Bundestagswahl 2021 – Nach der Wahl ist vor dem Kampf

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Die Spannung eines Thrillers konnte der deutsche Wahlkampf sicherlich nicht mit sich bringen, insbesondere, wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der Stimmenauszählung in den USA in Erinnerung ruft. Dennoch, hätte man vor 6 Monaten gesagt, dass die SPD mit dem eher unscheinbaren Olaf Scholz das Rennen macht, so hätten viele gelacht. Und viele, sicherlich nicht nur AnhängerInnen der Union, fragen sich: Wie konnte das passieren? Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern und gleichzeitig betrachten, was die Wahlergebnisse für die Arbeiter:innenklasse bedeuten.

Weltlage und 16 Jahre Merkel

Die aktuelle Wahl lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Denn in den 16 Jahren, in denen Angela Merkel das Land regiert hat, hat sich viel verändert. Wenn die bürgerlichen Medien ihre Regierungszeit Revue passieren lassen, dann fällt vor allem ein Wort häufig: Stabilität. Das kommt nicht von ungefähr. Nach der Finanzkrise 07/08 und der darauf folgenden tiefen Rezession konnte sich der deutsche Imperialismus relativ schnell erholen.

Verglichen mit anderen Ländern ging es schnell bergauf dank der Konkurrenzfähigkeit des Exportkapitals und Vorarbeit durch die Agenda 2010. In der EU wurde an Griechenland ein Exempel statuiert, das zum sozialen Ausbluten der griechischen Bevölkerung führte. Merkel wurde so verdientermaßen zum Hassobjekt in Südeuropa. Im Inneren setzte sie auf SozialpartnerInnenschaft und gemeinsame Regulierung der Krise mit den Gewerkschaften, um die Exportindustrie rasch wieder flottzubekommen. So konnte sie als erfolgreiche Krisenmanagerin und sich Kümmernde auftreten. International war es zu diesem Zeitpunkt noch möglich, auf Gipfeln wie dem G7 die Kosten der Krise gemeinsam zu verwalten.

Die Folgen der Krise machten sich in Deutschland erst später bemerkbar. In jedem Fall stärkte die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Griechenland das deutsche Kapital – und die zentrifugalen Tendenzen in der EU. Doch die EU- und noch viel mehr die sog. Flüchtlingskrise verschärften auch die Gegensätze im bürgerlichen Lager. Mit dem Rechtsruck kam der Aufstieg der rassistischen AfD, der auch den Grad der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers markierte. Die ach so stabile Große Koalition unter Merkel fing an zu kriseln.

Verschärft wurde die Situation mit der Präsidentschaft Trumps und der Wende zum Unilateralismus einerseits und dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten und -wichtigsten imperialistischen Macht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfte sich. Die EU fiel aufgrund eigener Widersprüche, wie sie am deutlichsten im Brexit zum Ausdruck kamen, zurück. Sie scheint hilflos zwischen USA und China zu dümpeln. Die Coronapandemie warf sie noch weiter zurück und zeigte auf, wie weit sie davon entfernt ist, den USA und China auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

So ist die Richtung des deutschen Imperialismus in den letzten 16 Jahren immer unklarer geworden. Die deutsche Bourgeoisie (und die EU selbst) befinden sich in einer strategischen Krise, Hin und her gerissen zwischen der Frage einer transatlantischen oder stärker eigenständigen imperialistischen Ausrichtung, zwischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen zur Neuaufstellung des deutschen und europäischen Kapitals einerseits und zwischen Neoliberalismus und Austeritätspolitik andererseits.

Merkels Lavieren zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ist mit Zunahme der Krise und des Rechtsrucks, vor allem aber auch dem Aufstieg Chinas und der Neuausrichtung der USA nicht nur schwieriger, sondern vor allem immer aussichtsloser geworden.

Die Aufgabe einer neuen Regierung wäre vom Standpunkt des deutschen Gesamtkapitals, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Vormachtstellung innerhalb der EU erhalten bleibt und kein weiterer Mitgliedsstaat aus der Reihe tanzt. Es geht auch darum, die EU selbst zu einem Block zu formieren, der im Kampf um die Neuordnung der Welt mitspielen kann. Dazu bedarf es aber eines Plans und einer Strategie, wie man mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem verbündeten Rivalen USA umgehen möchte. Und es braucht auch eine Lösung der Führungsfrage, also der strategischen Ausrichtung innerhalb Deutschlands und der EU. Über eine solche verfügt die herrschende Klasse nicht – und wird ohne innere Friktionen und Kämpfe auch in der nächsten Periode, egal ob unter einer Ampel oder Jamaika nur schwer herzustellen sein. Umgekehrt wird jede Regierung von der herrschenden Klasse genau daran gemessen werden.

Zersplitterung des bürgerlichen Lagers

Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers und die Krise der CDU/CSU sind Ausdruck dieser strategischen Paralyse und Unklarheit, die von Merkel noch notdürftig überdeckt wurde.

Anfangs dachte man innerhalb der Union noch, dass selbst Laschets Schlaftablettenauftritte gegen Scholz Bestand hätten, nachdem man bei den Grünen Baerbock das Fell über die Ohren gezogen hatte. Das allein hilft aber nicht. Ein Ministerpräsident, der nicht den Eindruck erwecken kann, dass er sich in seinem eigenen Bundesland gut um eine Flutkatastrophe kümmert, ist als Kanzlerkandidat wenig vertrauenerweckend. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie konnte er wenig glänzen. Als Befürworter der schnellen Öffnungen schoss er in der Ministerpräsidentensitzung gegen die eigene Regierung, wurde aber in seiner Autorität und Weisheit von der 2. Welle überrollt.

Hinzu kommt, dass er die inneren Probleme der Union nach außen hin nicht ausgleichen konnte. Schließlich ist er nicht allein für das historisch schlechteste Ergebnis der Union von 24,1 %  verantwortlich. Der Streit innerhalb der Union fing schon früher an.

Merkel selbst wurde zum frühen Rückzug vom Parteivorsitz gezwungen, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer demontiert. Damit war der Diadochenkampf eröffnet. Merz, Laschet und Spahn kandidierten für den Parteivorsitz – und der Kandidat des Establishments, Laschet, gewann knapp. Doch damit war die Unzufriedenheit, die sich zusammengebraut hatte, nicht beseitigt. Auch nicht, als sich Laschet gegen Söder in der Kanzlerfrage durchsetzte.

Je länger der Wahlkampf dauerte, desto deutlicher wurde: Laschet hätte es lassen sollen. Weder Bevölkerung noch eigene Partei konnten vom Kandidaten überzeugt werden.

Wie so oft in der Geschichte wirkte eine Kette von zufälligen, nebensächlichen Pannen als Katalysator, um eine sich längst vorbereitende Krise offen hervortreten zu lassen, den Zersetzungsprozess der politischen Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie.

So kam es dazu, dass die SPD bei diesen Bundestagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen an der CDU vorbeizog und über 1,5 Millionen Stimmen von den Unionsparteien einsackte. Diese Wahlniederlage wird die Risse innerhalb der Union weiter vergrößern. Nachdem sich am Wahlabend noch große Teile des Parteiestablishments hinter Laschet gestellt hatten, werden die Rücktrittsforderungen, der Ruf nach Aufarbeitung der katastrophalen Niederlage und Neuausrichtung der Partei lauter. Je mehr sich diese Gegensätze zu regelrechten innerparteilichen Gräben vertiefen, desto schwerer wird es, dass CDU/CSU eine Regierung mit Grünen und FDP zustande kriegen, selbst wenn es nicht nur bei den Liberalen viele gibt, die für eine solche Koalition eintreten. Doch eine solche Regierung wäre wahrscheinlich so instabil wie die Unionsfraktion und Laschet traut wohl kaum jemand zu, die inneren Gegensätze wirklich überbrücken zu können. Umgekehrt wäre eine solche schwarz-grün-gelbe Regierung (Jamaika) nicht nur ein deutliches Signal für einen aggressiveren Kurs zur ökonomischen Neuformierung der EU unter deutscher Führung, sondern auch zu einem aggressiveren inneren, wenn es darum geht, die Kosten der Pandemie und der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.

FDP als eine Königsmacherin

Sonnig sieht’s hingegen bei den Liberalen aus. Die FDP hat mit 11,5  % eines ihrer historisch besten Ergebnisse eingefahren mit einem Imagewahlkampf, bei dem nur noch das Gesicht von Christian Lindner auf der Freiheitsstatue gefehlt hat. Profitieren konnte sie vom Schwächeln der Union und gewann rund 1.320.000 Stimmen von dieser, da sie während der Pandemie als „besonnene“ Vertretung der CoronskeptikerInnen und „FreiheitskämpferInnen“ aus dem Kleinunternehmertum auftreten konnte. Auch unter NichtwählerInnen mobilisierte sie 400.000 Stimmen und unter den ErstwählerInnen wurde sie mit 400.000 Stimmen zweitstärkste Kraft. Die Hochburg der Zweitstimmen stellt dabei Baden-Württemberg dar.

Dass sich die FDP, die 2017 gerade mal so den Sprung in den Bundestag schaffte, erneut aufgerappelt hat, stellt eine Kehrseite der Krise der Unionsparteien dar. Die FPD erscheint nicht nur der jungen Generation als glaubwürdigere Vertreterin des freien Marktes und individueller bürgerlicher Freiheit. Für die Regierungsbildung wird sie gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen als Blockade aller weitergehenden sozialen Forderungen und jeder Umverteilung und auf weitere Deregulierung und Angriffe auf die Lohnabhängigen drängen.

Die Grünen und das Klima

Es hätte so gut werden können für die Grünen. Obwohl sie ihr historisches bestes Ergebnis einfuhren, erscheinen sie fast wie kleine VerliererInnen. Während sie sich Anfang des Jahres im Höhenflug bei 30 % befanden, landeten sie schließlich bei 14,8 %. Sicherlich, dass Annalena neben Armin und Olaf so schlecht weggekommen ist, hat viel mit Sexismus zu tun. Als entscheidende Erklärung für den Sturzflug ist das jedoch zu kurz gegriffen.

Der wohl wichtigste Grund, warum die Grünen „nur“ drittstärkste Partei wurden, liegt darin, dass sich von ihrem Programm wichtige Teile der Bevölkerung nicht ansprechen lassen. Das zeigten auch die vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Erhöhung des Benzinpreises oder eine CO2-Steuer für Individuen werden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht dadurch ausgeglichen, dass es fürs trendige Lastenrad einen Zuschuss geben soll.

Die Abwälzung der Kosten der Klimakrise auf die Einzelnen macht die Grünen für einen Teil der Bevölkerung nicht besonders attraktiv. Es ist daher kein Wunder, dass sie vor allem bei einkommensstärkeren Lohnabhängigen und Mittelschichten punkten konnten. Trotzdem: Rund 460.000 NeuwählerInnen, 510.000 NichtwählerInnen konnten mobilisiert werden, insgesamt rund eine Millionen Menschen wechselten von CDU und SPD zu den Grünen. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch sie einen Teil des Kapitals (nicht nur aus dem Ökobereich) zu ihren UnterstützerInnen zählen können.

So werden die Grünen – wie die FDP – bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle als KönigsmacherInnen spielen. Während die Liberalen grundsätzlich eine unionsgeführte Koalition vorziehen, sind die Grünen in dieser Frage gespalten, ja neigen eher der SPD zu, die ebenfalls für einen Green Deal in Europa und Deutschland eintritt. Der FDP würde dabei die Rolle zufallen, dafür zu sorgen, dass er die Bourgeoisie und sog. LeistungsträgerInnen nichts kostet.

Der rechte Rand

Bevor wir zum Wahlsieger SPD und zur Linkspartei kommen, noch kurz zum rechten Rand des bürgerlichen Spektrums. Zum zweiten Mal zieht die AfD in den Bundestag ein. Zwar hat diese an Stimmen verloren, sich insgesamt aber konsolidieren können. Die meisten Stimmenverluste machten die NichtwählerInnen aus (rund 810.000) aus. Dies war sicherlich innerparteilichen Streitigkeiten geschuldet. Die weiteren größeren Verluste an SPD (260.000) und FDP (210.000) dürften wohl darauf zurückzuführen sein, dass diesen WählerInnen die Regierungsfrage wichtiger war als die „Treue“ zum Rechtspopulismus.

Dennoch: Die knappen 10,3 % für die RechtspopulistInnen zeugen wohl kaum vom von den Konservativen beschworenen Linksruck. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass gerade die abgehängten Schichten der ArbeiterInnenklasse keine wirkliche Alternative geboten bekommen. Von den Protesten der CoronaleugnerInnen konnte sie jedoch kaum profitieren. Der Verlust der Linkspartei an die AfD ist zwar geringer ausgefallen als bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, mit 110.000 Stimmen aber auch nicht unerheblich. So ist es auch nicht wenig überraschend, dass die Hochburg der Partei weiterhin im Osten liegt. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sie nach der SPD in fast allen Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft und in Thüringen konnte sie gleich mehrere Direktmandate gewinnen, in Sachsen fast alle.

Anders als 2017 stimmten die meisten AfD-WählerInnen wegen ihres Programms, also aus Überzeugung für diese Partei – wegen ihres völkischen Rassismus, nicht trotz dessen. Dies bedeutet, dass sich eine radikale, reaktionäre kleinbürgerliche Kraft konsolidiert, die bei einer Zuspitzung der Klassenkämpfe und einem Auseinanderfallen der EU als Reserve für das deutsche Kapital und auch Regierungsbildungen zur Verfügung steht.

Totgeglaubte leben länger – die SPD

Wie oben bereits geschrieben: Kaum eine/r hätte vor einem Jahr geglaubt, dass die SPD über die 20 %-Marke kommt, noch weniger, dass jemand mit dem Charisma eines Olaf Scholz den Karren aus der drohenden Bedeutungslosigkeit ziehen kann. Das Image war ja schließlich schon mehr als ramponiert.

Über 100 Jahre Klassenverrat fallen bei dem aktuellen Bewusstseinsstand leider nicht so ins Gewicht, wie man es sich wünschen würde. Vielmehr sind es die Streitigkeiten von Esken & Co. sowie die Zugeständnisse innerhalb der Großen Koalition gewesen, die der SPD lange zu schaffen machten. Im Wahlkampf selber wurde sich lange nur auf Laschet und Baerbock konzentriert. Es wirkte fast, als ob es den SPD-Kandidaten nicht gäbe. Aber wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte und auch deshalb konnte Olaf an den beiden vorbeiziehen. Brechmittelskandal, Verstrickungen in die Wirecard-Affäre und der Prügeleinsatz zu G20 in Hamburg: alles perlte an ihm ab.

Aber warum? Während Baerbock sich auf die Klimakatastrophe fokussierte und Laschet in jedes Fettnäpfchen trat, das er finden konnte, hat Scholz es geschafft, am ehesten was von jener Stabilität zu verkörpern, die man Merkel zugesprochen hatte. Entscheidend ist aber, dass sich der SPD-Kandidat bei den Lohnabhängigen glaubwürdiger als seine Konkurrenz als Kandidat des sozialen Ausgleichs präsentieren konnte.

Rund 44 % der SPD-WählerInnen gaben an, dass soziale Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle bei ihrer Entscheidung spielte. Ebenso konnte die SPD den mit Abstand größten Zuspruch bei  GewerkschafterInnen verzeichnen, lt. Erhebungen des DGB 33,1 %, also fast 8 % mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Sicherung der Arbeitsplätze, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, eine sichere Rente und eine stärkere Besteuerung der Reichen waren Versprechungen, die sich im Zuge der Pandemie gut anhören. Dass Scholz dabei glaubwürdiger wirkte als seine Konkurrenz, spiegelt letztlich auch das historische Erbe der Sozialdemokratie, ihre organische Verankerung in der ArbeiterInnenklasse als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wider. Sicherlich versprechen sich die meisten WählerInnen keine Großtaten von der SPD, wohl aber, dass eine von Scholz geführte Regierung mehr Schutz vor den kommenden Umstrukturierungen, mehr soziale Abfederung beim ökologischen Wandel bringt als ein von Laschet geführtes Kabinett.

Sollte die SPD die nächste Regierung anführen, werden selbst diese Hoffnungen extrem auf die Probe gestellt werden. Allein die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um gerade 3,- Euro unter der Großen Koalition zeigt, wie wenig der Sozialdemokratie die Ärmsten der Armen im Zweifelsfall bedeuten. In jedem Fall ist aber klar, dass die ohnedies schon wackelige Bindung zwischen SPD und organisierten Lohnabhängigen in der kommenden Periode weiter auf den Prüfstand geraten wird – und dies müssen wir vorantreiben.

Schlaftablette Linkspartei

4,9 %! Es tut fast weh, das Ergebnis laut vorzulesen. Durch die 3 Direktmandate kann sich die Linkspartei gerade noch 39 Plätze im Parlament sichern. Dennoch ist es mehr als bedrückend, es ist desaströs. Zwar hat DIE LINKE an sich das beste Klimaprogramm, verglichen mit den anderen Parteien, doch hat sie im gesamten Wahlkampf Chancen verpasst und war kaum sichtbar. Dies hat mehrere Gründe. Der andauernde Richtungsstreit lähmt sie, der unklare Ausgang in der Debatte um Sarha Wagenknecht führt dazu, dass weder deren Fans noch die antirassistischen AktivistInnen zufriedengestellt werden konnten. Dieses Vakuum der Nicht-Entscheidung welchen Kurs man einschlagen will, rächt sich. Auch in der Frage der Regierungsbeteiligung. Durch das Sofortprogramm, was nach Mitregieren lechzte, hat die Linkspartei sich selber geschadet. Denn weder seitens der SPD und schon gar nicht von den Grünen wurden sie als ernsthafte Koalitionspartnerin beachtet. So wurde also auf das rot-rot-grüne Gespenst gesetzt und vor lauter Kuschelkurs vergessen, sich abzugrenzen. Das sieht man auch an den Zahlen: Die größte WählerInnenwanderschaft gab es zur SPD mit 640.000 Stimmen, es folgen die Grünen mit 480.000. Mehr als 1 Millionen Stimmen sind also verloren gegangen, weil WählerInnen geglaubt haben, der Unterschied zur SPD sei nicht zu groß, und um Laschet zu verhindern, müsse man jetzt eben bei Scholz den Haken machen. Das macht deutlich: Gerade, was die soziale Gerechtigkeit angeht, dem eigentlichen Kernthema der Linkspartei, machen WählerInnen taktisch Zugeständnisse. Ein indirektes Zeugnis, dass es der Partei an Überzeugung und Abgrenzung mangelt.

Das ist aber auch nachvollziehbar. Wo ist DIE LINKE gewesen, die als Partei sich gegen den Pflegenotstand während der Pandemie einsetzte? Während andere nur wohlwollend klatschen, hätte es betriebliche Aktionen und Demonstrationen gebraucht, die sich für eine Aufstockung im Pflegebereich einsetzen. Auch hätte die Linkspartei gegenüber den Gewerkschaften klare Worte verlieren müssen: Ein flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege und im Handel muss her, gerade in Zeiten der Krise. Und wo ist DIE LINKE, die Streitgespräche mit den Grünen sucht? Der kostenlose öffentliche Nahverkehr oder der bundesweite Mietendeckel sind gute Forderungen. Allerdings gehören die nicht nur auf Plakate gedruckt, sondern müssen mit Nachdruck auch auf die Straße getragen werden.

Aber nicht nur das. Anstatt sich mit Wagenknechts billigen Polemiken zu beschäftigen, hätte gezeigt werden müssen: Wir verstehen uns als KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse. Und die ist nun mal multiethnisch und voller „skurriler Minderheiten“. Der Kampf für einen höheren Mindestlohn, Mindestrente oder bezahlbaren Wohnraum schließt Klimaschutz, LGBTIAQ-Rechte und Antirassismus nicht aus, sondern ein. Kernproblematik ist aber das Verständnis von Bewegungen, und wie diese entstehen. Selber versteht sich DIE LINKE als Bewegungspartei. Statt aber Bewegung zu initiieren, trabt sie einfach nur dem Geschehen hinterher. Und genau das fällt ihr auf die Füße und führt dazu, dass sich keine neue StammwählerInnenschaft herausbildet, während sich unterschiedliche Generationen von AktivistInnen innerhalb der Partei um die Richtung streiten. Einen Haken hat das Ganze jedoch: Würde man tatsächlich Kämpfe führen, Streiks und Solidaritätsdemos organisieren, führt das natürlich dazu, dass der Druck größer wird und Kräfte wie die Grünen oder die SPD sich distanzieren. Die Chance mitzuregieren würde in die Ferne rücken. Dafür würde aber deutlich werden, dass die Linkspartei eine Kraft wäre, die für ihre Forderungen tatsächlich kämpft. Solange sich die Partei jedoch der vorgeblich besseren Verwaltung des Kapitalismus verschreibt, wird sie diesen Widerspruch nicht überwinden können, wird sie immer wieder beim Nachtrab hinter SPD und Grünen landen.

