesäubert worden waren, relativ leicht in den kommunistisch kontrollierten Apparat integriert werden.

Trotz wilder politischer Ausschläge in den letzten 70 Jahren ist die „führende Rolle“ der Partei das bestimmende Merkmal des chinesischen politischen Systems geblieben. Die Partei stellt nicht nur alle Schlüsselfiguren in allen Ministerien des Staates. Ihre 92 Millionen Mitglieder bilden ein Netz der Überwachung und Kontrolle in der gesamten Gesellschaft. Jeder große Betrieb muss ein Parteikomitee haben, jeder Stadtbezirk hat seine Parteiorganisation.

Ein solches System verleiht der Führung natürlich enorme Macht, hat aber auch seine Schattenseiten: Die schiere Größe der Organisation und ihre derart tiefe gesellschaftliche Einbindung bedeuten zwangsläufig, dass unterschiedliche, potenziell widersprüchliche Ideen und soziale Kräfte ihren Weg in die Partei finden.

Im Rahmen des Systems bürokratischer Planung, das nie so zentralisiert war wie im sowjetischen Modell, auf dem es ursprünglich beruhte, führte dies zu weit verbreiteter Korruption, Vorteilsnahme für die eigene Familie, bevorzugten Beförderungen, Sonderrationen und – auf höherer Ebene – zu regionalem Vorrang bei der Zuteilung von Entwicklungsgeldern und Ähnlichem. Die Restauration des Kapitalismus öffnete jedoch vollends alle Schleusentore. Die Bewilligung immer engerer Verbindungen zwischen Partei und Kapital wurde dadurch signalisiert, dass „Geschäftsmänner“ – und dies waren in der Regel Männer – nun Parteimitglieder werden konnten.

Gleichzeitig wurden viele Parteimitglieder entweder selbst zu KapitalistInnen oder zu KapitalverwalterInnen im Auftrag des Staates oder eines Unternehmens. Solange die Wirtschaft als Ganzes expandierte, stellte der wachsende Einfluss kapitalistischer Interessen innerhalb der Partei kein großes Problem dar. In der Tat spielte der Parteistaatsapparat die von Marx beschriebene Rolle des (mehr als ideellen) „Gesamtkapitalisten“ und lenkte die Gesamtwirtschaft im Interesse der Kapitalakkumulation, die, wie in anderen Ländern, als „nationales Interesse“ dargestellt wurde.

Spannungen

Der Kapitalismus wächst jedoch weder beständig noch gleichmäßig. Selbst in einem hochgradig verstaatlichten Kapitalismus wachsen verschiedene Sektoren in unterschiedlichem Tempo oder eben nicht, und die Ökonomie als solche wird von der Dynamik der Weltwirtschaft beeinflusst. Diese unvermeidlichen Schwankungen müssen nun in Form verschiedener Gruppierungen innerhalb der Partei ihren Ausdruck finden.

Die Realität des Kapitalismus bedeutet, in China wie überall, dass mit größerer Kapitalakkumulation auch größere soziale Ungleichheit einhergeht. In einem Land, das von einer Organisation regiert wird, die sich selbst als kommunistische Partei bezeichnet, wirkt dieser Gegensatz jedenfalls potentiell sehr destabilisierend. Die Legitimität des Regimes, die durch Chinas traditionelle politische Kultur gestärkt wird, beruht auf dessen Fähigkeit, die soziale Ordnung und den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die weit verbreiteten Berichte, wonach Xi jetzt den Schwerpunkt auf den Aufbau eines „gemeinsamen Wohlstands“ lege, aber auch seine Maßnahmen gegen eine Reihe von MilliardärInnen sind eindeutige Belege für Versuche, diese Legitimität zu untermauern.

Als die Partei 1945 eine Resolution verabschiedete, in der Mao Zedongs politische und theoretische Errungenschaften mit denen von Marx und Lenin gleichgesetzt wurden, bedeutete dies seinen Sieg über andere Fraktionen innerhalb der Partei. Auch Deng Xiaopings Resolution zur Geschichte der Partei, in der er Maos Verdienste und Fehler in einem Verhältnis von 70 zu 30 Prozent einstufte, markierte 1978 seinen Sieg über die Überbleibsel von Maos Regime, der „Viererbande“. Wie sollten wir dann Xi Jinpings Erhebung in den Pantheon, den höchsten Tempel der Partei durch das Zentralkomitee verstehen?

Wandel

Das zunehmend autoritäre und repressive Regime, das Xi eingeführt hat, deutet auf ein anderes Szenario hin. Es handelt sich nicht um einen Sieg über rivalisierende Fraktionen, sondern um einen Präventivschlag in Vorbereitung auf kommende Kämpfe. Xis Anspruch auf Vormachtstellung beruht auf der Behauptung, dass er die Nachfolge von Mao und Deng antrete und das Parteiziel vom „Sozialismus chinesischer Prägung“ als Spielart des „Sozialismus in einem Land“ vollende.

Laut Xi erfordern weitere Fortschritte eine Änderung der Wirtschaftsstrategie, deren Ziel die Verwirklichung des „dualen Kreislaufs“ sein wird. Was dies genau bedeutet, wird möglicherweise im 14. Fünfjahresplan dargelegt, der Anfang nächsten Jahres verabschiedet werden soll, aber der Begriff kursiert bereits seit einiger Zeit und impliziert eine geringere Abhängigkeit von internationalen Lieferketten und eine stärkere Betonung der steigenden Verbrauchernachfrage in China selbst. Das Modell einer autarkeren Volkswirtschaft mag an den „Sozialismus in einem Land“ erinnern, aber der Zeitpunkt zeigt, dass es eher als Reaktion auf die von Washington auferlegten Handelsschranken betrachtet werden muss, insbesondere für in den USA entwickelte Hightech-Güter.

Die Abkehr von der durch Deng Xiaoping verfolgten Strategie einer „Großen Internationalen Zirkulation“, die darin bestand, das riesige Arbeitskräfteangebot Chinas zu nutzen, um seine Wirtschaft in den Weltmarkt zu integrieren, wird sicherlich zu großen Veränderungen in der Prioritätensetzung innerhalb Chinas führen. Die Entscheidung, gegen die Baubranche und somit den Immobiliensektor vorzugehen, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Folgen, mögliche große Konkurse und Veränderungen in den Zulieferindustrien, sind die ersten Anzeichen dafür, wie weit Xis Führung zu gehen bereit ist.

Es muss damit gerechnet werden, dass wichtige Teile des Kapitals und vor allem der Belegschaften die Weisheit der neuen Politik in Frage stellen und vielleicht sogar versuchen werden, sich ihr zu widersetzen. Das ist genau der Grund, warum das Regime in den letzten Jahren immer repressiver geworden ist – und warum es notwendig war, Xi ideoloigsch aufzuwerten und somit zu stärken, um die Unterbindung jeglichen Widerspruchs zu rechtfertigen.

Für SozialistInnen bietet die Aussicht auf interne Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines solchen autokratischen Regimes die Möglichkeit, eine marxistische Kritik nicht nur an unmittelbaren politischen Entscheidungen, sondern am Charakter des gesamten Regimes und seiner Geschichte zu fördern. Das strategische Ziel ist, wie in allen Ländern, die Bildung einer ArbeiterInnenpartei mit einem Programm für den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch unabhängige Organisationen auf Grundlage von ArbeiterInnenräten.

Diejenigen, die sich diesem Ziel verschreiben, müssen einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem die Schlüsselelemente eines solchen Programms ebenso wie die notwendigen Taktiken entwickelt werden, um es in die Kämpfe einzubringen, das kapitalistische China in den kommenden Jahren mit Sicherheit erschüttern werden.




China: Was heißt „Lehman“ auf Chinesisch?

Peter Main, Infomail 1167, 19. Oktober 2021

Nun, eine genaue Übersetzung gibt es nicht, aber vielleicht wäre „Evergrande“ eine gute Entsprechung. So wie Lehman Brothers einst als Unternehmenssymbol für den nicht enden wollenden Boom der Globalisierung galt, so stand Evergrande, ein Immobilienentwickler und keine Bank, einst als Unternehmenssymbol für den ständig wachsenden Reichtum Chinas seit der Restauration des Kapitalismus.

Und wie bei Lehman Brothers hat sich gezeigt, dass die Symbolik auf Bergen von Schulden beruht, die nicht zurückgezahlt werden können. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte Evergrande Auslandsanleihen im Wert von rund 11,9 Mrd. US-Dollar rückerstatten. Am 23. September sollte das Unternehmen 83,5 Mio. US-Dollar an Zinsen für eine Anleihe zahlen, was jedoch nicht geschah. Am 29. September waren weitere 45,2 Mio. US-Dollar für eine andere Anleihe fällig, die ebenfalls nicht beglichen wurden. Infolgedessen obliegt Evergrande nun eine 30-tägige „Gnadenfrist“, bevor das Unternehmen für zahlungsunfähig erklärt wird.

Noch schlimmer sind die Schulden bei chinesischen GläubigerInnen, die auf 310 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Früher sagte man, wenn man einer Bank 1 Million US-Dollar schuldet, hat man ein großes Problem, aber wenn man bei einer Bank mit 100 Millionen US-Dollar im Soll steht, hat die Bank ein großes Problem – und 350 Milliarden US-Dollar … ?

Implikationen

Die Bedeutung von Evergrande liegt nicht nur darin, dass es sich um ein riesiges Unternehmen handelt, das wahrscheinlich in Konkurs gehen wird. Es ist bei weitem nicht der einzige Immobilienentwickler, der mit demselben Problem konfrontiert ist. Im vergangenen Jahr hatte Country Garden Holdings den höchsten Umsatz in der Branche, sein Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten liegt bei 78,5 Prozent und damit weit über dem von der Regierung festgelegten Grenzwert. Nach Angaben von Morgan Stanley hat der Immobiliensektor insgesamt Schulden in Höhe von 2,8 Billionen US-Dollar und macht etwa 30 Prozent des BIP aus. Die Auswirkungen des möglichen Zusammenbruchs von Evergrande gehen jedoch tiefer, als selbst diese Zahlen vermuten lassen.

In vielerlei Hinsicht ist das Unternehmen ein Produkt des gesamten Wirtschaftsmodells Chinas seit der Wiederherstellung des Kapitalismus. Es wurde 1996 von Hui Ka Yan (Xu Jiayin), einem Metallarbeiter, gegründet, um die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die sich durch die Abschaffung der Planwirtschaft eröffneten. Zuvor basierten die Ausgaben der Kommunalverwaltungen auf zentral zugewiesenen Zuschüssen. Als diese abgeschafft wurden, begannen die Kommunalverwaltungen, durch den Verkauf von Grundstücken an Bauträger Geld zu beschaffen.

Angesichts des Ausmaßes der Verstädterung, als Hunderte von Millionen Menschen in die schnell wachsenden Städte strömten, war die Aufnahme von Krediten zum Kauf von Grundstücken, auf denen sowohl Industrie als auch Wohnungen gebaut werden sollten, nicht nur lukrativ, sondern auch politisch vorteilhaft. Die Beziehungen zwischen der lokalen Regierung, den Bauträgern und den örtlichen, staatseigenen Banken blühten auf, und die Verträge wurden natürlich von den lokalen FunktionärInnen der Kommunistischen Partei beaufsichtigt. Was konnte da schon schiefgehen?

