SPD: Neubestimmung oder neue Illusionen?

Tobi Hansen, Infomail 1044, 1. März 2019

Die bürgerlichen Medien standen für die Regierungsparteien Spalier. Alle berichteten über die „Profilschärfung“ bei „Debattencamp“ und Vorstandsklausur der SPD. Bei der CDU heißt das „Werkstattgespräche“. Sozialdemokratie und Unionsparteien war es schließlich schon vor einiger Zeit „gelungen“, in den Meinungsumfragen gemeinsam unter die 50-Prozent-Marke zu sinken. Die SPD sackte an ihrem Tiefpunkt gar auf 12 oder 13 % ab – deutlich hinter die Grünen. Die Partei will nun Hartz IV „hinter sich lassen“ – Grund genug, dass am „Debattencamp“ Jubel ausbrach. Schließlich beschloss der Vorstand einstimmig das Papier „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ .

Bei der CDU hatte zwar die neue
Vorsitzende Kramp-Karrenbauer (AKK) die Anwesenden zunächst als SozialdemokratInnen
begrüßt. Nach diesem Lapsus wusste sie aber sehr wohl, was der mittlere und
obere Funktionärsstamm der Union hören wollte. Als Botschaft blieb übrig, dass
sich „ein 2015“ nicht wiederholen solle. Dies ist explizit nicht auf den
syrischen Bürgerkrieg gemünzt, sondern auf die Grenzöffnung der damaligen
Bundesregierung. Grenzen zu, Abschiebezentren, die „funktionieren“, und soziale
Auslese bei möglichen EinwanderInnen – das war die Botschaft für die CDU. Dort
fiel im Nachklang speziell der „Merz-Jünger“ Carsten Linnemann, Vorsitzender
der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT; „Mittelstandsunion“) der
CDU/CSU und deren Stellvertretender Fraktionschef, auf, welcher noch mehr
direkten staatlichen Rassismus einforderte.

Als Ergebnis stiegen beide
„GroKo“-Parteien in der WählerInnengunst. Glaubt man den aktuellen Umfragen,
könnten sie sogar wieder eine Mehrheit erreichen und die SPD holt gegenüber den
Grünen auf.

Im Chor der Hofberichtserstattung
wurde die „Profilschärfung“ allgemein begrüßt. Wenn die SPD wieder
sozialdemokratischer wäre und die CDU die innere Sicherheit vertreten würde,
könnte die AfD eingedämmt werden. Stabile demokratische Verhältnisse wären für
immer gesichert. „Vergessen“ wurde dabei, dass diese Parteien weiterhin
regieren, den Aufstieg der AfD wie auch den eigenen Niedergang zu verantworten
haben und die Probleme, die zu ständig neuen Regierungskrisen geführt haben,
nicht verschwinden werden.

Auch wenn die aktuellen Manöver
der Regierungsparteien Stabilität vortäuschen, bleibt ihr Zustand äußerst
fragil, doch zumindest scheint die Koalition bis zu den EU-Wahlen gesichert.
Die Fraktions- und Parteichefin der SPD, Nahles, feierte mit dem
Vorstandsbeschluss die programmatische „Erneuerung“. Somit herrschen auch in
der SPD erst mal „Burgfrieden“ und „Einigkeit“.

In beiden Regierungsparteien haben
sich die Vorstände zunächst durchgesetzt, die parteiinternen KritikerInnen
besänftigt und gezähmt. Speziell beim „Forum Demokratische Linke 21“ (DL21) in
der SPD erwuchs danach beinahe Begeisterung für die aktuelle Führung.

Bei allem Spott, der für diese
AkteurInnen nur allzu gerechtfertigt scheint, dürfen wir die aktuelle
Führungskrise des deutschen Imperialismus nicht vergessen. Inmitten der
globalen Spannungen erweist sich die EU als schwaches Glied innerhalb der
imperialistischen Ordnung. Die Führungsmächte Deutschland und Frankreich präsentieren
sich als Getriebene der inneren Widersprüche der Europäischen Union – nicht als
deren schlagkräftige Führung. Neben Brexit, italienischen Staatsschulden,
selbsternannten neuen FührerInnen des Volkes wird die deutsch-französische
Führung vor allem durch den aggressiven US-Imperialismus, aber auch den
Aufstieg Chinas herausgefordert.

In den aktuellen Handelskonflikten
finden Deutschland und Frankreich keinen gemeinsamen Handlungsauftrag für die
EU-Kommission. Zwar wollen beide Schutzzölle des US-Marktes möglichst
verhindern (z. B. gegen Autos, landwirtschaftliche Erzeugnisse),
allerdings strebt Deutschland einen umfassenden Vertrag an, z. B. eine
Neuauflage eines TTIP, während die französische Regierung dies derzeit ablehnt –
auch aus Furcht davor, dass dadurch die aktuellen Proteste gegen Macron
nochmals an Fahrt aufnehmen könnten.

Unter diesen Gesichtspunkten muss
auch der Versuch der Regierungsparteien betrachtet werden, sich zu
stabilisieren. Für die EU-Wahlen, die Zusammenstellung einer neuen Kommission
braucht der deutsche Imperialismus zumindest eine stabile politische
Vertretung.

Gleichzeitig sortieren sich die
Regierungsparteien neu sowohl für ein mögliches vorzeitiges Ende der GroKo wie
für die kommenden Europa-, Landtags- und Bundestagswahlen. Mit der aktuellen
„Profilschärfung“ versuchen beide, wieder mehr „Selbstständigkeit“ zu
suggerieren. Dies erklärt z. B. die aktuelle Gesetzesoffensive der SPD.

SPD – Erneuerung abgeschlossen?

Schon nach dem Debattencamp wurde
der Abschied von Hartz IV verkündet. Das Bürgergeld sollte dieses Kapitel für
die SPD beenden.

Hauptsächlich wird hier allerdings
inhaltliche Kosmetik betrieben. Dem aktuellen Vorstand scheint es sicher, dass
mit der Weiterführung von Hartz IV, „Agenda 2010“ und aktueller GroKo-Teilhabe
keine Wahlen mehr gewonnen werden können. Eine „soziale“ Neuorientierung soll
nun der SPD aus dem Dilemma helfen. Allerdings können wir keine konkreten
Forderungen erwarten. Nur hier und da scheint etwas Erkenntnis durch, was das
Hartz-IV-System angerichtet hat. So heißt es in „Ein neuer Sozialstaat für eine
neue Zeit“ auf Seite 14: „Das Bürgergeld wird Regelungen beinhalten, mit
denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den
Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht und gleichzeitig die alte
Winterjacke aufgetragen ist.“

Hartz IV hat
Armut „produziert“, der angegliederte Niedriglohnbereich wird weiterhin
Generationen in die „Armutsrente“ schicken. Zehntausende wurden obdachlos,
Millionen mussten sich an der „Tafel“ anstellen, wurden sozial ausgegrenzt und
ausgeschlossen. Mit Winterjacken und Waschmaschinen sieht’s dann auch schlecht
aus. Das abgeschaffte System der Sozialhilfe kannte „Sondermittel“ für Dinge
des täglichen Bedarfs. Diese wurden abgeschafft durch Hartz IV – durch die SPD.
Wir erfahren in der Aneinanderreihung mancher sozialer Phrasen in dem Beschluss
auch nichts über konkrete Erhöhungen der Geldmittel. Anscheinend wird das
Bürgergeld in Höhe des Hartz-IV-Satzes bleiben – da bleiben Winterjacke und Waschmaschine
Illusion.

Die konkretesten
Maßnahmen sind bei zwei Sachverhalten geplant. Einmal sollen die Ersparnisse
aus dem Arbeitsleben beim Bürgergeld bis zu 2 Jahren geschont werden, während
sie bislang bei Hartz IV zuerst aufgebraucht werden mussten. Des Weiteren soll
das Sanktionsregime zumindest verändert werden. Dazu wird folgendes formuliert:

„Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen gehören
abgeschafft. Die strengeren Sanktionen von unter 25-Jährigen sind sogar
offenkundig kontraproduktiv. Auch darf niemand wegen Sanktionen Angst haben,
obdachlos zu werden, daher wollen wir die Kürzung der Wohnkosten abschaffen.
Eine komplette Streichung von Leistungen soll es nicht mehr geben.“

Es
bleibt wohl das Geheimnis der SPD, was unter einer „sinnvollen“ oder gar
„würdigen“ Sanktion zu verstehen ist – von einer Komplettabschaffung des
aktuellen Regimes ist jedenfalls nicht die Rede.

Wir
wollen außerdem daran erinnern, dass einer sechsstelligen Zahl von
EmpfängerInnen die „Leistungen“ komplett gestrichen wurden und Millionen
Teilkürzungen hinnehmen mussten, dass sicherlich eine fünfstellige Zahl in den
15 Jahren durch das Hartz-IV-Regime obdachlos wurde, dass viele unter 25-Jährige
Schikanen erlebt haben und vor allem in den Niedriglohnbereich gehetzt wurden.
Unerwähnt bleibt auch die „voraussetzende“ Kürzung von ALG 1 und Hartz IV. Wer
sich nämlich nicht rechtzeitig gemeldet hatte, wird von der Arge mit 3 Monaten
kompletter Sperre bestraft.

Vor
allem vergisst die SPD, dass die entwürdigenden Sanktionen keinen Betriebsunfall
der rot-grünen „Reformen“ darstellen, sondern ein unerlässliches Mittel zum
Zweck – die Schaffung eines Niedriglohnsektors von Millionen und Abermillionen
Menschen, um das deutsche Kapital richtig konkurrenzfähig zu machen.

Die
zwangsmäßige Beschäftigung in Leih- und Zeitarbeit stellt nicht zufällig die
hauptsächliche „Sanktion“ gegen die Arbeitslosen dar. Hiermit wurde
festgeschrieben, dass die Ware Arbeitskraft eben nicht bestmöglich qualifiziert
wurde, sondern möglichst billig verkauft werden musste. Dass der SPD nach 15
Jahren auffällt, dass die strengeren Sanktionen und Vorschriften für unter 25-Jährige
sogar „offenkundig“ kontraproduktiv sein könnten, stellte eine kaum
überbietbare  Heuchelei und Verhöhnung
ebendieser Jugendlich dar. Besonders jugendliche MigrantInnen waren und sind einer
massiven Hetze ausgesetzt. Sie wären zu dumm, zu faul, um zu arbeiten. Daher
galten für sie besonders scharfe Vorschriften zur „Wiedereingliederung“ in den
Arbeitsmarkt.