Was kommt auf uns zu?

Auch wenn eine Vielzahl an Regierungskoalitionen denkbar ist, so zeichnen sich im Moment nur zwei Optionen ab: die Ampel (SPD/FDP/Grüne) und Jamaika (Union/Grüne/FDP). Entscheidend dafür, welche Regierung es werden wird, sind unmittelbar zwei Faktoren:

a) ob die Unionsparteien ihre inneren Konflikte im Zaum halten können;

b) die Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP.

In jedem Fall stehen für eine zukünftige Regierung mehrere Baustellen an, um den deutschen Kapitalismus in der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Angesichts der notwendigen Einbindung der FDP in jede Regierung und aufgrund des Drucks des Kapitals können wir davon ausgehen, dass folgende Politik zu erwarten ist:

  • Festhalten an der Schuldenbremse und Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt.
  • Das bedeutet weitere Einsparungen im öffentlichen Dienst, einschließlich weiterer Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Reformen, mögen diese auch mit einem grünen oder sozialen Sahnehäubchen verkauft werden. Die Krise im Erziehungs- und Bildungswesen, im Gesundheitssektor wird prolongiert, im Bereich der sozialen Vorsorge und insbesondere der Renten werden neue Kürzungen als Reformen verkauft werden.
  • Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Krise auf dem Wohnungsmarkt werden allenfalls mit einigen kosmetischen Reformen angegangen, im Grunde bleibt die Misere erhalten.
  • Abwälzung der Kosten für die Infrastrukturprojekte, ökologische Wende, Digitalisierung auf die Masse der Lohnabhängigen.
  • Inflation und Preissteigerungen verringern die Kaufkraft der Massen.
  • Entlassungen, Kürzungen, Schließungen im Zuge des industriellen Umbaus, die allenfalls mit SozialpartnerInnenschaft und Sozialplänen begleitet werden.
  • Erneuter Versuch, die Krise der Europäischen Union zu überwinden. Der Green Deal der EU-Kommission wird zur gemeinsamen Formel, hinter der sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen verbergen.
  • Abschottung der EU gegen Geflüchtete; Schwerpunkt auf Nahost und Afrika als Interessensphären der EU-Mächte außerhalb ihres eigenen Gebietes.
  • Aggressivere EU-Außen- und -Militärpolitik (Stichwort: Verantwortung übernehmen).
  • Massives Aufstocken des Rüstungsetats und Aufrüstung der Bundeswehr sowie Schritte in Richtung einer EU-Eingreiftruppe (um von den USA unabhängiger agieren zu können).

Wie schnell diese Angriffe erfolgen, hängt natürlich von der Regierungsbildung wie auch der konjunkturellen Entwicklung ab. Sicher ist aber: Sie werden kommen. Die UnternehmerInnenverbände drängen schon jetzt auf eine rasche Regierungsbildung, weil all diese Projekte vorangebracht werden sollen.

Eine Jamaika-Koalition wäre für dieses Vorhaben natürlich ein Traum. Andererseits hat eine SPD-geführte Regierung den Vorteil, dass sie besser die Gewerkschaften sozialpartnerschaftlich einbinden kann.

Was müssen RevolutionärInnen tun?

Wahlen sind bekanntlich auch immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers setzt sich weiter fort und damit auch die Probleme des deutschen Imperialismus auf Weltebene. Zu klein, um wirklich mitzumischen, zu groß, um gar keine Ansprüche geltend machen zu wollen, muss es weiter irgendwie versuchen, die Krise der EU zu lösen oder nach einer alternativen Ausrichtung suchen.

Der Rechtsruck, den es 2016 gegeben hat, ist verfestigt. Nichtsdestotrotz  bleibt der Reformismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse weiterhin präsent, vor allem in Form der SPD, aber auch einer geschwächten Linkspartei. Welchen Einfluss das auf die Gewerkschaften hat – also ob man im Sinne der guten Sozialpartnerschaft sowie Standortborniertheit schön weiter alles mitverwaltet oder versucht, tatsächlich dagegen zu kämpfen, das hängt zum einen an der Frage der Regierungsbeteiligung der SPD. Zum anderen stellt sich aber auch die, ob es gelingt, eine klassenkämpferische Bewegung in den Gewerkschaften aufzubauen, deren Ziel es ist, statt selber in der Bürokratie zu vermodern, diese durch Wähl- und Abwählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht zu  ersetzen und zu kämpfen. Die laufenden Arbeitskämpfe und kommende Tarifrunden können dazu einen wichtigen Ansatz bieten.

Ebenso braucht es eine Aktionskonferenz aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse und linker Kräfte, um sich für die kommenden Angriffe zu wappnen. Denn klar ist, dass versucht wird, die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Das Wahlergebnis der Linkspartei zeigt jedoch, dass man nicht nur auf Angriffe warten darf, sondern sich selber in die Offensive bringen muss. Der Berliner Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist der beste Beweis dafür. Statt zu verharren und zu warten, wer an die Regierung tritt, müssen wir uns organisieren und diskutieren, wie man diese Initiative bundesweit ausweiten kann. Ebenso wichtig ist die Frage, wer die politische Führung in den Gewerkschaften innehat, insbesondere wenn es darum geht, kommende Arbeitskämpfe zu führen. Statt darauf zu hoffen, dass andere gegen Klimawandel oder soziale Angriffe, gegen Rassismus und Militarismus kämpfen, müssen wir das selber in die Hand nehmen!




Die Wahlen und die politische Krise der Bourgeoisie

Martin Suchanek, Infomail 1163, 20. September 2021

Gut eine Woche vor den Bundestagswahlen wurden die letzten Umfragen von ARD und ZDF veröffentlicht. Im Deutschlandtrend vom 16. September liegt die SPD mit 26 Prozentpunkten vor CDU/CSU (22 %) und den Grünen (15 %). AfD und FPD würden auf je 11 % kommen und DIE LINKE mit 6 % zwar sicher, aber abgeschlagen in den Bundestag einziehen.

In den letzten Wochen prägt ein eigentümlicher Gegensatz den Wahlkampf. Einerseits könnte er mit einem überraschenden Sieg einer politischen Untoten enden, einer SPD, die über Jahre in den Umfragen um die 15 % dümpelte. Nicht nur die Frage, wer die Regierung führt, sondern auch welche Koalition gebildet wird, ist offen wie nie nach 16 Jahren Merkel-Regierungen.

Zugleich bleibt der Wahlkampf selbst extrem inhaltsleer, wie nicht nur ein Blick auf die Wahlplakate zeigt. So verspricht Scholz „Kompetenz für Deutschland“ und „Respekt für Dich“. Die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Baerbock preisen „unser Land“ an. Es „kann viel, wenn man es lässt“. Die CDU/CSU verspricht „Sicherheit“ in unsicheren Zeiten. Und die FDP erklärt nur: „Es gab noch nie so viel zu tun.“

Von einem Lagerwahlkampf ist nichts zu spüren, es gibt auch keinen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wahrscheinlich drei der vier oben genannten Parteien, also SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP nach den Wahlen in eine Koalitionsregierung eintreten werden. Auch wenn von SPD und Grünen mit der Linkspartei rechnerisch eine Koalition im Bereich des Möglichen liegt, so ist sie trotz hartnäckiger Bemühungen der Linkspartei-Spitze nach den Wahlen sehr unwahrscheinlich. Sowohl SPD wie auch Grüne streben bei einem Wahlsieg von Scholz eine Koalition mit der FDP an, um so dem deutschen Kapital Verlässlichkeit und Stabilität zu signalisieren. Sollten die Unionsparteien das Ergebnis doch noch drehen können und zur größten Fraktion im Bundestag werden, läuft es wahrscheinlich auf eine Regierung mit der FPD und Grünen oder SPD hinaus.

Theoretisch wäre auch der Eintritt der CDU/CSU in ein SPD-geführtes Kabinett möglich, doch das würde mit ziemlicher Sicherheit die tiefe Krise der Unionsparteien noch weiter verschärfen und ist daher nicht zu erwarten.

Warum drehten sich die Umfragen?

Bemerkenswert an diesem Wahlkampf ist zweifellos, dass sich die Umfragen seit Anfang 2021 mehrmals drehten. Eine Zeit lang schien es so, als würden die Wahlen auf ein Duell von CDU/CSU und Grünen hinauslaufen und diese schließlich eine Regierung bilden. Dann fielen aber die Grünen zurück und die Unionsparteien sahen wie die sicheren Siegerinnen aus. Offen war nur, ob Söder oder Laschet Merkel-Nachfolger werden würde.

Mit Olaf Scholz schicke die SPD einen Großkoalitionär vom rechten Parteiflügel ins Rennen, der wie die sichere Fortsetzung ihrer Dauerkrise und ihres langsamen Absterbens wirkte. Wohlmeinende bezeichnen seine Rhetorik als unaufgeregt. Andere schlafen bei seinen Ansprachen einfach ein und sparen so wenigstens am Schlafmittel.

Lange Zeit schien er, sicherer Dritter im Rennen um die KanzlerInnenschaft zu werden, wirkte eigentlich wie ein Pseudokandidat, dessen Partei obendrein das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfahren würde. Doch im Gegensatz zur SPD leisteten sich ihre Konkurrentinnen einen offenen Kampf um die Frage des/der SpitzenkandidatIn. Während CDU und CSU dabei mehr oder weniger offen Laschet beschädigten, geriet die grüne Spitzenkandidatin Baerbock sehr früh ins Sperrfeuer einer Gegenkampagne von Teilen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Medien.

All dies trug sicher dazu bei, dass sich die Umfragen drehten. Die SPD profitierte im Wesentlichen von den Schwächen der anderen, so dass sie nun reale Chancen hat, am 26. September zur stärksten Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Die Grünen sind mittlerweile faktisch aus diesem Rennen ausgeschieden, so dass sich die Wahl als Zweikampf zwischen Scholz und Laschet zuspitzt.

Zweifellos kommt dem SPD-Mann dabei zugute, dass ihn selbst Teile der CDU-WählerInnen und der herrschenden Klasse für den besseren oder wenigstens vorzeigbareren Kanzler halten. Es wäre freilich viel zu kurz gegriffen, die Frage auf letztlich zweitrangige, personelle Faktoren zu reduzieren.

Politisch-strategische Krise

Die raschen Veränderungen in den Umfragen, drücken vielmehr eine wachsende politische Instabilität und Krise im bürgerlichen Lager aus. Dies reflektiert zwar auch eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, vor allem aber eine politisch-strategische Krise der Parteien, die über Jahrzehnte die Regierungen in der Bundesrepublik stellten und die Stützen des etablierten bürgerlich-parlamentarischen Systems bildeten.

Entscheidend und vorrangig zu nennen ist hier die Krise der CDU/CSU. Selbst wenn Laschet noch vor Scholz landen, die Unionsfraktion zur stärksten im Bundestag werden und die nächste Regierung anführen sollte, wäre ihr Ergebnis katastrophal. Schon 2017 erreichte sie mit 32,9 % das zweitschlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik (nur 1949 war es ärger), als CDU/CSU gegenüber 2012 8,6 % verloren. Dieses Mal könnten sich die Verluste in ähnlichen Dimensionen bewegen.

Dem Niedergang der Unionsparteien entspricht eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers, also all jener Parteien, die historisch nicht aus der ArbeiterInnenbewegung stammen. Den Aufstieg der Grünen, die wohl ihr bestes Ergebnis einfahren und sich als dritte politische Kraft festigen, ergänzen FDP und AfD, die beide mit Sicherheit über 10 % der Stimmen erhalten werden. Das verdeutlicht, dass CDU/CSU ihre historische Rolle als Hauptpartei(enbündnis) des BürgerInnentums immer weniger zu erfüllen vermögen. Über Jahrzehnte vermochten die Unionsparteien, verschiedene kleinere offen bürgerliche Kräfte, die in der Weimer Republik miteinander konkurrierten, in einer Partei zu integrieren und so für Einheit im bürgerlichen Lager zu sorgen. Partikularinteressen von kleinbürgerlichen Schichten, Teilen der ArbeiterInnenschaft, unterschiedliche Kapitalfraktionen konnten im Interesse des Gesamtkapitals zu einem Ganzen verbunden werden.

Konfliktlinien

Das gelingt immer weniger. Das liegt insbesondere daran, dass die CDU/CSU-Allianz immer weniger eine Politik zu formulieren vermag, die die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als einigermaßen konsistente Strategie artikuliert. Vielmehr sind die Unionsparteien von einer Reihe politischer Gegensätze durchzogen. So schwankt ihre ganze Politik z. B. zwischen Green Deal mit staatlichen Investitionsprogrammen einerseits und einem neoliberalen, „rein“ marktwirtschaftlichen Kurs. Der Green Deal hat dabei natürlich wenig bis gar nichts mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun, sondern stellt bloß ein „ökologisches“ Programm zur Erneuerung der stofflichen Basis und Konkurrenzfähigkeit des industriellen Kapitals dar. Der andere Flügel setzt aber auf eine wesentlich neoliberale Politik, da so den Interessen der FinanzinvestorInnen am besten gedient sei und der Markt nebenbei auch die ökologischen Probleme lösen würde.

Beide Seiten repräsentieren unterschiedliche Fraktionen des Monopol- und Finanzkapitals und auch unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen. Ein Flügel setzt auf Korporatismus und SozialpartnerInnenschaft und damit eine gewisse Einbindung der ArbeiterInnenklasse über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte. Dem anderen (FDP, Merz-Flügel in der CDU) erscheint das als grundlegendes Problem.

Schließlich kommt hinzu, dass die verschiedenen politischen Kräfte über keine gemeinsame längerfristige und klare Strategie zur Lösung der EU-Krise sowie der des transatlantischen Verhältnisses verfügen, deren Konflikt unter Biden nicht verschwunden ist, sondern nur seine Form geändert hat. Da beide Fragen untrennbar mit der des Verhältnisses zu China und Russland verknüpft sind, ergibt sich eine weitere Baustelle außenpolitischer Strategie.

Klar ist nur: Es muss sich Entscheidendes ändern. Aber es gibt keine klare Strategie „des“ deutschen Kapitals, ja selbst die verschiedenen Lager durchdringen sich teilweise.

Während sich die unterschiedlichen Richtungen bürgerlicher Politik in der CDU/CSU auch parteiintern gegenüberstehen, herrschen bei Grünen und FDP jeweils bestimmte Richtungen vor, so dass diese Parteien über eine relativ große Einheitlichkeit verfügen.

In gewisser Weise gilt das auch für die SPD. Sie steht – ähnlich wie die Grünen – für den Green Deal. Aber sie vermag es eher und glaubwürdiger, dessen soziale Abfederung und die Rücksichtnahme auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, die bei einem massiven Umbau des Exportkapitals im Bereich der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchtet, zu verkaufen. Das erklärt auch, warum die Sozialdemokratie die Grünen in den Umfragen überholen konnte.

Allzu viele soziale Wohltaten sollte auch von Olaf Scholz und seiner SPD niemand erwarten. Mit gerade 3,- Euro/Monat bepreist die Sozialdemokratie die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ bei der jüngsten Hartz-IV-Erhöhung. So billig sollen die Ärmsten der Armen auch in Zukunft abgespeist werden.

Unter einer von Scholz oder Laschet geführten Bundesregierung sollen die sozialen und ökonomischen Kosten für die Corona-Programme, für die Staatsverschuldung, für die „Reform“ der EU, für die „ökologische Erneuerung“, für Rüstung, Militär und weitere Auslandseinsätze die Lohnabhängigen zahlen. Die Frage ist nur, ob die herrschende Klasse auch einen „Anteil“ tragen oder nach dem Modell von Union und FDP als „Leistungsträgerin“ ganz ungeschoren davonkommen soll. Dass die herrschende Klasse nicht allzu sehr zur Kasse gebeten wird, dafür werden sich in jeder neuen Koalition genug Kräfte finden und wird auch der unvermeidliche Druck des deutschen Kapitals sorgen. Die konjunkturelle Lage mag zwar einen gewissen Spielraum für einzelne Lohnerhöhungen und soziale Abfederung mit sich bringen, aber das ist nur das Zuckerbrot zur Peitsche drohender Massenentlassungen und Umstrukturierungen in der Industrie oder bei den nächsten Sparprogrammen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt, dass die steigende Inflation zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führen wird. Was die Bekämpfung der Corona-Pandemie betrifft, so setzen im Grunde alle vier auf eine Mischung aus Impfungen und Durchseuchung der Ungeimpften, also die sog. Herdenimmunität. Es geht längst nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu stoppen, sondern nur noch darum, die Belastung des Gesundheitssystems und die Sterberaten in „akzeptablen“ Grenzen zu halten.

Innere Probleme einer nächsten Regierung

Die strategische Linie des deutschen Kapitalismus wird in der nächsten Regierung weiter umstritten und schwankend sein, weil sie sich selbst aus unterschiedlichen Richtungen zusammensetzen wird und auch diese für sich genommen keineswegs über ein schlüssiges, klares „Zukunftskonzept“ verfügen.

Zugleich wird die nächste Regierung wichtige Angriffe starten oder fortsetzen – unterscheiden werden sich die verschiedenen Koalitionen allenfalls dadurch, wie sehr sie die Gewerkschaftsführungen und die Betriebsräte in den Großkonzernen weiter „partnerschaftlich“ in den Kampf um Weltmarktanteile einbinden.

Gemäß der Mechanik der Klassenzusammenarbeit soll davon ein Teil an die ArbeiterInnenaristokratie fallen. Doch dieser Anteil wird vor dem Hintergrund fallender Profitraten und immer härterer Weltmarktkonkurrenz zusehends geringer. Für viele besteht er schon heute, nach erfolgreichem, sozial abfederten Strukturwandel, nur noch im „Privileg“, die eigene Arbeitskraft weiter verkaufen zu dürfen – zu deutlich schlechteren Bedingungen, versteht sich.

Den wunden Punkt des deutschen Imperialismus stellt jedoch seine außenpolitische und militärische Schwäche dar. Daher muss eine zukünftige Regierung, ob unter Scholz oder Laschet, danach trachten, den gordischen Knoten der EU-Krise und des weiteren Zurückbleibens in der Konkurrenz mit den USA und China zu lösen. Ob das gelingt, ist durchaus zweifelhaft. Das Schwert, mit dem er durchschlagen werden kann, muss noch geschmiedet werden.

Allein daher können wir eine größere Instabilität erwarten. Falls der kommenden Regierung keine wirkliche Lösung dieser strategischen Krise gelingt, müssen wir mit einer weiteren Umgruppierung im bürgerlichen Lager rechnen. Die rassistische und rechtspopulistische AfD wird zwar regelmäßig von inneren Konflikten heimgesucht, aber sie hat sich bei über 10 % der Stimmen stabilisiert. Auch in der nächsten Periode wird sie enttäuschte und wütende kleinere Kapitale, KleinbürgerInnen und rückständige ArbeiterInnen durch eine Mischung aus rassistischer Demagogie und Freiheitsversprechen für „ehrliche“ KleinunternehmerInnen binden können.

Bei diesen Wahlen kommt die AfD aufgrund ihrer Anti-EU-Haltung weder für CDU/CSU noch für die FDP als Koalitionspartnerin in Frage. Doch dies kann sich in der nächsten Legislaturperiode ändern – sei es, wenn die Krise der EU andere Optionen für das Kapital notwendig macht, sei es als mögliche Partnerin gegen den Widerstand der ArbeiterInnenklasse oder sozialer Bewegungen (z. B. Umwelt, Mieten) gegen kommende Angriffe. Außerdem werden die Unionsparteien und die FDP danach trachten, ihre Regierungsoptionen zu erweitern, um die Möglichkeiten von SPD und Grünen auszugleichen, die auch auf die Linkspartei als Drohkulisse zurückgreifen können.

Im Grunde wird es aber bei den Wahlen um die Alternative zwischen zwei möglichen zukünftigen Richtungen des deutschen Imperialismus gehen. SPD und Grüne stehen für eine sozial und ökologisch abgefederte Modernisierung. FDP und rechter Unionsflügel setzen auf eine Neuauflage des Neoliberalismus. Ein Teil der CDU/CSU steht entweder dazwischen oder SPD, Grünen und der EU-Kommission näher.

Wie die deutsche Bourgeoisie diese Krise löst, hängt letztlich natürlich nicht vom Ausgang der Wahlen ab und von den Verhandlungen um eine neue Regierung. Wesentlich wird die Frage im Kampf entschieden, sowohl mit anderen Blöcken und Staaten um die Zukunft der EU und der Weltordnung als auch zwischen den Klassen. Darin müssen sich die verschiedenen bürgerlichen Strategien als tauglich erweisen.