Zwanzig Jahre lang lief aus Sicht von Hui nichts schief. Nach der Finanzkrise von 2008/9, als China sein riesiges Ausgabenprogramm startete, hätte es kaum besser laufen können. Im Jahr 2015 wurde sein Vermögen auf 45 Milliarden US-Dollar geschätzt und er wurde von den Großen und Mächtigen gefeiert. In jenem Jahr begleitete er Xi Jinping selbst auf seiner Reise nach London, wo er von Prinz Andrew im Buckingham Palace empfangen wurde – auch wenn er jetzt vielleicht nicht mehr auf diese besondere Liaison hinweisen würde.

Ironischer Weise wurde auch 2015 zum ersten Mal deutlich, was alles schiefgehen kann. Ein Zusammenbruch der Börse in Shanghai offenbarte die Kluft zwischen der Bewertung vieler Unternehmen und ihrem tatsächlichen Vermögen. (Mehr dazu unter: https://fifthinternational.org/content/china-free-market-not-going-according-plan) Die unmittelbare Reaktion der Regierung, nämlich das Einfrieren aller Aktivitäten auf den Märkten, stellte die Stabilität recht schnell wieder her, aber danach wurden Regeln eingeführt, um das Wachstum der Schulden zu begrenzen, insbesondere durch die staatlichen Banken.

Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Bauträger, die sich nicht mehr auf die leichten Kredite der staatlichen Banken verlassen konnten, die das „Wachstum“ ungeachtet der finanziellen Tragfähigkeit finanzieren wollten. Stattdessen begannen Hui und andere wie er, getreu ihrem optimistischen Motto „Baut es und sie werden kommen“, Kapital für ihre Bauprojekte zu beschaffen, indem sie „außerhalb des Plans“ verkauften, d. h. Immobilien veräußerten, bevor sie gebaut wurden. Einem Bericht der französischen Investmentbank der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis, zufolge machen solche Finanzierungen inzwischen 54 Prozent der Immobilienentwicklung aus.

Rote Linien

Im Juli letzten Jahres führte die Regierung noch strengere Vorschriften ein, die als „drei rote Linien“ bezeichnet werden, um die Immobilienspekulation einzudämmen. Die „Linien“ beziehen sich auf die Begrenzung dreier Schlüsselkennzahlen, nämlich des Verhältnisses von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten, von Nettoverschuldung zu Eigenkapital und von Liquiditätsmitteln zu kurzfristigen Krediten. 14 der 30 größten Bauträger Chinas haben in den letzten Monaten mindestens eine dieser roten Linien überschritten.

Solche Verstöße haben gezeigt, dass der gesamte Sektor am Rande einer Krise steht. Zum einen kamen sie trotz des optimistischen Mottos jedoch nicht, und nun stehen in einigen Regionen derzeit rund 30 Millionen Wohnungen in China leer. Andererseits hat der Mangel an Finanzmitteln dazu geführt, dass die im Voraus bezahlten Wohnungen nicht gebaut wurden. Schätzungen zufolge hat Evergrande 1,6 Millionen Wohnungen nicht ausgeliefert.

In einem Interview mit der Financial Times bemerkte Jim Chanos, der dafür bekannt ist, den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron vorhergesagt zu haben: „In vielerlei Hinsicht muss man sich keine Sorgen machen, dass es sich um eine Situation wie bei Lehman handelt, aber in vielerlei Hinsicht ist es viel schlimmer, weil es symptomatisch für das gesamte Wirtschaftsmodell und die Schulden ist, die dahinter stehen. Alle Bauträger sehen so aus. Der gesamte chinesische Immobilienmarkt steht auf Stelzen.“

Hier liegt das Dilemma für die Regierung in Peking: Fast ein Drittel der heimischen Wirtschaft ist finanziell nicht lebensfähig. Hier geht es nicht darum, ob Hui Ka Yan zum Sündenbock gestempelt werden soll, sondern um ganze Industrien, um Vermögenswerte im Wert von Billionen von US-Dollar und um 1,6 Millionen Familien, die dachten, sie hätten ein Haus gekauft.

Wie die chinesische Regierung damit umgeht, bleibt abzuwarten. Die „Gnadenfrist“ endet am 23. Oktober. Wenn die Zinszahlungen nicht geleistet werden und Evergrande für zahlungsunfähig erklärt wird, sind die GläubigerInnen berechtigt, Vermögenswerte zu beschlagnahmen. Zuvor wird der Staat wahrscheinlich Maßnahmen zum Verkauf von Vermögenswerten, zur Umstrukturierung der Schulden und möglicherweise zur Aufteilung des Konglomerats in getrennte Geschäftsbereiche ergreifen, um lebensfähige Teile zu ermitteln. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Staat die Fertigstellung bereits verkaufter Projekte garantieren, um die soziale Stabilität zu gewährleisten. Er hat nunmehr branchenweite Regeln eingeführt, die vorschreiben, dass alle Einnahmen aus „Vorverkäufen“ separat unter lokaler Bankenaufsicht zu verbuchen sind.

Ansteckung

Auch wenn solche Notmaßnahmen die unmittelbaren Auswirkungen des Zusammenbruchs von Evergrande begrenzen mögen, so kann dies jedoch nicht ohne dramatische Folgen für den gesamten Immobilienentwicklungssektor bleiben, denn wie wir gesehen haben, sind auch andere Unternehmen von einem Ausfall bedroht. Da ihre Anleihen von anderen Unternehmen gehalten werden, die sie als Sicherheiten für ihre eigene Kreditaufnahme verwenden können, besteht die ernste Gefahr einer „Ansteckung“ über die säumigen SchuldnerInnen hinaus. Sicherlich werden viele GläubigerInnen einen Schnitt hinnehmen müssen, indem sie nur einen Prozentsatz ihrer fälligen Rückzahlungen akzeptieren. Vor allem ausländische InvestorInnen werden wahrscheinlich keine weiteren Kredite an Bauunternehmen in China vergeben.

Selbst wenn diese Maßnahmen ausreichen, um einen weitreichenden Zusammenbruch des gesamten Sektors zu verhindern, was nicht garantiert ist, wird die Schuldenkrise zweifellos starke Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen haben. Abgesehen von den unmittelbaren Folgen unvollendeter Projekte stellt dies die Politik in Frage, die für Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere seit der Krise von 2008/9 von zentraler Bedeutung war: Investitionen in Infrastruktur und Bauwesen.

Viele ÖkonomInnen haben argumentiert, dass eine solche Änderung notwendig ist, und gefordert, den Schwerpunkt auf den Binnenkonsum zu verlagern, um die Wirtschaft „wieder ins Gleichgewicht“ zu bringen. Doch selbst wenn Xi und die Parteiführung dem zustimmen, wird es viele Interessengruppen geben, die sich dem widersetzen. Das stellt ein grundlegendes Problem für das gesamte politische Regime dar.

Xi selbst wurde erst nach einem langwierigen Fraktionskampf innerhalb der KP Chinas Präsident (siehe unsere Untersuchung dazu) und festigte in seiner ersten Amtszeit die Position seiner Fraktion durch eine Säuberung von GegnerInnen, wobei er den „Linken“ in der Partei den Vorzug gab, die sich gegen eine weitere Aushöhlung der staatlichen Kontrolle und Zugeständnisse an den Privatsektor aussprachen.

In seiner zweiten Amtszeit, seit 2017 und im Zuge der Finanzkrise von 2015, gab es dagegen mehrere hochkarätige Maßnahmen gegen einige der reichsten KapitalistInnen in China. So wurde beispielsweise nur wenige Tage vor dem Börsengang (öffentliches Gründungsangebot; IPO) von Jack Ma’s Ant Group an der Shenzhener Börse, bei dem die höchste IPO-Bewertung aller Zeiten erwartet wurde, die Börsennotierung staatlicherseits gestoppt. Ma, selbst Mitglied der KP Chinas und Milliardär, wurde monatelang nicht gesehen, hat die Entscheidung aber inzwischen akzeptiert.

Die Parteidisziplin ist zweifellos ein starker Faktor, und auch Repression kann sehr wirksam sein, aber die Nachwirkungen des Immobiliencrashs und die Aussicht auf eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik müssen innerhalb der Partei Konsequenzen tragen. Alte Fraktionen werden sich bestätigt fühlen, neue werden sich bilden. Es kann gar nicht anders sein, denn die Partei selbst hat „Geschäftsleute“ zum Beitritt ermutigt, und nach 30 Jahren des Aufbaus des Kapitalismus sind viele StaatsbeamtInnen, das Rückgrat der Partei, selbst in eine weitere kapitalistische Entwicklung verstrickt.

Es sind diese Spannungen und Widersprüche, die hinter dem zunehmend autoritären Regime in China stehen: die verstärkte Bevölkerungskontrolle durch Überwachungsprogramme, die mörderische Unterdrückung der UigurInnen in Xinjiang, das Vorgehen gegen demokratische Rechte in Hongkong, die kriegerische Behauptung, dass Taiwan unter chinesische Souveränität zurückkehren muss. Dies alles ist nicht mit der persönlichen Psychologie von Xi Jinping zu erklären, wie es oft dargestellt wird, sondern eine Vorbereitung auf stürmische Zeiten.




Der „AUKUS-Pakt“ erhöht die Kriegsgefahr

Dave Brody, Workers Power (Britannien), Infomail 1164, 27. September 2021

Der „AUKUS“-Sicherheitspakt zwischen Australien, Großbritannien und den USA (benannt nach den Initialen der drei teilnehmenden Länder) ist einer der dramatischsten Schritte, den die Vereinigten Staaten bisher unternommen haben, um der Bedrohung ihrer Interessen durch ihren größten imperialistischen Rivalen, China, zu begegnen. Er stellt auch eine brutale Brüskierung Frankreichs und im weiteren Sinne der Europäischen Union und ihrer Nato-Verbündeten dar, von denen keine/r konsultiert worden war. Der Brexit unterstreicht auch die Abkehr Großbritanniens von seinen früheren EU-PartnerInnen und die Hinwendung zu einer Geostrategie mit Nordamerika.

Der Pakt ist einer der bisher deutlichsten Beweise für die Schwächung der US-amerikanischen Hegemonie, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurde, und für die wachsenden Spannungen nicht nur zwischen konkurrierenden imperialistischen Blöcken, sondern auch innerhalb dieser. Es zeigt auch – wie schon der überstürzte Abzug aus Kabul –, dass Joe Bidens Multilateralismus und seine Versöhnung mit den Verbündeten mehr eine Sache der Worte als der Taten ist.

Den größte Schock verspürte nicht die chinesische, sondern die französische Regierung,  eine der ältesten Verbündeten der USA. Ein Abkommen zwischen Frankreich und Australien über den Bau der nächsten Generation von U-Booten der Angriffsklasse war ohne Vorwarnung gekündigt worden. Frankreich zog wutentbrannt seine BotschafterInnen aus Washington und Canberra ab, um „Konsultationen“ abzuhalten. Großbritannien wurde nur deshalb ausgeschlossen, weil die französische Regierung vom „perfiden Albion“ (Löwe: englisches Wappentier) nichts Besseres erwarteten. Aber im Beisein der USA gestand der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian Gefühle von „Wut und Bitterkeit“ ein und erklärte.  „Diese brutale, einseitige und unvorhersehbare Entscheidung erinnert mich sehr an das, was Herr Trump zu tun pflegte“, und fügte hinzu: „So etwas tut man nicht unter Verbündeten.“

Inhalt des Paktes

AUKUS ist ein Sicherheitspakt zwischen den drei Ländern, der zunächst auf die Entwicklung und Stationierung einer Flotte australischer Atom-U-Boote im Indopazifik abzielt. Diese U-Boote sind weitaus schwerer zu entdecken und viel schneller als konventionell angetriebene Schiffe. Die Stationierung einer solchen Flotte in Australien wird die Bemühungen der USA unterstützen, der wachsenden Dominanz Chinas in der Region und seiner militärischen und maritimen Aufrüstung entgegenzuwirken. Die Vereinbarung geht jedoch weit darüber hinaus und sieht eine Zusammenarbeit in einem breiten Spektrum militärischer Fragen vor, darunter Cybersicherheit und künstliche Intelligenz.