Nach
mehreren Jobs in der Leih- und Zeitarbeit sehen viele jüngere Menschen keine
Perspektive in diesem System der Lohnarbeit. Da gleichzeitig das Klagen über
den „Fachkräftemangel“ quartalsweise auftaucht, muss sich wahrscheinlich sogar
ein SPD-Vorstand fragen, ob nicht eine „Korrektur“ nötig wäre, ob nicht
Qualifikation vor der Hilfsarbeit stehen sollte.

Welche
Sanktionen „sinnwidrig und unwürdig“ sind, lässt die SPD offen. Immerhin stellt
sie fest, dass es eine komplette Streichung der „Leistungen“ nicht mehr geben
soll. Ansonsten warten wir brav auf das Bundesverfassungsgericht. Dies will „in
einigen Monaten“ eine Entscheidung fällen. Stellen wir uns vor, dass vor den
drei ostdeutschen Landtagswahlen das Sanktionsregime insgesamt für
verfassungswidrig erklärt wird (höchst unwahrscheinlich, wahrscheinlich aber,
dass z. B. die komplette Streichung der Mittel fällt), wird die SPD ihren
„neuen Sozialstaat“ vielleicht wieder reformieren müssen.

Mit
ihrem Beschluss tut die SPD-Führung so, als ob sie einen ungerechten Zustand
beenden will, endlich wieder mehr Respekt und Teilhabe gegenüber den
Arbeitslosen einfordert. Sie stellt fest, dass dieses System nicht zu „besserer
Arbeit“ geführt hat. Aber sie verliert auch kein Wort darüber, warum es eine
SPD-geführte Regierung gegen den Widerstand einer Massenbewegung der
Arbeitslosen durchsetzte.

Vielmehr
entblödeten sich VertreterInnen der damaligen Führung nicht, gegen die aktuelle
SPD-Spitze, speziell gegen Nahles, zu poltern. Die SPD müsse aufpassen, dass
sie nicht zur Linkspartei mutiere und Nahles tauge nicht zur Kanzlerkandidatin.
Ihr fehle, ließ der Agenda-Kanzler Schröder ausrichten, der große ökonomische
Sachverstand. In der aktuellen Lage begeisterten sich freilich nur wenige für
die Ratschläge des Ex-Kanzlers. Ja, solche Querschläge nutzten dem Ansehen der
SPD-Spitze bei Mitgliedern wie WählerInnen eher, als ihr zu schaden.

So
wissen wir zumindest, dass die aktuelle Führung relativ „stabil“ ist. Die sog.
„Parteilinke“ applaudiert und stellt ihren kaum vorhandenen Widerstand gegen
den Vorstand wieder ein.

Und
die Mindestrente kommt auch noch

Nach
Jahren der Rentenkürzung, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, der Agenda
2010, der Ausweitung des Niedriglohnbereichs, der Pfändung der Vermögen von
Arbeitslosen will die SPD nun eine Mindestrente einführen. Von mindestens 950
Euro ist die Rede. Diese soll als „AufstockerInnen“-Rente vor allem den sog.
ArmutsrentnerInnen zugutekommen – inzwischen rund 20 Prozent aller
RuheständlerInnen.

Die
SPD veranschlagt die Zusatzkosten auf rund 5 Mrd. Euro pro Jahr, die Union auf
15. Finanzierbar wäre dies allemal. Mit der großen Koalition wird es aber
selbst das SPD-Modell nicht geben. Die bürgerlichen Medien rechnen schon jetzt
vor, wie der SPD-Vorschlag missbraucht werden könne.  Dafür soll das Beispiel „Zahnarztgattin“ herhalten. Diese
wäre nicht nur durch die Rente des Mannes abgesichert, sondern hätte auch noch
Anspruch auch eine Mindestrente. Mit solchen Tricks soll selbst das ohnedies
bescheidene SPD-Modell madig gemacht werden, würden doch in Wirklichkeit nach
wie vor Millionen RentnerInnen, die keine 35 Jahre Beiträge zahlen konnten,
leer ausgehen.

Viele
der Medien sprachen von einem „Linksschwenk“ der aktuellen Führung. Manche
versuchten, dies zusammen mit der alten Spitze als Bedrohung darzustellen. Der Rest
verortete dies als „Profilschärfung“, welche vor allem bei künftigen Wahlen
helfen könnte.

In
jedem Fall feiert die SPD ihre neue gewonnene „Einigkeit. Die interne
Auseinandersetzung wurde – vorerst – beendet Die „Partei-Linke“ sammelt sich
hinter dem Beschluss des Vorstands. Dies gibt dem auch freie Hand zum einen, um
in der Regierung jeden Tag gegen die gefassten Beschlüsse zu verstoßen, zum
anderen, um die somit „links blinkende“ SPD wieder als Regierungsoption
prozentual aufzuwerten und Hoffungen in einen „Politikwechsel“ und „Mehrheiten
jenseits der Union“ wieder zum Leben zu erwecken.

Verbliebene
„Linke“ wie Simone Lange, welche bei „Aufstehen“ mitmischt, sollten zwar
wissen, was ein Vorstandsbeschluss wert ist, wenn zugleich die Große Koalition fortgesetzt
wird – das ändert aber nichts daran, dass auch sie wieder stärker auf die SPD
orientieren werden.

Das
Entscheidende am Vorstandbeschluss besteht freilich nicht in der offenkundigen
Widersprüchlichkeit zwischen leichtem Blinken nach „links“ und der Fortsetzung
der GroKo. Es liegt vielmehr darin, dass er auch die Handschrift der
Gewerkschaftsbürokratie trägt – bis hin in einzelne Begriffe zur
Qualifizierung, „Zukunft der Arbeit“ usw. usf. Die SPD-Spitze bereitet sich
also nicht nur auf die Zeit nach der GroKo vor, sondern suchte in diesem
Zusammenhang offenkundig auch den Schulterschluss mit der betrieblichen und
gewerkschaftlichen ArbeiterInnenbürokratie.

Umsetzen?

Die
SPD hat sich mit den Beschlüssen einen Notausgang für die GroKo aufgebaut.
Daher versucht sie, sich auch mit sozialen Forderungen verlorengegangene „Glaubwürdigkeit“
zurückzuholen – auch wenn sie natürlich weiß, dass sie jeden Tag in der GroKo
diese untergraben muss. Die „Lösung“ besteht einerseits darin, in der Koalition
so zu tun, als würde sie dafür eintreten oder gar „kämpfen“. Andererseits
werden die Zukunftsvorstellungen bewusst vage gehalten, um nicht durch allzu
konkrete Formulierungen von Mitgliedschaft oder WählerInnen auf konkrete
Versprechen festgenagelt werden zu können.

Die
Linkspartei macht sich zugleich Sorgen darüber, ob ihr die SPD mögliche
WählerInnen abspenstig machen könnte. Schließlich liegen die beiden Parteien in
der Regierungspraxis  auf
Länderebene – siehe Berlin, Brandenburg, Thüringen – näher beieinander, als der
Linkspartei lieb sein kann.

Was
jedoch die Linkspartei und erst recht die SPD-Linke oder die Gewerkschaften
unterlassen, ist Folgendes: Sie fordern von der SPD nicht einmal ein, jetzt für
ihre Verbesserungsvorschläge zu mobilisieren, sie fordern von ihr keinen Bruch
der Großen Koalition oder die Unterstützung für die Forderungen der
Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Kein Wunder, denn dort verhandeln
SPDlerInnen schließlich für die Arbeiter„geber“Innenseite.

Eine
solche klare Positionierung wäre aber nötig. Dafür müssen linke SPDlerInnen,
SPD-Gewerkschaftsmitglieder und die Jusos mobilisieren. Ansonsten setzten sie
bloß ihre unrühmliche Politik der letzten Monate als linke Flankendeckung einer
SPD-Spitze fort.




Thesen zum Reformismus – die bürgerliche Arbeiterpartei

Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 1986, veröffentlicht in: Revolutionärer Marxismus 44, November 2012


Einleitung

Der wissenschaftliche Kommunismus wurde von Marx, Engels, Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki begründet bzw. weiterentwickelt. Im Rahmen des Bundes der Kommunisten, der deutschen Sozialdemokratie, der Partei der Bolschewiki und der I., II., III. und IV. Internationale arbeiteten sie die Grundlagen der marxistischen Kritik am Reformismus aus. Wir halten an dem revolutionären Erbe fest, das in den Schriften, Resolutionen, Thesen und in der Praxis dieser Organisationen während ihrer jeweiligen revolutionären Perioden enthalten ist.

Die Politik und Praxis der Hauptgruppierungen, die sich heute auf den Trotzkismus berufen oder sich als die Weiterführung von Trotzkis IV. Internationale präsentieren, beinhalten in Wirklichkeit eine völlig andere Tradition – eine, die aus der Periode von 1948 bis 1953 stammt. Dies war die Periode der zentristischen Degeneration des Trotzkismus. Die Tradition der Epigonen hat Trotzkis Werk und das seiner großen Vorgänger auf den Gebieten der theoretischen Analyse, programmatischen Umsetzung, politischen Perspektive und der Taktik völlig revidiert. In opportunistischer als auch sektiererischer Weise haben die „pabloistischen“ und „antipabloistischen“ Flügel des degenerierten „Trotzkismus“ wiederholt ihre Unfähigkeit bewiesen, sich die zentralen Grundsätze des leninistischen und trctzkistischen Programms bezüglich des Reformismus wieder anzueignen, erneut geltend zu machen und zu vertreten. Vom Ende der 40er bis Ende der 60er Jahre betrieben beide Fraktionen der „IV. Internationale“ – das Internationale Komitee (IK) und das Internationale Sekretariat (IS) -eine Politik, die im wesentlichen Anpassung an und Versöhnung mit der Sozialdemokratie beinhaltete.

