Berliner Krankenhausbewegung: Gleicher Abschluss für alle durch Streik!

Jürgen Roth, Infomail 1166, 8. Oktober 2021

Nach über 4 Wochen Vollstreik hat das Berliner Krankenhausunternehmen Charité nach 21-stündigem Verhandlungsmarathon am Donnerstag, den 7. Oktober 2021, um 6 Uhr früh gemeinsam mit VertreterInnen der Gewerkschaft ver.di ein Eckpunktepapier unterzeichnet, das binnen 5 Wochen in einem Tarifvertrag Entlastung (TVE) münden soll. Beide Seiten bezeichneten es als Durchbruch, sogar als Meilenstein.

Details

Ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba erkärte, alle Forderungen seien in dem Papier berücksichtigt worden: Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen; Regelung eines Belastungsausgleichs; Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. War auf Intensivstationen bisher eine Pflegekraft für bis zu 4 PatientInnen zuständig, im Nachtdienst für 20 – 30, so soll der neue Personalschlüssel 1:1 bzw. 1:10 – 1:17 lauten. In den Kreißsälen soll es wieder möglich werden, dass eine Hebamme nur eine Frau bei der Geburt begleitet. Man hofft darauf, dass 250 freiberufliche Hebammen ihre Zusage einhalten, unter diesen verbesserten Umständen wieder als Angestellte in die Kliniken zurückzukehren.

Nach uns vorliegenden Informationen sieht der Belastungsausgleich im Fall der Unterschreitung der Mindestpersonalbesetzung 1 freie Schicht für 5 in Überlastung vor. Den Auszubildenden sollen 4 neue Lehrstationen eingerichtet werden, womit eine disziplinübergreifende Lehre besser möglich ist. Ferner soll es möglich sein, Sabbaticals zu nehmen (längere Auszeiten).

Die „Gesamtstrategie 2030“ der Charité will den Stellenanteil erhöhen wie auch akademisierte Gesundheitsfachberufe gewinnen. In den kommenden 3 Jahren sollen 700 zusätzliche PflegemitarbeiterInnen eingestellt werden. Dies ist eine Reaktion auf hohe Krankenstände, Wechsel von Voll- in Teilzeit und hoher Fluktuationsrate. Viele PflegerInnen üben ihren Beruf nur wenige Jahre aus.

Die Laufzeit des TVE soll 3 Jahre betragen.

Wichtiger Teilerfolg

Das Ergebnis ist nur durch einen engagierten, langen Streik zustande gekommen. Hier haben Beschäftigte Basisstrukturen wie die TarifberaterInnen aufgebaut, eigene Forderungen in Rücksprache mit allen KollegInnen aufgestellt, während des Ausstands selbst für Notdienstregelungen gesorgt und mit Onlineveranstaltungen und Demos für die Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit gesorgt. Dies stellt alles ein leider zu seltenes Vorbild für Arbeitskämpfe dar.

Doch ist es der TVE, der nun all das regelt, was vorhergegangene Tarifkämpfe – denken wir nur an den 2015 bei der Charité erkämpften – nicht vermochten, wie ver.di-Verhandlungskommissionsmitglied, Dana Lützkendorf, behauptet? Und finanzieren sich zusätzliche Pflegekräfte durch das Bundespflegepersonalstärkungsgesetz wie von selbst? Lt. unseren Informationen sind die Ausgleichsschichten in den nächsten 3 Jahren gedeckelt: 2022 max. 5, 2023 10, 2024 15 Tage. (https://www.kma-online.de/aktuelles/klinik-news/detail/verdi-glaubt-an-einigung-mit-charite-und-vivantes-a-46324)