Die UnterzeichnerInnen des Pakts hoffen, der wachsenden maritimen Herausforderung durch China begegnen zu können. Die Modernisierung der chinesischen Marine hat inzwischen diejenige Japans, Indiens und Australiens überholt, und China konkurriert nun direkt mit Amerika um die Vorherrschaft auf dem Seeweg in der Region. Die USA und Großbritannien sind zunehmend besorgt über Chinas wachsende Fähigkeit, ihre imperialistischen Interessen im Pazifik zu beeinträchtigen.

Obwohl Australien ein wichtiger Handelspartner Chinas ist, macht es sich zunehmend Sorgen über die wachsende Dominanz der chinesischen Flotte und das zunehmend bedrohliche Verhalten des Landes, einschließlich der Errichtung von Marinestützpunkten auf künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer. Obwohl AUKUS Australiens Marinekapazitäten massiv erhöhen wird, ist das Abkommen an Bedingungen geknüpft: Australien hat sich in einem künftigen Konflikt mit China fest auf die Seite der USA gestellt. Ein hochrangiger US-Beamter bezeichnete das Abkommen als „eine grundlegende Entscheidung, die Australien für Generationen fest an die Vereinigten Staaten und Großbritannien bindet“.

Wie vorauszusehen, betrachtet China den AUKUS-Pakt als direkten Gegenschlag zu seinen Versuchen, die potenzielle Blockade durch US-Basen, -Verbündete und -Flotten im indopazifischen Raum zu lockern. Der Pakt kommt auch zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten in demütigender Weise aus Afghanistan abziehen und China mit seiner „Neuen Seidenstraßen“-Initiative vorankommt, die ihrerseits eindeutig darauf abzielt, den potenziellen maritimen Würgegriff der USA zu überwinden.

Die chinesische Regierung hat das Abkommen als „extrem unverantwortlich“ verurteilt und erklärt, dass es „das Wettrüsten verschärft“, was es in der Tat tut. Die Global Times, eine vom chinesischen Staat unterstützte Publikation, ging noch weiter und erklärte, Australien habe sich mit diesem Schritt „zum Gegner Chinas gemacht“, und sagte noch offener, dass „die australischen Truppen höchstwahrscheinlich die erste Gruppe westlicher SoldatInnen sein werden, die ihr Leben im Südchinesischen Meer vergeuden“.

Es waren jedoch der demokratische Präsident Barack Obama und seine  Außenministerin Hillary Clinton, von der Falkenfraktion, die „pivot to Asia“ (Schwenk nach Asien) einleiteten und unter anderem die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ins Leben riefen, einen Handelspakt zwischen elf Ländern, der als Mittel zur Eindämmung des wirtschaftlichen Einflusses Chinas im Pazifikraum angesehen wurde, den Trump jedoch später aufgab. Am Tag nach der Ankündigung des AUKUS-Pakts beantragte China den Beitritt zur seltsam umbenannten „umfassenden und progressiven“ TPP, offensichtlich mit dem Ziel, die USA zu überflügeln oder zumindest in Verlegenheit zu bringen.

Weitere Eskalation

Im Grunde ist der AUKUS-Pakt eine weitere Eskalation der zwischenimperialistischen Rivalität und des zunehmenden Wettrüstens zwischen den Großmächten – in erster Linie China und den USA. Aber der Streit mit Frankreich und die Rede zur „Lage der Union“ der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in der sie Europa aufforderte, seine eigenen Verteidigungskapazitäten zu entwickeln, um Expeditionsstreitkräfte zur Verteidigung seiner Interessen ohne die Erlaubnis der USA zu entsenden, werden ein Thema für den neuen deutschen Bundeskanzler sein. Bisher hat sich Deutschland geweigert, sich Macron und früheren französischen Präsidenten anzuschließen und sich für eine von der amerikanischen Führung innerhalb der NATO unabhängige europäische Verteidigungstruppe einzusetzen. Dieser Weg kann nur zur Bildung eines neuen Lagers als Rivalin zu den USA führen – keine leichte Angelegenheit.

Der zunehmende Unilateralismus der USA – sowohl unter Biden als auch unter Trump – ist jedoch ein Faktor, der auf eine künftige transatlantische Konkurrenz hindeutet, eine Rivalität, die das „weltumspannende Großbritannien“ vor harte Entscheidungen stellen wird.

Die Macht der Vereinigten Staaten nimmt sicherlich ab, aber sie sind immer noch die bei weitem höchstentwickelte imperialistische Macht mit enormen militärischen und finanziellen Fähigkeiten. In dem Maße, wie China an Stärke gewinnt und die absolute globale Hegemonie der USA nach 1991 schwindet, wächst die Gefahr eines offenen Konflikts zwischen den beiden Mächten und ihren Verbündeten.

Ein solcher Konflikt wäre verheerend für die ArbeiterInnenklasse und für die gesamte Menschheit und könnte bis zur völligen nuklearen Vernichtung eskalieren. Daher ist es für revolutionäre KommunistInnen in den imperialistischen Zentren, sei es in den USA, Großbritannien, der EU oder China, von entscheidender Bedeutung, eine Bewegung gegen eine Eskalation des Wettrüstens der rivalisierenden imperialistischen Lager zu organisieren, die auf einen Krieg zusteuert.




Afghanistan: Der Sieg der Taliban und seine internationale Bedeutung

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 18.8.2021, Infomail 1159, 20. August 2021

Der Sieg der Taliban und der Sturz der Regierung Ghani sind eine demütigende Niederlage von globaler Bedeutung für die USA und ihre westlichen Verbündeten. Das Bild der Hubschrauber, die fliehende DiplomatInnen vom Dach der US-Botschaft heben, erinnert stark an den Fall von Saigon im Jahr 1975. Aber der Unterschied ist noch wichtiger. Damals war die einzige globale Rivalin der USA, die Sowjetunion, selbst schon eine schwindende Macht. Heute ist China ein kräftiger Imperialismus, der durch sein eigenes Wachstum veranlasst ist, seine Macht und seinen Einflussbereich auf Kosten der USA auszuweiten.

Trumps Entscheidung, den Rückzug der USA mit den Taliban in Doha zu vereinbaren, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, die Regierung in Kabul zu konsultieren, war nicht nur eine persönliche Laune eines exzentrischen Präsidenten. Sie war Ausdruck der zunehmenden Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen und es besser ist, sich zurückzuziehen und zu verschwinden. Diese Schlussfolgerung wurde nicht nur von vielen Mitgliedern der Republikanischen Partei geteilt, sondern auch von Joe Biden, der sich als Vizepräsident gegen Obamas „Eingriff“ ausgesprochen hatte.

In Doha stimmte eine neue Generation von Taliban-Führern, die von jenen Teilen des pakistanischen Staates, die sie im Exil unterstützt hatten, beraten, wenn nicht gar gelenkt wurden, taktisch einem Abkommen zu, das eine Art Machtteilung in einer künftigen Regierung vorsah. Während dies für die USA gesichtswahrend war, wussten die Taliban, dass sich die sozialen Verhältnisse im größten Teil ihres Heimatlandes nicht geändert hatten und das gesamte Regime vollständig von der US-Präsenz abhängig war. Eine fortschrittliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung hätte den Sturz der landbesitzenden Klasse erfordert, was unter den USA oder ihren HandlangerInnen in Kabul niemals geschehen würde.

Die Taliban haben vielleicht nicht mit der außergewöhnlichen Geschwindigkeit gerechnet, mit der sie das ganze Land erobert haben, aber sie waren immer zuversichtlich, dass das Regime und seine Truppen zusammenbrechen würden, sobald die imperialistischen Besatzungstruppen abgezogen sind, was die harte Wahrheit ans Licht bringt, dass die Regierung keine wirklichen sozialen Wurzeln in der afghanischen Gesellschaft hatte.

Nach 20 Jahren Besatzung, Hunderttausenden von Toten und 7 Millionen Flüchtlingen, die der lange asymmetrischen Krieg hervorgebracht hat, wurde das Land von seinen BesatzerInnen in einem Zustand der Verwüstung zurückgelassen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, und 60 Prozent der Kinder leiden an Hunger und Unterernährung.

Die Kombination aus Armut und Krieg trieb nicht nur Millionen von Menschen aus dem Land, die oft von den Taliban rekrutiert wurden, sondern auch in die Städte. Hier haben sich die sozialen Beziehungen verändert, vor allem für die Frauen, aber auch in Bezug auf Arbeitsplätze und ein gewisses Maß an politischer Demokratie. Wie das Regime selbst sind jedoch auch diese stark von den Ressourcen abhängig, die von den USA und ihren Verbündeten bereitgestellt werden.

Pakistan

Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage waren, nicht nur gegen den mächtigsten Staat der Welt zu überleben, sondern auch so weit zu wachsen und sich zu entwickeln, dass sie innerhalb weniger Wochen das ganze Land übernehmen konnten, hing offensichtlich nicht nur von der Rekrutierung verarmter Flüchtlinge ab. Der Schlüssel dazu war die Unterstützung Pakistans, insbesondere des Geheimdienstes ISI, der Afghanistan seit langem als potenziellen Faktor in seiner Fehde mit Indien ansieht.

Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan, als das halbkoloniale Pakistan ein williger Verbündeter der USA war, spielte der ISI eine wichtige Rolle beim Aufbau der reaktionären Mudschahidin-Guerilla und sammelte wertvolle Erfahrungen und Fachkenntnisse bei der Kanalisierung der US-Hilfe für ihre GuerillakämpferInnen. Doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Loyalitäten. Die zwanzig Jahre der US-Besatzung Afghanistans waren auch die Jahre des Aufstiegs Chinas, das heute die wichtigste Quelle wirtschaftlicher Hilfe für Pakistan verkörpert und für das letzteres im Rahmen von Pekings Neuer Seidenstraße eine strategische Bedeutung einnimmt. Zweifellos gibt es im pakistanischen Staatsapparat immer noch prowestliche Elemente, aber die Geschwindigkeit, mit der Premierminister Imran Khan den Sieg der Taliban begrüßt hat, deutet darauf hin, dass die prochinesische Fraktion jetzt die Oberhand gewonnen hat.

Die globale, vielleicht historische Bedeutung des Sieges der Taliban liegt darin, dass die US-Invasion, wie auch die anschließende im Irak, nicht nur der Demonstration der US-Macht diente, sondern auch der Konsolidierung dieser Macht, indem sie den gesamten Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle brachte. Damit sollte der Boden für das neue amerikanische Jahrhundert bereitet werden, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Globalisierung eingeläutet wurde.