Auf reiner Regierungsebene werden wir es unmittelbar – nicht unähnlich den Verhältnissen in der EU – mit einer Koalition der beiden Richtungen zu tun haben. Verstärkt wird das unmittelbar noch durch das föderale System der Bundesrepublik, das der parlamentarischen Opposition bei wichtigen Gesetzen noch immer „Mitspracherechte“ gegenüber der Regierung einräumen würde. In jedem Fall wäre dies, anders als in früheren Perioden, ein fragiles, instabiles Kabinett.

Rolle von Gewerkschaften und SPD

Grundsätzlich bietet eine solche Lage auch Chance für die ArbeiterInnenklasse. Doch der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte, der selbst aus Niederlagen (Hartz-Gesetze, EU-Diktat gegenüber Griechenland, Rechtsrutsch nach der sog. Flüchtlingskrise) herrührt, führte mit dazu, dass nicht die Linke, sondern die politische Rechte von den krisenhaften Prozessen profitierte.

Dies wurde und wird durch die Politik von SPD und Gewerkschaften – insbesondere durch den sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss der Bürokratie während der Krise und der Pandemie – massiv verschärft. Die großen DGB-Gewerkschaften verzichteten faktisch auf Tarifauseinandersetzungen. Die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen kamen von kleinbürgerlich-geführten Bewegungen gegen Rassismus und vor allem gegen die Umweltpolitik der Regierung, was dazu beitrug, dass diese wie auch die außerparlamentarische Linke stark von kleinbürgerlichen Ideologien geprägt sind.

Auch wenn es 2021 eine eingeschränkte Trendumkehr mit wichtigen Arbeitskämpfen bei der Bahn oder im Gesundheitswesen oder durch Kampagnen gegen steigende Mieten gab, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur einzelne Sektoren und Teilkämpfe betrifft. In den großen Betrieben herrscht ein von oben, mithilfe der Gewerkschaften und Betriebsräte organisierter Frieden vor, er von den Beschäftigten mit Verzicht auf allen Ebenen und Arbeitsplatzverlusten bezahlt wird.

Und DIE LINKE?

Die Linkspartei vermochte es nicht, aus dieser Krise der SPD politisches Kapital zu schlagen. Sie ist vielmehr selbst Teil des Problems, der politischen Krise der ArbeiterInnenklasse. Das drückt sich auch, aber nicht nur bei den Wahlen aus. Gegenüber 2017 wird sie in diesem Jahr wahrscheinlich um die 2 – 3 % verlieren. Das reicht zwar zum Einzug in den Bundestag. Die Frage stellt sich aber, warum sie um die 6 % dümpelt?

Der entscheidende Faktor ist wohl der: Die Linkspartei vermochte, sich selbst nicht als glaubwürdige Alternative zur Regierung und das heißt vor allem zum sozialpartnerschaftlichen Kurs der SPD und der Gewerkschaftsführungen zu präsentieren. In Thüringen, Berlin und Bremen ist sie bekanntlich an den Landesregierungen beteiligt – und damit verschwimmt selbst der Unterschied ihres linksreformistischen Programms zur Politik von SPD und Grünen.

Andererseits hat sich die Linkspartei durchaus gewandelt. Seit Jahren zählt sie zwar um die 60.000 Mitglieder, doch während bei der Fusion von PDS und WASG eine deutliche Mehrheit aus Ostdeutschland kam, ist es heute nur noch eine Minderheit. Die Partei hat sich auch verjüngt und weist eine stärkere Verankerung unter gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen auf, als die ehemalige PDS sie je hatte. Sie ist eigentlich eine „klassischere“ bürgerliche ArbeiterInnenpartei geworden, eine kleinere reformistische Schwester der SPD. Sie organisiert zur Zeit die politisch bewussteren Teile der ArbeiterInnenklasse und spielt eine wichtige, wenn nicht führende Rolle in bedeuteten Arbeitskämpfen, so im aktuellen Streik an den Berliner Krankenhäusern, so in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder in den Mobilisierungen gegen das verschärfte Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen.

Dass die Partei trotz ihrer reformistischen Politik und Programmatik politischer Ausdruck dieser Kräfte und Bewegungen wurde, bringt ihre Verankerung in fortschrittlicheren und kämpferischeren Teilen der Lohnabhängigen zum Ausdruck und bildet die Basis dafür, sie bei den kommenden Wahlen kritisch zu unterstützen. Um einen Kampf gegen die kommenden Angriffe erfolgreich zu führen, ist die Gewinnung dieser Teile der ArbeiterInnenklasse für eine Einheitsfront unbedingt notwendig, sowohl wegen ihres eigenen gesellschaftlichen Gewichts, aber auch als Hebel zur Gewinnung breiterer Schichten der Klasse.

Doch die Reaktion der Führung der Linkspartei auf eine nach einigen Umfragen mögliche rechnerische Mehrheit im kommenden Bundestag verdeutlicht auch, warum ein Wahlaufruf nur ein sehr kritischer sein kann. Die Spitze der Partei konzentriert sich in den letzten Wochen nicht darauf, sich als linke, kämpferischer Alternative zu allen proimperialistischen Kräften und möglichen bürgerlichen Koalitionen zu präsentieren. Sie setzt vielmehr auf eine Regierungsbeteiligung. Dazu veröffentlichten die Vorsitzenden der Partei und der Parlamentsfraktion Anfang September ohne Diskussion im Parteivorstand ein Sofortprogramm für eine rot-grün-rote Regierung, in dem alle wesentlichen Differenzen mit SPD und Grünen (insbesondere auch zur NATO und zur Außenpolitik) umschifft werden. Gegenüber dem deutlich linkeren Wahlprogramm kommt es einer Kapitulation gleich.

Die Linkspartei verkennt dabei nicht nur, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; sie verkennt auch, dass eine rot-grün-rote Regierung mit einer SPD unter Scholz nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green (New) Deal im Kapitalinteresse.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.

Nach der Wahl

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock und Lindner werden nach dem 26. September sicher für massive soziale Angriffe sorgen. Dabei werden sie sich aber auch in langwierige Koalitionsverhandlungen verstricken. Und das kann für uns nützlich sein, wenn wir selbst entschlossen reagieren und nicht erst auf eine Regierungsbildung warten.

Eine Massenbewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie auf die Lohnabhängigen aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dazu schlagen wir eine bundesweite Aktionskonferenz vor, die die Lage nach den Wahlen diskutiert und einen Aktions- und Mobilisierungsplan gegen die zu erwartenden Angriffe beschließt.




Das Sofortprogramm der Linkspartei: Anbiederung aus Verzweiflung

Martin Suchanek, Infomail 1161, 9. September 2021

Das Unvorhergesehene ist eingetreten. Die SPD und ihr Spitzenkandidat führen in den Umfragen. Liegt das an den Fettnäpfen, in die Laschet und Baerbock abwechselnd hüpfen? Liegt es daran, dass MerkelanhängerInnen deren Erbe bei Scholz besser aufgehoben sehen?

Beides macht eigentlich klar, dass eine mögliche rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die der SPD-Höhenflug mit sich bringt, nicht das Szenario einer „Linkswende“ der WählerInnen abbildet. Trotzdem wittert die Führung der LINKE, die aus der Krise der SPD fast nichts nach links gewinnen konnte, ausgerechnet jetzt die Chance, die Partei aus ihrer Krise herauszuwinden. Mit heißer Nadel wurde ein „Sofortprogramm“ gestrickt, das einer politischen Kapitulationserklärung der Vorsitzenden von Partei und Fraktion der Linken gegenüber SPD und Grünen gleichkommt.

In einem achtseitigen Papier, das am 6. September veröffentlicht wurde, schlagen Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch Eckpunkte eines Regierungsprogramms vor, das so ziemlich jeden strittigen Punkt gegenüber SPD und Grünen beiseitelässt. Austritt aus der NATO? Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus dem Ausland? Fehlanzeige. Zur Pandemie und deren Bekämpfung findet sich gleich gar kein Wort im Text. Enteignung von Deutsche Wohnen und Co.? Nicht im Sofortprogramm!

Klarheit und Verlässlichkeit – für wen?

Gleich zu Beginn des Textes versprechen die AutorInnen „Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes“ geht. Verlässlich wollen sie offenbar für Scholz, Baerbock und Co. sein. Dass das Fallenlassen der meisten strittigen Punkte mit den anvisierten KoalitionspartnerInnen zu einer wirklichen Koalition führt, darf getrost bezweifelt werden.

Grüne und SPD ziehen allemal eine Koalition mit der FPD einer mit der Linkspartei vor – und zwar nicht wegen einer größeren Schnittmenge im Forderungsabgleich, sondern weil sie eine stabile, für das deutsche Kapital verlässliche Regierung anstreben. So viele Punkte kann die Linkspartei gar nicht fallenlassen, dass Grüne und SPD, die beide eine Regierung im Einvernehmen mit den Spitzen des deutschen Großkapitals und der EU-Kommission anstreben, nicht lieber auf FDP oder selbst auf eine Kombination mit CDU/CSU (z. B. Schwarz-Grün-Gelb) setzen.

Doch der Spitze der Linkspartei gilt offenkundig politische Harmlosigkeit gegenüber SPD und Grünen als Beweis für Verlässlichkeit. Wen kümmert da schon, dass das  Wahlprogramm, mit dem die Linkspartei antritt und das von einem Parteitag beschlossen wurde, ohne jede demokratische Debatte, ohne Konsultation und Diskussion des Parteivorstands faktisch fallen gelassen wurde?

Wenn das Lancieren des Sofortprogramms politisch einen Sinn machen soll, so doch nur den, SPD und Grünen wie der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es der Linkspartei mit ihrem Wahlprogramm nicht weiter ernst ist. Das mag im bürgerlichen Politikbetrieb nicht weiter verwundern. Es zeigt aber, wie rasch und wie viele Abstriche die Spitzen der Linkspartei zu machen bereit sind, selbst wenn sie dafür nichts erhalten.

Gedeckt wird dies, indem Stimmung in der Bevölkerung beschworen wird, die die Politik für die Millionen und nicht für die MillionärInnen herbeisehnt. Als ob die Formel schon klären, würde, welche Politik im Interesse der Millionen nötig wäre und welche SPD und Grüne verfolgen. Doch die Linke macht ihre Differenzen zur noch regierenden SPD oder einer Grünen Partei, die so weit rechts steht wie nie zuvor, nicht deutlich.

Für viele Mitglieder der Linkspartei, die sich aktiv an Streiks wie bei den Berliner Krankenhäusern, an der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder an den Mobilisierungen gegen das Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen beteiligen, muss das Sofortprogramm wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Die sog. roten Haltelinien und Mindestbedingungen für Koalitionen mit SPD und Grünen wurden einfach fallen gelassen.

Doch das Lancieren des Sofortprogramms zeigt nicht nur, dass man sich auf die Spitzen der Partei nicht verlassen kann. Da helfen auch keine TV-Auftritte Bartschs, der laut von sich gibt, dass die Linke nur mit ihrem Ganzen und keinem halben Programm in Koalitionsverhandlungen geht. Faktisch tritt das Sofortprogramm an die Stelle des Wahlprogramms.

Der Text zeigt nicht nur, wie weit das Führungspersonal der Linkspartei bereit ist zu gehen. Es offenbart aber auch ein erschreckendes Ausmaß an politischer Fehleinschätzung, einen Mangel an jener Klarheit, die das Papier verspricht.

Lageeinschätzung

Angesichts der aktuellen Umfragen, denen zufolge die SPD unter Olaf Scholz zur stärksten Partei im Bundestag werden könnte, und dass es rein arithmetisch für Rot-Grün-Rot reichen könnte, unterstellt das Papier eine Art gesellschaftlicher Aufbruchsbewegung, die  eine Reformmehrheit signalisieren würde. Wie wird das begründet? Indem eine „andere Mehrheit“ im Land suggeriert wird.

„Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will. Eine Mehrheit, die nicht länger hinnehmen will, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Eine Mehrheit, die weiß, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind. Eine Mehrheit, die nicht länger Zeit beim Klimaschutz verlieren will. Die Politik für die Gesellschaft erwartet, nicht für Lobbygruppen oder ‚den Markt’. Eine Mehrheit, die jeden Tag den Laden zusammenhält, die sich für ihre Nächsten engagiert und das Träumen nicht verlernt hat.“ (Sofortprogramm)

Diese schwammigen Formulierungen sollen offenbar eine politische Lageeinschätzung ersetzen. In Wirklichkeit vernebeln sie sie nur. In der Allgemeinheit ist so ziemlich jede/r gegen Ungleichheit und Armut, für faire Mieten. Löhne und Preise. „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ versprechen schließlich nicht nur LINKE, SPD und Grüne, sondern auch FDP, Union und AfD. Zu jenen, die den Lagen zusammenhalten, rechnet sich auch fast jede/r. Und beim Klimaschutz nicht länger verlieren – wer will das nicht? Solche Phrasen sagen nichts aus darüber, ob und für welchen Klimaschutz man überhaupt eintritt.

Mit der ständigen Beschwörung einer diffusen, im Grunde nichtssagenden Mehrheit soll jedoch das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden, die in zwei Lager zerfällt: die reformorientierten AnhängerInnen eines Politikwechsels einerseits und das neoliberale Lager (FDP, CDU/CSU) samt AfD andererseits.

Verkennen der Lage

Diese Sicht verkennt die Lage gleich mehrfach. Sie geht nämlich von einer realitätsfernen Sicht des bürgerlichen Lagers aus. Dieses ist zurzeit – so weit die gute Nachricht – von einer tiefen Krise und Umgruppierung geprägt. Darin besteht auch die tiefere Ursache für den Niedergang der CDU/CSU in den Umfragen und für die drohende Niederlage der Unionsparteien. Die traditionelle Hauptpartei der Bourgeoisie in der Bundesrepublik vermag nicht mehr, die Einheit der verschiedenen Klassenfraktionen, angelagerter Schichten des KleinbürgerInnentums und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse erfolgreich zu einer gemeinsamen Politik zu vermitteln. Es fehlt ihr vielmehr angesichts der aktuellen Krisen ein strategisches Konzept. Dass CDU/CSU auf einen Kandidaten wie Laschet verfielen, drückt das aus. Selbst wenn er das Ruder noch einmal rumreißen sollte und die Unionsparteien als stimmenstärkste in den Bundestag einzögen, würde das ein Wahldebakel bedeuten. Die Krise der Union speist die Wahlchancen der FDP und auch der AfD – aber auch von Grünen und SPD.

Die Grünen sind in den letzten Jahren selbst zu einem wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden. Sie vertreten – im Unterschied zu CDU/CSU – ein relativ klares Konzept der Modernisierung des deutschen Kapitals, den Green New Deal, der ökologische Nachhaltigkeit mit gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zu vereinen verspricht und dafür auch staatliche Konjunktur- und Investitionsstützen vorsieht.

Die SPD vertritt das im Grunde auch. Aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer sozialen Verankerung in den Gewerkschaften und größeren Teilen der ArbeiterInnenklasse präsentiert sie sich jedoch glaubwürdiger als Partei des sozialen Ausgleichs als die Grünen, als Partei, die die ökologische Modernisierung mit mehr Sozialschaum abfedert. Daher kann sich Scholz bei Teilen der WählerInnen auch eher als Nachfolger von Merkel verkaufen als Laschet oder Baerbock. Grundsätzlich begründet sich aber der mögliche Erfolg von Scholz aus den Fehlern und Schwächen von Union und Grünen bzw. von deren SpitzenkandidatInnen.

Betrachten wir die politische Lage in Deutschland genauer, so drücken die Wahlergebnisse der letzten 10, 20 Jahre insgesamt eine Verschiebung nach rechts aus. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, für deren Reform, aber nicht Abschaffung das Sofortprogramm steht, und der Ausweitung des Billiglohnsektors erlitt nicht nur die ArbeiterInnenklasse eine tiefe, strategische Niederlage, die SPD hat dafür auch einen wohlverdienten Preis bezahlt. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hat nachhaltig an Verankerung in der Klasse verloren, stützt sich in der Hauptsache noch auf Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte in Großkonzernen.

Diese Krise – wie auch den Rechtsschwenk der Grünen – konnte die Linkspartei seit ihrer Gründung jedoch auf elektoraler Ebene nicht nutzen, auch wenn ihr Einfluss in Gewerkschaften und Betrieben wie auch ihre Verankerung in sozialen Bewegungen größer geworden ist. Auf Wahlebene verlor sie jedoch in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten und konnte das nicht durch Zuwächse im Westen ausgleichen. So droht ihr das schlechteste Ergebnis seit der Fusion von PDS und WASG.

Fiasko

Zweifellos tragen die schlechten Umfragen dazu bei, dass die Linkspartei-Spitze ihr Sofortprogramm aus dem Hut zaubert, um das Ruder rumzureißen. Rauskommen wird dabei jedoch ein politisches Fiasko.

Grüne und SPD präsentieren sich im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus. Die Spitze der Linkspartei tut jedoch so. als wollten im Grunde SPD und Grüne dasselbe wie die LINKE, die im Grunde ein reformistisches Programm zur Zähmung des Kapitalismus von seinen Auswüchsen vertritt. Schon aus politischem Eigeninteresse müsste die Linkspartei die beiden dafür angreifen und wenigstens ihr eigenes Programm starkmachen.

Mit dem Sofortprogramm tut sie genau das Gegenteil. Sie biedert sich SPD und Grünen an. Wie viel dabei Opportunismus oder Verzweiflung ist, ist sekundär.

In jedem Fall verkennt sie, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; und sie verkennt, dass eine Regierung mit einer SPD unter Scholz auch nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green New Deal im Kapitalinteresse. Dafür wirft das Sofortprogramm, wie z. B. Christian Zeller in seinem Beitrag „Sagt die Linke gerade ihren Wahlkampf ab?“ feststellt, praktisch alle Reformforderungen über Bord, die mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus inkompatibel sind.

RegierungssozialistInnen wie Bartsch und Hennig-Welsow mögen damit persönlich wenig Probleme haben. Ein paar Reförmchen, die zum politischen Erfolg hochstilisiert werden können, dürfte schließlich auch Rot-Grün-Rot abwerfen. Der ehemaligen Anhängerin von marx21, Wissler, mag das Sofortprogramm als politisch kluger Schachzug erscheinen, SPD und Grüne unter Druck zu setzen.

In Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Die Linkspartei macht sich faktisch zum Anhängsel von SPD und Grünen und stellt jede ernstzunehmende, weitergehende Kritik an diesen ein. Warum dann noch DIE LINKE wählen, werden Unentschlossene erwägen, wenn sie ohnedies nichts anders als SPD und Grüne will?

Da die „Rote-Socken“-Kampagne von CDU/CSU und FDP nicht greift, sind Grüne und SPD auch nicht gezwungen, eine Koalition mit der Linken vorab kategorisch auszuschließen. Vielmehr können sie das nutzen, um die FDP in eine SPD-Grünen-geführte Koalition zu drängen. Die Linkspartei bliebe dabei im Regen stehen.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.




Ob Laschet, Baerbock oder Scholz – ihr Angriff kommt, bereiten wir uns vor!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Bundestagswahl, Infomail 1161, 8. September 2021

Selbst wenn sich Laschet und Baerbock nicht gegenseitig darin überbieten würden in sämtliche Fettnäpfchen des bürgerlichen Wahlkampfspektakels zu treten, hätten wir nichts von ihnen zu erwarten. Das Gleiche gilt für die Scholz-SPD, die vier Wochen vor der Wahl tatsächlich vom Kanzleramt träumen darf, weniger wegen Scholz‘ farbloser Akzente und noch weniger wegen seiner Sozialpolitik, sondern einfach, weil er sich in Zeiten von Flut und Corona nicht wie ein völliger Dilettant verhält und als Finanzminister vielleicht als Mann mit dem (Hilfs-)Geld gesehen wird, nachdem er jahrelang der Mann rigider Sparpolitik und der Schwarzen Null war.

Dabei eint Laschet, Baerbock und Scholz nicht nur ihr kaum aus dem Quark kommender Wahlkampf  – angesichts der Verwerfungen in der Weltwirtschaft, der Umweltzerstörung und der Pandemie mit weltweit Millionen Todesopfern stehen sie bei allen Unterschieden doch vor allem für eins: Nicht die Unternehmen und Banken, nicht VW, RWE und BioNTech sollen die Krisen bezahlen, sondern wir!

Während die KollegInnen im Gesundheitswesen bis heute unter Personalmangel, katastrophalen Arbeitsbedingungen leiden, werden deutsche Konzerne mit Milliarden fit gemacht, Jobstreichungen zu Tausenden inklusive!