Die dramatischen Ereignisse zu Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre – die Studentendemonstrationen und Unruhen, die militanten Antikriegsbewegungen, die Massenstreiks der italienischen, britischen und besonders der französischen Arbeiter – führten bei den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale zu einer scharfen Revision ihrer Position gegenüber der Sozialdemokratie. Fast alle Gruppen trotzkistischen Ursprungs waren zu einem bestimmten Zeitpunkt in irgendeiner Art und Weise in die Politik des „tiefen Entrismus“ verwickelt. Nun schwenkten sie von ihrer bisherigen Linie der politischen Anpassung an den Reformismus zu einer völligen Ablehnung reformistischer Parteien um, da diese keine Beziehung zum Proletariat mehr hätten.

Anfangs und Mitte der 70er Jahre gab es eine Wende zum „Parteiaufbau“, was in der Regel von einer Haltung zur Sozialdemokratie begleitet war, die im selben Maße blind, einseitig und politisch nutzlos war, wie die vorherige passiv und liquidatorisch. Auf ihrer Suche nach vom Reformismus nicht korrumpierten Elementen wandten sie sich abwechselnd gewerkschaftlich organisierten Militanten in den Betrieben, Studenten oder der Frauenbewegung als Basis für revolutionäre Politik zu. Die Sozialdemokratie wurde entweder für tot erklärt oder als rein bürgerlich angesehen. Es wurden Versuche angestellt, sie zu umgehen, sie völlig zu ignorieren oder sie gar mit Beschimpfungen nach Manier der „Dritten Periode“ der Komintern zur Strecke zu bringen.

Doch der Reformismus überlebte den Sturm der spontanen Militanz der Arbeiterklasse. In Frankreich erhob sich die „tote“ SFIO in Gestalt von Mitterands Sozialistischer Partei wie ein Phönix aus der Asche der Wahldebakel am Ende der 60er Jahre. In Italien überlebte die eurokommunistische PCI die Streikwellen und das Aufblühen militanter Organisierung in den Betrieben nach 1969. In Britannien wurde die Labour Party auf dem Rücken der gewerkschaftlichen Militanz 1971-74 an die Regierung geschwemmt und machte sich daran, diese Militanz zu demobilisieren und sie jeglichen revolutionären Potentials zu berauben. Unnötig zu sagen, dass der Reformismus ebenso die Verdammungen und die abstrakte Propaganda der zentristischen Linken überlebte.

Überdies wurden die „Jugendavantgarden“ älter und „weiser“. Die „inoffiziellen Bewegungen“ wurden bürokratisiert und die revolutionären Parteien folglich nicht aufgebaut. Die Gruppen zersplitterten vielmehr. Obwohl sie sich kurz zuvor dicht am Erfolg gewähnt hatten, lösten sie sich auf oder zerfielen. Wie reuige Zecher im Morgengrauen ließen sie von den Ausschweifungen ihrer nach-68er-Taktiken ab und fielen darauf zurück, was sie als die nüchterneren Taktiken ihrer vor-68er-Vergangenheit empfanden. Bei ihrer Rückkehr zu den reformistischen Parteien fielen sie tatsächlich oft hinter die Nachzügler der Jugendbewegung, die Frauenbewegung, die Pazifisten und die „neulinken“ Gewerkschaftskarrieristen zurück. Diese erneute Orientierung auf die Sozialdemokratie erzeugte eine Analyse des Reformismus, die wieder der aus der vor-68er-Periode ähnlich war und sich wiederum als ebenso einseitig und nutzlos erwies wie die „linke“ abstrakte Propaganda. Der degenerierte „Trotzkismus“ der 20 Jahre nach 1948 konnte lediglich ein Rezept für die Auflösung der „Kinder von ’68“ in die Sozialdemokratie anbieten.

Ein radikaler Bruch mit dieser ganzen Tradition ist unumgänglich. Dies erfordert im umfassenden Maßstab die Rückkehr zur alten und unverfälschten Tradition des Bolschewismus und Trotzkismus, deren Methode – angewandt auf die heutigen Bedingungen – ein Programm, eine Strategie und Taktik liefern kann, mit denen der Reformismus in den großen Schlachten, die sich für das krisengeschüttelte letzte Viertel dieses Jahrhunderts abzeichnen, geschlagen, werden kann.

Die vorliegenden Thesen beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem sozialdemokratischen Reformismus, sind aber in vielen grundsätzlichen Punkten auch auf den stalinistischen Reformismus in kapitalistischen Ländern anwendbar. Mit dem Gesamtphänomen des Stalinismus werden wir uns in gesonderten Thesen noch eingehender beschäftigen. Die Frage nach den Möglichkeiten des Reformismus in den imperialisierten Ländern, insbesondere den Aufgaben von revolutionären Kommunisten in diesen Staaten, muss in dieser Arbeit weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Politische Parteien und die Arbeiterklasse

1. Politische Parteien sind selbstgewählte organisierte Zusammenschlüsse mit dem Ziel, gemeinsame soziale Interessen und politische Vorstellungen über die Gestaltung der staatlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung zum Tragen zu bringen. Deshalb streben solche Parteien nach der Übernahme, der Behauptung bzw. der Kontrolle der Regierungsverantwortung. In der Klassengesellschaft reflektieren solche Interessen notwendigerweise Klasseninteressen. Für Marxisten ist die politische Charakterisierung einer politischen Partei im Grunde durch die Klasseninteressen bedingt, die sie objektiv verteidigt – ungeachtet der subjektiven Ideen und Hoffnungen oder der sozialen Herkunft der Parteiführer bzw. Mitglieder. In der kapitalistischen Gesellschaft, die in die Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat geteilt ist, heißt das: entweder Verteidigung des bürgerlichen Staates und des Privateigentums an den Produktionsmitteln oder Aufhebung. Jede Partei, die in der Praxis diesen Staat und dieses Privateigentum verteidigt, ist eine bürgerliche Partei.

Eine Klasse ist allerdings nicht nur auf eine Partei beschränkt und kann darum mehrere konkurrierende „Avantgarden“ haben, die nach der tatsächlichen Führung streben. Überdies sind Klassen nicht homogen, sondern bestehen aus verschiedenen Teilen, deren Interessen einander widersprechen können; die offene Identifikation zwischen Parteien und Klassen ist in der Tendenz verschleiert. Herrschende Klassen, die in der Minderheit sind, müssen sich außerdem auf eine Massenbasis stützen, die sie nötigenfalls mobilisieren können, um ihre Herrschaftsinteressen durchzusetzen. Dies erfordert Kompromisse in zweitrangigen programmatischen Fragen, was sich in der Ideologie widerspiegelt. Mindestens seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts können bürgerliche Parteien also nicht mehr ausschließlich oder hauptsächlich aus Angehörigen der Bourgeoisie bestehen, sondern müssen als Massenbasis Elemente aus untergeordneten Klassen, aus dem städtischen Kleinbürgertum, der Bauernschaft und von Arbeitern ohne Klassenbewusstsein aufweisen. Außerdem bildet sich eine besondere Kaste von bürgerlichen Politikern, die mit den höheren und akademischen Berufen verbunden ist und der Bourgeoisie dient.

Das breite Spektrum politischer Parteien, die offen das – bürgerliche – Privateigentum verteidigen, erklärt sich durch diese bestimmenden Fak-toren, die sich ständig verändern, das heißt, im Konflikt mit den antagonistischen Klassenkräften stehen innerhalb der dem kapitalistischen System eigenen Widersprüche, seinen Kriegen und Wirtschaftskrisen. Konservative, liberale oder faschistische Parteien verteidigen also alle die bürgerliche Gesellschaftsordnung, jedoch auf verschiedene Art und abhängig vorn Rhythmus der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenkämpfe. Im Falle einer faschistischen Partei kann die Verteidigung des bürgerlichen Privateigentums als ganzem, als der Basis der Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, die politische Enteignung der Parteien der Bourgeoisie durch die Faschisten, deren Basis das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat ist, mit sich bringen. Mehr noch, es kann die materielle Enteignung von Teilen der Bourgeoisie bedeuten, um die Interessen des Monopol- und Finanzkapitals besser durchzusetzen. Aufgrund ihrer ganzen Scheinradikalität und  ihrer Verneinung der bürgerlichen Demokratie ist die Ideologie des Faschismus, mit Trotzkis Worten, ein chemisch reines Destillat des Imperialismus, aus all den fauligen Ausdünstungen der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft zusammengesetzt. (1)

Somit können selbst unterschiedliche politische Parteien, mit unterschiedlicher sozialer Basis, den Interessen der Bourgeoisie dienen, da sie alle eines gemeinsam haben: an der Regierung sind sie gezwungen, im Rahmen des bürgerlichen Staates zu handeln und diesen zu verteidigen. Kleinbürgerliche oder aristokratische, liberale oder faschistische Politiker können die Regierung stellen; die Bourgeoisie aber herrscht durch ihren Staat. Im Grunde ist der Klassencharakter solcher Regierungen immer bürgerlich. Dies kann, wie wir sehen werden, genauso auf Parteien angewandt werden, deren soziale Massenbasis die Arbeiterklasse ist.

2. In den Ländern, wo eine klare Mehrheit der Bevölkerung proletarisch ist, ist die Bourgeoisie gezwungen, das Einverständnis des Proletariats zu dessen fortgesetzter Ausbeutung zu erreichen: „In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft baut die Bourgeoisie während eines demokratischen Regimes vor allem auf die Unterstützung der arbeitenden Klassen, die von den Reformisten in Schach gehalten werden. In seiner ausgeprägtesten Form findet dieses System in Britannien sowohl während der Amtszeit der Labour – als auch der konservativen Regierung – seinen Ausdruck.“ (2)

Ein relativ wohlhabender Kapitalismus zweigt daher einen Teil seiner Extraprofite aus der imperialistischen Ausbeutung zur Gewährung ausreichender direkter Reformen ab, damit die Führung der Arbeiter gekauft werden kann und als Agenten der Bourgeoisie handelt. Die Prosperität und Weltvorherrschaft des US-Finanz-und Monopolkapitals seit dem 1. Weltkrieg hatte ein solches Ausmaß, dass die Arbeiterführung (die AFL-CIO Bürokraten) in der Lage war, das Proletariat an eine offen bürgerliche Partei, die Demokraten, und an kapitalistische Politiker wie Hubert Humphrey und Edward Kennedy – die ‚Freunde der Arbeiter“ – zu binden. Eine vergleichbare Situation bestand in Britannien von 1869 bis 1900, während der unumschränkten Vorherrschaft des britischen Kapitalismus auf dem Weltmarkt.