Der barbarische und reaktionäre Angriff auf die Zwillingstürme in New York diente als Vorwand, als Rechtfertigung für den „Krieg gegen den Terror“, in dem Washington das Recht beanspruchte, überall dort militärisch zu intervenieren, wo es seine Interessen bedroht sah. Heute, nach den militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan und der Wirtschaftskrise von 2008/9, steht diese ganze Weltsicht in Frage. Die USA stellen zweifelsohne immer noch einen sehr mächtigen Staat dar, aber sie sind kein unangefochtener Hegemon mehr.

Das veränderte Kräftegleichgewicht wird nicht nur die rivalisierenden Imperialismen China und Russland, sondern auch regionale Mächte wie Pakistan, Iran, die Türkei und Indien dazu ermutigen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Auch Länder, die die Unterstützung der USA als selbstverständlich angesehen haben, wie Taiwan, müssen sich fragen, was die Zukunft bringt. Selbst EU-Imperialismen wie Deutschland und Frankreich werden abwägen, wie weit sie von den Prioritäten der USA abweichen sollen.

In Afghanistan selbst wird die Wiedereinsetzung einer Taliban-Regierung eindeutig nicht den Weg zu Frieden und Wohlstand eröffnen. Zwanzig Jahre Exil in Pakistan und den Golfstaaten, die Entwicklung neuer Führungspersönlichkeiten, die Herausforderung, ein Regierungssystem in einem stark veränderten Land zu bilden, und die Möglichkeit von Spannungen zwischen den zurückkehrenden ExilantInnen und denjenigen, die die Organisation im Land unter der Besatzung aufrechterhalten haben, werden wahrscheinlich zu internen Spannungen führen, denn der Sieg trennt immer die SiegerInnen.

Taliban-Regime

Auf seiner ersten Pressekonferenz verkündete der Vertreter des neuen Regimes eine Generalamnestie für alle, die für die vorherige Regierung gearbeitet hatten, und versicherte den Frauen, dass ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben garantiert würden, sofern die islamischen Normen eingehalten würden. Es wurde betont, dass die Taliban keine Rache wollen und sich bemühen werden, andere in die Verwaltung des geplanten theokratischen Emirats einzubeziehen. Es erging eine Aufforderung, wieder normal an die Arbeit zurückzukehren.

Zweifellos ist ein solch pragmatischer Ansatz für eine Bewegung, die über keinen eigenen zivilen Verwaltungsapparat verfügt, praktisch sinnvoll und war der Ratschlag ihrer potenziellen internationalen UnterstützerInnen. Die Zeit wird zeigen, ob dies von Dauer sein wird oder die reaktionärsten Strömungen im Lande bereit sind, solche Zugeständnisse zu tolerieren, nachdem sie zwanzig Jahre lang für die Rückkehr zu den von ihnen bevorzugten Normen gekämpft haben. Klar ist, dass es derzeit keine Kräfte wie politische Parteien oder Gewerkschaften gibt, die mobilisieren könnten, um einen Rückschritt zu verhindern.

Auf internationaler Ebene sollten die VerfechterInnen der demokratischen Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Afghanistan alles in ihrer Macht Stehende tun, um Racheakte der besiegten ImperialistInnen zu verhindern. Alle Versuche, Sanktionen zu verhängen oder der jetzigen De-facto-Regierung des Landes die Anerkennung zu verweigern, müssen abgelehnt werden, da sie das bereits erlittene Elend und die Armut nur noch vergrößern können.

Für die Massen in Afghanistan brechen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird alle demokratischen, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräfte in die Illegalität treiben. Gleichzeitig werden aber, wie in allen theokratischen Regimen zu beobachten, die sozialen Widersprüche keineswegs verschwinden. Klassengegensätze und andere soziale Konflikte sind früher oder später unvermeidlich. Die Jugendproteste in Dschalalabad sind ein erstes Anzeichen dafür. Darauf müssen sich die RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter den Bedingungen der Illegalität, der konspirativen Arbeit vorbereiten.

Partei

Zwei Lehren werden von zentraler Bedeutung sein: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben. Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet, die mit der Zeit zu TrägerInnen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung geraten können, mit anderen Worten: die Strategie der permanenten Revolution.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist zweifelsohne eine langfristige Angelegenheit. Unmittelbar sind Millionen Menschen von brutaler politischer Unterdrückung bedroht. Andere versuchen, in Nachbarländer oder nach Europa zu fliehen. Die Linke und die internationale ArbeiterInnenbewegung müssen einen gemeinsamen Kampf für die bedingungslose Öffnung der Grenzen führen und sich für die Beschaffung materieller Mittel für die Flüchtlinge einsetzen, die in den Nachbarländern Afghanistans bleiben.

Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan bestätigen, dass wir in einer Zeit zunehmender zwischenimperialistischer Rivalität leben, einer Zeit, in der ökonomische Konkurrenz zu Handelskriegen führen kann, Sanktionen zu Blockaden werden und regionale Konflikte zu größeren Kriegen führen können. Die für das zwanzigste Jahrhundert typischen wirtschaftlichen und territorialen Reibungen entfalten sich nun im Kontext der sich entwickelnden Klimakatastrophe, die naturgemäß die Notwendigkeit einer internationalen Lösung bestätigt. Voraussetzung dafür ist eine internationale Organisation, eine internationale Partei – das ist die Hauptaufgabe der RevolutionärInnen in aller Welt, der Aufbau einer Fünften Internationale!




China als Modell?

Das isw Müncheni und der chinesische Imperialismus

Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Der Aufstieg Chinas in den letzten vier Jahrzehnten dürfte kaum jemanden entgangen sein. Ausgehend von den Reformen unter Deng Xiaoping hat in China in den vier Jahrzehnten seit 1978 eine riesige gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Es ist nicht nur die weltweit größte industrielle ArbeiterInnenklasse aus hunderten Millionen ehemaligen Bauern und Bäuerinnen entstanden, sondern China hat es auch geschafft, zu einer ernsthaften Konkurrenz zu den USA aufzusteigen. Grund genug, China und seine „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land gerne bezeichnet, zu untersuchen. Diese Erkenntnis hat sich auch im eurokommunistisch geprägten Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München (isw) durchgesetzt, und in den letzten 10 Jahren gab es mehrere Ausgaben ihres mehrmals jährlich erscheinenden Reports, die sich China bzw. dem Konflikt China-USA widmeten, mit deren Analysen wir uns im folgenden Beitrag beschäftigen wollen. Sie stehen auch weitgehend im Einklang – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen und Schattierungen – mit den Einschätzungen, die auch rund um die europäische Linkspartei, das Netzwerk „transform! Europe“ oder die deutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung weit verbreitet sind.

Neuer Kalter Krieg?

Schon unter Präsident Obama wurde der Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik (pivot to asia) auf Asien gelegt. Durch China ausschließende Freihandelsabkommen wie TPP sollte es ökonomisch und politisch isoliert und im Rahmen der „regelbasierte internationalen Ordnung“, die in erster Linie von den USA etabliert wurde, bekämpft werden.

Seit der Wahl von Donald Trump war klar, dass sich in der herrschenden Klasse der USA die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass China längst zum wichtigsten strategischen Gegner aufgestiegen war und mit einseitigen Maßnahmen der USA bekämpft werden müsse – auch ohne Verbündete, wenn nötig. Trumps China-Politik ist indikativ dafür, dass sich ein immer größerer Teil der US-Bourgeoisie nicht mehr auf die Mechanismen der internationalen Freihandelsordnung verlässt. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO hatte man sich seine Durchdringung mit US- und, in geringerem Maße, auch europäischem Kapital erhofft, um es in eine untergeordnete neokoloniale Rolle herabzudrücken. Die Erfahrung seit 2001 zeigte aber, dass sich China in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stärker in eine Abhängigkeit der traditionellen imperialistischen Metropolen begeben, sondern – insbesondere durch die Wirtschaftskrise 2008/09 – sich eine deutlich eigenständigere und unabhängigere Rolle verschafft hat.

Statt den Strategien der Obama Ära hat sich also in den letzten Jahren die Meinung in der US-Bourgeoisie durchgesetzt, dass man sich gegenüber China mit allen Mitteln verteidigen müsste. Wichtige VertreterInnen beider Parteien der US-Bourgeoisie heißen Trumps Strafzölle gegen China gut. Immer wieder sprach insbesondere der demokratische Minderheitsfraktionsführer im Senat, Charles Ellis „Chuck“ Schumer, Präsident Trump in seinem Kurs gegenüber China die Unterstützung zu. Durchaus beachtlich, da die Demokratische Partei Trumps erratischen Kurs in der Außenpolitik als einen ihrer Hauptangriffspunkte betrachtet.

Trumps Handelskrieg, der mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium im März 2018 begann, war ein Bestandteil der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Zwar wurde Anfang dieses Jahres in einem ersten Teil eines Handelsabkommen die Eskalation der Zölle erst einmal gestoppt, die schon bestehenden sollen aber bis zum Abschluss eines zweiten Teils nicht aufgehoben werden. Die Entwicklung rund um die Covid-Pandemie hat aber den Konflikt zwischen China und den USA in anderen Bereichen wieder eskalieren lassen. Auf der einen Seite bezeichnete Trump das Coronavirus auch gerne als „Chinavirus“ und schob China die Schuld an der globalen Epidemie zu. Der Konflikt, der sich auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO abspielte, nahm in den letzten Monaten weit gefächerte Formen an. Schon mit Beginn der weiten Ausbreitung von Covid-19 in den USA begann Trump, der WHO die Schuld für die Pandemie zuzuschieben. Im April kündigte er die Kürzung der US-amerikanischen WHO-Beiträge um 50 % an. Und nachdem die USA eine entscheidende Abstimmung über eine von der EU eingebrachte und von China mitgetragene Resolution bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai diesen Jahres verlor, kündigte die Trump-Regierung dann den Rückzug der USA aus der WHO 2021 an. Grund dafür sei, dass die WHO von den USA geforderte „Reformvorschläge“ nicht vollziehen würde.

Einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Auseinandersetzung zwischen den USA und China, als im Juli die USA das Konsulat Chinas in Houston (Texas) schließen ließen. Chinas Konter, die Schließung des US-Konsulats in Chengdu (Südwestchina), folgte kurze Zeit später. Die USA hatten den Vorwurf erhoben, dass das Konsulat in Houston ein wichtiger Bestandteil des chinesischen Spionagenetzwerks in den USA gewesen sei.

Der Konflikt, der sich hier zwischen China und den USA abspielt, ist aber kein Produkt von Trumps Psyche und wird sich auch nicht so schnell durch einen Wechsel an der Spitze der USA ändern. Es ist zwar zu vermuten, dass sich eine Regierung der demokratischen Partei unter Joe Biden wohl verstärkt darauf fokussieren würde, gemeinsam mit der Europäischen Union China zu isolieren, aber die grundlegenden bestehenden Widersprüche sind ökonomischer Natur. China und die USA werden in den nächsten Jahren klären müssen, wer die ökonomische und politische Vorherrschaft behalten bzw. erlangen wird. China will bis 2049 (1949 wurde die Volksrepublik gegründet) zur globalen Supermacht aufsteigen – ökonomisch, politisch und militärisch.