Das o. a. Gesetz und die Herausnahme der Pflegekosten aus den Fallpauschalen (DRGs) seit Anfang 2020 bedeuten mitnichten die Selbstkostenerstattung durch die Krankenkassen, sondern eine Rückkehr zu langwierigen Budgetverhandlungen mit ihnen wie vor Einführung der DRGs. Kommt es dann eben nicht zur gewünschten Personalaufstockung, wird auch der Freizeitausgleich schnell an seine Grenzen stoßen. 2015 wurde vereinbart, bei Überlastungen eine schwerfällige, mehrstufige sog. Interventionskaskade in Gang zu setzen. Am Ende entschied dann die Krankenhausleitung, ob für diesen Fall Bettensperrungen, Stationsschließungen, Behandlungs- und Aufnahmestopps erfolgen. Deshalb müssen wir die Kontrolle darüber für die Beschäftigten verlangen! Die TarifberaterInnen können eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE durch die Basis spielen, auch bei der der ärztlich gesteuerten medizinischen Behandlung gemäß der Gewinn- und Verlustlogik des DRG-Marktes, die ja unangetastet bleiben soll!

Kein Abschluss nur bei der Charité! Vivantes und VSG mit ins Boot holen!

Das Ergebnis ist zum Zweiten nur ein Teilerfolg, weil droht, dass die Vivantes-, VSG- und Labor Berlin-Kolleginnen im Regen stehengelassen werden. Vivantes und VSG haben immer wieder die Verhandlungen verschleppt, sogar das Arbeitsgericht eingeschaltet. Der Konzern bietet z. B. erst ab 12 Überlastungsschichten eine Freischicht an (bei Auszubildenden 48!), weniger als die Hälfte des Angebots der Unikliniken. Die VSG gestand eine Angleichung an den TvöD bis 2028 zu ohne Angaben zu Zeitzuschlägen und Zulagen. Zudem will sie die MVZs und das Labor Berlin von den Verhandlungen ausnehmen.

Deshalb ist es gut, dass am 9.10.2021 ver.di, unterstützt vom DGB, zu einer Großdemonstration aufgerufen hat. Dort sollten wir lautstark klarmachen, weshalb der Streik bei der Charité nicht sofort und auf Dauer ausgesetzt werden darf. Zumindest muss darüber wie über die Annahme des Ergebnisses eine Urabstimmung stattfinden. Im Fall eines Mehrheitsvotums für Streikabbruch und Annahme des Verhandlungsergebnisses fordern wir: Zwingt den Senat, den TVE auf den Vivantesmutterkonzern und den bestehenden, besseren der CFM (bzgl. Angleichung an den TVöD) auf die VSG und das Labor Berlin anzuwenden!

Unbefristeter Vollstreik bis zur Erfüllung der Forderungen! Öffentliche, von der Basis kontrollierbare Verhandlungen! Keine Aussetzung des Streiks ohne Abstimmung unter den Streikenden! Keine Teilabschlüsse in einem Krankenhaus oder der Tochtergesellschaften, sondern nur gemeinsamer Abschluss!

Berliner Vorbild bundesweit nachahmen!

Der Kampf in den Berliner Krankenhäusern ist weit mehr als einer für einzelne Verbesserungen. Er kann auch als Katalysator für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD  wirken. Christian Hoßbach, DGB-Vorsitzender Berlin-Brandenburg, redet zu Recht nur von einem wichtigen Teilerfolg bei der Charité und verweist auf die Brandenburger Asklepios-Kliniken, wo Beschäftigte bis zu 11 Tagen pro Jahr bei bis zu 21 % weniger Entgelt als ihre KollegInnen in Westdeutschland arbeiten. Sie traten genauso in den Warnstreik für Angleichung an den TVöD-L wie Beschäftigte der Berliner AWO und am letzten Mittwoch Berliner GEW-LehrerInnen für Klassenobergrenzen (TV Gesundheit).

In der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder müssen die Anliegen dieser KollegInnen vollständig aufgenommen werden wie die der Uni- und psychiatrischen Kliniken. Doch ver.di plant lediglich eine Gehaltsrunde. Die Interessen der Pflegekräfte an Entlastung werden an einem bedeutungslosen Gesundheits(katzen)tisch vorgetragen, die der LehrerInnen gar nicht – aber sie müssen zum Verhandlungsgegenstand und streikfähig gemacht werden! Kollege Hoßbach, setzt Du Dich auch dafür ein und lässt Deinen Worten Taten folgen?

Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem gut funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen haben, an Eurer Seite zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften. Mit einer solchen Mobilisierung – aus streikenden KollegInnen in den Krankenhäusern und KollegInnen aus allen Betrieben –, einem politischen Streik würden die  Regierenden in die Knie gezwungen werden können. Dies wäre der Weg für einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors.

Für ein Gesundheitswesen im Interesse der 99 %!

Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dieses System ständig am Rande des Zusammenbruchs funktioniert. Damit muss Schluss sein, wenn wir ein menschenwürdiges Gesundheitssystem aufbauen wollen! Der Markt richtet nichts, jedenfalls nicht für die Masse der Bevölkerung.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für ein gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die  in allen Sektoren, auch der Altenpflege gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten von der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten!



Berliner Krankenhausstreiks: Wie weiter nach dem Auftakt?

Mattis Molde/Jürgen Roth, Neue Internationale 258, September 2021

Montag 23. August 2021: Ver.di ruft die Krankenhausbeschäftigten von Vivantes und Charité zu einem dreitägigen Warnstreik auf – nachdem weder die Klinikleitungen in ernsthafte Verhandlungen über mehr Personal und gleiche Arbeitsbedingungen in den ausgegliederten Unternehmen von Vivantes eingetreten sind noch die politisch Verantwortlichen in Stadt und Land entsprechenden Druck auf diese ausgeübt hatten.

Blockadehaltung der Klinikleitungen

Was die Klinikleitungen von den berechtigten Forderungen halten, hat Vivantes klargemacht: Anstatt über bessere Bedingungen für alle Beschäftigten zu verhandeln, lassen sie den Warnstreik bei den Tochterfirmen über eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht Berlin verbieten. Sie sehen keine Notwendigkeit eines Tarifvertrags (TV) Entlastung für die Angestellten der kommunalen bzw. Landesbetriebe Vivantes und Charité bzw. der Gültigkeit des TvöD für die Beschäftigten in den Vivantestochterunternehmen und machten bisher keinerlei Angebot.

Zwar verhandelten sie tagelang über eine Notdienstvereinbarung, doch erklärten die Arbeit„geber“Innen die bis 2017 an der Charité angewandte für gegenstandslos, seinerzeit von deren Direktor selbst vorgeschlagen. Stattdessen sollten die Beschäftigten noch flexibler einsetzbar sein! Am Charité-Standort Mitte entschied der Vorstand, mit voller Bettenbelegung in die Streikwoche zu starten. Nach 4 Stunden mussten einige Stationen den Streik abbrechen, so Clemens Riedemann, Krankenpfleger in der dortigen Onkologie lt. NEUES DEUTSCHLAND vom 26.8.2021.

Spielte Vivantes mit gerichtlichen Verfügungen, so die Charité mit der Karte des „Streikverbots durch die Hintertür“ (Riedemann). Er konterte auch die Einlassung, es sei juristisch wegen Tarifbindung (TVöD und Mitgliedschaft im Arbeit„geber“Innenverband der Bundesländer) nicht möglich, einem TV zuzustimmen, der es erlaube, bei hoher Belastung einen Ausgleich in Anspruch zu nehmen, unter Verweis auf das Beispiel des Uniklinikums Mainz.

Charitésprecher Markus Heggen widersprach den Vorwürfen der Beschäftigten. Man habe im Vorfeld nicht dringliche Behandlungen abgesagt, respektiere das Streikrecht also und schaffe somit Möglichkeiten zur Teilnahme der Beschäftigten an den Warnstreiks. Es sei nicht möglich gewesen, ganze Stationen zu schließen. Alle Aussagen sind nicht überprüfbar, wohl aber steht fest, dass bei der Sitzung der Zentrumsleitung Charité Mitte mit ver.di-VertreterInnen am 1. Warnstreiktag eine Notvereinbarung präsentiert wurde, die die Normalbesetzung als Notdienstmannschaft vorschlug (Riedemann).