3. Solche Parteien wie die Liberalen des 19. Jahrhunderts oder die heutigen Demokraten mögen zwar ein beträchtliches Maß an sozialen Reformen in ihre Programme aufnehmen, um ihren Anspruch, „demokratisch“ zu sein, zu untermauern, sie werden von uns aber nicht als „reformistische Parteien“ charakterisiert. Ihr Erfolg beruht gerade auf dem rückständigen nur-gewerkschaftlichen Klassenbewußtsein des Proletariats und seinem Mangel an irgendeinem merklichen Grad von politischem Klassenbewußtsein.

Die Situation sieht ganz anders aus bei jenen Parteien – den sozialdemokratischen, Labour- und stalinistischen Parteien in imperialistischen Ländern – die wir als reformistisch charakterisieren. Um die Bedeutung dieses Unterschiedes zu verstehen, ist es notwendig, die marxistische Analyse des Bewußtseins der Arbeiterklasse und seiner Entwicklung geltend zu machen.

Das Proletariat wird als eine objektive Klasse durch die Entwicklung des Kapitalismus erzeugt. Es ist eine wesentliche Produktivkraft der kapitalistischen Produktionsweise. Genau in den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus erkannte Marx den wesentlichen Grund, weshalb Proletarier für eine Ideologie empfänglich sein können, welche die bürgerliche Gesellschaft nicht nur als die „natürliche Ordnung“ der Dinge annimmt, sondern auch als eine, in der sie ihre eigenen Interessen verwirklichen könnten. Die Wurzel dafür ist die scheinbare Gleichheit der Partner im Lohnvertrag, von Arbeiter und Kapitalist: „Auf dieser Erscheinungsform (der Lohnform; Hrsg.), die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (3)

In Wirklichkeit jedoch ist der einzelne Arbeiter sogar zu schwach, dafür zu sorgen, dass seine Arbeitskraft wirklich gegen einen entsprechenden Wert, in Form von Lohn, getauscht wird. Schon sehr früh in ihrer Existenz war die Arbeiterklasse daher gezwungen, kollektive Organisationsformen anzunehmen, um zumindest einen besseren Tausch durchzusetzen. Eine andauernde Wiederholung dieses Kampfes, dieses „Kleinkriegs“, wie ihn Marx nannte, erzeugte dauerhafte Organisationen, Gewerkschaften, welche einen ersten Schritt hin auf eine Organisierung des Proletariats als Klasse „an sich“ darstellen. Diese Organisierung wird zu einem wesentlichen Schritt in Richtung einer Organisierung als Klasse „für sich“, zum Bewußtsein von sich selbst als einer Klasse. Doch dies hat keineswegs eine völlige Ablehnung des Kapitalismus zur Folge. Jeder Erfolg bei der Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen kann den Glauben neu beleben, die Arbeiterklasse könne mit dem KapitaIismus versöhnt werden. Das Gewerkschaftswesen zeigt zwar die Existenz der Arbeiterklasse, erkennt diese Klasse aber nur als ökonomische Kategorie des Kapitalismus an und nicht als Klasse, deren historisches Interesse in der Zerstörung des Kapitalismus liegt. Als solche können Gewerkschaften antisozialistisch sein – und sie sind es oft. Lenin betont diesen Punkt scharf und korrekt in der berühmten und immer noch treffenden Stelle in „Was tun?“: „… denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie.“ (4)

Diese Versklavung wird zwangsläufig immens geschwächt, wo sich die Bourgeoisie aufgrund der Erfordernisse ihres Systems den Versuchen der Gewerkschaften, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern, widersetzen muss. Wo die Bourgeoisie alle ihr verfügbaren Kräfte, einschließlich der Staatsmacht einsetzt, um die höchstmögliche Ausbeutungsrate durchzusetzen, schränkt die lebendige Erfahrung der Klasse die Annahme der bürgerlichen Ideologie ein.

Wenn dagegen die Bourgeoisie der Arbeiterklasse oder bedeutenden Sektionen von ihr Reformen zugestehen kann, kann dies die Herrschaft der bürgerlichen Ideologie über die Arbeiterklasse wieder verstärken. Desweiteren führt bereits der „Erfolg“ der Gewerkschaften in der Erlangung von Reformen zur Bildung einer Kaste von Verhandlungsspezialisten in der Arbeiterbewegung; zur Gewerkschaftsbürokratie. Diese Kaste stützt sich in ihrer sozialen Existenz auf den Fortbestand des Kapitalismus, und ihre Politik ist die der Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie. Sie hat keinen Grund, eine eigene Partei zu schaffen; wo ihre Interessen oder die ihrer Mitgliedschaft Regierungsmaßnahmen erfordern, ist sie bereit, Bündnisse mit Elementen der Bourgeoisie einzugehen, die sie als „fortschrittlich“ oder „arbeiterfreundlich“ definiert.

Eine solche Situation kann jedoch nur dort über eine längere Periode bestehen, wo der Kapitalismus so floriert und einen so großen Vorsprung vor seinen Konkurrenten hat, dass er es sich leisten kann, sowohl die Führer als auch bedeutende Sektionen der Arbeiterklasse selbst systematisch zu „kaufen“. Das war im Britannien des 19. Jahrhunderts und ist in den heutigen USA der Fall.

Unter solchen Bedingungen werden nicht nur die Bürokraten von der Bourgeoisie „gekauft“. Ganze Schichten von Arbeitern, vor allem Facharbeiter in den strategisch wichtigen oder durch imperialistisches Monopol überdurchschnittlich profitablen Industrien können mit überdurchschnittlichen Löhnen und Arbeitsbedingungen bestochen werden. Diese Situation kann nicht nur zu relativer sozialer Passivität bei den Arbeitern führen, sondern sogar zur Identifikation mit den Interessen des imperialistischen Staates, sowohl gegen Arbeiter anderer Länder als tatsächlich auch gegen andere Teile des Proletariats in „ihren“ eigenen Ländern. Auf diese Weise bilden in den imperialistischen Ländern Arbeiterbürokratie und -aristokratie zusammen einen Transmissionsriemen für die bürgerliche Ideologie in den eigentlichen Kern der Arbeiterklasse, in ihre am besten organisierten Sektionen.

Doch eine solche Entwicklung geht nicht ohne Widersprüche vor sich. Der Erfolg der gewerkschaftlichen Organisierung unter den „aristokratischen“ Schichten stellt ein Modell für andere Schichten dar, die von daher die Bedeutung von Organisation, kollektiver Aktion und Solidarität lernen, denn auch die „Arbeiteraristokratie“ muss ihre Privilegien der Bourgeoisie abringen. Genauso wandelt die innere Entwicklung des Kapitalismus vormals unbedeutende und unrentable Industrien in wegweisende und höchst profitable um. Infolgedessen können die Arbeiter dort höhere Löhnen durchsetzen und in die Arbeiteraristokratie aufsteigen. Andere Teile der Klasse können durch den Niedergang ihrer Industrie oder durch technologische Neuerung, die ihre Stellung untergräbt, zur Verteidigung ihrer bisherigen Errungenschaften gezwungen sein. Unter solchen Umständen wird die widersprüchliche Natur des Gewerkschaftswesens offenbar. Obwohl es den Kapitalismus akzeptiert, ist es durch objektive Entwicklungen gezwungen, ihn zu bekämpfen.

4. Wenn sich das Gewerkschaftswesen einmal etabliert hat, kann es sich nicht auf Verhandlungen mit einzelnen Unternehmern beschränken. Die Durchsetzung minimaler Richtlinien hinsichtlich Schutz und Sicherheit und bezüglich der Länge des Arbeitstages für alle Gewerkschaftsmitglieder und daraus folgend für alle Arbeiter erfordert gesetzgeberische Maßnahmen und darum eine politische Repräsentation der Arbeiterklasse. In einer solchen Situation ist es die bevorzugte Taktik der Gewerkschaftsbürokratie, nach einem Bündnis mit der einen oder anderen Bourgeoisiefraktion zu suchen, von der sie glaubt, dass deren Interessen nicht von den vorgeschlagenen Reformen bedroht werden. Diese Fraktion etikettieren sie als die „Progressiven“. Wo jedoch die Kapitalistenklasse als ganze nicht bereit ist, ohne ernstlichen Kampf Reformen zuzugestehen, und wo es deshalb keine „Freunde der Arbeiter“ für die „Vertretung“ der Klasse gibt, oder wo der Druck der Arbeiterklasse für Reformen so groß ist, dass ein offenes Bündnis mit solchen bürgerlichen Politkern unmöglich wird, dort wird die Schaffung einer politischen Partei, die sich für Reformgesetze einsetzt und diese einbringt, zur Notwendigkeit. Gleich, ob sie ein Resultat des Drucks einer bereits etablierten Gewerkschaftsbewegung nach Reformen ist, wie es in Britannien der Fall war, oder ob der Kampf für gewerkschaftliche Rechte selbst ein Bestandteil der Entstehung einer solchen Partei ist, wie in Deutschland, solch eine Partei ist eine Arbeiterpartei. Das heißt, sie kommt als Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse zustande und aufgrund der Erkenntnis, dass die Arbeiter eine unabhängige politische Vertretung brauchen. In dieser Beziehung ist die Entstehung einer solchen Partei ein historischer Schritt vorwärts in der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie hat sich stets gegen diesen Schritt gewehrt. Sie hat die potentielle Gefahr in der unabhängigen politischen Organisierung der Arbeiterklasse erkannt und war in bestimmten historischen Situationen sogar veranlaßt, die äußersten Maßnahmen zur Zerstörung solcher Organisationen zu ergreifen.