Das isw und der Konflikt China – USA

In seinen Publikationen wird der Konflikt zwischen China und den USA ausführlich diskutiert. Positiv fällt hier vor allem auf, dass das isw nicht in die klassisch liberale Deutung des Konflikts als eines zwischen dem demokratisch Westen und dem despotischen China verfällt. Doch für eine sich dem Marxismus zuordnende Publikation reicht diese Erkenntnis noch nicht aus.

Dagegen [gegenüber der militarisierten Globalisierung des Westens] praktiziert China die Globalisierung anders. Sie soll „gerecht und inklusiv“ sein und ohne militärische Begleitung.ii

Richtigerweise kreidet das isw die scheinheilige Verwendung von Menschenrechten als politische Waffe des westlichen Imperialismus an, aber wenn es um die Politik der chinesischen Führung geht, wird diese kaum hinterfragt. Dabei sollte zentraler Ausgangspunkt für die Beurteilung des Konfliktes zwischen China und den USA die grundlegende Betrachtung der Rolle der beiden Kräfte im kapitalistischen Weltsystem sein. Der politische Ausdruck des ökonomischen Konflikts ist nicht in erster Linie daran zu messen, welche der beiden Seiten den ersten Stein geworfen hat oder die aggressivere Politik verfolgt, sondern an ihrem Klassencharakter und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Beide Länder sind kapitalistische, ja imperialistische Großmächte.

Dem isw geht es aber eben nicht vorab demzufolge darum, Liebknechts berühmtem Leitsatz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Rechnung zu tragen, sondern in erster Linie werden die USA als Hauptfeind ausgemacht. Denn die europäischen Imperialismen werden in erster Linie als ZuträgerInnen des Us-amerikanischen Imperialismus gesehen. Conrad Schuhler macht das in einem Artikel auch ganz explizit, wenn er zustimmend Albrecht Müller zitiert „Die Deutschen – und die Mehrheit der Europäer – sollten sich daran gewöhnen, dass die USA nicht unser Freund sind. Sie sind das Imperium und behandeln uns wie eine Kolonie.iii

Die Position ist damit nicht in erster Linie antiimperialistisch, sondern eigentlich ein Ratschlag für den deutschen (bzw. europäischen) Imperialismus, den traditionellen Verbündeten fallenzulassen und sich der aufstrebenden Macht zuzuwenden. Garniert wird dies zuweilen noch mit dem Ratschlag, doch ein bisschen vom chinesischen System, wie einen aktiven, bedeutenden staatlichen Sektor, zu übernehmen. Walter Baier dazu: „Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontationen zielen, emanzipieren wollen oder nicht. Gerade in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet.iv

Der Charakter Chinas

Die zentrale Frage für die Bewertung des Konfliktes zwischen China und den USA ist – zumindest für revolutionäre MarxistInnen – also nicht die nach dem „Aggressor“ sondern dem grundlegenden Charakter des ökonomischen Systems und der Stellung im kapitalistischen Weltgefüge. Das isw tut sich weitgehend schwer damit, eine eindeutige Charakterisierung Chinas abzugeben. „,Sozialismus chinesischer Prägung’, ,Sozialistische Marktwirtschaft’, eine ,Art Staatskapitalismus unter dem Kommando der KP’, ,Staatlich kontrollierter Kapitalismus’, ,Wohlfahrtstaat’ nach schwedischen Modell – es fällt schwer, den chinesischen Weg zu einer modernen Volkswirtschaft in ein Schema zu pressen und zu kategorisieren“, schreibt zum Beispiel Fred Schmidv. Um einiges leichter tun sich die VertreterInnen des chinesischen Regimes, die vor allem im isw Report 119 zu Wort kommen. Für sie ist klar, dass es sich bei China um eine „Sozialistische Marktwirtschaft“ handelt, also eine Marktwirtschaft deren „sozialistischer“ Charakter durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas garantiert wird.

Die Charakterisierung Chinas als „Neoliberalismus mit chinesischem Antlitz“, wie David Harvey behauptetvi, wird entschieden abgelehnt. Genauso wird die Charakterisierung Chinas als Imperialismus zurückgewiesen. „Chinas Globalisierung ist ein dezidiert antikoloniales, nicht-imperialistisches, völkerrechtskonformes Projekt; es stiftet Frieden und breiten Wohlstand.vii

Die Argumentation dafür ist bezieht sich im Wesentlichen auf diverse Überbauphänomene: China sei kein Aggressor; seine Auslandsinvestitionen bzw. -kredite seien nicht an spezifische Spar- oder Reformprogramme gebunden, wie das bei IWF oder Weltbank üblich ist. China mische sich auch nicht oder zumindest viel weniger in die Innenpolitik der jeweiligen Länder ein; das Militär sei auch in erster Linie defensiv aufgestellt und wichtige strategische Projekte wie die neue Seidenstraße, die weiter unten noch detaillierter behandelt wird, seien auch nicht an eine militärische Strategie gebunden usw. Ob all diese Bewertungen so auch wirklich stimmen oder nicht, sei einmal dahingestellt. Zentral ist aber, dass sie nicht die determinierenden Faktoren für die Stellung eines Landes im imperialistischen Weltsystem ausmachen – für MarxistInnen.

Es ist zwar unter speziellen Umständen möglich, dass ein Land weder eine dominante Rolle als Großmacht (oder unterstützend als Juniorpartner) noch als dominierte Neokolonie spielt. China und Russland auf ihrem Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiesen bestimmte Eigenschaften dieser Zwischenkategorie auf. Doch zentral ist, dass in einem imperialistischen Weltsystem, das keine dauerhafte stabile Situation darstellt, sondern die internationale Konkurrenz auf höhere Stufenleiter hebt, die Länder entweder eine dominierende Position erobern oder in die Beherrschung durch andere zurückfallen müssen. Für das isw hingegen scheint China zumindest bis auf Weiteres außerhalb dieser Hierarchien stehen zu können und das, obwohl es, wie auch das isw zugesteht, als kapitalistisches Land vollkommen in den Weltmarkt integriert ist.

Kaum jemand beim isw würde wohl bestreiten, dass die USA nicht erst mit den Eintritt in den 2. Weltkrieg und der damit enorm geänderten Außenpolitik einen imperialistischen Charakter annahmen. In der Zwischenkriegszeit wiesen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem Verhalten Chinas der letzten beiden Jahrzehnte auf. Das Militär der USA nach dem 1. Weltkrieg und seine Einmischung in außeramerikanische Angelegenheiten waren äußerst beschränkt. Mit derselben Argumentation wie das isw hätte man in den 1920er Jahren das französische und britische Imperium den USA entgegenstellen können, um damit zu begründen, dass es sich bei letzteren unmöglich um eine imperialistische Großmacht handeln könne. Das isw begeht hier den gleichen Fehler wie Kautsky während des 1. Weltkriegs. Für ihn handelte es sich beim Imperialismus nicht um ein Stadium, eine Epoche der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern schlicht um Militarismus, Großmacht- und Kanonenbootpolitik.

Hier ist nicht der Ort, um eine ausführliche Analyse Chinas als neuer imperialistischer Großmacht anstellen zu können. Doch mit der letzten Krisenperiode, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2008 ihren Anfang nahm und verschiedene Phasen durchmachte, konnte es seine Position auf dem Weltmarkt und im imperialistischen Weltsystem wesentlich stärken. Es profitierte dabei nicht nur von der krisengeschüttelten Europäischen Union, den sich spätestens sei 2015/16 abzeichnenden Tendenzen zum Rückzug auf den Nationalstaat einiger imperialistischer Länder wie Großbritanniens und der USA (Brexit, Wahl Donald Trumps, …) und den sich dadurch politisch auftuenden Räumen, sondern auch vom Umbau der eigenen Wirtschaft weg von einem Billiglohnland zu einem mit einer der weltweit größten kaufkräftigen „Mittelschichten“ und vermehrt von einem ausschließliches Billigwarenexporteur hin zu einem Kapitalexporteur. Die Rolle Xi Jinpings als neuer starker Mann (auf einer Ebene mit Mao oder Deng Xiaoping) ist dafür politischer Ausdruck.

Aber sein Aufstieg und seine gestärkte Rolle sind nicht nur ein Ausdruck für die gestärkte Rolle Chinas in der Welt, sondern auch seiner inneren Dynamik. Das Land ist trotz seines unglaublichen Aufstiegs von riesigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet: auf der einen Seite zwischen den durch den Staat und die Bürokratie organisierten staatskapitalistischen Unternehmen und Banken und auf der anderen Seite den oft dynamischeren privaten Unternehmen und mit ihnen verknüpften Privatinstitutionen. Insbesondere wichtig sind hier die sogenannten Schattenbanken, die in China ein riesiges Ausmaß der Finanzwirtschaft kontrollieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. Für Xi Jinping ist es in dieser Situation möglich, sich zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals und der Bürokratie eine besondere Position zu erobern. Dabei sind auch interne Spaltungslinien in der Partei relevant, insbesondere die unteren und mittleren Schichten der Bürokratie in den unterschiedlichen Provinzen und Städten sind dabei noch vermehrt mit den staatlichen Unternehmen verbunden, die höheren Führungskader hingegen stärker mit dem Interesse des Gesamtkapitals und insbesondere auch den dynamischen Privatunternehmen.

Wesentlich für die Bewertung der Rolle Chinas als neue imperialistische Großmacht ist, dass es hier nicht ausschließlich um die Anwendung der fünf Lenin’schen Merkmale des Imperialismus gehen kann. Diese sind wesentlich für die Feststellung des Imperialismus als Stadium des Kapitalismus, also der gesellschaftlichen globalen Gesamtheit, müssen aber nicht vollständig für jedes einzelne Land zutreffen, erfüllt sein, um eine imperialistische Großmacht zu verkörpern. Ausschlaggebend für seine Charakterisierung ist seine Stellung in der Weltmarkthierarchie. Für Lenin war z. B. auch klar, dass es bei der Kategorisierung als imperialistische Großmacht nicht darum geht, ausschließlich den ökonomischen Entwicklungsstand zu bewerten, wenn er auch eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel bewertete er sowohl Japan als auch Russland als imperialistische Großmächte, die zu seiner Zeit ökonomisch nicht auf derselben Stufe wie die USA, Deutschland oder Großbritannien standen. Entscheidend war hier, dass sie wie diese Länder in einem imperialistischen Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen standen. „In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.viii

Schließlich sei noch der Hinweis gestattet, dass China (im Gegensatz zu Russland, bei dem sich der imperialistische Charakter noch aus deutlich spezifischeren Umständen ergibt) mittlerweile auch viele der „klassischen“ Merkmale aufweist. Chinesische Banken gehören zu den größten der Welt; in Fragen des Kapitalexports steht China auf Augenhöhe mit den anderen imperialistischen Großmächten und hat mit Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba und anderen weltweit agierende Konzerne geschaffen. Dazu ist es vermehrt militärisch selbstbewusst mit den weltweit zweitgrößten Militärausgaben, unterhält mittlerweile schon mehrere Militärbasen in anderen Ländern (Tadschikistan, Dschibuti) und darüber hinaus ist auch die brutale nationale Unterdrückung der UigurInnen sowie eine stärker aufflammende nationalistische Rhetorik wesentlicher Bestandteil seines imperialistischen Charakters.

Die Neue Seidenstraße – Globalisierung ohne militärische Begleitung?