Affront

Dies alles ist ein klarer Affront gegen die Interessen der Beschäftigten und ihren Willen, für deren Durchsetzung in den Kampf zu gehen. Nicht nur die privat organisierten Konzerne wie Helios, Asklepios u. a. setzen auf Konfrontation, sondern nun auch die noch öffentlich geführten Häuser. Kein Wunder, geht es doch in dieser Auseinandersetzung letzten Endes um die politische Ausrichtung der Gesundheitsversorgung – öffentlich mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung, die auch die wirklich aufkommenden Kosten der Behandlungen und der notwendigen Ausstattung refinanziert, oder weiter mit Privatisierung und Fallpauschalen, die zu Personalabbau und Konkurrenz unter den Krankenhäusern führen und letztlich zu Schließungen von Häusern, die der Konkurrenz nicht standhalten können.

Großartiger Start

Von daher hatten die KollegInnen recht, wenn sie trotzdem in den Warnstreik gingen und eine öffentliche Kundgebung gegen diese Entscheidung abhielten. Deutlich über 1000 Streikende und UnterstützerInnen versammelten sich am 23.8. um halb elf vor der Vivantes-Zentrale. Die Stimmung – prima.

Es sprachen die SpitzenkandiatInnen der SPD, der Linken und Grünen. Frau Giffey erntete auch einige Pfiffe, aber für ihre Aussagen, hinter dem Kampf und seinen Zielen zu stehen, bekamen alle drei Applaus. Die Streikleitung legte einen guten Vorschlag vor: Eine Delegation sollte die Rücknahme der einstweiligen Verfügung gegen den Streik der Tochterfirmen von der Geschäftsführung verlangen. Die WahlkämpferInnen sollten mit – eigentlich sind sie als Senatsspitze die AuftraggeberInnen dieser Geschäftsleitung.

Die Streikleitung rief: „Wir gehen hier nicht weg, bevor die Erklärung zurückgenommen worden ist.“ Die Streikenden: „Wir bleiben hier!“

Dann gegen halb eins der Schock: Es gab eine zweite einstweilige Verfügung, angestrengt ebenfalls von den Vivantes-Bossen: Sie wollten geklärt haben, ob die Frage der Personalbemessung überhaupt tariffähig sei. Es gelte ja der laufende Tarifvertrag vom vergangenen Herbst, abgeschlossen zwischen ver.di und den kommunalen Arbeit„geber“Innenverbänden.

Kurz darauf kam die Delegation von dem Spitzengespräch zurück: Die Geschäftsführung nahm nichts zurück. Das hatte auch jetzt niemand mehr erwartet.

Ein Sprecher der Geschäftsführung erläuterte nochmal deren Position, bot aber an, doch über die Aufstockung von Personal reden zu können: „Wir haben viele offene Stellen, kommen Sie zu uns“ und: „Wir haben doch die gleiche Meinung wie ver.di, dass da mehr getan werden muss – aber keinen Tarifvertrag.“ Und dann: „Es wird keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen für diesen Streiktag geben.“ Was man auch als Drohung für den nächsten Streiktag auffassen konnte.

Die Mitglieder der Tarifkommission und der Streikleitung zogen sich zurück zur Beratung. Nach zwei Stunden wurde der Streik vorläufig beendet. Viele waren unzufrieden. Solidaritätsadressen der IG Metall und der GDL machten etwas Mut.

Es ging hin und her: Sollen wir weiter hier die Zentrale von Vivantes blockieren oder machen wir einen Sitzstreik vor dem SPD-Sommerfest? Am Ende verlagerte sich alles dorthin.

Wie geht es weiter?

Der alte Plan sah vor, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch nur über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes hatten zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Nach einer gerichtlichen Aufhebung der einstweiligen Verfügung ging der Warnstreik am Dienstag und Mittwoch weiter und endete mit einer Kundgebung im Volkspark Friedrichshain. Mittlerweile berät die Tarifkommission über die Abhaltung einer Urabstimmung, die einen Vollstreik einleiten soll.