Die Politik einer solchen Partei wird aber weder spontan erzeugt noch im voraus bestimmt durch irgendeine innere Logik. Sie ist neben dem Druck von außen das Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher Kräfte in der Klasse selbst bzw. daneben auch ein Ergebnis des Eigeninteresses von Schichten oder Elementen anderer Klassen, die sich in die Arbeiterpartei integriert haben. Sollte eine solche Partei die Politik der Klassenkollaboration annehmen, wie sie von der Gewerkschaftsbürokratie vorbildlich vertreten wird, so wird ihre Politik die Interessen der Arbeiterklasse der Erhaltung des bürgerlichen Systems unterordnen. In diesem Falle wird das höchste Streben einer solchen Partei der Kampf um Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie sein; sie wird eine reformistische Partei sein, deren Politik durch und durch bürgerlichen Charakters ist. Nichtsdestoweniger wird ihre soziale Basis von der anderer bürgerlicher Parteien unterschieden bleiben. Sie wird weiterhin in den Augen von Millionen Arbeitern als die „eigene Partei“, die „Partei der Gewerkschaften“ oder die „Partei der Arbeiter“ identifiziert. In Zeiten relativen Klassenfriedens und vor allem dann, wenn die Sozialdemokratie an der Regierung ist, macht sich allerdings auch eine zweite Tendenz bemerkbar: Die Sozialdemokratie wird von großen Teilen ihrer Massenbasis zunehmend weniger als „Arbeiterpartei“ gesehen und immer mehr als eine liberale Reformpartei oder „Volkspartei“, d.h. eine reformistische Partei, die über den Klassen und dem Klassenkampf steht. Für die meisten ihrer proletarischen oder kleinbürgerlichen Wähler mag sie schlicht als diejenige Partei erscheinen, die den „kleinen Leuten“ am nächsten steht. Doch auch dies ändert unsere grundsätzliche Herangehensweise nicht. Auch wenn solche Stimmungen in „friedlichen“ Zeiten immer mehr anwachsen und zum Massenphänomen werden können, so bleibt trotzdem der grundlegende Widerspruch zwischen proletarischer Basis und bürgerlicher Politik bestehen. Wir nennen solche Parteien „bürgerliche Arbeiterparteien“, eine Bezeichnung, die ihre widersprüchliche Natur zum Ausdruck bringt.

Das heisst allerdings nicht, dass beide Seiten des Widerspruchs gleichgewichtig sind und reformistische Parteien darum einen „Doppelcharakter“ haben. Nein, die politische Charakterisierung jeder Partei ist dadurch bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse sie letzten Endes verteidigt, und nach diesem Kriterium sind reformistische Parteien vollkommen bürgerlich. Der Begriff „Arbeiterpartei“ bezieht sich auf die soziologische Zusammensetzung des Großteils der Mitglieder-, Änhänger- und Wählerbasis.  Diese Charakterisierung gilt sowohl für sozialdemokratische reformistische Parteien (die ihren historischen Ursprung in der II. Internationale haben), wie auch für stalinistische reformistische Parteien (die ihren Ursprung in der III. Internationale haben und die weiterhin die UdSSR und die von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten als qualitativ fortschrittlich gegenüber bürgerlichen Staaten ansehen). In beiden Fällen unterscheiden sich diese Parteien von anderen bürgerlichen Parteien (neben der Bindung der stalinistischen Parteien an einen oder mehrere bürokratische Arbeiterstaaten) nur durch fortwährende organische Verbindungen zur Arbeiterklasse.

Solche Verbindungen zeigen sich z.B deutlich in massenhafter Mitgliedschaft aus der Arbeiterklasse, Leserschaft der Parteipresse, proletarischen Jugendorganisationen oder in der offenen Identifizierung mit den Gewerkschaften bzw. durch Parteifraktionen in den Gewerkschaften. Bei Parteien wie der britischen Labour Party, die ihre Entstehung politischen Gewerkschaftsinitiativen verdanken, bildet die direkte Angliederung der Gewerkschaften an die Partei deren hauptsächliche Massenbasis. In jedem Fall verkörpern bürgerliche Arbeiterparteien weiterhin einen ursprünglichen Drang der Arbeiterklasse nach politischer Unabhängigkeit, und das müssen Revolutionäre gegen jeglichen Versuch der Bourgeoisie, diese Parteien zu zerstören, verteidigen. Trotz der ungezählten Beispiele von Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse bleiben diese Parteien eine Schöpfung der Klasse. Nichtsdestoweniger sind sie deformiert und in das genaue Gegenteil einer unabhängigen Klassenkraft verkehrt worden. Sie sind zu Werkzeugen der Bourgeoisie geworden, um über die Arbeiterklasse zu herrschen und ihr die politische Unabhängigkeit vorzuenthalten.

5. Eine solche Umwandlung ist keineswegs unvermeidlich. Wo reformistisches Bewußtsein in einer Arbeiterpartei die Oberhand gewinnt, geht dies unauflöslich mit der Entwicklung und Verfestigung einer Bürokratenkaste in Gewerkschaft und Partei einher. Diese Kaste ist außer einer stetigen Quelle bürgerlicher Ideologie in der Arbeiterbewegung auch eine eigenständige und reale materielle Kraft. Berufsfunktionäre der Gewerkschaften und der Partei sind systematisch in die bürgerliche Gesellschaft integriert: durch Berufung in Regierungskommissionen, Aufsichtsräte von verstaatlichten Industrien und Expertenausschüsse, durch den Eintritt in den Apparat der Kommunalverwaltungen und durch die Wahl in Stadträte, durch den Einzug ins Parlament und schließlich durch Kabinettssitze in ihrer „eigenen“ oder in Koalitionsregierungen. Dadurch erlangen solche Individuen die Verbindungen und die Macht zur Kontrolle von Gewerkschaften und Partei. Diese Kaste hat ihren eigenen Frieden mit der kapitalistischen Gesellschaft gemacht und nutzt ihre Macht, um bei den Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern Anerkennung für die Interessen der Bourgeoisie durchzusetzen. Die Bürokraten sind die Gendarmen des Kapitals innerhalb der Arbeiterbewegung und die vorderste Verteidigungslinie gegen mögliche Eingriffe der Arbeiterbewegung in die bürgerliche Gesellschaft. Für Kommunisten ist die Aufgabe, die Kontrolle des Reformismus über die Arbeiterklasse zu brechen, untrennbar mit der Niederlage und dem Sturz dieser Bürokratie verbunden.

Ein revolutionäres Verständnis des Reformismus muss darum sowohl die Erkenntnis seines konterrevolutionären, bürgerlichen Charakters, als auch seines Ursprungs als einer Errungenschaft der Arbeiterklasse im Klassenkampf mit einschließen. Er ist eine Organisationsform, mit deren Hilfe die Arbeiterklasse versucht, ihre unmittelbaren Interessen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu -verteidigen oder auszuweiten. Deswegen bezeichnete Trotzki die Sozialdemokratie als „die Partei, die sich auf die Arbeiter stützt, aber der Bourgeoisie dient“. Dies unterstreicht ihren bürgerlichen Charakter in politischer Hinsicht. Es war für ihn jedoch keineswegs ein Paradoxon, in demselben Zusammenhang festzustellen, die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften seien „Bollwerke der Arbeiterdemokratie innerhalb des bürgerlichen Staates“. (5) Dadurch brachte er sein Verständnis zum Ausdruck, dass die Arbeiter die reformistischen Parteien und Organisationen dazu benutzen, für Verbesserungen ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Rechte und Lebensbedingungen im Kapitalismus Druck auszuüben. Ebenso versuchen die Arbeiter, sich mit Hilfe dieser Parteien gegen Angriffe des kapitalistischen Staates zu wehren. Dies geschieht unter einer Führung, die bei jeder Gelegenheit bestrebt ist, die Entfaltung einer effektiven Arbeiterdemokratie zu sabotieren. Die sozialdemokratischen Parteien sind in der Tat schwache und letzten Endes wirkungslose “Bollwerke“ gegen jeden entschlossenen Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiter ihrer im Kapitalismus gewonnenen Errungenschaften zu berauben, aber Bollwerke sind sie deswegen trotzdem. Aus diesem Grunde wird eine verzweifelte und zum Angriff entschlossene Bourgeoisie unter Umständen darangehen, sie als beschränkende Faktoren ihrer Herrschaft völlig zu zerschlagen (z.B. Deutschland 1933, Spanien 1936, Chile 1973). Dies ist weder ein plumper Widerspruch in sich, noch sind die Widersprüche der reformistischen Organisationen einfach logische oder analytische Merkmale. Sie bestehen in der Wirklichkeit und stellen genau den Kern des Reformismus dar. Ohne seine real existierenden Wurzeln in der Arbeiterklasse wäre der Reformismus für die Bourgeoisie nutzlos. Ohne seine Festlegung auf die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung wäre derselbe Reformismus nicht zu dem Hindernis für den Fortschritt der Arbeiterklasse geworden, das er heute ist.