Jede wirkliche ökologische Wende bleibt aus, richten soll es der Markt. Aber der richtet sich nach Energiewirtschaft und AutobauerInnen die mit Milliarden subventioniert werden. Green New Deal heißt das demnächst, auf dass sie noch Jahre Kohle verbrennen und Verbrenner bauen dürfen.

International stehen Union, Grüne und SPD für die Aufrüstung der Bundeswehr, Militärinterventionen wie in Mali, rassistische Abschottung Europas, die Verwüstung Afghanistans. Ihnen geht es darum, die BRD für den internationalen Konkurrenzkampf fit zu machen, mit EU und Euro als Vehikel zur Durchsetzung deutscher Interessen.

Was sie  unterscheidet, ist ihre Verpackung: grün, sozial oder eben christlich-konservativ, je nach sozialer Basis und Tradition. SPD und Grüne garnieren daher eine mögliche Regierungspolitik mit sozialen und grünen Versprechungen, während sie längst wissen, dass diese an der Realität kapitalistischer Konkurrenz scheitern werden.

FDP und AfD präsentieren sich da als Parteien der (klein)bürgerlichen  Opposition, denen all das noch zu grün, zu ökologisch, zu sozial und zu wenig nationalistisch gerät. Während sich die FDP als Alternative für die Fittesten in der Konkurrenz aufführt, gibt sich die AfD als rechtspopulistische „Volkspartei“, als nationalistische und rassistische Alternative. Beide stilisieren sich zu VorkämpferInnen der Freiheit, aber was sie meinen, ist die Freiheit der deutschen (Mittelschichts-)Wirtschaft, an der Unfreiheit und Ausbeutung aller anderen rütteln sie nicht. Im Gegenteil, sie stehen für schärfere Ausbeutung und kräftigeren Neoliberalismus.

Es ist egal, ob die nächste Regierung von Laschet, Baerbock oder Scholz geführt wird, ob sie nun mit oder ohne Lindner als Koalitionspartner auskommt – sie wird für alle ArbeiterInnen und RentnerInnen, für die Mitglieder der Gewerkschaften, für MigrantInnen, proletarische Frauen und Jugendliche, für gebeutelte MieterInnen und Arme eine Welle sozialer Angriffe bedeuten. Es ist an uns, die kommenden Wochen und die Wahlen zu nutzen, um den Kampf gegen diese Angriffe vorzubereiten!

DIE LINKE wählen?!

Wahlen verändern nichts Grundlegendes, aber sie bringen ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft zum Ausdruck, und das kann uns nicht egal sein.

Wir rufen zur Wahl der Linkspartei auf als Teil des Abwehrkampfs, denn sie stützt sich auf jene Lohnabhängigen, GewerkschafterInnen, Aktive in sozialen Bewegungen, die Widerstand leisten, die Wohnungskonzerne enteignen und die Reichen für die Krise zahlen lassen wollen. Trotz ihrer reformistischen, durch und durch bürgerlichen Politik organisiert DIE LINKE wichtige Teile der sozialen Bewegungen und des linken Flügels der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert im Gegensatz zur SPD jenen Teil der ArbeiterInnenklasse, der gegen offene Sozialpartnerschaft und imperialistische Intervention eintritt und soziale und politische Verbesserungen erkämpfen und in Parlamenten durchsetzen will.

Sie steht für eine Reihe fortschrittlicher Forderungen wie einen bundesweiten Mietendeckel, die Erhöhung des Mindestlohns, eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser und eine bessere Finanzierung der Pflege, ein Verbot von Waffenexporten, die Ablehnung von Auslandseinsätzen, eine Vermögensabgabe für Nettovermögen über zwei Millionen Euro und eine stärkere Besteuerung der Reichen.

Aber es reicht bekanntlich nicht, diese Forderungen einfach aufzustellen und zu hoffen, sie in einer möglichen Koalitionsregierung mit den Grünen oder unter einer rechten SPD unterzubringen und umzusetzen. Eine „Reformregierung“ von SPD, Grünen und Linkspartei lehnen wir aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Sie würde ein rein bürgerliches Programm vertreten, sich durch die Koalition mit einer offen bürgerlichen Partei den Interessen des deutschen Kapitals unterordnen. Ohne Bekenntnis zu NATO, Bundeswehr und weiteren Auslandseinsätzen wäre eine solche Regierung nicht zu haben. In Ländern wie Berlin – von Thüringen ganz zu schweigen – tritt der Charakter solcher Regierungsbeteiligungen der LINKEN deutlich hervor. Während sie für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eintritt, befindet sich DIE LINKE im Senat in Geiselhaft.

Aber warum hält sie eigentlich so hartnäckig an den Koalitionshoffnungen fest? Bei RegierungssozialistInnen wie Ramelow oder Bartsch wundert das niemanden, ebenso wenig bei der Linkspopulistin Wagenknecht und ihren AnhängerInnen. Kapitalismus und Marktwirtschaft wollen sie allenfalls an der Regierung sozialer und fairer ausgestalten. Dass das eine Illusion ist, beweist die Geschichte der SPD. Aber wie steht es um die Bewegungslinke, die zunehmend die Linkspartei dominiert? Sie gibt vor, den Kampf auf der Straße, in den Krankenhäusern, in der MieterInnenbewegung oder gegen repressive Polizeigesetze mit einer geschickten „Transformationsstrategie“ verbinden zu können. Jedoch auch hier gilt, dass der Arzt am Krankenbett das Kapitalismus stets auf der politischen Intensivstation endet. Eine linkere Illusion in parlamentarische Reformierbarkeit des Kapitalismus ist immer noch eine Illusion.

Was wir stattdessen wollen, ist der Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei und einer neuen, einer revolutionären Internationale, die keine Wahlvereine sind, sondern Kampforganisationen, gestützt auf ein Programm von Übergangsforderungen, das Reformen und Wahlen als Mittel zum Zweck begreift, als Mittel zur Vorbereitung einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung.

Und trotzdem rufen wir bei den Wahlen zum Bundestag und in Berlin auf, die Linkspartei zu wählen. Warum? Wir teilen ihre Illusionen in den Parlamentarismus und ihr reformistisches, bürgerliches Programm nicht. Aber die ArbeiterInnenklasse und AntikapitalistInnen können Parlamente und Wahlen nutzen – als Mittel zur Verhinderung reaktionärer Gesetze, vor allem aber als Tribüne für den Klassenkampf und zur Mobilisierung gegen Kapital, rechte Parteien, bürgerliche Regierungen. In diesem Sinne könnte eine LINKE im Parlament nützlich und sinnvoll sein. Entscheidend ist aber der Kampf außerhalb des Parlamentes!

Wir richten uns direkt an die Linkspartei und besonders an ihre Mitglieder, denen es ernst ist mit den Forderungen ihrer Partei: Fordert sie auf, gegen die sicher kommenden Angriffe der nächsten Bundesregierung zu mobilisieren! Fordert sie in Berlin auf, nicht nur für die Enteignung von DW & Co. zu stimmen, sondern dafür auf die Straße zu mobilisieren! Tragt den Vorschlag politischer Streiks zur Abwehr reaktionärer Gesetze und zur Durchsetzung von Enteignung, Mietendeckel, kostenlosem Nahverkehr oder Vermögensabgabe in die LINKE – wir unterstützen das. Aber seid auch bereit zu brechen, wenn die LINKE doch für ein Bundeswehr-Afghanistan-Mandat stimmt, anstatt für offene Grenzen einzutreten, wenn sie die Berliner Krankenhausbewegung oder DWE-Kampagne ins Leere laufen lässt, fossile Energieunternehmen subventioniert, anstatt sie zu enteignen! Verrät Euch die Linkspartei und tausende WählerInnen, dann solltet Ihr mit uns eine neue, wirklich revolutionäre Partei aufzubauen versuchen.

Gegen Umweltzerstörung mit Antikapitalismus!

Millionen Jugendlicher waren seit den letzten Bundestagswahlen für eine echte Klimaschutzpolitik auf der Straße, wütend und enttäuscht darüber, dass nichts passierte! Viele dürfen nun zum ersten Mal wählen, überlegen, die Grünen an die Regierung zu hieven aus der Hoffnung, dass mit Annalena Baerbock als Kanzlerin endlich wer das sagen hat, dem Klima und Umwelt nicht völlig egal sind.

Und es ist auch zu erwarten, dass die Grünen mehr als Union und SPD zum Schutz unserer Lebensgrundlage tun werden. Aber die drängende Frage bleibt: Reicht das aus, wo doch nur noch wenige Jahre übrig sind, um überhaupt noch vom 1,5 Grad-Ziel träumen zu können?

Für die Grünen sind Kapitalismus und Umweltschutz keine zwingenden Widersprüche. Für sie geht das Aufrüsten der deutschen Exportwirtschaft im Green New Deal mit Umweltschutz in eins, bezahlt vor allem durch die ArbeiterInnenklasse. Was dann dabei rauskommt, sind ein subventioniertes E-Auto von VW, das eher umweltschädlicher als ein Verbrenner ist und vielleicht noch das kosmetische Inlandsflugverbot. An der Prämisse grenzenlosen Wachstums auf einer begrenzten Erde halten sie aber fest!

Wer wirklich die Umwelt retten will, sollte das Kreuz also nicht bei den Grünen setzen, sondern für eine antikapitalistische Umweltpolitik kämpfen. Wer das tut, ist beispielsweise Ende Gelände. Aber es hat das Problem, abstrakt und auf Grubenbesetzungen reduziert zu bleiben.

Was es unserer Meinung nach in der Umweltbewegung braucht, sind also zwei Schritte:

  • Einen Bruch mit der bürgerlichen Umweltpolitik der Grünen und NGOs. Es retten uns weder Markt noch Kapital! Sie zu beseitigen, ist die erste wirklich nachhaltige Umweltschutzmaßnahme!
  • Für konkreten Umweltantikapitalimus! Enteignung, ArbeiterInnenkontrolle und demokratische Pläne zur Produktionsumstellung sollten dringend in Ende Gelände und WaldbesetzerInnenbewegung diskutiert werden! Sonst bleibt der System Change ein ewiger Traum!

Nach der Wahl ist vor dem Kampf!

Nach den Wahlen, nach dem Kreuz für die LINKE und für die Enteignung der Deutsche Wohnen & Co.  geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock werden nach dem 26. September für soziale Angriffe sorgen und werben. Eine Massenbewegung gegen Krise und Pandemie aufzubauen, die vor der Eigentumsfrage nicht haltmacht, kann sie aufhalten. Wir schlagen eine Aktionskonferenz von sozialen Bewegungen wie den MieterInnen-, Umweltbewegungen von Ende Gelände bis zu linken FFF-Gruppen, Frauenorganisationen, Gruppen rassistisch Unterdrückter von Black Lives Matter bis Migrantifa, linken Gruppierungen, Gewerkschaften, Linkspartei und allen anderen Parteien, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen (einschließlich aller linken Kräfte in der SPD) vor. Diese sollte die Lage nach den Wahlen und einen Mobilisierungsplan gegen die Attacken von Regierung und Konzernen diskutieren und beschließen. Als mögliche Forderungen schlagen wir vor:

  • Verbot aller Räumungen und Wohnungskündigungen, Erlass der Mietschulden! Für die Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und Enteignung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. unter Kontrolle der MieterInnen!
  • Gegen jede Diskriminierung von MigrantInnen bei der Suche nach Wohnung oder Arbeitsplatz! Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle!
  • Enteignung des Gesundheitssektors und der Pharmaindustrie; Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe! Rasche und gerechte globale Verteilung! Kontrolle der Maßnahmen durch die Beschäftigten im Gesundheitssektor! Streichung der Schulden der Länder des globalen Südens!
  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Carearbeit zur Durchbrechung der sexistischen Arbeitsteilung! Milliardeninvestitionen in Bildung, Erziehung und Pflege, bezahlt durch progressive Besteuerung von Reichen und KapitalistInnen!
  • Nein zur Festung Europa – offene Grenzen! Organisierter Selbstschutz gegen rechte Gewalt! Verteidigt die Demonstrationsfreiheit und demokratische Rechte!
  • Schluss mit allen Auslandseinsätzen, Waffenexporten, politischen und wirtschaftlichen Hilfen für reaktionäre Regime! Austritt aus der NATO!
  • Kampf gegen alle Entlassungen! Gesetzlicher Mindestlohn und Mindesteinkommen für alle von 15 Euro/Stunde! Enteignung aller Unternehmen, die mit Massenentlassungen drohen! Für die 30-Stundenwoche bei vollem Personalausgleich und Lohn!
  • Die Folgen der Klimakrise und ihre Bewältigung, Überflutungen und Waldbrände müssen durch die bezahlt werden, die sie verursachen, die durch Kohlestrom und Verbrennerautos Milliarden verdienen! RWE, VW und Co entschädigungslos enteignen – für eine nachhaltige  Produktionsumstellung unter demokratischer Kontrolle derer, die dort arbeiten! Nein zur allgemeinen CO2-Steuer – ja zur massiven Besteuerung der Gewinne aller Unternehmen, die die Energiewende verschleppen und die Umwelt zerstören!

Gegen Mietenwahnsinn! Enteignung – was sonst?

343.000 Unterschriften in der 2. Sammelphase sind ein riesiger politischer Erfolg der gesamten Protestbewegung gegen Mietenwahnsinn, Immobilienspekulation und Zwangsräumungen. Stimmt am 26. September mit JA für den Volksentscheid! Eine Mehrheit wäre ein bundesweites, ja internationales Signal. Doch es wäre – darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen – längst nicht das Ende des Kampfes, er würde vielmehr in eine neue Phase treten.

Die Immobilienlobby und Schmierblätter wie BILD führen ihren eigenen Wahlkampf gegen die Vergesellschaftung. Dubiose SpekulantInnen lassen besetzte Häuser räumen. Das Verfassungsgericht kassiert den Mietendeckel.

Während die Immobilienhaie Milliarden Gewinne einfahren und Hunderttausende aus ihren Wohnungen verdrängen, lehnt Frau Giffey kategorisch Enteignungen ab. Die Grünen liebäugeln zwar mit DWE, aber nur weil sie auf Stimmen spekulieren. CDU, FDP und AfD stehen klar auf Seiten des Kapitals, die Enteignung der Immobilienhaie gilt ihnen gar als „Sozialismus“. Auch bei einem JA steht die Vergesellschaftung längst nicht fest und schon gar nicht, zu welchen Bedingungen sie erfolgen würde.

Die Linkspartei gibt sich als konsequente Unterstützerin von DWE. Dass unter einem rot-roten Senat dereinst über 150.000 Wohnungen privatisiert wurden, verschweigt sie lieber. Vor allem aber umschifft sie die Frage, wie eigentlich die Vergesellschaftung durchgesetzt werden soll. Die KandidatInnen der Linkspartei müssen sich ohne Wenn und Aber hinter die DWE-Kampagne  stellen, die sofortige Umsetzung des Volksentscheides ohne Abstriche zu einem Schwerpunkt ihrer Politik machen, zu einer Vorbedingung für etwaige Koalitionsverhandlungen. Vor allem aber müssen sie gemeinsam mit der gesamten Initiative und allen anderen MieterInnenbewegungen nach dem 26. September die bestehenden Strukturen zu Aktionskomitees in den Wohnblöcken und Stadtteilen, aber auch in Betrieben, an Unis und Schulen ausbauen. Weigern sich Abgeordnetenhaus und Senat, einen Volksentscheid umzusetzen, müssen wir zu härteren Kampfmitteln greifen.

Wir müssen von den Gewerkschaften, in den Betrieben politische Streiks einfordern, uns bei den zu enteignenden Wohnungsunternehmen auf einen organisierten Mietboykott und ähnliche Kampfmaßnahmen vorbereiten, um eine zügige Enteignung von unten zu erzwingen!

Krankenhausbewegung, Bahn, öffentlicher Dienst – Tarifkämpfe unterstützen!

Streik bei der Bahn AG, bei Charité und Vivantes: Der Klassenkampf meldet sich zurück. Tausende  Beschäftigte haben die Schnauze voll nach Jahren des Maßhaltens. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen wurden 2020 als Corona-HeldInnen gefeiert. Neueinstellungen, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Rücknahme der fatalen Privatisierungen – Fehlanzeige!

Streik ist die einzige Sprache, die die Vorstände (halb)staatlicher Betriebe oder PrivateigentümerInnen verstehen. Diese wirtschaftlichen Auseinandersetzungen werfen aber zugleich grundsätzliche Fragen auf. Während die KollegInnen der GDL einen Arbeitskampf führen, stellt sich die EVG auf Seiten des Kapitals. Während die Beschäftigten bei Gorillas und anderen Unternehmen unter extrem prekären Arbeitsverhältnissen leiden gegen Überausbeutung kämpfen, halten die großen Dachverbände die Füße still. Während massive Arbeitsplatzverluste drohen, herrschen in der Großindustrie sozialer Frieden und PartnerInnenschaft mit dem Kapital vor.

Bei allen Kämpfen stoßen wir auf die Rolle der Bürokratie in der ArbeiterInnenklasse – in den Gewerkschaftsapparaten, in den Betriebsräten.

Wir brauchen daher aktive Unterstützung aller, die – ob mit oder ohne Unterstützung durch ihre Führung – in den Kampf treten. Das erfordert auch klare Kante in den Gewerkschaften und Betrieben gegen die Bürokratie. Das gilt auch für viele kämpferische KollegInnen in der Linkspartei. Schluss mit einer Politik der Unterordnung unter den Gewerkschaftsapparat, für den Aufbau einer bundesweiten klassenkämpferischen Gewerkschaftsopposition, schließt Euch zu diesem Zweck der VKG an!

Veranstaltungen zur Bundestagswahl

Donnerstag, 9. September, 19.00

Wählt die Linkspartei, aber organisiert den Klassenkampf!

Donnertag, 16. September, 19.00

Enteignung – was sonst? Gemeinsam gegen Mietenwahn und Immobilienhaie

Donnerstag, 30. September, 19.00

Nach der Wahl ist vor dem Kampf. Eine Analyse der Wahlergebnisse




Sagt die LINKE gerade ihren Wahlkampf ab?

Gastbeitrag von Christian Zeller, 6. September 2021, Infomail 1161, 7. September 2021

Das am Montag, 6. September vorgestellte Sofortprogramm der LINKEN für einen Politikwechsel verwundert. Das achtseitige Papier enthält eine politische Einschätzung, allgemein formulierte politische Ziele und unmittelbare „erste Schritte“ in acht thematischen Feldern. Einige sind konkret formuliert, andere bleiben unbestimmt. Mit diesem minimal gehaltenen Sofortprogramm unterbreitet die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN ihren ersehnten Koalitionspartnern der SPD und den Grünen de facto ein Unterordnungsangebot. Der Inhalt dieses Papiers ist so bescheiden, dass man sich als außenstehender Beobachter fragt, ob diese Partei gerade dabei ist ihren Wahlkampf knapp drei Wochen vor der Wahl einzustellen.

Mit SPD und Grünen für einen sozial-ökologischen Politikwechsel, wirklich?

Das Sofortprogramm geht von zwei Annahmen aus: Erstens, es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit für einen sozial-ökologischen Politikwechsel. Zweitens kann diese Mehrheit in einer Koalition SPD-Grüne-LINKE ihren politischen Ausdruck finden.

Die erste Annahme gilt es zu überprüfen. Doch die zweite Annahme entspringt reinem Wunschdenken. Weder die SPD noch die Grünen setzen sich für eine sozial-ökologische Wende ein. Ihre Programme orientieren sich an einer liberalen Modernisierung des deutschen Kapitalismus mit seinem Führungsanspruch in Europa. Beide Parteien stehen weiterhin fest zum Erbe der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer von 1998 bis 2005. Diese Regierung setzte die bislang radikalsten neoliberalen Reformen im Bereich der Arbeitsbeziehungen durch, baute mit der „Riester-Rente“ kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme zur Fütterung des Finanzkapitals auf, senkte die Unternehmenssteuern, liberalisierte die Finanzmärkte und führte erstmals im großen Stile Krieg. Warum sollen diese beiden Parteien plötzlich für ernsthafte sozial-ökologische Reformen einstehen. Das behaupten diese ja nicht einmal selber.

Die politische Landschaft in Deutschland wird derzeit von vier liberalen Parteien geprägt, einer konservativliberalen, einer ultraliberalen, einer sozialliberalen und einer grünliberalen Partei Diese werden die Regierungszusammensetzung kapitalfreundlich unter sich aushandeln. Die nationalliberale AfD mit ihrem faschistischen Flügel vertritt ein rassistisches Programm.