Seit einigen Jahren ist Chinas „One Belt, One Road“-Initiative sein zentrales außenpolitisches Projekt. Ziel ist es – angelegt an die antike Seidenstraße –, sowohl über den indischen Ozean (Belt; Meerenge) als auch über Zentralasien (Road; Landweg) den eurasisch-afrikanischen Raum für den internationalen Warenverkehr zu erschließen. Ein enormer Ausbau der Infrastruktur soll Chinas Exportrouten diversifizieren, geopolitischen Einfluss in den beteiligten Ländern erlangen und letztlich einen Ausweg aus seinem wohl größten geostrategischen Problem schaffen. China ist für die absolute Mehrheit seiner Exporte, aber auch seiner Rohstoffimporte, auf den Seeweg – insbesondere auf die Straße von Malakka – angewiesen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass – falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA kommt – eine Seeblockade Chinas für seine Wirtschaft tödlich wäre. Deshalb sollen Land-, sowie kombinierte Land- und Seerouten (mit Häfen in Pakistan) die Versorgung des Landes mit Rohstoffen sowie den Export sicherstellen.

Die Neue Seidenstraße ist nicht nur das größte Globalisierungsprojekt der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern vor allem: Es kommt zum ersten Mal in der neueren Geschichte ohne militärische Begleitung aus.ix Doch so einfach ist die Sache nicht, denn schon jetzt gibt es an zwei neuralgischen Punkten – in Dschibuti am Horn von Afrika und in Tadschikistan in Zentralasien – chinesische Militärbasen. Auch der Ausbau bzw. Aufbau militärischer Anlagen im südchinesischen Meer (Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer) ist in diesen Kontext einzuordnen. China möchte sich aus der militärischen Umklammerung durch die USA befreien, denn diese unterhalten unzählige Militär- und Marinebasen im Westpazifik, aber auch im indischen Ozean und Zentralasien. Auch in anderen Häfen, wie in Sri Lanka (Hambantota) oder in Pakistan (Gwadar), gab und gibt es Spekulationen über den möglichen raschen Ausbau zur chinesischenMarinebasis, obwohl der in nächster Zukunft wohl nicht zu erwarten ist.

Zusätzlich wird China vom isw dafür gepriesen, dass es mit den riesigen Krediten für die am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligten Länder keine politischen Absichten verfolge, also nicht wie IWF oder Weltbank auf Umstrukturierungs- oder Reformmaßnahmen dränge. Das ist zwar durchaus richtig, aber China macht es auch nicht einfach aus einer altruistischen Perspektive heraus, sondern mit dem Motiv, bei einer möglichen Zahlungsunfähigkeit einfach Eigner oder Pächter der Infrastruktur zu werden. So bekam nach der Zahlungsunfähigkeit Sri Lankas China den Hafen von Hambantota für 99 Jahre verpachtet. Solche Kreditausfälle mit anschließender Übernahme von Infrastruktur werden sich in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich häufen, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll durchschlagen werden.

Im Kontext der Neuen Seidenstraße ist auch die Politik der chinesischen Regierung gegenüber den UigurInnen zu verstehen. Strategisch verläuft durch die Provinz Xinjiang, in der nahezu alle UigurInnen in China leben, ein essentieller Zugang zum zentralasiatischen Raum. Ihre Unterwerfung und Auslöschung als Nation (worauf die Politik der chinesischen Regierung, insbesondere der „Umerziehung“ und Ansiedlung ethnischer Han-ChinesInnen abzielt) ist hierbei essentiell, um diese strategische Rolle der Region zu sichern. Dazu kommt noch, dass Xinjiang reich an Rohstoffen ist, insbesondere an Öl, Gas und diversen Metallen, und eine mögliche uigurische Unabhängigkeitsbewegung oder allgemeiner Widerstand gegen die Politik der Zentrale für diese nicht in Kauf genommen werden können. Auch hier ist das Agieren der chinesischen Regierung ein Musterbeispiel für imperialistische Politik.

Beispiel für erfolgreiche nachholende Entwicklung?

Das isw lobt auch den chinesischen Entwicklungsweg als nachahmenswert für zurückgebliebene Volkswirtschaften:

Für Schwellenländer hat der chinesische Weg aber durchaus einen gewissen Vorbildcharakter. Er zeigt, dass eine erfolgreiche nachholende Entwicklung möglich ist, bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Überwindung der Armut. Notwendig sind dazu ein „proaktiver Entwicklungsstaat“ (UNDP) sowie staatliche Planung, zumindest staatliche Rahmen- und Schwerpunktplanung […].“xAn anderen Stelle bei Fred Schmidxi wird China nicht nur als Beweis für die erfolgreiche nachholende Entwicklung für Schwellenländer, sondern auch für Entwicklungsländer dargestellt. Es sei der Beweis dafür, dass man ohne westliche Hilfe, wie es die sogenannten Tigerstaaten gebraucht hätten, um eine erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, auch den Aufstieg aus der Armut schaffen könne.

China ist in der Tat eines der seltenen Beispiele von Ländern, die es nicht nur geschafft haben, sich zu industrialisieren und das allgemeine Lebensniveau der Massen zu heben, sondern auch zu einer imperialistischen Großmacht aufzusteigen. Doch es muss klar sein, dass das nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme ist. China hat unter ganz spezifischen Umständen, die nicht ohne Weiteres kopiert werden können, eine erfolgreiche nachholende Entwicklung zustande gebracht.

Zuerst einmal kann man China nicht aus der Gegenwartsperspektive betrachten und dann die essentiellen Faktoren ableiten, die es von anderen Staaten unterscheiden. Es ist vielmehr notwendig, die lebendige Entwicklung zu untersuchen und die historischen Besonderheiten abzuleiten, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der wohl wesentlichste Unterschied Chinas zu „herkömmlichen“ unterentwickelten Staaten ist, dass dort – als von Beginn an bürokratisch degenerierter oder deformierter ArbeiterInnenstaatxii – mehrere Jahrzehnte lang kein Kapitalismus existierte. Dazu kam, dass vor allem seit dem Bruch mit der Sowjetunion, der Ende der 1950er Jahre einsetzte, China auch noch einmal besonders auf eine eigenständige Entwicklung angewiesen war. Dadurch entwickelte sich eine stark abgeschlossene Wirtschaft, die frei von jeglichem ausländischen Kapital war.

Die Entwicklung Chinas hin zur Einführung des Kapitalismus haben wir in „Von Mao zum Markt“ von Peter Main (Revolutionärer Marxismus 39) ausführlich nachgezeichnet. Von den ehemals degenerierten ArbeiterInnenstaaten ist nur die DDR (als Teil Deutschlands) sowie Russland die Entwicklung zu einem imperialistischen Staat gelungen. In Ostdeutschland geschah dies durch den Anschluss an die imperialistische BRD, auch wenn diese Region ähnlich dem italienischen Süden nur die zweite Geige im Land spielt. Die größten Konzerne Deutschlands sind ausschließlich westdeutschen Ursprungs, in der herrschenden Klasse dominiert westdeutsches Kapital. Darüber hinaus sind auch das Lohnniveau und andere Indikatoren des Lebensstandards auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch signifikant niedriger. Für Russland hat es sehr spezifische Umstände gebraucht, um sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln. In den 1990er Jahren nach dem Kollaps der sowjetischen Wirtschaft sah es lange Zeit danach aus, als ob es auch den Weg in den neokolonialen Status einschlagen würde. Doch auch Russland hat es unter sehr spezifischen Umständen – vor allem durch die alten Verbindungen der Sowjetunion, sein militärisches Gewicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch durch seine Monopolstellung als Rohstoffexporteur gegenüber Europa – vermocht, eine prekäre Stellung als imperialistische Großmacht zu erringen. Bezüglich der Betrachtung Russlands sei auf „Die Auferstehung des russischen Imperialismus“ von Frederik Haber (Revolutionärer Marxismus 46) verwiesen.

Chinas besondere Umstände, nämlich, dass es aufgrund seiner Geschichte als von Beginn an degenerierter ArbeiterInnenstaat frei von der Durchdringung mit ausländischem Kapital war, lässt sich für den durchschnittlichen neokolonialen Staat nicht einfach wiederholen. Die Ausgangsbedingungen sind nämlich komplett andere. Ein wesentlicher Umstand für die spezielle Lage, in der sich China befand, war die chinesische Auslandsbourgeoisie, die aus spezifischen historischen Gründen nicht nur in Taiwan, sondern auch in Hongkong sowie überhaupt in einigen südostasiatischen Staaten eine besondere Stellung eingenommen hatte und bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital kräftig im Land investierte.

Ein weiterer wichtiger Vorteil für China war, dass im Gegensatz zu fast allen anderen ehemaligen stalinistischen Staaten in Osteuropa während der Wiedereinführung des Kapitalismus durch das Regime der KPCh weiterhin sehr stabile Machtverhältnisse im Land herrschten. Dafür war die Niederschlagung der Oppositionsbewegung 1989 essentiell. Die Herrschaft der kommunistischen Partei übernahm dabei ähnliche Rollen wie der preußisch-deutsche, russische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus wesentliches staatliches Projekt waren und aktiv gefördert wurden und nicht einfach organisch entstanden. Das durchschnittliche neokoloniale Land kann nicht einfach so die Dominanz des ausländischen Kapitals abschütteln, dafür wäre letztlich eine soziale Revolution notwendig. Eine unabhängige nationale Entwicklung des Kapitalismus ist nicht möglich. Beispiele wie Venezuela zeigen deutlich, zu welche Methoden der Konfrontation insbesondere der Imperialismus anwandte, um diesen Weg zu verbarrikadieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China kein Modell für andere Staaten sein kann. Im imperialistischen Weltsystem ist es nicht einfach möglich, durch geschickte staatliche Politik die Fessel zu durchbrechen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kapitalismus anzutreten. Für China mussten neben der generellen Größe des Landes und der Bevölkerung eine Reihe an spezifischen historischen Umständen zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Das lässt sich auch darin erkennen, wie schwer es Indien fällt, einen ähnlichen Weg zu beschreiten.

Partei und Bourgeoisie

Die lang andauernde Herrschaft der KPCh ist ein zentrales Merkmal für den chinesischen Kapitalismus, vergleichbar nur mit der der KP Vietnams. Doch die Frage, ist wie diese Herrschaft bewertet wird. Für die chinesischen FunktionärInnen ist sie klar positiv beantwortet:

Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialistische Marktwirtschaft über moderne wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verfügt. Zuallererst ist die Führung der Partei ein wichtiges Merkmal des sozialistischen Marktwirtschaftssystems und ein wichtiger Garant für moderne Governance-Kompetenz wirtschaftspolitischer Steuerung. Das sozialistische Marktwirtschaftssystem steht unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und steht fest auf sozialistischem Boden. Wir müssen uns auf unser theoriegeleitetes Selbstbewusstsein, unsere aufrichtigen Institutionen und die Führung der Partei verlassen, um diesen großartigen Prozess zum sozialistischen Marktwirtschaftssystem zu vollenden.“ xiiiAber nicht nur in den von direkten VertreterInnen des chinesischen Systems, denen im isw Platz geboten wird, wird diese Ansicht geteilt. Auch bei Fred Schmidxiv gibt es viele lobende Worte für die Partei, insbesondere die Anti-Korruptionskampagnen und die Stärkung ihrer Zellen und Grundeinheiten unter Xi Jinping.