6. Die ausschließliche Betonung der einen oder anderen Seite der Dialektik, die in dem Begriff „bürgerliche Arbeiterpartei“ ausgedrückt ist, führte zu Verwirrung und als Ergebnis zu falschen Taktiken. Jene „Revolutionäre“, die von einer empiristischen Methode geleitet sind, stehen hilflos vor den mannigfaltigen und wechselhaften „Erscheinungen“ der Sozialdemokratie. Folglich entwickeln sie nutzlose und einseitige Verallgemeinerungen, die sie undialektisch von dem jeweiligen Element der widersprüchlichen Natur des Reformismus ableiten, das er in einer bestimmten Periode gerade an den Tag legt. So haben „Trotzkisten“ in bestimmten Perioden seit der Degeneration der IV. Internationale ihre Analyse der Sozialdemokratie vorwiegend auf deren Ursprünge und Basis in der Arbeiterklasse gestützt. Daraus schlossen sie, dass die betreffenden Parteien „Arbeiterparteien“ seien, fähig zur Entwicklung einer klaren Politik für die Arbeiterklasse, bis hin zu „sozialistischer Politik“. Das einzige Hindernis seien die „bürgerlichen Führer“, die ersetzt werden müssten, und die bürokratischen Organisationsstrukturen, die „reformiert“, „erneuert“ oder „demokratisiert“ werden müssten. Und umgekehrt: in anderen Perioden, als sie mit den konservativen und durch und durch bürgerlichen Regierungen der 60er und 70er Jahre, mit ihren Angriffen auf bürgerliche Freiheiten und gewerkschaftliche Rechte, ihrem Rassismus und ihrer sklavisch proimperialistischen Außenpolitik konfrontiert waren, folgerten „Trotzkisten“, dass reformistische Parteien schlicht und einfach „bürgerliche Parteien“ seien. Sie untermauerten ihre Schlussfolgerung mit Statistiken, die auf die geschrumpften organisatorischen Verbindungen zwischen der Partei und der Arbeiterklasse oder auf die sinkende Wahlunterstützung durch die Arbeiter hinwiesen. Die taktischen Früchte dieser Analysen waren im ersten Falle eine sklavische Nachtrabpolitik, als sich die „Trotzkisten“ auf linke Strömungen in der Sozialdemokratie zu „beziehen“ versuchten, oder – im anderen Fall – eine stumpfsinnige, abstrakte Denunziation und der Verzicht auf den Kontakt zu den Labourparteien und sozialdemokratischen Parteien. Diese zwei gleichermaßen falschen Positionen schließen sich gegenseitig keineswegs aus. Wenn auch dieselben „trotzkistischen“ Gruppen zu gewissen Zeiten einen Zickzack-Kurs von der einen zur anderen Position verfolgten, so einigt diese Positionen doch die programmatische Unfähigkeit bzw. der Unwille, die Sozialdemokratie mit den prinzipienfesten Taktiken der kommunistischen Tradition zu bekämpfen.

Um solche Fehler zu vermeiden, benötigen Revolutionäre an erster Stelle eine absolute Klarheit über die politische Charakterisierung der reformistischen Parteien als bürgerliche Parteien. Nur dann ist es möglich, die Art und Weise zu verstehen, in der die Durchführung bürgerlicher Politik durch die proletarischen Ursprünge und sozialen Wurzeln des Reformismus bedingt werden kann.

Die Strategie der reformistischen Parteien

7. Die reformistische Partei ist bürgerlich in ihren Zielen und ihrer Strategie; d.h. ihr „kombiniertes System von Aktionen“ führt nicht zur Machtergreifung durch das Proletariat, sondern zu deren Verhinderung und zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft. Dieses Ziel wird natürlich oft durch die Verpflichtung auf den „Sozialismus“ verschleiert. Aber dieses „sozialistische Endziel“ ist nichts weiter als eine Anhäufung von sozialen Reformen innerhalb des Kapitalismus. Selbst eine offene Erklärung für das „gemeinschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, den Verteilungs- und Tauschmitteln“ (wie im Absatz IV. der Statuten der britischen Labour Party) sieht weder die Enteignung der Enteigner vor noch überschreitet sie die Grenzen des bürgerlichen Staates in seiner „demokratischen“ Form.

Solche Verstaatlichungen gehen nicht über den Rahmen staatskapitalistischer Maßnahmen hinaus. Das Programm des Marxismus unterscheidet sich hiervon qualitativ. Es besteht in der revolutionären Eroberung der Staatsmacht, der Errichtung der Arbeitermacht durch die Diktatur des Proletariats, der Enteignung der Kapitalistenklasse, der Zerschlagung des bürokratisch-militärischen Staatsapparates und sodann im Übergang zu einer sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage von Planwirtschaft und proletarischer Rätedemokratie.

Im Gegensatz zu diesem wissenschaftlichen Programm verbreitet die Sozialdemokratie, auch wenn sie in ihrer Programmatik möglicherweise den verbalen auf das sozialistische „Endziel“ noch nicht aufgegeben hat, ein utopisch-reaktionäres Reformprogramm im Rahmen des bürgerlichen Staates. Gemessen an diesem Maßstab ist sie keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-liberale Partei, wenn auch eine von besonderer Art.

Der Reformismus ist in seiner Taktik bürgerlich. Er ist auf systematische Weise opportunistisch. Lenin beschreibt ihn so: „Opportunismus bedeutet Opferung grundlegender Interessen um zeitweiliger und teilweiser Vorteile willen.“ (6) Engels bezeichnet den Opportunismus als „die Jagd und den Kampf für Augenblickserfolge, ohne Rücksicht auf spätere Folgen”. (7)

Die historischen Ziele und Interessen des Proletariats werden geopfert zugunsten einer Perspektive stückchenweiser Sozialreformen, die erreicht werden sollen, indem man Druck auf den bürgerlichen Staat ausübt und vor allem, indem die reformistische Partei durch Wahlen oder auf parlamentarischem Wege die Regierungsverantwortung übernimmt (entweder allein oder in einer Koalition mit offen bürgerlichen Parteien). Da eine solche Regierung im Rahmen bürgerlicher ökonomischer, gerichtlicher, gesetzlicher, polizeilicher und militärischer Strukturen arbeitet, ist sie von Anfang an ein Instrument der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse.

Die Bourgeoisie herrscht durch solche Regierungen. Sozialdemokratische Regierungen sind daher bürgerliche Regierungen. Reformen sind dabei zweitrangig und in ihrem Ausmaß abhängig von der Kampfbereitschaft und dem Druck der Arbeiterklasse, sowie von der Fähigkeit der herrschenden Klasse, sie zu gewähren bzw. ihrer Unfähigkeit, sie zu verweigern. Jedenfalls sind sie auf solche Maßnahmen beschränkt, die entweder dem Kapitalismus sogar zugute kommen oder die zumindest seine strategischen Interessen nicht bedrohen. Sollte eine reformistische Regierung gesetzliche Schritte zum ernsten Schaden für bürgerliche Eigentumsrechte oder die bürgerliche Staatsmacht einleiten bzw. damit drohen, so würde sie auf den Widerstand oder die Revolte des bürgerlichen Staatsapparats treffen. Je nach den Umständen würde die Regierung entweder „verfassungskonform“ aus dem Amt geworfen oder durch Militärgewalt gestürzt werden.

Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass reformistische Parteien als Geschäftsführer des Kapitals Regierungsverantwortung übernehmen. Mit Kriegsausbruch 1914 hatte die Sozialdemokratie international ihren Bankrott als historisch vorwärtsweisende Kraft erklärt und vor dem Imperialismus kapituliert. Sie hatte mit ihrer Zustimmung zu den imperialistischen Kriegsabsichten Verrat am Weltproletariat begangen und es für die Interessen seiner Ausbeuter auf die Schlachtbänke des Kapitals geschickt. Damit hatte der Reformismus den Bourgeoisien endgültig signalisiert, dass er bereit war, die Ziele der bürgerlichen Ordnung in vollem Umfang zu vertreten. Dennoch sträubten sich, z.B. in Deutschland, die reformistischen Führer, zunächst nach dem 1. imperialistischen Krieg zum ersten Mal in der Geschichte die Regierungsgewalt zu übernehmen (vorher hatte es mit einer Ausnahme (Australien) keine sozialdemokratische- oder Labour-Regierung gegeben!). Der Grund liegt in dem tiefen Misstrauen, das sie mit der Bourgeoisie teilen, dem Misstrauen gegenüber den Arbeitermassen und ihrem Aktionspotential, das sie zur Verantwortung ziehen könnte, genauso wie sie dem Druck der Bourgeoisie ausgesetzt sind durch deren herrschende Eigentumsformen. Daher ziehen die reformistischen Parteien in der Regel Koalitionen der Alleinregierung vor. Auf die Art können sie ihr Handeln, das dem Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte verpflichtet ist, besser präsentieren.

8. In seiner Ideologie akzeptiert der sozialdemokratische Reformismus die Grenzen des Nationalstaates. Er identifiziert sich völlig mit den „nationalen Interessen“, trotz der Tatsache, dass vermeintlich klassenübergreifende Interessen im Kapitalismus schlicht ein verallgemeinerter ideologischer Ausdruck für bürgerliche Interessen sind. Der Reformismus bricht also mit dem seinem Wesen nach internationalen Charakter und Interesse des Proletariats. In imperialistischen Ländern bedeutet ein solcher Nationalismus darüber hinaus Sozialimperialismus. Dieser mag zwar in Friedenszeiten eine mehr oder weniger pazifistische Form annehmen, im Krieg verwandelt er sich aber in bösartigen Sozialchauvinismus (wie sein Zwilling, der Liberalismus). Der reformistische rechte Flügel neigt dazu, solchen Chauvinismus sogar in Friedenszeiten offen zu propagieren, und alle sozialdemokratischen Regierungen in imperialistischen Ländern handeln tatsächlich als imperialistische Regierungen. In demokratischer und pazifistischer Verkleidung trägt die Sozialdemokratie das chauvinistische Gift in die Arbeiterklasse.

In der Organisationspraxis des Reformismus gehen die fortgeschrittenen Arbeiter in der passiven Masse der Mitglieder und Wähler unter und werden von der Kontrolle über die Partei durch eine Clique von Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten ausgeschlossen.