Gestützt auf eine jüngst errungene, beachtliche Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads und auf Kreationen einer aktiven Basis (Teamdelegierte, TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen), können die Beschäftigten mutig und gestärkt in diesen gehen, wenn sie darüber stets das Heft der Streikführung in der Hand behalten und die Provokationen der Gegenseite adäquat beantworten: Keine Notdienstvereinbarungen ohne unsere Zustimmung! Zur Not setzen sie diese einseitig durch, ohne das PatientInnenwohl zu gefährden (Bettensperrungen, Stationsschließungen, Aufnahmekontrollen). Schließlich liegt ja auch das PatientInnenschicksal schon im Normalbetrieb äußerst einseitig in der Hand aller Beschäftigtenberufsgruppen, nicht in der der Leitungen! Auf alle Angriffe aufs Streikrecht muss mit dem Appell an gewerkschaftliche Solidarität gekontert werden, v. a. mit der solidarischen Wiederaufnahme des laufenden GDL-Streiks, besser einem politischen Streik aller Gewerkschaften insbes. des DGB und seitens des Marburger Bundes!

Natürlich sollte ver.di in die Offensive gehen und den Kampf um einen Entlastungstarifvertrag in den beiden Berliner Häusern als Ausgangspunkt nehmen, um eine bundesweite Entlastungskampagne zu initiieren. Natürlich würde auch die im Oktober beginnende Tarifrunde der Länder im öffentlichen Dienst eine weitere Chance, um in dieser Richtung weiterzukommen, darstellen. Diese müsste dazu genutzt werden, die Beschäftigten aller Unikliniken in einen gemeinsamen Kampf um mehr Personal zu führen, anstatt die Entlastungskampagne auf die Zeit nach der Tarifrunde zu verschieben.

Aber beides braucht Anlaufzeit. Darauf hat die Gewerkschaft sich und die Belegschaften nicht vorbereitet. Während dies in Angriff genommen werden muss, muss zugleich die Dynamik und Mobilisierungsfähigkeit der Berliner Beschäftigten auf die nächste Stufe gehoben und der Kampf ausgeweitet werden von Warnstreiks zu einem unbefristeten Erzwingungsstreik: Für die sofortige Einleitung der Urabstimmung in Berlin! Aufnahme der Berliner Forderungen (TvöD-Angleichung für ausgelagerte Tochtergesellschaften und Personalentlastung in den landeseigenen Krankenhäusern wie z. B. den Unikliniken) in die anstehende Ländertarifrunde des öffentlichen Dienstes!




Druck machen muss anders gehen! – Zum Stand der ver.di-Tarifkampagne Entlastung

Jürgen Roth, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Vorzeigebetrieb Charité Berlin?

2015 streikte das dortige Pflegepersonal 11 Tage lang. Ab April 2016 befand sich der erstreikte Tarifvertrag Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung (TV) im einjährigen Testlauf und wurde von der Gewerkschaft über den Juni 2017 hinaus nicht verlängert. Feste Mindestbesetzungen wurden aber nur für den Intensivbereich und die Kinderklinik vereinbart. Der Interventionsablauf bei Unterschreitung der Besetzungsstandards war ausgesprochen schleppend und scheiterte oft an der Blockade durch Vorgesetzte. Der Vertrag war zudem ausgesprochen kompliziert und für die KollegInnen schwer verständlich. Zwar erwies sich das Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks mittels Notdienstvereinbarungen als erfolgreich und die Etablierung neuer gewerkschaftlicher Strukturen in Form der TarifberaterInnen beinhaltet ein Potenzial für basisdemokratisch erneuerte gewerkschaftliche Vertrauenskörper, doch es überwog die Unzufriedenheit mit dem TV (siehe: „Lehren aus dem Charité-Streik“, NEUE INTERNATIONALE 219, Mai 2017).