Die von der LINKEN erhoffte sozial-ökologische Wende lässt sich nur gegen diese Parteien durchsetzen. Um das dafür notwendige Kräfteverhältnis aufzubauen, braucht es nicht eine Abkehr vom eigenen Programm und Koalitionsangebote an bürgerliche Parteien, sondern gesellschaftliche Mobilisierungen und eine geduldige Aufbauarbeit am Wohnort und in den Betrieben.

Das taktische Kalkül hinter dem Sofortprogramm scheint banal zu sein. Offensichtlich will die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN mit dieser Operation nochmals Schwung in die mediale Berichterstattung bringen. Sie geht davon aus, dass sie mit diesen weichgewaschenen Vorschlägen die Führungen von SPD und Grüne dazu bringen könnte, sich auf eine Koalitionsdebatte einzulassen. Doch der Preis für diesen Unsinn ist hoch. Ohne Not verzichtet DIE LINKE auf Kerninhalte ihres Parteiprogramms und Wahlprogramms. Aber genau diese Inhalte, der Wunsch nach wirklichen Verbesserung und nach einer anderen Gesellschaft sind für viele Menschen doch der Grund die LINKE zu wählen. Genau dafür genießt die LINKE ein hohes Ansehen unter kritischen Menschen auch außerhalb Deutschlands.

Programm über Bord

Die Autor:innen machen nicht klar, was mit „sofort“ in ihrem Sofortprogramm meinen. Sollen das die ersten 100 Tage der neuen Regierung sein oder sind damit nur einfach die dringlichsten Maßnahmen in der vierjährigen Legislaturperiode gemeint? Die Autor:innen scheinen selber nicht zu glauben, dass sie ihre Ziele in einer Regierung unterbringen können. Darum beschränken sie sich gleich auf eine bescheidene regierungskonforme Wunschliste. Wollten die Autor:innen nichts fordern, was SPD und Grüne „einfach ablehnen können“? Das ist wohl die taktische Idee dahinter. Tragisch dabei ist, dass DIE LINKE mit diesem Papier jeden Ansatz eines eigenständigen Projekts, ja sogar eines eigenständigen Reformansatzes, aufgibt.

Das Sofortprogramm enthält Aussagen über gute Arbeit und faire Löhne, zur sozialen Sicherheit, Angleichung von Ostdeutschland, zu sozial-ökologischen Investitionen, zum Gesundheitssystem, zur Wohnungspolitik, zu einer neuen Friedensordnung sowie zur Demokratisierung und Unterstützung von Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Ich beschränke meine Kritik auf die drei Bereiche Klima, Gesundheit und Frieden.

Auch mit der Linken heizt Deutschland dem Klima ein

Das Sofortprogramm orientiert sich allgemein am Wahlprogramm und will eine „Energiewende mit verbindlichen Ausbauzielen, die sich am 1,5 Grad-Ziel ausrichten“. Doch die konkreten Vorschläge dienen nicht dazu, dieses Ziel zu erreichen. Deutschland verbleibt unter der Annahme einer gleichen pro Kopf-Verteilung gemäß Konzeptwerk Neue Ökonomie ab 2022 noch ein Budget von 2,97 Gt C02 , damit die Welt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% die 1,5° Grad Marke nicht zu überschreitet. Die historische ökologische Schuld Deutschlands sowie der Flug- und Schiffsverkehr sind dabei nicht einmal berücksichtigt. Deutschland müsste ab sofort bis 2035 jährlich 40 GW Wind- und Solarenergie zubauen, das sagt eine von Fridays for Future beauftragte Studie des Wuppertal-Instituts. Wenn der Begriff „Sofortprogramm“ angemessen ist, dann hier. Würde Deutschland den bisherigen Verbrauch fortsetzen, wäre das Budget ein Jahr nach der kommenden Wahlperiode aufgebraucht. Die Energiewende, Kohleausstieg 2030 und ein Zukunftsinvestitionsprogramm klingen gut, reichen aber nicht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen im Verkehr sind komplett unverbindlich und ungenügend: keine Absage an Gaskraftwerke, kein Wort zur Verkehrsvermeidung, keine Aussage gegen die massenhafte Einführung von Elektroautos, nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen als minimalste Sofortforderung. Dagegen soll ein „Industrie-Transformationsfonds“ Unternehmen und Konzerne mit über jährlich 20 Milliarden Euro bei ihren Nachhaltigkeitsübungen subventionieren. Das klingt nach Wachstumsprogramm.

Gesundheit, doch die Pandemie geht vergessen

Das Sofortprogramm verlangt ein „gerechtes Gesundheitssystem“ und will „den Pflegenotstand stoppen“. Richtig. Doch die Autor:innen vergessen bei den ersten Schritten merkwürdigerweise die Pandemie. Auch nach der Wahl wird sie Menschen in Deutschland und noch viel mehr auf der ganzen Welt in Tod reißen und langzeitig leiden lassen. Das Programm erwähnt in keinem Wort die solidarische Versorgung der Weltbevölkerung mit Impfstoffen. Mit einer Aufhebung oder zumindest Sistierung der Patente auf Impfstoffe könnte das Leid reduziert werden. Doch das Sofortprogramm verliert kein Wort dazu. Zählt eine stillschweigende Duldung der imperialistischen Wettbewerbs- und Impfpolitik bereits zur Staatsräson?

Friedensordnung weiterhin mit deutschen Waffen

Das Sofortprogramm will Rüstungsexporte in Krisengebiete stoppen. Richtig. Doch was ist mit den anderen Rüstungsexporten? Kein Wort dazu. Wir wissen alle, dass stabile Gebiete plötzlich die Krisengebiete von morgen sein können. Wirklich befremdlich ist diese Forderung: „Wir führen den Rüstungsetat auf das Niveau von 2018 zurück.“ Ernsthaft? Diese Forderung soll die Menschen motivieren, die LINKE zu wählen? Das ist lächerlich. Jede halbwegs friedenspolitische und solidarische Partei würde eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben fordern. Zudem sind Rüstungsindustrien und Armeen wesentliche Treiber von CO2-Emissionen. Sollen auch diese auf den Stand von 2018 eingefroren werden? Wer so was vorschlägt, macht sich lächerlich.

Sogar wenn man die Grundannahmen teilen würde –  was ich nicht tue -, dass eine Regierungskoalition mit der SPD und den Grünen einen Politikwechsel einleiten würde, dann müsste die LINKE doch versuchen, ihre Verhandlungsposition zu stärken.

Der Wahlkampf findet eigentlich bislang nicht statt. Scholz präsentiert sich zu Recht als Erbe von Merkel und ist damit erfolgreich. Die CDU wird nervös und bringt die LINKE in die öffentliche Debatte. Anstatt dass die LINKE diesen Ball selbstbewusst aufgreift und ihre Ablehnung dieses Systems, das Mensch und Umwelt zerstört, in die Breite trägt, gibt sie auf, bevor die Wahlen überhaupt stattgefunden haben. Welchen Sinn ergibt das? Diese Operation hinterlässt wohl nicht nur mich ratlos.

Die Reaktionen von den Spitzen der SPD und der Grünen sind wie erwartet. Sie bleiben da, wo sie sind. Ihr Projekt ist eben die sozial-grün angestrichene Modernisierung der Kapitalherrschaft. Das Projekt der LINKEN ist es, mit einer Mobilisierung aus der Gesellschaft wirkliche sozial-ökologisch Reformen durchzusetzen. Das sind also nicht nur zwei komplett unterschiedliche Ziele, auch die Wege verlaufen ganz anders.




Bundestagswahl: Die Linke wählen, aber den Klassenkampf organisieren!

Leo Drais, Neue Internationale 258, September 2021

Die KanzlerkandidatInnen von CDU/CSU, SPD, Grünen kommen nicht so recht in die Gänge. Dabei geht es für das deutsche Kapital um viel: Verwerfungen der Weltwirtschaft trotz Milliardenpaketen für die Konjunktur, drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit, Corona-Pandemie mit Millionen Todesopfern – wie soll der deutsche Imperialismus da ausgerichtet werden?

Internationale Kooperation ist bei globalen Problemen kaum noch angesagt. Der Heißhunger nach immer höheren Profiten treibt die Konkurrenz auf immer neue Spitzen. Mit dem Kampf um neue Märkte und Anlagesphären verschärft sich der um die Aufteilung der Welt – zwischen den USA und China, aber auch der EU und Deutschland.

Die Kosten für dieses System und eine Politik, die darauf zielt, es am Laufen zu halten, zahlen wir schon jetzt. Während die Beschäftigten im Gesundheitswesen unter Personalmangel, katastrophalen Arbeitsbedingungen leiden, werden die Konzerne, vor allem in der Exportindustrie, mit Milliarden fit gemacht. Jede wirkliche ökologische Wende wird seit Jahren verschleppt. Richten soll es der Markt. Aber der besorgt es allenfalls für die Energiewirtschaft, die mit Milliarden subventioniert wird, während weiter Kohle verstromt und neue Gasterminals gebaut werden.

Baerbock, Laschet, Scholz

Der Kurs von Laschet, Baerbock, Scholz läuft darauf hinaus, das deutsche Kapital fit zu machen für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt – Aufrüstung der Bundeswehr, Militärinterventionen wie in Mali und rassistische Abschottung der Grenzen Europas inklusive. Allenfalls verpacken sie ihn unterschiedlich – grün, sozial oder christlich, je nach sozialer Basis und Tradition.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich FDP und AfD als Parteien der (klein)bürgerlichen  Opposition, denen all das noch zu grün, zu ökologisch, zu sozial und zu wenig nationalistisch gerät. Während sich die FDP als Alternative für die Fittesten in der Konkurrenz aufführt, gibt sich die AfD als rechtspopulistische „Volkspartei“, als nationalistische und rassistische Alternative.

Kapital und Arbeit

Aktuell setzt das deutsche Kapital jedoch auf EU und Euro als Vehikel für die imperialistische Durchsetzung der eigenen Interessen und auf staatliche Stützung, um in der globalen Konkurrenz fitter zu werden, den sog. sozialökologischen Umbau profitabel zu gestalten. Es setzt dabei auf eine Kombination von CDU/CSU, Grünen, SPD und FDP als neoliberales Korrektiv – inklusive enger Kooperation mit der EU-Kommission unter deutscher Führung und unter sozialpartnerschaftlicher Einbindung der SPD-geführten Gewerkschaften.

Für alle Lohnabhängigen, für die Mitglieder der Gewerkschaften, für MigrantInnen, proletarische Frauen, für RentnerInnen und Jugendliche, für die Umweltbewegung und für die MieterInnenproteste wird die nächste Regierung, ob nun von Laschet, Baerbock oder gar Scholz geführt, eine sozialer Angriffe bedeuten. Sie wird versuchen, die Kosten von Pandemie und Krise auf die Massen abwälzen. Auch wenn SPD und Grüne eine mögliche Regierungspolitik mit sozialen und grünen Versprechungen garnieren, so werden diese rasch an der Realität kapitalistischer Konkurrenz relativiert, verwässert, verschoben und gebrochen werden. Scholz‘ unzureichender Mindestlohn von 12 Euro wird bestenfalls die Kosmetik neuer Rückschritte für Lohnabhängige liefern.

Wir müssen den Wahlkampf und die Bundestagswahlen daher nutzen, um den Klassenkampf gegen die kommenden Angriffe vorzubereiten. Auch wenn Wahlen nichts Grundlegendes verändern, drücken sie ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft aus.

Damit kommen wir zur LINKEN. Trotz ihres reformistischen Programms stützt sie sich auf jene Lohnabhängigen, GewerkschafterInnen, Aktive in sozialen Bewegungen, die Widerstand gegen Angriffe leisten wollen. Trotz ihrer reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik organisiert DIE LINKE wichtige Teile der sozialen Bewegungen und des linken Flügels der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert im Gegensatz zur SPD jenen Teil der ArbeiterInnenklasse, der gegen offene Sozialpartnerschaft und imperialistische Intervention eintritt und soziale und politische Verbesserungen erkämpfen und in Parlamenten durchsetzen will.

Wir hegen und fördern keine Illusionen in den Charakter der Partei DIE LINKE, aber das Kräfteverhältnis, also die Kampfbedingungen, die die Wahlen zum Ausdruck bringen, können uns nicht egal sein. Wir rufen daher zu ihrer Wahl auf.

Klassenkampf statt Koalitionshoffnungen

In ihrem Wahlprogramm stellt DIE LINKE eine Reihe fortschrittlicher Forderungen auf wie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels, die Erhöhung des Mindestlohns, eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser und eine bessere Finanzierung der Pflege, ein Verbot von Waffenexporten, die Ablehnung von Auslandseinsätzen, eine Vermögensabgabe für Nettovermögen über zwei Millionen Euro und eine stärkere Besteuerung der Reichen.

Es reicht bekanntlich aber nicht, diese Forderungen nur aufzustellen oder darauf zu hoffen, sie in einer möglichen Koalitionsregierung mit offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen oder unter einer rechten SPD unter Scholz oder Giffey unterzubringen, selbst wenn 4 Wochen vor der Wahl  rein rechnerisch eine Bundesregierung aus SPD, Grünen und LINKEN vielleicht möglich wäre, und auch einmal davon abgesehen, dass Grüne und SPD wahrscheinlich kaum Interesse an einer Regierung mit der LINKEN haben.

Keine Koalition mit offen bürgerlichen Parteien!

Aber selbst wenn sie in den Bereich der Möglichkeiten käme: Eine Beteiligung einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei wie der LINKEN an einer Regierung mit einer offen bürgerlichen Partei, sprich den Grünen, ist kategorisch abzulehnen! In Ländern wie Berlin oder gar Thüringen tritt der Charakter solcher Regierungsbeteiligungen deutlich zutage. Während die Linkspartei für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eintritt, befindet sie sich im Senat in Geiselhaft. Auf Bundesebene würde eine solche Regierungsbeteiligung einen weiteren Schritt in der Unterordnung unter die Interessen des deutschen Kapitals bedeuten, dessen Staat aktiv mitverwaltet werden müsste –  und ohne das Bekenntnis zu NATO, Bundeswehr und weiteren Auslandseinsätzen ist eine solche Regierung sowieso nicht zu haben. RegierungssozialistInnen wie Ramelow oder Bartsch wären vermutlich zu solcherlei bereit, die Linkspopulistin Wagenknecht und ihre AnhängerInnen ebenso. Kapitalismus und Marktwirtschaft wollen sie allenfalls sozialer und fairer ausgestalten. Dass das eine Illusion ist, beweist die Geschichte der SPD.

Aber wie steht es um die Bewegungslinke, die zunehmend die Linkspartei dominiert? Sie gibt vor, den Kampf auf der Straße, in den Krankenhäusern, in der MieterInnenbewegung oder gegen repressive Polizeigesetze mit einer geschickten „Transformationsstrategie“ verbinden zu können. Jedoch auch hier gilt, dass der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus stets auf der politischen Intensivstation endet. Eine linkere Illusion in parlamentarische Reformierbarkeit des Kapitalismus ist immer noch eine Illusion.

Wahlempfehlung

Und trotzdem rufen wir bei den Wahlen zum Bundestag und in Berlin auf, die Linkspartei zu wählen. Warum? Wir teilen ihre Illusionen in den Parlamentarismus und ihr reformistisches, bürgerliches Programm nicht. Aber die ArbeiterInnenklasse und AntikapitalistInnen können Parlamente und Wahlen nutzen – als Mittel zur Verhinderung reaktionärer Gesetze, vor allem aber als Tribüne für den Klassenkampf und zur Mobilisierung gegen Kapital, rechte Parteien, bürgerliche Regierungen. In diesem Sinne könnte eine LINKE im Parlament nützlich und sinnvoll sein. Entscheidend ist aber der Kampf außerhalb des Parlamentes!

Wir richten uns direkt an die Linkspartei und besonders an ihre Mitglieder, denen es ernst ist mit den Forderungen ihrer Partei: Fordert sie auf, gegen die sicher kommenden Angriffe der nächsten Bundesregierung zu mobilisieren! Fordert sie in Berlin auf, nicht nur für die Enteignung von DW & Co. zu stimmen, sondern dafür auf die Straße zu mobilisieren! Tragt den Vorschlag politischer Streiks zur Abwehr reaktionärer Gesetze und zur Durchsetzung von Enteignung, Mietendeckel, kostenlosem Nahverkehr oder Vermögensabgabe in die LINKE – wir unterstützen das.

Aber seid auch bereit zu brechen, wenn die LINKE doch für ein Bundeswehr-(Afghanistan-)Mandat stimmt, anstatt für offene Grenzen einzutreten, wenn sie die Berliner Krankenhausbewegung oder DWE-Kampagne ins Leere laufen lässt, fossile Energieunternehmen subventioniert, anstatt sie zu enteignen! Verrät Euch die Linkspartei und tausende WählerInnen, dann lasst uns gemeinsam dagegen ankämpfen und in Diskussion über den Aufbau einer wirklich revolutionäre Alternative eintreten, die kein Wahlverein ist, sondern eine Kampforganisation: eine Partei, gestützt auf ein Programm von Übergangsforderungen, das Reformen und Wahlen als Mittel zum Zweck begreift, als lediglich taktische Möglichkeit und Mittel zur Vorbereitung einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung!

Nach der Wahl – vor dem Kampf!

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock werden für soziale Angriffe sorgen und werben. Eine Massenbewegung gegen Krise und Pandemie aufzubauen, die vor der Eigentumsfrage nicht haltmacht, kann sie stoppen. Wir schlagen daher eine Aktionskonferenz von sozialen Bewegungen wie den MieterInnen-, Umweltbewegungen von Ende Gelände bis zu linken FFF-Gruppen, Frauenorganisationen, Gruppen rassistisch Unterdrückter von Black Lives Matter bis Migrantifa, linken Gruppierungen, Gewerkschaften, Linkspartei und allen anderen Parteien, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen (einschließlich aller linken Kräfte in der SPD) vor. Diese sollte die Lage nach den Wahlen und einen Mobilisierungsplan gegen die Attacken von Regierung und Konzernen diskutieren und beschließen. Als mögliche Forderungen schlagen wir vor:

  • Verbot aller Räumungen und Wohnungskündigungen, Erlass der Mietschulden! Für die Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und Enteignung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. unter Kontrolle der MieterInnen!

  • Gegen jede Diskriminierung von MigrantInnen bei der Suche nach Wohnung oder Arbeitsplatz! Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle!

  • Enteignung des Gesundheitssektors und der Pharmaindustrie, Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe! Rasche und gerechte globale Verteilung! Kontrolle der Maßnahmen durch die Beschäftigten im Gesundheitssektor! Streichung der Schulden der Länder des globalen Südens!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Carearbeit zur Durchbrechung der sexistischen Arbeitsteilung! Milliardeninvestitionen in Bildung, Erziehung und Pflege, bezahlt durch progressive Besteuerung von Reichen und KapitalistInnen!

  • Nein zur Festung Europa – offene Grenzen! Organisierter Selbstschutz gegen rechte Gewalt! Verteidigt die Demonstrationsfreiheit und demokratische Rechte!

  • Schluss mit allen Auslandseinsätzen, Waffenexporten, politischen und wirtschaftlichen Hilfen für reaktionäre Regime! Austritt aus der NATO!

  • Kampf gegen alle Entlassungen! Gesetzlicher Mindestlohn und Mindesteinkommen für alle von 15 Euro/Stunde! Enteignung aller Unternehmen, die mit Massenentlassungen drohen! Für die 30-Stundenwoche bei vollem Personalausgleich und Lohn!

  • Die Folgen der Klimakrise und ihre Bewältigung, Überflutungen und Waldbrände müssen durch die bezahlt werden, die sie verursachen, die durch Kohlestrom und Verbrennerautos Milliarden verdienen! Nein zur allgemeinen CO2-Steuer – ja zur massiven Besteuerung der Gewinne! RWE, VW und Co. entschädigungslos enteignen – für eine nachhaltige  Produktionsumstellung unter demokratischer Kontrolle derer, die dort arbeiten!



Wahlprogramm der Grünen: alles Green New Deal?

Martin Suchanek, Neue Internationale 255, Mai 2021

Die Grünen präsentieren nicht nur eine Kanzlerkandidatin. Ihr Programmentwurf zu den Bundestagswahlen mit dem bezeichnenden Titel „Deutschland. Alles ist drin.“ verspricht allen Klassen und Schichten das Blaue vom Himmel.

Für alle gute Grüne?

Das erste Kapitel „Lebensgrundlagen schützen“ stellt uns einen klimagerechten Wohlstand, Versorgungssicherheit mit Erneuerbaren, nachhaltige Mobilität, ein gutes Leben für alle sowie eine Stärkung von Bauern/Bäuerinnen und deren Tieren in Aussicht. Diese Versprechungen werden in weiteren Abschnitten auf allen möglichen Ebenen ergänzt. So wollen die Grünen für faire Löhne und Gehälter sorgen, Kinder, Jugendliche und Familien fördern, Gerechtigkeit zwischen  Geschlechtern schaffen und soziale Netzwerke sichern.