Trotzki beschrieb die Struktur sozialdemokratischer Parteien dementsprechend als eine „verborgene und verschleierte, aber nicht weniger verhängnisvolle Diktatur- die bürgerlichen ‚Freunde‘ des Proletariats, die parlamentarischen Karrieremacher, die Salonjournalisten, die ganze Schmarotzerbande, die der Parteibasis die ‚freie‘ und demokratische Aussprache gestattet, aber sich hartnäckig an den Apparat klammert und letztenendes doch tut, was dieser will. Eine solche Art von ‚Demokratie´ in der Partei ist nichts als eine Kopie des bürgerlich demokratischen Staates …”. Trotzki schlussfolgert, dass der Zweck dieser „Betrugsdemokratie“ die Zügelung und Lähmung der revolutionären Erziehung der Arbeiter ist, „die Übertönung ihrer Stimmen durch den Chor der Stadträte, Parlamentsabgeordneten usw., die bis ins Mark von egoistischen, kleinbürgerlichen und reaktionären Vorurteilen durchdrungen sind“. (8)

Die praktische Parteipolitik wird nicht von der Basis bestimmt, sondern von der Bürokratie, also je nach der konkreten Situation von der Parlamentsfraktion, dem Parteivorstand oder anderen leitenden Gremien. Die einfachen Mitglieder, nur episodisch beteiligt, und dann fast nur über Wahlroutine oder gelegentliche „Protest“aktionen, sind auf diese Weise im Nachteil gegenüber dem Apparat der Parlamentsabgeordneten und Berufsfunktionäre. Das Kleinbürgertum und die gehobene Facharbeiterschaft stellen eine Basis für die reformistischen Bürokraten dar. Durch solche Mittel wird die formale Demokratie dieser Parteien noch weiter ausgehöhlt und es den Parlamentariern aus der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie ermöglicht, die Partei völlig zu beherrschen. Außerdem hilft die strenge Trennung von politischer und ökonomischer Organisation des Proletariats, niedergelegt in den Schlagworten von den „zwei Flügeln“ oder „zwei Säulen“ der Arbeiterbewegung, die Macht von Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten gleichermaßen zu erhalten. In einigen Ländern, wie in Österreich oder Belgien, trat in der Geschichte der Sozialdemokratie noch als „dritter Flügel“ oder „dritte Säule“ die Genossenschaftsbewegung hinzu, die diese Trennung von wirtschaftlichen und politischen Organisationsformen noch verstärkte. Politik wird in den Gewerkschaften und Genossenschaften auf ein Mindestmaß beschränkt, und in der Partei ist jeder Gedanke an direkte Aktion oder den Einsatz der Gewerkschaften für politische Ziele verpönt. So bleibt die Partei ausschließlich auf Wahlkampfaktivitäten orientiert.

9. Die Notwendigigkeit für den Reformismus, sich auf seine soziale Basis zu beziehen und sie zu erhalten, ist zwar ein zweitrangiger Umstand angesichts seines grundsätzlichen Klassencharakters, trotzdem ist es genau das, was diese Partei von allen anderen unterscheidet. Im Unterschied zu anderen bürgerlichen Parteien muss sich die reformistische Partei auf die unvermeidlichen Kämpfe der Arbeiter gegen den Kapitalismus derart beziehen, dass sie die anerkannte Führung der Arbeiterklasse bleibt.

Eine solche Partei kann sich nicht  der ganzen Linie gegen die Verteidigungsaktionen der Arbeiter stellen. Mehr noch, wenn sie nicht beiseitegefegt werden wollen, müssen die reformistischen Führer diese Kämpfe bis zu einem gewissen Grade unterstützen und anführen, trotz der darin enthaltenen antikapitalistischen Dynamik. Der Versuch, in solchen Situationen „an der Spitze der Arbeiter zu stehen“ und gleichzeitig den Schaden für die Interessen des Kapitals gering zu halten, ermöglicht es Revolutionären, eine Taktik zu entwickeln, die darauf abzielt, die Widersprüche im Reformismus auszunützen und zur Explosion zu bringen. In seiner allgemeinsten Form liegt der Hauptwiderspruch zwischen einer objektiv revolutionären Klasse, die gegen das kapitalistische System durch dessen eigene Gesetzmäßigkeiten, seine Kriege und Krisen in Marsch gesetzt wird, auf der einen und einer gegen die Arbeiterklasse gerichteten Partei- und Gewerkschaftsstruktur, die ihre soziale Basis in dieser Klasse hat, auf der anderen Seite. Ein dialektisches Verständnis der historischen Entwicklung des Reformismus als eines Produkts des Klassenkampfes, aber gleichzeitig auch als einer Bremse desselben, ermöglicht es Revolutionären zu begreifen, wie sich die Stärke des Reformismus, abhängig vom Rhythmus des Klassenkampfes und der Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, ändern kann. In Perioden kapitalistischer Expansion ist es für die Arbeiter möglich, relativ ernsthafte und langanhaltende Errungenschaften zu machen. Die allergrößten Möglichkeiten haben dabei die Facharbeiter der imperialistischen Hauptmächte. Geringer und sogar unbedeutend sind dagegen die Aussichten für die ungelernten Arbeiter dieser Länder oder für die Arbeiter in den kolonialen bzw. halbkolonialen Ländern. Perioden eines längeren kapitalistischen Aufschwungs (z.B. die 1890er und frühen 1900er oder die 1950/60er Jahre) sind der natürliche Nährboden des Reformismus. Die Rolle der konterrevolutionären Bürokratie in solchen Perioden ist es, Reformen auszuhandeln, die zwar für die Arbeiterklasse wichtig sind, aber vom Standpunkt der Bourgeoisie aus gesehen kaum mehr als geringfügige Zugeständnisse und keine Bedrohung der Wurzeln ihrer Macht in Wirtschaft und Staat darstellen. Dennoch dienen selbst die zur Erlangung solcher Zugeständnisse notwendigen Kämpfe – auch wo sie unter reformistischer Führung stehen – dazu, die Organisierung der Arbeiterklasse auszuweiten und zu stärken. Doch auch in solchen Perioden gibt es keinen automatischen oder unvermeidlichen Triumph des  Reformismus. Der Kampf entscheidet das Ergebnis. Zu allen Zeiten, ob Aufschwung oder wirtschaftlicher Niedergang, kann eine bewusste kommunistische Führung intervenieren, um „spontane“ Entwicklungen zu modifizieren, zu nutzen, anzuhalten oder sogar umzudrehen. Falls dies getan wird, können auch Perioden sozialer Stabilität sinnvoll genutzt werden, durch die Vorbereitung und das Sammeln der Kräfte, die Schulung und die Entwicklung des politischen Bewusstseins der Avantgarde.

In Perioden zugespitzter kapitalistischer Krisen hören die reformistischen Führer nicht auf zu verhandeln, nur verhandeln sie nun über bedeutende und schmerzliche Zugeständnisse vom Proletariat an die Bourgeoisie. Diese Führer müssen sich mehr oder weniger und auf unterschiedliche Weise einen Anschein von Widerstand geben: entweder mit Worten, parlamentarisch und sogar mit gewerkschaftlichen Aktionen (Streiks) oder Protesten (Demonstrationen). Ihr Ziel ist dabei nicht die historische oder strategische Niederlage der Bourgeoisie, sondern nur die Absicht, die Bourgeoisie auf den Weg der kleinen Zugeständnisse zurückzubringen oder wenigstens deren Forderungen an das Proletariat so zu mäßigen, dass die reformistischen Führer sie den einfachen Mitgliedern „verkaufen“ können. Dennoch, selbst solche Teil- bzw. Scheinmobilisierungen bergen das Risiko, die Massen zu ermutigen, über die Absichten ihrer Führer hinauszugehen.

Die reformistischen Führer unterliegen also selbst einem Widerspruch; vor allem müssen sie ihre Stellung als Führer der Massen behaupten. Ihre Kastenprivilegien, ihre Gehälter und ihre ganze soziale Bedeutung in der bürgerlichen Gesellschaft sind vollständig davon abhängig. Sie müssen die Organisation der Arbeiter aufrechterhalten und sie sogar bis zu einem gewissen Grade mobilisieren. Doch wenn sie die Arbeiter zu stark aufrütteln, können sie völlig die Kontrolle verlieren und laufen Gefahr, dass sie zwischen dem Angriff der Bourgeoisie und dem Aufruhr der eigenen Mitglieder zermahlen werden. Diese beiden Pole des Drucks produzieren einen rechten und einen linken Flügel in den Gewerkschaften und reformistischen politischen Parteien. Die grundlegende Aufgabe des rechten Flügels ist es, das Kommando zu führen, sich vor der Bourgeoisie zu verantworten, mit den staatlichen Stellen zu verhandeln und zusammen zu arbeiten, sowie ein loyaler und vertrauenswürdiger Handlanger für den Kapitalismus zu sein. Die Hauptaufgabe des linken Flügels ist es, Kontakt zu den Massen zu halten und in ihnen die Illusion zu bewahren und neu zu beleben, dass die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse und Bestrebungen die Unterwerfung unter die reformistischen Bürokraten und Parlamentarier erfordere. Teil dieser Aufgabe ist es, die Massen davon zu überzeugen, dass der Verrat und die Täuschungsmanöver dieser Parteien gegenüber der Arbeiterklasse nicht in der Natur des reformistischen Programms und der reformistischen Führung liegen.

Alle reformistischen Parteien haben an der Regierung, wo sie als Agenten der Bourgeoisie handeln, die Tendenz, ihre „Glaubwürdigkeit“ zu verschleißen. Sie muss folglich durch eine Periode in der Opposition, in der Regel verbunden mit einem Wechsel des Führungspersonals, erneuert werden. Letzteres geschieht im allgemeinen durch die Einbeziehung von Elementen der „linken“ oder oppositionellen Fraktion in die Führung – nachdem sie alle Bindungen zu den Massen gelöst haben und immer vorausgesetzt, dass sie nicht allzu viele Aktionen in der Vergangenheit auf dem Kerbholz haben, was sie als Risiko für die Geheimnisse und die Sicherheit des bürgerlichen Staates erscheinen ließe.

In „friedlichen Perioden“, wenn die Arbeitermassen nur begrenzte Reformen erwarten, geht dieser Kreislauf von Regierungen, die Desillusionierung erzeugen, und Oppositionsphasen, die neue Illusionen aufbauen, ohne größere Störungen vonstatten. In kapitalistischen Krisenperioden kann es hierbei jedoch zu großen Erschütterungen kommen. In außergewöhnlichen Situationen, z.B. in einer Periode „friedlichen“ Wachstums im Kapitalismus, in Zeiten eines weittestgehenden Konsenses zwischen den Parteien auf nationaler Ebene oder in Perioden, wo aufgrund besonderer ökonomischer Spielräume sozialdemokratische Reformvorhaben durchgezogen werden können – in solchen Situationen kann sich allerdings dieser Verschleiß der Glaubwürdigkeit reformistischer Parteien entscheidend verlangsamen, ja für einige Zeit kann sich diese Tendenz sogar umkehren. Nur so ist es zu verstehen, wie in Schweden eine sozialdemokratische Partei auf Jahrzehnte die Regierung stellen konnte. Ein weiteres Beispiel wäre Österreich, wo eine Koalition zwischen der Sozialdemokratie und einer offen bürgerlichen Partei 20 Jahre lang an der Macht bleiben konnte, worauf nach kurzer Unterbrechung zusätzlich 13 Jahre sozialdemokratischer Alleinregierung folgten.