Dass die Kommunistische Partei spätestens seit Anfang der 1990er Jahre klar die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und ausbaut, sollte wohl auch den naivsten KommentatorInnen aufgefallen sein. Zwar wird die „Sozialistische Marktwirtschaft“ weiterhin als Anfangsphase des Sozialismus bezeichnetxv, doch wenn man einmal von der Rhetorik absieht und sich die Fakten vor Augen führt, kann man erkennen, dass sich die Bourgeoisie in China immer mehr als Klasse formiert. Seit 2001 dürfen auch PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Im isw Report Nr. 119 finden sich auch interessante Zahlen dazu – natürlich mit der Argumentation verbunden, wie gut es gelingen würde, die neuen Eliten „aufzunehmen und zu lenken“xvi. Von den verantwortlichen Personen der größten 100 chinesischen Privatunternehmen sind „19 % […] Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, 15 % Abgeordnete der Provinz- und Kommunalkongresse, 27 % Mitglieder der Föderation von Industrie und Handel sowie der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. 39 % sind Leiter von Handelskammern, Jugend-, Handels-, und Unternehmensverbänden.“ Die langwierige Entwicklung von Chinas Bourgeoisie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist in den letzten Jahren also ein gutes Stück vorangekommen.

Lange Zeit spekulierte der Westen darauf, dass sich mit der Öffnung Chinas hin zum Markt eine selbstständige Bourgeoisie herausbilden würde, die dann in weiterer Folge in einen Konflikt mit der KPCh-Bürokratie geriete, was dann in weiterer Folge die Herrschaft der Partei untergraben und eine „Öffnung“ beschleunigen würde. Ob das dabei durch friedlichen Druck passieren würde, der die KPCh zwingen würde, einen Weg der demokratischen Reformen und die Einführung eines Mehrparteiensystems zu beschreiten, oder sie andernfalls auch à la UdSSR/Ostblock gestürzt würde, war dabei zweitrangig.

Diese Erwartungen haben sich im letzten Jahrzehnt als Fehleinschätzung herausgestellt. Insbesondere seit der Ära Xi Jinpings, seiner Antikorruptionskampagnen und der Stärkung der Partei wurde der chinesischen Bourgeoisie gezeigt, dass der Weg innerhalb der Partei um einiges besser ist. Gut wird das in einem Artikel Hu Lemingsxvii umrissen: „Institutioneller Wandel ist nicht nur Prozess der rationalen Konstruktion, sondern auch ein Prozess der spontanen Veränderung. Es ist nicht nur ein von der Politik geförderter Top-down-Prozess, sondern auch ein von privaten Unternehmern geförderter Bottom-up-Prozess. Es ist ein Prozess der Interaktion zwischen Politikern und Unternehmern.“

Der chinesische Staat und seine herrschende Bürokratie schaffen es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der jüngeren Vergangenheit als von Geburt an degenerierter ArbeiterInnenstaat besonders gut, die Rolle als ideelle/r GesamtkapitalistIn zu übernehmen. Ein wesentliches Merkmal des Abstiegs des US-amerikanischen Imperialismus dagegen ist, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Fraktionen der herrschenden Klassen immer mehr aufsplittern. In den USA ist eine langfristige Strategie der Bourgeoisie immer weniger möglich. Die Widersprüche zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei, zwischen Protektionismus und Freihandel, zwischen Silicon Valley, Wall Street und den verbliebenen Industrien und heute zwischen VertreterInnen von „Herdenimmunität“ und „Social Distancing“ machen die Verteidigung der Stellung als imperialistische Großmacht Nr. 1 schwer.

Das bedeutet aber nicht, dass in China die gesamte Bourgeoisie mit der Partei zu einer Einheit verschmolzen wäre. Einerseits ist die chinesische Auslandsbourgeoisie nicht wirklich in diese Strukturen eingebunden, andererseits ist es auch kein widerspruchsfreier Prozess. Es ist durchaus möglich, dass sich durch innere wie äußere Faktoren eine eigenständige von der KP-Bürokratie unabhängige Kraft der Bourgeoisie wird versuchen zu etablieren. Wenn es beispielsweise zu einer größeren landesweiten Bewegung gegen das Regime kommt, würde es vermutlich die Spaltungstendenzen innerhalb der Bürokratie selbst vergrößern und ein Teil der Bourgeoisie würde zweifelsfrei versuchen, sich außerhalb des Staats und der Kommunistischen Partei in einer eigenen Partei zu organisieren. Doch auch eine längere Dauer des obrigkeitsstaatlich gelenkten Kapitalismus wie in Preußen und im frühen Deutschen Reich, Russland, Japan oder in seiner parlamentarisch-demokratischen Variante in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg oder in Großbritannien unter Attlee ist als Möglichkeit nicht auszuschließen.

China ist ein Beispiel für das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der chinesische Staat trägt starke Züge einer zuvor existierenden Gesellschaftsformation (der gleichen und kaum von der Chinas zu unterscheidenden wie in Vietnam) ähnlich wie einige andere Staaten mit schwächeren (Großbritannien) oder stärkeren (Saudi-Arabien) monarchistischen Elementen in der Exekutive. Die weitere Existenz der KPCh als herrschende Partei kann deshalb kein Argument für einen grundlegend anderen Klassencharakter Chinas sein.

Wie weiter für China und die ArbeiterInnenklasse?

Bei allen Lobeshymnen auf die Volksrepublik China muss sich das isw doch immer mal wieder eingestehen, dass es vielleicht doch dort auch noch irgendwie ein paar demokratische Defizite gibt. „Dennoch bleibt die Frage nach der demokratischen, insbesondere produktionsdemokratischen, Teilhabe (!) der Menschen in China.“xviii2010 wurden im isw Report Nr. 83/84 noch zwei Möglichkeiten aufgezeigt. Auf der eine Seite gäbe es die der „Herausbildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht und ihre Formierung zur Arbeiterbewegung“xix, auf der anderen Seite für – eine vermutlich durch graduelle Reformen eingeführte – „vertikale Demokratie“. In ihr „werden die Visionen und Ziele des Landes in einem interaktiven Prozess von Spitze und Basis gleichermaßen geformt.“xxWas genau das konkret bedeuten soll, wird weder ausgeführt noch klar definiert.

Acht Jahre später in isw Report Nr. 115 ist dann von der Formierung einer Gegenmacht, geschweige denn politischer und ökonomischer Etablierung der ArbeiterInnenklasse als herrschendes und planendes Subjekt keine Rede mehr. „Ein echter demokratischer Ansatz“ ist jetzt nur mehr „die Weiterentwicklung der „vertikalen Demokratie““xxi. Ein unabhängiger Klassenstandpunkt ist jetzt offenbar weder realistisch noch gewünscht. Hier zeigt sich schließlich am klarsten die endgültige Kapitulation vor dem chinesischen Kapitalismus. Die Rolle von MarxistInnen geht beim isw offenbar kaum mehr ein bisschen über Beifall für eine „vertikale Demokratie“ hinaus.

Aus Chinas besonderer Geschichte ergibt sich für das isw offenbar, dass auf es keinerlei marxistische Kategorien oder Analysen mehr anwendbar seien. Es wird zwar zugestanden, dass es sich auch in dort um eine Kapitalismus handelt, aber dieser sei durch die Rolle der Partei im Staat, die sich noch immer kommunistisch nennt, und des Staates in der Wirtschaft so besonders, dass er eigentlich nicht mehr wirklich des Klassenkampfes, einer eigenständigen Organisation des Proletariats (nur mehr knapp über 7 % der Parteimitgliedschaft sind IndustriearbeiterInnenxxii) oder überhaupt einer proletarischen Revolution für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine ArbeiterInnendemokratie bedürfe. Dabei ist China doch mit der weltweit größten Bevölkerung und der größten ArbeiterInnenklasse eines der Schlüsselländer im imperialistischen Weltsystem!

Die aktuelle Situation in Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie sind für China genauso wie die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. In China ist es durch die sehr starke Position des Staates gelungen, die Ausbreitung der Krankheit relativ rasch unter Kontrolle zu bringen und auch die Produktion wieder anzuwerfen, doch es steht vor dem Problem, dass es trotz aller Stärkung des Binnenmarktes immer noch sehr zentral auf den Exportsektor angewiesen ist. Wie in vielen anderen Staaten hat es in der Krise der aktuellen Regierung gegenüber, falls diese nicht vollkommen absurde Maßnahmen durchführte, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch die ökonomischen Widersprüche (insbesondere die Frage, wie lange die Industrieproduktion alleine auf staatlicher Stimulanz basieren kann), die sich aus dem weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung ergeben werden, werden unweigerlich ihren politischen Ausdruck finden. Ob sich dieser „nur“ in der Partei und dem Staat abspielen oder auch einen gesamtgesellschaftlichen Ausdruck finden wird, ist noch nicht abzusehen.

Aber zentral für das Verständnis Chinas ist, seine Stellung im imperialistischen Weltsystems zu verstehen. Die Charakterisierung als neue imperialistische Großmacht hat eben nicht nur akademischen Charakter, sondern ist wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung eines der wichtigsten Länder für den globalen Klassenkampf. Der imperialistische Hauptkonflikt – zwischen China und den USA – wird sich in den nächsten Jahren nur zuspitzen und in der einen oder anderen Form gelöst werden. Dabei ist es von größter Bedeutung, eine antimilitaristische, antiimperialistische und internationalistische Position in die ArbeiterInnenklassen sowohl in China als auch im Westen zu tragen. Wenn dies nicht gelingt, können die kommenden Konflikte für die ArbeiterInnenklasse und die gesamte Menschheit nur in der Katastrophe enden. Der Hauptfeind steht – auch in der VR China – dabei im eigenen Land!

Endnoten

iInstitut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e. V. mit Sitz in München. Es wurde 1990 von linken SozialwissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen gegründet.

ii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report 119, S. 25

iii„Trumps ,America first’ – der Versuch, die USA zur unumschränkten globalen Supermacht zu machen“, Conrad Schuhler in isw Report 115, S. 11

iv„Warum muss die sozialistische Linke über die VR China diskutieren?“, Walter Baier in isw Report Nr. 119, S. 36

v„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 61

viebenda

vii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

viii„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Lenin in Werke Band 23, S. 113

ix„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

x„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xi„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 60

xiiDie VR China war wie Kuba, Nordkorea, Nordvietnam, Jugoslawien und Osteuropa ein ArbeiterInnenstaat, der von Beginn seiner Existenz an bürokratisch entstellt war und wo die Arbeiterinnenklasse von der unmittelbaren Ausübung ihrer Diktatur ausgeschlossen blieb. Das unterscheidet ihren degenerierten Charakter vom frühen Sowjetrussland, in dem die stalinistische politische Konterrevolution ab 1924 die Oberhand gewann. Sie unterlag einem Prozess der Degeneration und startete ihre Existenz nicht mit diesem Zustand.

xiii„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 5

xiv„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xv„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 4

xvi„Das chinesische Modell aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit“, Yang Hutao in isw Report Nr. 119, S. 15

xvii„Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung“ Hu Leming in isw Report Nr. 119, S. 10

xviii„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xix„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 62

xxebenda

xxi„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 37

xxii„Number of Chinese Communist Party (CCP) members in China in 2019, by employment“ in https://www.statista.com/statistics/249968/number-of-chinese-communist-party-ccp-members-in-china-by-employment/




China nach der Abriegelung: Neue Probleme, alte Politik

Peter Main, Infomail 1106, 7. Juni 2020

Formell ist der Nationale Volkskongress das höchste Organ der Staatsgewalt in China. Obwohl er nur einmal im Jahr, und zwar zwei Wochen lang, zusammentritt, werfen seine Beratungen ein gewisses Licht auf die Prioritäten der Regierung und die Richtung, in die sich die Politik bewegt. Die diesjährige Tagung, die in den letzten beiden Maiwochen stattfand, musste wegen der Covid-19-Epidemie verschoben werden, deren Nachwirkungen offensichtlich einen völlig unerwarteten Kontext für die Pläne der Regierung geschaffen haben.