Gleichzeitig wollen sie Unternehmensgeist, Wettbewerb und Ideen fördern, dem Markt einen sozial-ökologischen Rahmen geben, die Digitalisierung voranbringen, die Finanzmärkte stabiler und nachhaltiger gestalten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden.

Eine rosige grüne Zukunft für alle Klassen versprechen die Grünen seit Jahrzehnten … Gaben sie sich in ihrer Gründungsphase noch als radikale kleinbürgerliche Kraft, die, wenn schon nicht die Marktwirtschaft, so doch deren Auswüchse und vor allem die großen Unternehmen in Frage stellte, so warf die Partei spätestens Ende der 1980er/Anfang der 1990 Jahre diesen kleinbürgerlichen Utopismus über Bord. Als neues „realistisches“ Projekt, das schließlich in der Regierung Schröder/Fischer gipfelte, wurde Rot-Grün aus der Taufe gehoben. Die grüne Partei verstand sich dabei immer noch als „radikales“ Korrektiv, als eine mit den neuen sozialen Bewegungen verbundene Pressure Group in einer rot-grünen Regierung.

Bekanntlich vollbrachte diese nicht das Wunder einer sozial-ökologischen Transformation, sondern führte Bundeswehrkriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan und endete mit den Hartz-Gesetzen als Verbesserung der Ausbeutungsrate und Konkurrenzbedingungen des deutschen Großkapitals. Damit wurde zugleich die wirkliche Umwandlung der Grünen von einer ursprünglich kleinbürgerlichen „Bewegungs-“ zu einer linksbürgerlichen Partei abgeschlossen.

Die vergangenen Jahre zeigten andauernde Krisen von SPD und CDU/CSU, Stagnation der Linkspartei sowie enge Klientelpolitik der FDP, außerdem mit Fridays for Future eine kleinbürgerliche Umweltmassenbewegung. All dies ermöglichte es den Grünen, sich zu einer bürgerlichen Kraft zu mausern, die ernsthaft die Union herausfordern kann. Ihre konstant hohen Umfragewerte, die vom Standpunkt des Kapitals durchaus zuverlässige Regierungspolitik in Baden-Württemberg und vielen anderen Landeskoalitionen haben längst alle Zweifel an den Grünen beseitigt. Im Gegenteil: Das Führungspersonal der Partei mit dem Ökolabel erscheint selbst traditionellen bürgerlichen WählerInnen und Teilen der KapitalistInnenklasse als vorzeigbarer als ein Laschet, dem selbst die eigene Partei eine Kanzlerschaft nur bedingt zutraut.

Strategisches Konzept

Entscheidend ist jedoch, dass die Grünen für ein Konzept zur Überwindung der gegenwärtigen Krise stehen, woran es Union wie SPD mangelt: den Green New Deal. Diese „sozial-ökologische Transformation“ soll nicht weniger leisten als die Lösung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und demokratischen Herausforderungen unserer Zeit. Dazu müssten nur alle anpacken und von den Grünen lernen: „Als Gesellschaft haben wir den Schlüssel für so vieles schon in der Hand. Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann. Wir wissen, wie man eine sozial-ökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert. (…) Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Systemwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen.“ (Programm, Grüne, S. 6)

Vage Versprechen

Die Frage, ob eine sozial-ökologische Umgestaltung im Kapitalismus an Systemgrenzen stößt, stellt sich für die Grünen im Unterschied zu linkeren Versionen des Green New Deal erst gar nicht. Kein Wunder also, dass die Umverteilungsvorschläge, also die soziale Komponente des Deals, auf den 137 Seiten des Programm dünn und vage ausfallen.

So versprechen die Abschnitte zu Arbeit, Löhnen und sozialen Netzen wenig mehr, als dass alles „sozialer werden“ solle. Hartz IV soll zwar durch eine „Garantiesicherung“ ersetzt werden, über deren Höhe schweigen sich die Grünen aber aus. Das Rentenniveau soll auf gerade 48 % gehalten werden, das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren festgeschrieben bleiben, also bei dem erreichten Stand an Verschlechterungen der Großen Koalition. Der Mindestlohn soll auf gerade mal 12,- Euro angehoben werden. Armutsfest ist das Programm der Grünen trotz gegenteiliger Beteuerung also längst nicht.

Statt einer generellen Arbeitszeitverkürzung soll Vollbeschäftigung durch einen flexiblen Arbeitszeitkorridor von 30–40 Stunden pro Woche erreicht werden, ohne Lohnausgleich natürlich. Damit das alles auch weiter friedlich und reguliert über die Bühne geht, soll die SozialpartnerInnenschaft gestärkt werden. Schließlich versprechen die Grünen zur Milderung der Wohnungsnot neben einer Zügelung der Wohnungsspekulation und „fairen Mieten“, ganz wie alle tradierten bürgerlichen Parteien, die Erleichterung des Erwerbs von Wohneigentum.

Betrachten wir die sozialen Versprechungen, entpuppen sich jene der Grünen als bescheidener als jene des sogenannten ArbeitnehmerInnenflügels von CDU/CSU. Die Armen sollen etwas weniger arm werden – darin erschöpft sich die grüne Transformation. Andere Forderungen nach sozialer Absicherung oder nach Ausbau des Bildungswesens, Verbesserung der Digitalisierung usw. sind vor allem Versprechungen gegenüber bessergestellten Teilen der Lohnabhängigen und den bildungsbürgerlichen Mittelschichten, also dem Kernklientel der Grünen, und natürlich auch dem Kapital, das besser qualifizierte Arbeitskräfte braucht.

Umverteilung?

Noch unbestimmter und zahmer erweisen sich die Umverteilungsforderungen gegenüber Kapital und VermögensbesitzerInnen. Neben allgemeinen Beschränkungen von Exzessen der Spekulation und Profitmacherei geht es vor allem darum, dass die Reichen einen gerechten, wenn auch nicht übertrieben hohen Anteil an der sozial-ökologischen Umgestaltung leisten.

So soll klimaschädliches Verhalten von ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht weiter subventioniert werden, was in einem ersten Schritt die Staatsausgaben um jährlich 10 Milliarden Euro reduzieren soll. Des Weiteren soll mit Steuergeldern umsichtig umgegangen und die Vergabe von öffentlich-privaten Partnerschaften transparenter gestaltet werden.

Die Schuldenbremse soll reformiert werden, um den Spielraum für Staatsausgaben zur Steigerung von Konsum und Zukunftsinvestitionen in Ökologie, Bildung und Digitalisierung zu erleichtern. Der Spitzensteuersatz soll außerdem auf bis zu 48 % angehoben werden, würde also noch immer deutlich geringer als unter Helmut Kohl liegen. Außerdem soll für alle Vermögen von über 2 Millionen Euro eine Vermögensteuer von jährlich 1 % erhoben werden. Zittern muss das Kapital also nicht, zumal auch Begünstigungen für Betriebsvermögen im verfassungsrechtlich erlaubten und wirtschaftlich gebotenen Umfang eingeführt werden sollen. Fazit des Ganzen: Die Reichen sollen etwas weniger reich werden.

Die Klassenspaltung der Gesellschaft kommt im Programm wie generell bei den Grünen überhaupt nicht vor, sie erscheint erst gar nicht als Problem. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wird als solche nicht Frage gestellt. Die Grünen stört nur, dass sie mittlerweile zu groß wird – so groß, dass sie den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gefährde. Dadurch würden nämlich die Demokratie, der soziale Frieden und die Möglichkeit eines „vernünftigen“, von allen akzeptierten Ausgleichs der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen untergraben. Doch genau ein solches Mindestmaß an Harmonie scheint der Partei notwendig, um auch den ökologischen Umbau „vernünftig“ zu gestalten und „alle mitzunehmen“.

Ökokapitalismus als Sprung nach vorn

An mehreren Stellen des Wahlprogramms wird der Green New Deal als neue Wirtschaftsweise verkauft. Jedoch, Kritik am Kapitalismus oder an der Warenproduktion ist damit nicht gemeint.

Die neue Wirtschaftsweise soll allerdings klimaneutral sein. Erreicht werden soll das im Wesentlichen durch eine endlich konsequente Umsetzung der internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz und des Green New Deals, den die EU-Kommission zu implementieren versucht. Während linkere Spielarten des Green New Deal – z. B. das Wahlprogramm der britischen Labour Party unter Corbyn – auch die Verstaatlichung strategischer Wirtschaftsbereiche inkludieren und anerkennen, dass ein ernsthafter ökologischer Umbau nur gegen mächtige Kapitalinteressen durchsetzbar wäre, wollen die Grünen den Konzernen und Banken vermitteln, dass eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft auch in ihrem längerfristigen ökonomischen Interesse läge. Sie präsentieren sich dabei als bessere, weitsichtigere SachwalterInnen der Gesamtinteressen des deutschen und europäischen Kapitals.

Diesem soll die Investition in die sozial-ökologische Transformation schmackhaft gemacht werden. Da das Kapital aber noch nicht nach Wunsch in diese Branchen strömt, müsse dem freien Spiel der Marktkräfte auf die Sprünge geholfen werden. Auf technologischer Ebene scheint den Grünen dabei das Problem im Grunde schon als gelöst. Die Unternehmen müssten bloß dazu ermutigt werden, in enger Kooperation mit einer Regierung zu handeln, die sich dem Green New Deal verschrieben hat.

Anleihen bei Keynes

In dieser Politik finden sich Elemente des Keynesianismus wieder: Einerseits sollen Produktion und Konsum von ökologisch schädlichen Gütern durch den Abbau von Subventionen und durch Preissteigerungen (Ökosteuern; CO2-Preis) verteuert werden, so dass nicht nur die Unternehmen solcher Branchen Gewinneinbußen hinnehmen, sondern auch die KäuferInnen ihrer Produkte (also bei Konsumgütern vor allem die Lohnabhängigen) höhere Preise zahlen müssten.

Andererseits sollen steuerfinanzierte Programme zur ökologischen Erneuerung der Wirtschaft das Kapital in die gewünschten Sphären lenken. Dabei setzen die Grünen auf eine Stärkung der europäischen Kooperation und ein großes Investitionsprogramm, um „etwa gemeinsame europäische Energienetze oder ein Schnellbahnnetz“ zu finanzieren. Außerdem soll der Euro als internationale Leitwährung gestärkt werden, auch um zusätzliche InvestorInnen anzuziehen. Wie sehr dabei die Politik der Grünen von den Interessen des deutschen Großkapitals durchdrungen ist, verdeutlichen zwei Passagen:

„Jetzt braucht es Entschlossenheit und Zusammenarbeit, damit unsere Autobauer in Zukunft wieder die Nase vorn haben. Klar ist: Der fossile Verbrennungsmotor hat keine Zukunft. Wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Wir unterstützen bei Forschung und Innovation und sichern einen schnellen Aufbau der Ladesäuleninfrastruktur und eine weitere Förderung des Markthochlaufs von emissionsfreien Fahrzeugen zu. Aktuell haben Deutschland und Europa den Anschluss bei der Batteriezellenproduktion und damit viel Wertschöpfung verloren. Das darf sich bei den Batterien der nächsten Generation, die günstiger und ressourcensparender sind, nicht wiederholen. Wir wollen Europa zum Weltmarktführer einer ökologischen Batteriezellenproduktion machen.“ (S. 34)

Und weiter: „Um kritische Abhängigkeiten zu verringern, soll die EU-Kapazität im Bereich der Halbleitertechnologie wie von der EU-Kommission vorgeschlagen auf 20 Prozent der weltweiten Produktion ausgebaut werden. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir bei der Halbleitertechnologie für industrielle Anwendungen bereits eine starke europäische Stellung haben oder in denen eine besonders dynamische zukünftige Entwicklung zu erwarten ist.“ (S. 34)

Kleinbürgerliches Gedöns und Imperialismus

Bei allem kleinbürgerlichen Gedöns über Menschlichkeit, Zusammenhalt, Gerechtigkeit und sonstigen Phrasen präsentieren die Grünen hier ein Programm für den deutschen Imperialismus und eine in seinem Interesse vollendete EU. Diese soll zu einem Bollwerk im Kampf bei der Neuaufteilung der Welt werden, die in der grünen Ideologie zur sozial-ökologischen Vorreiterrolle Europas verbrämt wird.

Anders als rein neoliberale DoktrinärInnen erkennen die Grünen dabei an, dass es staatlicher Intervention bedarf, wenn ein solches Programm Wirklichkeit werden soll, dass der deutsche Staat und die EU im längerfristigen Interesse des Gesamtkapital als GeburtshelferInnen der Transformation der technischen Basis des Kapitals wirken müssen. Der soziale Anstrich dieser Politik erscheint darüber hinaus rational, weil eine zu große Vertiefung der sozialen Kluft der Gesellschaft das Projekt noch zusätzlich erschweren würde. Daher sollen die ärgsten Auswüchse des Neoliberalismus auch abgemildert werden. Schließlich lässt sich das Programm der kapitalistischen Ökotransformation auch besser verkaufen und gegen andere bürgerliche Kräfte und gesellschaftliche Opposition durchsetzen, wann man es mit viel sozialer und demokratischer Tünche lackiert.

So wie die Interessen der deutschen Autoindustrie und anderer Konzerne offen benannt werden, so erinnert der Abschnitt „Klimaaußenpolitik“ sehr an klassischen, verlogenen Imperialismus:

„Sie bedeutet zum einen, dass wir Europäer*innen unseren Bedarf an grüner Energie durch Klimapartnerschaften decken helfen: grüner Wasserstoff statt Öl- und Gasimporte. Andererseits werden wir so endlich unserer historischen Verantwortung gerecht, indem wir Elektrifizierung und Technologietransfers insbesondere in afrikanischen Ländern vorantreiben und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in diesen Ländern unterstützen. Nur so können wir es schaffen, global auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“ (S. 117)

Am deutschen (und europäischen) Kapitalexport soll also die Welt genesen. Der Imperialismus wird so endlich wieder seiner Verantwortung gerecht. Die imperialistische Ausbeutung wird bei der sozial-ökologischen Transformation mit neuen Phrasen beschönigt. Die Realität diese Politik zeigt der EU-Afrika-Pakt, der seit Jahren im Interesse der europäischen Konzerne vorangetrieben wird, um sich Zugang zu strategisch wichtigen Rohstoffen, Investitionen und Märkten zu sichern. Zugleich bildet er einen Teil der europäischen Strategie, um im neuen Wettlauf um Afrika den USA und China Paroli bieten zu können. In der grünen Ideologie hingegen erscheint diese klassisch imperialistische Politik des europäischen Finanzkapitals als „Win-win“-Situation, ganz so wie die bürgerliche Wirtschaftstheorie immer gerne die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Metropolen und Peripherie als Vorteil für alle verklärt hat.

Fazit

AktivistInnen der Umweltbewegung oder Menschen, die auf eine Ablösung von CDU/CSU an der Regierung hoffen, sollten das Programm der Grünen zur Kenntnis nehmen.

Ihre sozial-ökologische Transformation erweist sich weder als sozial noch als ökologisch. Sie entpuppt sich vielmehr als Programm zur Umstrukturierung des deutschen Kapitals. Wie ökologisch das Ganze ist, zeigt der Schulterschluss mit der deutschen Autoindustrie. Die Grünen setzen auf E-Mobilität im privaten, vorgeblich klimaneutralen PKW. Wenn notwendig, werden dafür auch Wälder gerodet und unsinnige, aber höchst profitable Autobahnbauten durchgesetzt wie zur Zeit im Dannenröder Wald. Was die Grünen für Deutschland und Europa versprechen, führt schon jetzt Kretschmann in Baden-Württemberg vor.

An der kapitalkonformen Ausrichtung lässt das Programm der Grünen keinen Zweifel übrig. Es wird aber nicht nur den ökologischen, geschweige denn den sozialen Fragen unserer Zeit nicht gerecht. Die Grünen skizzieren auch ein alternatives, imperialistisches Programm. Damit werden sie zu einer Option für die deutsche Bourgeoisie. Ob nun in einer schwarz-grünen Regierung oder unter einer grünen Kanzlerin oder in einer Ampel-Koalition – die nächste Bundesregierung wird ohne die Grünen kaum zu bilden sein. Umso wichtiger ist, dass sich die Umweltbewegung und andere demokratische und soziale Bewegungen von ihren Illusionen in sie so rasch wie möglich befreien.




Olaf Scholz als Zugpferd?

Jürgen Roth, Infomail 1113, 14. August 2020

Stolz präsentierten sie Scholz. Am Montag, dem 10. August, verkündeten der Bundesfinanzminister und die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass man sich auf einen Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geeinigt habe. Dass der Parteitag die Entscheidung absegnen wird, gilt als sicher.

Die beiden Vorsitzenden und der Vizekanzler präsentierten sich nicht nur in trauter Eintracht. Sie waren sogar etwas stolz darauf, dass sie vor allen anderen Parteien einen Spitzenkandidaten vorzuweisen haben und dass von diesem „Coup“ vorab nichts an die Presse gedrungen sei. Einigkeit beginnt in der SPD mit Schnauze Halten.

Absichtsbekundungen

Auch wenn die Umfragen im Keller sind, so gibt sich die SPD ambitioniert. Bis zur nächsten Bundestagswahl wolle sie natürlich verlässlich die Arbeit der Großen Koalition fortsetzen, dann aber solle ein „echter“ Politikwechsel mit einer linken „Reformkoalition“ folgen. Der kategorische Ausschluss einer Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene wurde nebenbei offiziell begraben – womit sich die politischen Zuggeständnisse von Scholz und Co. an die Vorsitzenden auch schon erledigt haben. Alle anderen „Brüche“ mit neo-liberalen doktrinären Marotten wie der „Schwarzen Null“ wurden nicht aus besserer Überzeugung, sondern aus pragmatischer Akzeptanz des Notwendigen angesichts einer historischen Krise des Kapitalismus und einer globalen Pandemie vollzogen.

Scholz gab als Ziel aus, die Umfragewerte der Partei zu steigern (aktuell zwischen 14 und 15 %) und die nächste Regierung anzuführen. Da er sich im gleichen Atemzug von DIE LINKE distanzierte wegen deren Ablehnung der NATO, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, sofern die Linkspartei – was sicher nicht auszuschließen ist – nicht noch weitere Abstriche und Verrenkungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr macht.

Da natürlich auch zweifelhaft ist, ob die SPD überhaupt vor den Grünen landen wird, hat die Vorsitzende Esken in einem ARD-Interview schon erklärt, die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter einer grünen KanzlerInnenschaft „Verantwortung“ zu übernehmen. Walter-Borjans mutmaßte, Scholz genieße hohes Ansehen in der Bevölkerung wegen seiner Fähigkeit, Krisen zu meistern. Deshalb wurde er auch einstimmig (!) von Vorstand und Präsidium nominiert.

Reaktion der Parteilinken

Doch nur Teile des linken SPD-Flügels zeigten sich angesichts dieser Personalentscheidung ratlos oder gar ablehnend. So Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21): „Warum versuchen wir, mit der immer gleichen Methode ein anderes Ergebnis zu erwarten?“ Andrea Ypsilanti zog den Schluss, dass die SPD als „transformatorische Kraft im Zusammenspiel mit Bewegungen“ ausfalle. Einigkeit sieht anders aus! Aber diese Kritik teilt auch nur eine Minderheit der Parteilinken. Die meisten tun so, als wäre die Entscheidung für Scholz keine politische Weichenstellung, als hätte sich der Architekt von Agenda 2010 nach links bewegt, nur weil er auch Kanzler werden wolle.

Viele Parteilinke verteidigen jedenfalls die Nominierung. Annika Klose, Berliner Juso-Vorsitzende, hofft auf Rot-Rot-Grün unter dem SPD-Spitzenkandidaten. Pragmatismus und Regierungserfahrung seien ein Vorteil und der Wahlkampf werde als Team geführt. Die Konjunkturprogramme in der Corona-Krise seien mit den Parteivorsitzenden und dem Juso-Bundeschef Kühnert abgesprochen, Schuldenaufnahme, Mehrwertsteuersenkung, Grundrente und die im Sozialstaatspapier versprochene Abkehr von Hartz IV hätten linke Akzente in der Großen Koalition markiert. Sie setzte ihre Hoffnung auf mehr Umverteilung, Schließen von Steuerschlupflöchern, Wiederbelebung der Vermögenssteuer und Änderungen bei der Erbschaftssteuer und auf diesbezügliche Unterstützung durch die EU. Hoffnung machte ihr auch, dass Olaf Scholz eine Regierungsbeteiligung ohne die Union haben möchte. Wiederum: mit wem? Fastnamensvetter Schulz hatte Ähnliches nach der verlorenen letzten Bundestagswahl verkündet – das Ergebnis ist bekannt.