Er wurde gekündigt und Ende September 2017 trat die Charité in einen erneuten Streik. Fast gleichzeitig bremste ver.di die streikwilligen KollegInnen bei den kommunalen Berliner Vivantes-Kliniken aus. Nach der 1. Streikwoche der Charité wurde dort nur in einigen Häusern ein bis zwei Tage warngestreikt. Dann wurde im Oktober die 2. Streikwoche an der Charité ausgesetzt auf eine „Verhandlungsverpflichtung“ der Arbeit„geber“Innen zur Erarbeitung von Schritten zwecks besserer Umsetzung des TV bis Ende Dezember hin. Die „TarifberaterInnen“ fungierten hierbei als bessere Ausführungsorgane der Gewerkschaftsbürokratie, statt als deren Opposition aufzutreten.

Schlingerkurs

Am 27. März 2017 kam es im Saarland vor dem Saarbrücker Landtag zu einem eintägigen Warnstreik mit 600 Angestellten aus 12 Betrieben. Am 25. Januar 2018 streikten Beschäftigte der 4 baden-württembergischen Universitätskliniken. Die Urabstimmung an den Amper-Kliniken (Helios-Konzern) in Dachau und Markt Indersdorf erbrachte ein über 90 %-iges Votum für Streik, doch die ver.di-Tarifkommission setzte den Streik unter Protest zahlreicher Beschäftigter und der Unabhängigen Betriebsgruppe einfach aus, nachdem die Geschäftsführung erklärt hatte, dem TVöD beitreten zu wollen, der gar keine Entlastungsregelungen enthält. Der Kommunale Arbeit„geber“verband (KAV) weigert sich zudem, auch nur Verhandlungen über einen Entlastungs-TV aufzunehmen. Außer mit der Charité kann ver.di bis jetzt nur auf einen solchen Abschluss mit den privaten Unikrankenhäusern in Gießen und Marburg nach 3 Streiktagen verweisen. Einer onkologische Station der saarländischen Uniklinik in Homburg sind zudem 21 zusätzliche Pflegevollkräfte bewilligt worden.

Außer (Warn-)Streiks gab es seitens der DGB-Gewerkschaft ver.di nur Ankündigungen. Ausgewählte Krankenhäuser in privater und öffentlicher Trägerschaft in 7 Bundesländern wurden zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) aufgefordert. In weiteren 100 Betrieben soll der Druck erhöht werden: Dienst nach Vorschrift wie Verweigerung des Einspringens aus dem freien Wochenende und an freien Tagen (St. Ingbert); Protest vor dem Aufsichtsrat der „Gesundheit Nord“ (Bremen); Straßentheater (Rostock); Transparent am Deutschen Eck (Koblenz); Erheischen von Aufmerksamkeit am Tag der Pflege (Stuttgart) und vor dem Haupteingang in der Mittagspause (Kircheimbolanden); Aktionstage zur Händedesinfektion am 12. und zur Einhaltung der Pausen am 19. September 2017 (Brandenburg, Essen; darunter auch abgebrochene Aktionen „wegen angespannter Personalsituation“ in Baden-Württemberg, im Saarland und in Köln); Proteste in der Altenhilfe und Psychiatrie; Konferenz mit 150 Beschäftigten aus 50 nordrhein-westfälischen Kliniken am 29. April 2017 in Oberhausen. Diese forderte ein Sofortprogramm für die Einstellung von 20.000 Pflegekräften, damit niemand mehr allein auf Station arbeiten muss (Nachtdienste).

Lobbypolitik und Volksentscheid – kein Ersatz für Klassenkampf!