Die unmittelbare Folge der Abriegelung der Provinz Hubei und des verlängerten Nationalfeiertags Neues Mondjahr  war ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal um 9,8 Prozent im Vergleich zum letzten Jahresviertel 2019. Selbst jetzt, wird geschätzt, arbeitet die Wirtschaft nur noch zu etwa 80 Prozent der vorherigen Kapazität.

Nichtsdestotrotz wird Covid-19, wie die meisten Krisen, wahrscheinlich Trends, die sich bereits entwickelt haben, und einen politischen Kurs, der bereits geplant war, beschleunigen. Die Wirtschaft war schon ein Grund zur Sorge, lange bevor ein/e unglückliche/r BürgerIn von Wuhan das neue Virus erstmals aufnahm. Die Exporte, die seit 30 Jahren eine große Rolle für Chinas rasantes Wachstum gespielt haben, gingen 2019 sogar um 0,5 Prozent zurück, nachdem sie im Jahr zuvor um 10 Prozent gestiegen waren. Das BIP insgesamt wuchs nur um 6,1 Prozent, verglichen mit dem offiziellen Ziel von 6,5 Prozent.

Ungleichheit

Angesichts der Drohungen von US-Präsident Trump mit einem Handelskrieg waren schon vor der Pandemie die Aussichten auf eine Steigerung der Ausfuhren als Weg zum allgemeinen BIP-Wachstum nicht gut. Die Steigerung des Binnenkonsums ist daher zu einem wichtigen Ziel geworden, aber es ist eines, das ein Merkmal der chinesischen Gesellschaft offenbart, das oft übersehen wird: die enorme soziale Ungleichheit. Im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt liegt das Pro-Kopf-Einkommen in China bei etwa 30.000 Renminbi, d. h. etwa 4.000 US-Dollar pro Jahr, aber das verdeckt die Tatsache, dass 40 Prozent der Bevölkerung, 600 Millionen Menschen, mit weniger als 1.000 Rebminbi, d. h. etwa 130 US-Dollar pro Jahr, auskommen müssen.

Es ist kein Zufall, dass 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land leben. Einerseits bedeutet dies, dass Geldeinkommen nicht ihre einzige Unterhaltsquelle ist. Auf der anderen Seite macht es sie eindeutig nicht zu einem effektiven Markt für hochwertige Industriegüter, denn jemand mit 130 Dollar im Jahr wird sich kein neues Auto kaufen. Es unterstreicht auch, wie weit die Landbevölkerung von der Integration in die chinesische Marktwirtschaft entfernt ist.

In seiner Rede auf der Schlusssitzung des Nationalen Volkskongresses wies Premierminister Li Keqiang auf die Notwendigkeit hin, das verfügbare Einkommen dieses potentiell riesigen Marktes zu erhöhen, musste aber auch feststellen, dass die Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe, von denen man erwarten könnte, dass sie ihn bedienen, mit zunehmenden Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Diese beziehen sich auf ein weiteres Hauptthema in Lis Rede, nämlich die Notwendigkeit, sich mit der wachsenden Verschuldung und den „untilgbaren Krediten“ zu befassen, d. h. solchen, für die sich die KreditnehmerInnen nicht einmal die Zahlung von Zinsen leisten können.

Der Lösungsvorschlag der Regierung hierfür lautet wie schon seit vielen Jahren „Öffnung des Finanzsektors“. Dies ist die Formel, mit der Marktreformen in den staatlichen Banken gefördert werden sollen, die nach wie vor staatseigene und daher sehr große gegenüber kleinen, privaten Unternehmen bevorzugen. Die Tatsache, dass dies fast ein Jahrzehnt lang eines der Hauptziele von Präsident Xi Jinping war, unterstreicht die Hartnäckigkeit des Problems.

Ziel

Die Auswirkungen der Epidemie auf die Wirtschaft lassen sich daran ablesen, dass China zum ersten Mal seit mehr als 40 Jahren kein offizielles Wachstumsziel ausgibt. Die „Global Times“, Pekings offizielles Sprachrohr, bemerkte zu dieser Ankündigung von Li, dass jeder Vorschlag, das zuvor erwartete Ziel von „6 Prozent plus“ anzustreben, eindeutig unmöglich sei und „ein niedrigeres Ziel wäre nicht erhellend gewesen“. Mit anderen Worten, jede deutlich niedrigere Zahl als ursprünglich erwartet hätte sowohl die Industrie als auch die Provinzregierungen im ganzen Land entmutigen können.

Unmittelbar nach der Aufhebung der Sperre im März lag der Schwerpunkt verständlicherweise darauf, „die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen“, und die Erreichung dieses 80-Prozent-Wertes innerhalb von etwa sechs Wochen könnte recht beeindruckend aussehen. Es stellt sich jedoch die Frage, was mit den verbleibenden 20 Prozent geschieht.

Die Zahl der WanderarbeiterInnen in China wird auf 174 Millionen geschätzt. Da sie nicht als StadtbewohnerInnen registriert sind, erscheinen sie, wenn sie keine Arbeit haben, nicht in der Arbeitslosenstatistik. Es kann davon ausgegangen werden, dass praktisch alle zum Mondneujahr in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren, aber Umfragen haben ergeben, dass nur 123 Millionen nach dem Jahresurlaub in die Städte zurückgekehrt sind, so dass etwa 50 Millionen noch auf dem Land leben.

Darüber hinaus gibt es 149 Millionen Selbstständige, die im Dienstleistungssektor und im kleinen Einzelhandel tätig sind, die beide sehr stark von der Kombination aus Epidemie und dem allgemeineren wirtschaftlichen Abschwung betroffen sind. Hinzu kommen etwa 8 Millionen Schul- und HochschulabgängerInnen, die im Laufe des Jahres in den Arbeitsmarkt eintreten werden. Aus diesen Zahlen geht klar hervor, dass China mit einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit konfrontiert ist und die Mehrheit der Betroffenen keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben wird. Das ist eine potentiell gefährliche Aussicht.

Xi Jinpings zunehmend repressive Innenpolitik und aggressive Außenpolitik sind zweifellos zum Teil auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass die sozialen Unruhen wahrscheinlich zunehmen werden. Wie viele andere „starke“ nationale FührerInnen benutzt er den Patriotismus, um Maßnahmen zu legitimieren, die eigentlich darauf abzielen, „sein“ eigenes Volk zu kontrollieren und zum Schweigen zu bringen. Die Sofortmaßnahmen, die eingeführt wurden, um der Epidemie zu begegnen, die massenhafte Unterdrückung der UigurInnen von Xinjiang, die strenge Kontrolle der sozialen Medien und des Internets und der umfassende Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie zur Überwachung von Menschenmassen auf den Straßen sind alles Elemente einer systematischen Strategie zur Kontrolle potenzieller Unruhen.

Natürlich lässt sich Patriotismus am leichtesten durch Hinweise auf ausländische Bedrohungen aufpeitschen, und hier kann man sich darauf verlassen, dass Donald Trump sowohl mit seiner Rhetorik als auch mit seiner Handelspolitik ein leichtes Ziel bietet. Auf der diesjährigen Tagung des Nationalen Volkskongresses war es jedoch die Entscheidung, Hongkong stärker zu kontrollieren, die für Schlagzeilen sorgte. Die Ausweitung der nationalen Sicherheitsgesetzgebung auf Hongkong zielt offensichtlich darauf ab, die Oppositionsbewegung in der ehemaligen britischen Kolonie zu kriminalisieren. Forderungen nach mehr Demokratie, geschweige denn nach Unabhängigkeit, könnten als „Untergrabung der Staatsmacht“ eingestuft werden, und die Organisation von Demonstrationen oder Streiks könnte als Beweis für „Terrorismus“ oder „Einmischung ausländischer Mächte“ gelten.

Peking hat auch deutlich gemacht, dass es seine eigenen Sicherheitsdienste dort stationieren wird, falls es der lokalen Hongkonger Verwaltung nicht gelingt, den politischen Protesten und Demonstrationen, die das Gebiet seit mehreren Jahren wiederholt erschüttert haben, Einhalt zu gebieten. Dies wurde als ein Zeichen der Verärgerung gegenüber der Chefin der Hongkonger Exekutive, Carrie Lam, gewertet, ist aber eher als ein Schritt in Richtung eines längerfristigen Ziels zu verstehen.

Für die Kommunistische Partei Chinas war die Annahme der Formel „ein Land, zwei Systeme“, die den Status Hongkongs als „Sonderverwaltungszone“ Chinas untermauert, eine rein pragmatische Taktik, um die Rückkehr des chinesischen Territoriums unter chinesische Herrschaft zu erleichtern. Es war das letzte Echo der ungleichen Verträge, die China im 19. Jahrhundert akzeptieren musste, und besitzt als solches keine moralische Autorität. Es ist beabsichtigt, dass Hongkong mit der Zeit vollständig in die so genannte Greater Bay Area der Provinz Guangdong integriert wird.

In diesem Szenario ist jede Andeutung, dass andere Staaten wie Großbritannien oder die USA irgendein Recht haben, Einfluss darauf zu nehmen, wie das Territorium regiert wird, einfach ein Versuch, Chinas Souveränität erneut einzuschränken. Revolutionäre InternationalistInnen haben keinen Grund, in Streitigkeiten zwischen imperialistischen Regimen Partei zu ergreifen, aber jeden Grund, sich auf die Seite jeder Bevölkerung zu stellen, deren demokratische Rechte bedroht sind.

Die potenzielle Tragödie in der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass die radikaleren Oppositionellen in Hongkong Peking in die Hände spielen, indem sie an die Unterstützung der anderen imperialistischen Mächte appellieren oder, schlimmer noch, sich für die Forderung nach Unabhängigkeit einsetzen. Dies ist nicht nur eine unpraktikable Forderung, sondern eine völlig verfehlte Strategie. Anstatt dem „Festland“ den Rücken zu kehren, ist es weitaus besser, die demokratischen Rechte, die sie noch haben, zu nutzen, um für diese Rechte zu kämpfen, und mehr noch, um sie auf ihre Landsleute in ganz China auszudehnen.

Da sich die Welt am Rande einer Rezession befindet, die sich bereits vor der Pandemie entwickelt hat, aber durch sie sicherlich noch verschärft wird, ist gewährleistet, dass die Rivalität zwischen den Großmächten von der Rhetorik zum Handelskrieg und möglicherweise zu einer tatsächlichen militärischen Konfrontation eskalieren wird. Wie wir bereits sehen können, wird dies mit zunehmend autoritären Regimen im Inneren einhergehen, die mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die „ausländische Bedrohung“ zu bekämpfen. Umso wichtiger ist es, dass die SozialistInnen in den imperialistischen Staaten nicht nur erkennen, dass der/die HauptfeindIn der ArbeiterInnenklasse im eigenen Land steht, sondern dass sie selbst international gegen alle ImperialistInnen organisiert werden müssen.