Auch Fraktionsvize Miersch, seines Zeichen Sprecher der Parlamentarischen Linken, und Kevin Kühnert äußerten sich ähnlich. Letzterer gibt seinen Juso-Vorsitz im Herbst auf und kandidiert für den Bundestag. Dafür hat er gleich eine Eintrittskarte ins Scholz’sche (Schatten-)Kabinett gelöst und die Unterstützung der Parteijugend zugesagt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren marschierten Topleader und Jusos in eine gemeinsame Richtung! Gleichzeitig warnte er seine GenossInnen vom linken SPD-Flügel vor „destruktiver Kritik“.

In diesen Worten schwingt nicht unberechtigte Sorge mit. Schließlich sehen Teile der Parteibasis – und erst recht Millionen Lohnabhängige – Scholz als Architekten von Agenda 2010 und der Rente mit 67. Hilde Mattheis kritisierte, dass die SPD sich mit der Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden eigentlich von ihrer Politik der vergangenen Jahre verabschieden wollte. „Eigentlich“ wollte man schon vor 3 Jahren die Große Koalition aufkündigen und noch „eigentlicher“ erwiesen sich die „linken“ HoffnungsträgerInnen als SteigbügelhalterInnen für das Zurück zur Politik der vergangenen Jahre!

Bröckelt die Basis?

Einige linke BasisaktivistInnen verlassen die SPD, so der Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson. Er und viele Tausende hätten Esken und Walter-Borjans gewählt, damit sie die SPD-Basis gegen die Politik und Person Scholz vertreten, die im Wahlgang eine heftige Schlappe erlitten habe, nur um gestärkter denn je dazustehen. Er monierte auch, dass der Kandidat weder von einem Parteitag noch von den Mitgliedern gewählt wurde. Scholz habe die derzeitigen Zustände mit erschaffen, mit verteidigt und argumentiere für sie bis heute.

Innerhalb der organisierten Parteilinken hat sich im Vergleich zur Gemengelage vor 3 Jahren die Situation weitgehend geklärt. Nur noch in DL 21 versammeln sich SozialdemokratInnen, die auf eine personelle und inhaltliche Linkswende der SPD hoffen. Doch sie üben keinen Einfluss auf die Programmatik aus. Sie werden das auch weiterhin nicht tun, wenn sie nicht den Kampf innerhalb der Gewerkschaften um eine andere Führung aufnehmen. Schließlich ist die Bindung an die und die Kontrolle der Gewerkschaften  das einzige übriggebliebene organische Bindeglied zur organisierten ArbeiterInnenklasse, andere (Genossenschaftswesen, Kultur, Sport, ArbeiterInneneinfluss auf die Ortsvereine, Vorfeldorganisationen wie Jusos, Falken, ArbeiterInnensamariterbund, AWO, Mietervereine …) existieren entweder nicht mehr oder sind geschwächt und sind vor allem zum Tummelplatz reiner KarrieristInnen geworden.

Grüne und DIE LINKE

Die SPD ist schwer angeschlagen nach einer langen Serie von Wahlniederlagen und Personalquerelen. Die Grünen legen sich nicht fest und schielen auch auf Union und FDP. DIE LINKE profitiert nicht davon.

Am Wochenende, 8./9. August, noch vor der Verkündung von Scholz‘ Kandidatur erklärte die SPD ihre Bereitschaft zur Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund – nach 30 Jahren Unvereinbarkeitspose gegenüber PDS/DIE LINKE! Wir haben oben ausgeführt, von welchen Widersprüchen die SPD derzeit geprägt ist. Hier wird ein weiterer hinzugefügt. Es ist zu bezweifeln, ob mehr dahintersteckt, als sich viele Optionen für eine ungewisse Zukunft offenzuhalten.

Doch auch DIE LINKE wird nicht um die Frage herumkommen, wie sie mit ihrer bisherigen Rolle gegenüber der SPD umgehen will. Parteichef Bernd Riexinger sieht als entscheidend an, ob es inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Er findet an den Aussagen vom vergangenen Wochenende interessant, dass die SPD das Hartz-IV-System überwinden, Sanktionen abschaffen, einen deutlich höheren Mindestlohn und Reiche stärker besteuern wolle. Offen bleibe die Frage der Friedenspolitik wie eines sozial-ökologischen Umbaus. Mit der LINKEN seien Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu machen. Und was ist mit der NATO, Genosse Riexinger? Dass die Linke im Mai 2020 Gregor Gysi einstimmig zum außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion gewählt hat, zeigt, dass die Parteispitze und der Apparat eine Koalition mit SPD und Grünen nicht abgeneigt sind und sie faktisch vorbereiten.

Natürlich beteuert DIE LINKE weiter, dass sie keinen Koalitionswahlkampf betreiben werde, sondern eigene Positionen durch starke Unterstützung aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden verankern wolle. Doch das kann sie leicht verkünden, einen „Koalitionswahlkampf“ verlangt von ihr ohnedies niemand, zumal sie über andere Regierungsoptionen eh nicht verfügt.

Um den Willen zur Regierung auszudrücken, reicht es schon, wenn Riexinger erklärt, dass die CDU als Regierungspartei abgelöst gehöre. Momentan erschweren zweifellos eher die Grünen einen solchen „Politikwechsel“, sollte es denn die parlamentarischen Mehrheiten dafür geben. Diese haben sich schließlich der CDU schon seit längerem angenähert und erwägen, wie die Interviews des ehemaligen „Linken“ Trittin zeigen, eher eine Koalition mit der Union als eine Regierung mit SPD und Linkspartei.

Genau diese Umorientierung der Grünen mag aber andererseits dazu führen, dass sich auch die Linkspartei „härter“ in ihren Bedingungen gibt. Warum soll sie gleich alle politischen Positionen für ein Projekt fallenlassen, das auch mit ihrer Zustimmung ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich ist?

Dass die SPD ein mögliches rot-rot-grünes Projekt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wird, hängt daher nur bedingt damit zusammen, dass sie wirklich daran glaubt. Sie hat vielmehr kein anderes, mit dem die Partei überhaupt „geeint“ antreten kann. Man kann so auch viel leichter so tun, also ob sie nicht nur für einen Bruch mit der Großen Koalition, sondern auch für eine nicht näher definierte „andere“ Politik stünde.

Wahlkampf-Konstellation wie 1998?

Ein Vorteil der frühzeitigen Kandidaten„wahl“ besteht darin, dass Scholz sich von jetzt an profilieren kann. Er hat mehr Zeit, ein Programm und ein Team aufzubauen, als die KonkurrentInnen. Der zweite „Vorteil“ besteht für die Partei darin, eine Richtungsdebatte, wie zuletzt 2017 geführt, vermieden zu haben – unter Komplizenschaft großer Teile des „linken“ Flügels wie seitens der Jusos und der Vorsitzenden!

Die Geschichte der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998 liefert einige Parallelen zur heutigen Lage. Es waren immer Leute der Mitte, wenn nicht sogar vom rechten Flügel, die neuen Machtkonstellationen auf der linken Flanke des traditionellen Parteiensystems den Boden bereitet haben (Börner in Hessen Mitte der 1980er Jahre, Schröder 1998 im Bund), während linke Kräfte wie Ypsilanti 2008 dabei scheiterten. 1998 hatte Langzeitkanzler Kohl seinen Zenit überschritten, Langzeitkanzlerin Merkel will 2021 nicht mehr antreten. 1998 kandidierte mit Schröder ein erfahrener Landespolitiker als Gesicht für die Massen im Gespann mit dem linken Parteichef Lafontaine als programmatischer Kopf.

Anders als 1997/98 gibt es heute aber keine ernsthafte gesellschaftliche Bewegung, die eine (rot-)rot-grüne Option stärken und tragen könnte, wie es damals in Massenaktionen gegen die Angriffe der Kohl-Regierung und in der Erfurter Erklärung zum Ausdruck kam. Die Wahl des Duos Schröder-Lafontaine bildete den Auftakt zu einer sozialdemokratischen Tragödie samt Kriegseinsätzen und Agenda 2010. Mit dem Trio Esken, Scholz und Walter-Borjans wiederholt sie sich – als politische Farce.




Große Koalition abgewählt – übernimmt Schwarz/Gelb/Grün?

Martin Suchanek, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Ein politisches Erdbeben wurde es dann doch. Auch wenn die Gebäude oder Institutionen der Bundesrepublik nicht eingestürzt sind, erschüttert wurden sie, auch wenn Merkel mit einer neuen Regierungskoalition weitermachen wird.

Die bürgerlichen Parteien

Abgewählt wurde die Große Koalition, deren Parteien verloren 13,8 Prozent der Stimmen, sackten also von insgesamt 67,2 Prozent auf 53,5 Prozent ab (1).

Allen Verlusten zum Trotz verkündet die CDU, dass sie ihre drei „strategischen Wahlziele“ errungen habe, also weiter die stärkste Partei und Fraktion stellt, gegen die keine Regierung gebildet werden könne und dass sie außerdem Rot-Rot-Grün verhindert hätte. Solcherart kann sich die Union trotz des Verlustes von 8,6 Prozent zur Wahlsiegerin erklären, immerhin bleibt ihr die Führung der nächsten Regierung. In Wirklichkeit dient eine solche „Bilanz“ offenkundig vor allem dem Schönreden der eigenen Niederlage.

AfD und FPD hingegen waren vor unverhohlenem Triumphalismus kaum zu bremsen. Im nationalen Überschwang verkündete AfD-Vorsitzender Gauland nicht nur, dass seine Partei die Regierung jagen werde, sondern auch noch, dass sie sich das „Land und das Volk“ zurückholen würde. Sprachlich war das zwar einigermaßen verunglückt. Klar ist aber, worum es der AfD geht – nicht das „eigene“ Volk soll zurückgeholt werden, vielmehr sollen jene, die nach Meinung der AfD nicht zu diesem gehören, aus dem Land vertrieben oder eingedeutscht werden.

Was die AfD an rassistischer Zuspitzung verspricht, will die FDP an der Regierung in Sachen „Liberalismus“, also an Privatisierungen, Flexibilisierung und neo-liberaler Politik, „einbringen“. Frei ist das Land, nämlich vor allem dann, wenn die großen Unternehmen und Konzerne frei für die Profitmacherei sind – notfalls auch auf Kosten der Umwelt und der Bevölkerung, wie die Verteidigung des Braunkohlebergbaus und der wahnwitzige Lobbyismus für den innerstädtischen Berliner Flughafen Tegel zeigen.

Dabei geht der Sieg der FDP, immerhin eine Verdoppelung ihrer Prozente und Stimmen, auch auf einen „taktischen“ Wechsel von früheren Union-WählerInnen zurück.

Die Grünen zeigten, dass man sich auch über den letzten Platz im Rennen um Parlamentssitze freuen kann – mag es auch nicht immer so überzeugend gelingen. In der nächsten Regierung stehen sie für „Umwelt“, „Offenheit“ und „Europa“. Mit Europa ist die „demokratische“ Vertiefung der EU in Allianz mit Frankreich zum Wohle „der europäischen Wirtschaft“ gemeint. Unter Umwelt geht es um den „ökologischen Umbau“ im Rahmen eines Green New Deal mit der Großindustrie. Und unter „Offenheit“ verstehen sie die „faire“ Selektion der MigrantInnen und die humanitäre Ausgestaltung der Abschiebung.

All das ist eine Basis für zähe, aber letztlich wohl erfolgreiche Koalitionsverhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP. Eine neue Regierung wird wahrscheinlich erst nach längeren Verhandlungen zustande kommen, zu einem „Gelingen“ des Unternehmens haben aber diese drei Parteien schon jetzt keine Alternative mehr.

Der Grund dafür ist einfach: Diese drei Parteien stehen in wesentlichen Fragen für eine Fortsetzung, allenfalls für eine Modifikation der Politik der Großen Koalition. Vor allem aber stehen sie dafür, dass die Lösung der Krise der EU eine, ja die Kernaufgabe der nächsten Bundesregierung sein wird. Wobei es darum geht, den „Kern“ Europas, also die Achse um Frankreich und Deutschland zu stärken und verlorenes Terrain in der Weltpolitik gegenüber den USA und China aufzuholen – wozu notwendigerweise auch Aufrüstung, Interventionen, verstärktes globales Agieren und die Sicherung der Investitionsbedürfnisse des Großkapitals gehören.

Verliererin SPD

Nur eine Partei vermochte am Wahlabend an ihrer Niederlage nichts zu deuten – die SPD. Sie verlor 5,2 Prozent der Stimmen und fuhr mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg ein. In absoluten Zahlen verlor sie fast zwei Millionen WählerInnen.

Die Niederlage kam zwar angesichts der Umfragen weniger überraschend als die Einbußen der Union. Aber die Union hatte 2013 immerhin ein extrem starkes Ergebnis (plus 7,7 Prozent), während die SPD sich von der Agenda-Politik bis heute nicht zu erholen vermochte.

Offenkundig hatte die Parteispitze dieses Debakel schon einkalkuliert. So verkündete sie kurz nach den ersten Hochrechungen, dass sie für eine Fortsetzung der Großen Koalition nicht zur Verfügung stünde. So war Schulz wenigstens ein Wahl-Coup gelungen.

Der Gang in die Opposition blieb ihr als einzige Möglichkeit, den finalen politischen Selbstmord zu verhindern – ob sie sich in dieser zu regenerieren vermag, ist allerdings fraglich. Die „Taktik“, so zu tun, als wäre nur die CDU für die Regierungspolitik und den Mangel an politischer Debatte im Land verantwortlich gewesen, wird wohl erst recht nicht als „Strategie“ reichen.

Die Verluste der SPD sind zweifellos wohlverdient und vor allem auf dem eigenen Mist gewachsen. In den Altersgruppen unter 45 schnitt sie nach Umfragen noch einmal stark unterdurchschnittlich ab (19 Prozent bei den 18-24-Jährigen, 18 bei den 25-35-Jährigen und 16 Prozent bei den 25-44-Jährigen).

Bei den ArbeiterInnen (24 Prozent), RentnerInnen (24 Prozent) und Arbeitslosen (23 Prozent) ist sie zwar überdurchschnittlich stark vertreten – aber auf einem historisch geringen Niveau. Es sind aber jene Teile der Bevölkerung, die der SPD noch eher die Stange hielten als Angestellte oder gar Selbstständige. Es liegt eine gewisse – unfreiwillige – Ironie darin, dass jene Schichten, die sie in den letzten Jahren immer wieder verraten hat, noch eher zu ihr hielten als die viel umworbene „Mitte“.

Erhebungen unter Gewerkschaftsmitgliedern (2) zeigen, dass die SPD mit 29 Prozent noch immer den höchsten Anteil erzielen konnte. Die Union erreichte im Landesdurchschnitt 20, die Linkspartei 12 Prozentpunkte. Damit lag sie aber nur auf dem vierten Platz – hinter der AfD, die 15 Prozent erzielen konnte. Im Osten kommt sie ebenso wie die Linkspartei unter Gewerkschaftsmitgliedern auf 22 Prozent – gegenüber 24 Prozent der Union und 18 der SPD. Allein das ist ein politisches Alarmsignal.

Das drückt sich z. T. auch in den Wählerwanderungen aus. Die SPD verlor fast nichts an die Union, aber 380.000 Menschen an die Grünen und 470.000 an die FDP. Das dürften eher Angestellte und Selbstständige gewesen sein. Sie verlor zugleich 470.000 an die AfD, was sicher auch den erschreckend hohen Anteil von ArbeiterInnen und Arbeitslosen an den AfD-Stimmen miterklärt. An die Linkspartei wanderten 430.000 ehemalige SPD-WählerInnen, vor allem im Westen, wo die Linkspartei weit überdurchschnittlich abschnitt.

Zweifellos sind gerade an diese Parteien auch Stimmen des Protests und der Unzufriedenheit verloren gegangen, nachdem klar geworden war, dass die SPD ohnedies keine Regierungsoption zu bieten hatte. Sie haben gewissermaßen taktisch gegen die Sozialdemokratie gestimmt, aber aus durchaus entgegensetzten Motiven. Die Stimmen der AfD brachten zwar sicher auch Unzufriedenheit mit allen anderen Parteien zum Ausdruck, sie waren aber auch eine Stimme für mehr, offeneren und unverhüllten Rassismus und Nationalismus, wie die Umfragen zu den Motiven der AfD-WählerInnen zeigen.

Die Linkspartei wurde aus anderen Gründen – im Grunde als Zeichen für eine „echte“ sozialdemokratische Politik, für Reformen im Interesse der ArbeiterInnen und Jugend gewählt.

Die Linkspartei

Betrachten wir nur die Stimmenanteile der Linkspartei, so scheint sich mit einem Plus von 0,6 Prozent (8,6 auf 9,2) wenig verändert zu haben. Dahinter verbergen sich jedoch enorme Veränderungen innerhalb ihrer WählerInnenschaft.

Erstens hat DIE LINKE in den neuen Bundesländern, also ihren traditionellen Bastionen, durchgängig verloren und ist auf den dritten Rang hinter CDU und AfD abgerutscht. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die sich schon in den Landtagswahlen (insbesondere in Berlin) gezeigt hatte. Hinsichtlich der Wählerwanderungen drückt sich das deutlich in Verlusten an die AfD aus – und zwar rund 400.000!

Zugleich hat die Linkspartei in allen westlichen Bundesländern sowie in Berlin zugelegt – und zwar durchaus beachtlich. In Berlin konnten die Verluste in den Ostbezirken durch Gewinne in den westlichen Bezirken kompensiert werden, so dass die Partei gegenüber den Bundestagswahlen 2013 leicht zulegen konnte. DIE LINKE schaffte es außerdem in allen westlichen Bundesländern, deutlich über die 5-Prozenthürde zu kommen, sogar in Ländern wie Bayern (6,2 Prozent), Baden-Württemberg (6,4), Rheinland-Pfalz (6,8) oder Nordrhein-Westfalen (7,5), wo sie bei den Landtagswahlen deutlich gescheitert war.

Sicherlich ist ein Teil dieser Stimmen auch auf taktisches Verhalten sozialdemokratischer WählerInnen zurückzuführen, die für die Linkspartei stimmten, da die SPD ohnedies keine Chance auf die Kanzlerschaft hatte und ihre Stimme somit auch nicht „verschwendet“ werden würde.

Das Wahlergebnis zeigt aber auch den Wandel an der sozialen Basis der Partei auf, Auch wenn die Linkspartei nur leicht überdurchschnittlich ArbeiterInnen (10 Prozent), Arbeitslose (11 Prozent) ansprechen konnte, so repräsentiert sie die bewussteren, (links)reformistischen Teile der ArbeiterInnenklasse. Hinzu kommt, dass sie unter jüngeren WählerInnen (18-34 Jahre) mit 11 Prozent besser als unter allen anderen Altersgruppen abschneidet.

Zweifellos haben die relative Stabilität des deutschen Imperialismus, das geringere Niveau gewerkschaftlicher Kämpfe und Niederlagen der Refugee-Bewegungen die Chancen der Linkspartei geschmälert. Ein Rechtsruck der Gesellschaft erschwert durchaus auch das Anwachsen links-reformistischer Parteien, zumal wenn große Teile der ArbeiterInnenklasse sozialpartnerschaftlich integriert sind und das Niveau der Klassenkämpfe relativ gering ist.

Trotz leichter Zuwächse vermocht die Linkspartei der vorhandenen Unzufriedenheit keinen umfassenden Ausdruck zu geben und konnte die Krise der SPD weniger als möglich nutzen. Die Gründe dafür sind hausgemacht, sie sind Resultat von Anpassung und Anbiederung. Erstens an die rassistische und chauvinistische Hetze gegen Geflüchtete, wie sie auch von „Linken“ wie Wagenknecht verbreitet wurde, zweitens an die Gewerkschaftsführungen, die allenfalls zaghaft kritisiert werden, und an den „demokratischen“ Mainstream, wie im Zuge von Distanzierungen nach dem G20-Gipfel zu sehen war. Und drittens in der Regierungspolitik in Thüringen, Berlin, Brandenburg. Dass die Partei vielen nicht gerade als „oppositionell“ erscheint, ist kein „Vermittlungsproblem“, sondern, wenn auch im kleineren Maßstab, ähnlich wie bei der SPD die notwendige Folge bürgerlicher Regierungspolitik, der Verwaltung sog. Sachzwänge.

Aufstieg der AfD

Zweifellos hat die AfD davon – noch viel mehr natürlich von der Politik der SPD – profitiert. Die beiden, sich historisch und organisch auf die ArbeiterInnenklasse stützenden Parteien verloren insgesamt 870.000 WählerInnen an die Rechts-PopulistInnen, also fast so viele wie die Union (980.000). Darüber hinaus hat sie mit 1,2 Millionen Stimmen als einzige Partei ehemalige NichtwählerInnen wirklich mobilisieren können.