Letzteres ist aber doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein und zudem nicht mit guten Worten durchzusetzen, sondern nur mit flächendeckenden Vollstreiks für einen TVE, der 162.000 Stellen, davon 70.000 allein in der Pflege schaffen muss (Zahlen laut ver.di). Die ver.di-Bürokratie droht aber bereits einzuknicken vor den Versprechen der geschäftsführenden Bundesregierung und der laufenden Koalitionsverhandlungen. Erstere verspricht Personaluntergrenzen in „pflegesensitiven“ Bereichen. Viele Gewerkschaftsmitglieder fürchten bereits zu Recht einen Verschiebebahnhof, auf dem keine einzige zusätzliche Stelle geschaffen wird, sondern diese aus der Normalpflege abgezogen werden. Aus den Gesprächen für eine neue Große Koalition sickerte zudem durch, dass die zukünftige Bundesregierung 8000 zusätzliche Pflegearbeitsplätze „schaffen“ will – bundesweit! Dies ist mal gerade ein Zehntel der in der Pflege und weniger als ein Zwanzigstel der insgesamt benötigten Jobs in Akutkrankenhäusern!

Gegen eine gesetzliche Personalregelung haben wir natürlich keine Einwände. Doch über Unterschriftensammlungen für eine Pflegebemessungspetition an den Bundesrat (Ende 2015) und Vertrauen in die saarländische CDU-Gesundheitsministerin Monika Bachmann, die auf einer großen Krankenhausdemonstration am 8. März 2017 in Saarbrücken versprach, sich für eine solche im Bundesrat einzusetzen kommen die ver.di-FunktionärInnen nicht hinaus. Diese Initiative endete kläglich in der Beauftragung eines Gutachters, der bis zum Spätherbst 2017 brauchte auszurechnen, dass die Fallzahl um 2,7 % und in der Geriatrie um 13,8 % steigen werde. Personalempfehlungen gab der gute Mann indes nicht ab!

Die jüngste Initiative des „Berliner Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus“ sammelt Unterschriften für einen berlinweiten „Volksentscheid für Gesunde Krankenhäuser“. Bis es dazu kommt, braucht sie in der 1. Stufe des Volksbegehrens 20.000 Unterschriften, in der 2. 170.000 und in der 3. im eigentlichen Volksentscheid ein Beteiligungsquorum von 25 % aller Wahlberechtigten und eine Mehrheit. Als 2. Möglichkeit steht der Weg über eine Volksinitiative offen.

Das Bündnis will Mindestpersonalzahlen sowie eine Mindestinvestitionsquote erreichen; die Investitionen sollen vom Land Berlin übernommen werden. Alles in allem wird mit jährlichen Kosten von 385 Millionen Euro gerechnet.

Wir würden einem solchen Begehren zwar nicht unsere Unterschrift verweigern und im Falle eines Volksentscheids für dessen Anliegen stimmen, doch bezweifeln wir seine politische Wirksamkeit. Was soll geschehen, falls es nicht zustande kommt? Selbst bei positivem Ausgang ist aber auch das Ergebnis nicht zwingend vom Senat umzusetzen. Das Initiativbündnis hat schon eine entsprechende Bundesratsinitiative vorbereitet. Das Ergebnis dürfte wie 2015 und 2017 ausfallen. Statt allein auf die Mittel der bürgerlichen Demokratie (Volksbegehren, Länderparlament) zu bauen, sich im „alternativen“ Lobbyismus zu verfransen, hätte das Solidaritätsbündnis für mehr Personal im Krankenhaus im Charité-Streik dem Ausverkauf der ver.di-Spitze eine klassenkämpferische Alternative entgegensetzen und den Streikenden eine antibürokratische Kampfperspektive bieten sollen! So würden wir die Kampagne für den Volksentscheid damit verbinden, ver.di nicht vom Haken zu lassen, und unsere Perspektive Vollstreik einbringen sowie uns am Aufbau von Solidaritätskomitees beteiligen.

Statt des Lobbyismus der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer „linken“ BegleitmusikantInnen brauchen wir einen politischen Streik für ein Gesundheitsgesetz unter Einbezug aller Gewerkschaften für:

– Abschaffung der Fallpauschalen (DRG)!

– 162.000 neue Stellen!

– Ausreichende staatliche Bau- und Investitionsfinanzierung!

Das ist die notwendige Entlastung für Beschäftigte und PatientInnen gleichermaßen!