Die AfD konnte sich als einzige „anti-systemische“ Partei präsentieren und damit auch Unzufriedenheit aller Art auf sich kanalisieren. Aber die Umfragen, die zeigen, dass eine Mehrheit der AfD-WählerInnen die Rechten nicht wegen ihrer Politik, sondern vor allem wegen der Ablehnung anderer Parteien wählte, sind kein Grund zur Entwarnung.

Der „Protest“ ist eindeutig mit einem politischen Inhalt verbunden. Die WählerInnen der AfD nehmen deren offenen Rassismus und aggressiven Deutschnationalismus nicht nur billigend in Kauf, viele wählen sie auch gerade deshalb.

Das zeigten z. B. Umfragen über die Ansichten der AfD-WählerInnen am Wahlabend. So erklärten 99 Prozent, dass sie gut finden, dass die AfD „den Einfluss des Islam in Deutschland verringern will“. 96 Prozent „finden es gut, dass sie den Zuzug von Flüchtlingen stärker begrenzen will.“ Zu diesen Einstellungen kommt hinzu, dass die AfD als beste Law-and-Order-Partei erscheint, die Kriminalität – vorzugsweise von AusländerInnen – wirklich bekämpfen wolle.

Außerdem treibt ihre WählerInnen um, dass wir angeblich „einen Verlust der deutschen Kultur erleben“ (95 Prozent) und der „Einfluss des Islam in Deutschland zu stark wird“ (94 Prozent).

Rassismus und – zunehmend auch völkisch begründeter – Nationalismus bilden den Kitt der AfD. Vermeintliche und wirkliche Ängste werden so zu einer aggressiven chauvinistischen, rechten Ideologie verbunden, die heute zwar noch vor allem parlamentarisch ausgerichtet ist, die sich jedoch auch weiter radikalisieren kann, wie die Verbindungen der AfD zu offen faschistischen Kräften zeigen.

Auch wenn diese Partei noch um einiges von der Stärke einer FPÖ oder FN entfernt ist, so hat sich zweifellos eine rechts-populistische, rassistische Partei in Deutschland etabliert. Diese wird sich – gerade angesichts der globalen politischen Verwerfungen und verschärften Konkurrenz – auch trotz innerer Konflikte und (noch) fehlender unumstrittener Führungsfigur – kaum „selbst zerlegen“. Erst recht wird sie nicht durch den Parlamentarismus „entzaubert“ werden. Im Gegenteil. Die Politik der nächsten Regierung wird ihr Stoff geben, sich als Opposition aufzuspielen, zumal wenn SPD und Linkspartei den Fehler machen sollten, den Kampf gegen die Regierung zugunsten der imaginären Einheit der „DemokratInnen“ hintanzustellen.

Die AfD ist kein Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Entstehung einer rechts-populistischen Partei verdeutlich die krisenhaften Prozesse, die – schon vor einer ökonomischen Zuspitzung – aus dem Untersten der Gesellschaft empordrängen.

Nationalismus, Chauvinismus, Bevorzugung der Deutschen, Abschottung gegen MigrantInnen, anti-muslimischer Rassismus – all das sind keine Alleinstellungsmerkmale der AfD, sondern in allen bürgerlichen Parteien vertreten und in der Form des Sozial-Chauvinismus auch bei SPD und Linkspartei. Die AfD erntet diese Früchte, die andere gesät haben.

Die Mobilisierung gegen die AfD und ihren Rassismus darf daher nicht als eine vom Klassenkampf getrennte Aufgabe verstanden werden. So wie es gilt, der rechten, rassistischen Hetze entgegenzutreten, so muss das mit dem Kampf gegen den staatlichen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte, aber auch mit der „sozialen Frage“, also für Mindestlohn, Rente, gleichen Zugang zu Bildung, gegen Mietenspekulation usw. verbunden werden.

Es braucht aber auch einen bewussten Kampf gegen das Gift von Rassismus und Nationalismus in den Reihen der ArbeiterInnenklasse, in den Betrieben, an Unis und Schulen.

Regierungsbildung – das Problem des Unvermeidlichen

Ein von der nächsten Regierung unabhängiger Kurs der Linken und der Gewerkschaften ist eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für einen erfolgreichen Kampf gegen die AfD und die Stimmungen, auf die sie sich stützt.

Die Niederlage der Union, aber auch die Schwierigkeiten, eine Jamaika-Koalition rasch auf die Beine zu bringen, zeigen auch, dass es für die herrschende Klasse einen zweiten, wichtigeren Grund als den Aufstieg der AfD für Beunruhigung gibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Parteienspektrum in Westdeutschland lange praktisch auf drei Parteien verengt. Schon die Entstehung der Linkspartei und der Grünen unterminierte das. Mit der AfD kam noch eine Kraft hinzu.

So sehr sich aber auch CDU, CSU, Grüne, FDP sowie die SPD in wichtigen Zielsetzungen – gerade wenn es um die Ordnung Europas geht – ähneln, so sind ihre Gegensätze auch real und nicht wahltaktisch vorgeschoben. Das trifft nicht nur auf FPD und Grüne zu, die beide gerne mit der Union (wenn auch nicht miteinander) koalieren möchten, sondern auch auf CDU/CSU. Gerade in der Europapolitik orientieren die CDU-Führung und auch die Grünen auf einen Pakt mit Macron, die FDP ist zwar nicht grundsätzlich dagegen, lehnt dafür aber seine finanzpolitischen Vorschläge kategorisch ab. Ähnliches gilt für andere Politikfelder.

Hinzu kommt, dass gerade FDP und Grüne, aber angesichts ihres katastrophalen Wahlergebnisses und baldiger Landtagswahlen auch die CSU, um ihre „Alleinstellungsmerkmale“ fürchten.

Die Verhandlungen werden noch zusätzlich erschwert, weil es für den deutschen Imperialismus angesichts der verschärften globalen Konkurrenz und der Krise der EU auch darum geht, dass die nächste Regierung eine klarere Strategie verfolgt, um die EU unter deutscher Führung zu „einen“ und neu zu formieren. Formelkompromisse mögen daher zwar im Koalitionsschacher funktionieren, für die strategischen Zielsetzungen Deutschlands wären sie aber selbst ein Problem.

Die Weigerung der SPD, in Verhandlungen mit der Union einzutreten, zwingt die drei anderen Parteien praktisch zu einer Koalitionsbildung. Kein Wunder, dass alle auf die SPD schlecht zu sprechen sind, engt deren Entscheidung ihre Optionen doch massiv ein.

Während Merkel und die Union die SozialdemokratInnen höflich ums Überdenken ihrer Haltung auffordern, macht es die FDP schriller. So wirft ihr Parteivorsitzender Lindner der SPD Landesverrat vor, da sie erstmals seit 1919 die Interessen der Partei über jene des Landes stelle.

Dass die SozialdemokratInnen so weit gehen, doch noch Koalitionswilligkeit zu signalisieren, um den Spielraum der FDP beim Jamaika-Poker zu erhöhen, darf bezweifelt werden, auch wenn die Partei für ihre selbstmörderische Entscheidungen immer wieder zu haben war.

Hinter der Aufregung ob der „harten“ Haltung der SPD zeigt sich aber mehr. Die Bourgeoisie möchte die Option auf eine „große“ Koalition, auf eine zweite Wahl für den Fall innerer Zerwürfnisse von CDU/CSU, Grünen und FDP offenhalten.

In den nächsten Jahren will die herrschende Klasse kein Szenario, das zu mehr Polarisierung zwischen den Klassen, zu einer „härteren“ Sozialdemokratie oder auch zu einer weniger regierungsnahen Politik der Gewerkschaften führt.

In der Ablehnung der Großen Koalition liegt nämlich – durchaus entgegen den Intentionen aller SPD-FührerInnen – ein Moment, das auf mehr Konfrontation entlang sozialer und ökonomischer Fragen verweist. Wenn sie irgendwie „Glaubwürdigkeit“ zurückgewinnen wollen, „soziale Gerechtigkeit“ in den Vordergrund rücken, dann müssen sie sich als Opposition nicht nur zur Regierung präsentieren, sie müssen sich auch der Konkurrenz der Linkspartei stellen – wie diese umgekehrt aufpassen muss, dass ihr die SPD ihr sozialdemokratisches Programm nicht einfach klaut.

Einige Schlussfolgerungen

Die kurzen Betrachtungen führen zu einigen ersten Schlussfolgerungen.

  1. Die Wahlen sind eine Warnung an die Linke und an die ArbeiterInnenbewegung. Sie bringen einen Rechtsruck der Gesellschaft zum Ausdruck. Der Sieg der AfD und ihre Hetze ist nur der extremste Ausdruck. Der triumphale Widereinzug der FDP ist das ebenso wie die Rechtsentwicklung der Grünen.
  2. Die Verhältnisse sind zugleich auch instabiler geworden. Wir müssen damit rechnen, dass die Krise Europas, die instabile Weltlage, aber auch die Drohung eines weiteren Zulaufs zur AfD als Disziplinierungsmittel nicht nur in der Regierung, sondern auch gegenüber der parlamentarischen Opposition und den Gewerkschaften genutzt wird, indem die „Einheit der Demokraten“ beschworen wird.
  3. Daher gilt es nicht nur, den offenen RassistInnen auf der Straße, in den Betrieben, in Stadt und Land konfrontativ entgegenzutreten – es muss dies durch Klassenpolitik, durch ein Bündnis der ArbeiterInnenorganisationen, der MigrantInnen und Flüchtlinge, der Gewerkschaften und Linken, nicht durch gemeinsame Erklärungen mit der Regierung geschehen.
  4. Der Kampf gegen die Angriffe der nächsten Regierung, auf sozialer, gewerkschaftlicher, vor allem aber auch internationaler Ebene muss im Zentrum linker Politik stehen. Die aktuelle Lage erfordert und ermöglicht, den Widerstand nicht nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch auf europäischer und internationaler zu koordinieren. Gerade von der Linkspartei und den Gewerkschaften – respektiven deren linkeren Kräften – ist hier eine entschlossene Initiative gefordert, die es erlaubt, den Kampf in Frankreich, den Widerstand in Katalonien, den Kampf gegen Militarisierung, Interventionen und die Abschottung der EU koordiniert zu führen.
  5. Daher schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, auf der die Politik der nächsten Regierung analysiert und ein Forderungs- und Mobilisierungsplan verabschiedet wird. Dazu sollten vorbereitende Treffen in allen Großstädten, an Schulen, Unis und in den Betrieben und Gewerkschaftsgruppen stattfinden.

 

Endnoten

(1) Die Zahlen beziehen sich auf das vorläufige amtliche Ergebnis vom 25. September. Diese und andere Zahlen sind der Homepage der Tagesschau entnommen. Einzige Ausnahme bilden die Zahlen zur WählerInnenpräferenz von Gewerkschaftsmitgliedern.

(2) Bundestagswahl 2017: So haben Gewerkschaftsmitglieder gewählt

 




Deutscher Imperialismus und die Neuaufteilung der Welt

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Inmitten wachsender globaler Konkurrenz und Konflikte präsentieren sich Kanzlerin Merkel und die CDU/CSU als Hort der Stabilität. Wer von den Wirren unserer Zeit verschont bleiben will, der möge doch sie und ihre Partei wählen – der passende Koalitionspartner wird sich dann schon finden.

Während Merkel verspricht, dass alles beim Alten bleiben werde, ist auch klar: Die internationale wirtschaftliche und politische Entwicklung bestimmt wesentlich, wie es um die inneren Verhältnisse in der nächsten Legislaturperiode bestellt sein wird.

Es gehört dabei zur zweifelhaften „Normalität“ des deutschen politischen Systems, dass alle grundlegenden Fragen der Außenpolitik im Wahlkampf wenig Erwähnung finden, allenfalls an den „Rändern“ thematisiert werden.

Dabei sind es gerade diese Ereignisse, die die ohnedies brüchiger gewordene „Stabilität“ des deutschen Imperialismus früher oder später aufbrechen werden.

Auch wenn sich der deutsche Kapitalismus im Vergleich zu seinen europäischen Konkurrenten weiter stärken konnte, so treiben ihn massive Probleme um.

Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der gestiegenen Konkurrenz der imperialistischen Akteure ist der deutsche Imperialismus gegenüber den beiden Führungsmächten zurückgefallen, steht diesmal nicht im Zentrum einer neuen Blockbildung. In den bisherigen Krisenperioden war der deutsche Imperialismus stets Führungsmacht einer Achse, welche unter seiner Dominanz Ansprüche darauf geltend machte, zur führenden Weltmacht aufzusteigen. Dazu kann die EU in ihrer aktuellen Labilität nicht dienen, wiewohl dieser Anspruch weiterhin vom deutschen und französischen Imperialismus vertreten wird. Der Hauptkonflikt wird dagegen derzeit zwischen den USA und China ausgetragen.

Durch den EU-Austritt Großbritanniens wurden die „trennenden“ Tendenzen dieser imperialistischen Krise deutlich, dies war auch eine herbe Schwächung dieses imperialistischen Projektes. Die deutsch-französische Vorherrschaft muss sich derzeit darauf konzentrieren, den „Laden“ zusammenzuhalten, wie auch weitere Versuche der Vertiefung, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, zu erwarten sind, dem größten Schwachpunkt der EU in der imperialistischen Konkurrenz.

Transatlantische Verbindungen

Die neue US-Administration stellt die EU und somit den deutschen Imperialismus vor neue Herausforderungen. In Fragen des Protektionismus, des globalen „Freihandels“ wie auch der Steuerpolitik gehen die USA in die Offensive – und zwar nicht nur durch Trump, sondern auch durch den US-Kongress, wie die jüngsten verschärften Sanktionen gegen Russland belegen, die sich auch gegen die EU richten. Diese aggressive Ausrichtung des US-Imperialismus zwingt auch den deutschen Imperialismus zu einer Neuausrichtung. Schon der Ukraine-Konflikt mit aufgerüsteter NATO-Ostgrenze und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland hatte dem deutschen Großkapital die angestrebte strategische Partnerschaft mit dieser Großmacht verbaut bzw. zunächst auf Eis gelegt.

Für das deutsche Exportkapital sind „Freihandel“ und vor allem die Expansion nach Asien zukünftig entscheidend, wenn gemeinsam mit Frankreich weiterhin Weltmachtambitionen gehegt werden sollen.

Kurzfristig können wir von einem „Richtungskampf des Möglichen“ innerhalb der deutschen Bourgeoisie ausgehen. Zum einen sind es transatlantische Verbindungen, welche nicht allein durch die NATO symbolisiert werden, sondern auch auf vielfältigen Kapitalverflechtungen zwischen BRD- und US-Finanzkapital (z. B. Bayer/Monsanto-Fusion) basieren.

Unabhängig von Trump geht es dem US-Imperialismus um Gefolgschaft und Tribut, wie es sich gegenüber der Hauptmacht des „Westens“ gehört. Erst durch mehr Investitionen in den US-Markt durch die deutsche Industrie bleibt der Marktzugang frei. Bis dahin bleibt auch TTIP eingefroren, wie auch durch aggressive Außenpolitik die Gefolgschaft der NATO bzw. der „Koalition der Willigen“ durch die USA erzwungen werden soll.

An der Seite der USA wäre die EU globale „Juniorpartnerin“ in der aktuellen Zuspitzung, allerdings ebenso mit dem Interesse, den pazifischen Markt zu beherrschen bzw. diesen nicht China zu überlassen. Damit wäre der „unabhängige“ Aufstieg des deutschen Imperialismus in Form der EU erst mal außer Kraft gesetzt. In der aktuellen Verfasstheit kann die EU die USA nämlich nicht herausfordern.

Daher stellt sich für die deutsche Bourgeoisie die Notwendigkeit, ihrer Europastrategie zusammen mit dem französischen Imperialismus unter Macron neuen Schwung zu verleihen – was auch eine Veränderung der EU selbst, wohl in Form der Bildung eines „Kerneuropa“, auf die Tagesordnung stellen wird.

Hinzu kommen ökonomische und politische innere Probleme. Von besonderer unmittelbarer Bedeutung sind dabei die krisenhafte Entwicklung in Italien sowie ein möglicher massiver Abwehrkampf der französischen ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der Macron-Regierung.

Perspektive EU

Für den deutschen Imperialismus ist die Entwicklung Frankreichs wichtig beim europäischen Projekt. Nach Macrons Antrittsbesuch wurden finanzielle Mittel für „reformwillige Regierungen“ in Aussicht gestellt. Dies bedeutet aber auch, dass der französische Imperialismus nun zum Ziel hat, den „Konkurrenzvorsprung“ der deutschen Industrie (Lohnnebenkosten, Löhne, Produktivität) einzuholen.

Gemeinsam soll der deutsch-französische „Block“ die Perspektive der „Vertiefung“ vorantreiben und dies insbesondere auf dem militärischen Sektor. Mehr gemeinsame Truppenverbände, mögliche europäische Marine- und Luftwaffeneinheiten und letztlich auch ein europäisches Atomprogramm sind Ziele der imperialistischen Führungsmächte, vor allem im strategischen Raum „rund ums Mittelmeer“. Mit Großbritannien ist der größte Widersacher für diese Projekte verschwunden, dieser Konflikt wird perspektivisch die NATO belasten.

Passenderweise begann die EVP-Fraktion (Europäische Volkspartei) im Europaparlament die Debatte über die Zukunft der 27 Verteidigungshaushalte (ohne GB). Eigene nationale Haushalte wären jetzt außer Mode – ein gemeinsamer europäischer müsse her. Ebenso stand beim „Brexit“-Nachfolgegipfel in Bratislava die Vertiefung bei der Sicherheitspolitik im Vordergrund. Letztlich liegt hier ein Knackpunkt für die EU und deren geostrategischen Ambitionen. Nur wenn sie beispielsweise im Mittelmeerraum militärisch eingreifen und diesen neu ordnen kann, ist sie unabhängig von den USA handlungsfähig.

Perspektive des deutschen Imperialismus nach G20

Für jede aktuelle Bundesregierung stellen die veränderte Weltlage und die Zukunft der EU eine zentrale Herausforderung dar. Der Zugang zu den Weltmärkten für das deutsche Exportkapital, dieser Stütze des deutschen Imperialismus, muss gesichert bleiben. Für diese Ziele muss die EU perspektivisch und militärisch in der Lage sein, die angrenzenden Weltregionen (vor allem um das Mittelmeer) zu kontrollieren. Wie weit und rasch ein solcher Bruch des deutschen und französischen Imperialismus mit den USA vollzogen werden mag, ist derzeit offen. Zum einen ist dieser für die eigenen Ambitionen entscheidend, zum anderen war aber speziell der westdeutsche Imperialismus stark auf die USA fixiert.

Somit geht der deutsche Imperialismus trotz ökonomischer Stärke einer unsicheren Zukunft entgegen. Die Krise der EU und die zunehmende Konkurrenz zu den USA verweisen auf die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung.

Die Regierung Trump verdeutlicht diese Notwendigkeit – und gibt der deutschen Regierung und den bürgerlichen Parteien zugleich die Möglichkeit, ihre eigenen imperialistischen Ziele als „demokratische“ Maßnahmen zur Sicherung „europäischer Souveränität“ hinzustellen, erlaubt es, die deutschen Machtansprüche als „vernünftige“, „weltoffene“ Alternative zu einer immer aggressiveren USA hinzustellen.

Schon der G20-Gipfel sollte – unabhängig von seinen bescheidenen Resultaten – dazu dienen, die Ambitionen des deutschen Kapitals und seiner Verbündeten als „Rettungsprogramm“ für eine aus den Fugen geratene Welt zu präsentieren. Aufrüstung, Abbau demokratischer Rechte, rassistische „Regulation“ von Flüchtlingsströmen, Freihandel (für das eigene Kapital), „humanitäre“ Interventionen, Privatisierungen und Deregulierung – all das wird als unvermeidlich dargestellt, als notwendig, um vermehrter „Verantwortung für die Welt“ gerecht zu werden. Kann Deutschland gemeinsam mit Frankreich und der EU nicht in diese Rolle schlüpfen, so malen die ImperialistInnen die Schreckgespenster Trump und Putin an die Wand. Genesen könne die Welt wieder nur am deutschen Wesen, das sich diesmal betont demokratisch-imperialistisch gibt.

Wenn die ArbeiterInnenklasse und die Linke den nächsten Angriffen im Inneren wie nach außen wirksam entgegentreten will, so darf sie sich nicht vor den Karren eines Imperialismus spannen lassen, der sich als Sachwalter von „Demokratie“, „Menschenrechten“ und „Vernunft“ präsentiert.