Die revolutionäre Taktik gegenüber dem Reformismus

10. Es hat sich als eine historische Tendenz erwiesen, dass der Beginn einer Krise vielfach von Kämpfen der Arbeiterklasse zur Verteidigung bestehender Errungenschaften und zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards begleitet wird. Der Erfolg in solchen Kämpfen beschneidet ernsthaft die Fähigkeit der Bourgeoisie, die Lasten der Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Wie in Wachstumsphasen müssen Revolutionäre in solche Kämpfe eingreifen, indem sie selbst für die geringsten Teil- und Abwehrforderungen den Kampf mit den Methoden der direkten Aktion und der demokratischen Einbeziehung der größtmöglichen Anzahl von Arbeitern vorschlagen, um sowohl den konkreten Kampf zu gewinnen, als auch die Klasse politisch und organisatorisch auf die kommende Periode vorzubereiten. Die erfolgreiche Durchführung solcher Kämpfe führt aber nicht von selbst zur Entwicklung revolutionären Bewusstseins. Ein solcher Glaube ist ein Merkmal des Ökonomismus. Revolutionäre können sich nicht damit zufrieden geben, nur für bessere und wirkungsvollere Kampfmethoden zur Durchsetzung der spontanen Forderungen der Arbeiter einzutreten. Selbst wenn solche Forderungen einen fortschrittlichen Inhalt haben (was durchaus nicht immer zutrifft), ist es die Pflicht von Revolutionären, den Kampf dafür mit der historischen Aufgabe des Proletariats, der Eroberung der Staatsmacht zu verbinden.

Eine solche Verbindung ist nur möglich durch die Anwendung von Übergangslosungen, d.h. von Losungen, die die wirklichen und zentralen Bedürfnisse der Arbeiter erfassen und die unversöhnlich gegen die Versuche der Kapitalisten und ihres Staates, den Arbeitern die Kosten der Krise aufzubürden, gerichtet sind. Das System der von Kommunisten aufgestellten Übergangsforderungen, das den Kampf für die Arbeiterkontrolle durch Kampforgane wie Arbeiterräte und Fabrikkomitees auf die Tagesordnung setzt, führt zur Organisierung und Vorbereitung der Arbeiterklasse für den Kampf um die Staatsmacht.

Der Kampf um Sofort- und Übergangsforderungen bringt die Arbeiterklasse notwendigerweise in einen potentiellen Konflikt mit den etablierten reformistischen Führern. Diese Führer sind im Zwiespalt zwischen ihrer Verpflichtung dem Kapitalismus gegenüber und der Notwendigkeit, die Führung in den Arbeiterorganisationen zu behalten. Jeder Schritt, den sie tun, um an der Spitze der Arbeiter zu bleiben, erzeugt in der Tendenz noch größere Hoffnungen und Forderungen, die von einer bürgerlichen Arbeiterpartei (oder einer bürgerlichen Arbeiterregierung) bald nicht mehr erfüllt werden können.

Ebenso können im Verlauf von Kämpfen neue Führer auftauchen, oft in militant linksreformistischer Spielart. Obwohl eine etwas andere Taktik im Bezug auf solche Führer nötig sein mag, sind sie doch nicht qualitativ verschieden von der verwurzelten, konservativen Bürokratie. Sie spiegeln das Bewusstsein der Arbeiter wider, von denen sie gewählt werden. Als solche repräsentieren sie die reformistischen Grenzen des Bewusstseins dieser Arbeiter und werden zum Mittel der Aufrechterhaltung dieser Begrenztheit. Trotzki betonte dies im Zusammenhang mit der Labour- und Gewerkschaftslinken in Britannien während der 20er Jahre: „Die Linken spiegeln die Unzufriedenheit der britischen Arbeiterklasse wider. Bis jetzt ist diese Unzufriedenheit noch unklar, und die Linken drücken das tiefgehende und andauernde Streben der Arbeiter nach einem Bruch mit Baldwin und MacDonald in linksoppositionellen Phrasen aus, die keinerlei Verpflichtungen nach sich ziehen. Sie machen einen ideologischen Irrgarten aus der politischen Hilflosigkeit der Massen. Sie stellen einen Ausdruck der Vorwärtsbewegung dar, fungieren aber auch als Bremse darin.“ (9)

Um die Arbeiter zu befähigen, die falsche Führung der Reformisten zu überwinden, müssen Revolutionäre den Arbeitern die richtigen Kampfziele und Kampftaktiken vermitteln, indem sie gezielte Forderungen an diese Führer richten. Solche Forderungen unterstützen einerseits die Mobilisierung der Arbeiter zur Verteidigung ihrer unmittelbaren und weitergehenden Interessen, und sie entlarven gleichzeitig in der Praxis die Unfähigkeit und den Verrat der reformistischen Führer. Dadurch wird die Grundlage geschaffen, sie zu ersetzen. Erst wenn die Unzulänglichkeiten der Führer, seien sie linker oder rechter Spielart, von den Arbeitern im Verlauf des Kampfes verstanden werden können, werden diese Führer überwunden. Wo immer eine bedeutende Anzahl von Arbeitern durch Nicht-Revolutionäre geführt wird, müssen Kommunisten nicht nur von ihnen fordern, dass sie ihre Anhänger für bestehende Ziele der Arbeiterklasse mobilisieren, sondern müssen auch andere für den Kampf notwendige Sofort- und Übergangsforderungen aufstellen. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass man sich auf die nicht-revolutionären Führer bei der Durchsetzung solcher Forderungen verlassen könne.

Diese Taktik hat vier Ziele. Erstens: die Führer vor den Augen ihrer eigenen Anhänger zu testen. Zweitens: die Forderungen populär zu machen, die am besten den Interessen der Arbeiterklasse entsprechen. Drittens: die maximale Einheit in der Aktion herzustellen und die proletarischen Massen zu mobilisieren. Viertens: die Notwendigkeit eines Entscheidungskampfes der ganzen Klasse gegen die Bourgeoisie aufzuzeigen.

11. Gewerkschaften und politische Parteien sind zwei verschiedene organisatorische Ausdrucksformen der Arbeiterbewegung und der Bewusstseinsstufen der Arbeiterklasse. Gewerkschaften entstehen chronologisch in der Regel vor der Massenpartei. Sie bilden sich als Organe des Klassenschutzes in ökonomischer Hinsicht. Die so errichtete Front gegen die Kapitalisten führt Arbeiter unterschiedlicher politischer Überzeugungen zusammen und nimmt in zweckbeschränktem Maß die Interessen aller Arbeiter wahr. Sie erscheint also in der Funktion eines urtümlichen klassenmäßigen Einheitsfrontorgans.

Schafft die Arbeiterbewegung sich eine Formation ihres politischen Willens im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung, eine sozialdemokratische oder Labour-Partei, stellt dies einen höheren Bewusstseinsgrad in der proletarischen Bewegung dar. Diese politische Partei kann auch als Massenpartei jedoch nur einen, wenngleich den größten Teil, der Arbeiterbewegung repräsentieren.

Die Teilung in ökonomische und politische Auf-gaben und deren Realisierung in verschiedenen Organisationsebenen – hier Verhandlung mit dem Kapital – dort Verhandlung mit dem bürgerlichen Staat – vollzieht sich analog dem in den bürgerlich-kapitalistischen  Erscheinungsformen befangenen Arbeiterbewusstsein, das Ökonomie und Politik voneinander trennt. In etlichen imperialistischen Ländern tritt noch ein Auseinanderfallen von Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit hinzu, was bspw. in Ländern mit Labour-Party-Tradition nicht in diesem Ausmaß der Fall ist. Dort bedeutet Mitgliedschaft in der Gewerkschaft in der Regel auch Parteizugehörigkeit. Durch die scheinbare Trennung dieser Arbeiterorganisationen -ergibt sich u.a., dass die Gewerkschaftsbürokratie einerseits über größere Mobilisierungskraft als die Parteibürokratie verfügt, zum anderen aber auch stärker dem Druck der eigenen Basis unterliegt.

Trotz dieser Verschiedenheit der Grundtypen von Arbeiterorganisationen versuchen Kommunisten sich beiden gegenüber, sowohl den Gewerkschaften als auch den politischen Parteien, mit der Methode der Einheitsfront zu beziehen. Daran ändert auch nichts deren strategisch unterschiedliche Bewertung. Kommunisten sind für die Beibehaltung der Gewerkschaften als Arbeitergrundorganisation auch nach der sozialistischen Revolution, was natürlich voraussetzt, dass Revolutionäre um die Klassenführung in diesem Organ kämpfen müssen. Der erste Schritt dahin ist die Aufnahme von kommunistischer Fraktionsarbeit in den Gewerkschaften als unentbehrliches Element im revolutionären Parteiaufbau. Aufgrund des Charakters der Gewerkschaften als elementarer Organisation des Klassenkampfs, einer Art Einheitsfrontorganisation für den ökonomischen Kampf, sind Kommunisten also zur Mitgliedschaft und dauerhaften Fraktionsarbeit verpflichtet mit dem Ziel, die Führung zu erringen und die Gewerkschaften zu arbeiterdemokratischen Massenorganisationen revolutionär-klassenkämpferisch zu transformieren. Ein Verlassen dieser Verbände ist erst dann angezeigt, wenn die kämpfenden Arbeiter sie massenhaft hinter sich lassen und andere, höhere Organe des Klassenkampfes schaffen (Räte, Fabrikkomitees, usw.).

Die sozialdemokratische/Labour-Partei jedoch ist ihrer Konstruktion und ihrem Inhalt nach das Haupthindernis auf dem Weg erfolgreichen Machteroberung des Staates durch die Arbeiterklasse und muss daher politisch zersetzt werden. Im Unterschied zur gewerkschaftlichen Fraktionsarbeit ist hier nur unter bestimmten Bedingungen eine Mitgliedschaft von Revolutionären, sei es individuell (z.T. in der britischen Labour Party) oder als gesamte Organisation (kurzfristiger Entrismus) möglich und notwendig. Besteht nicht die Möglichkeit, für das volle kommunistische Programm zu kämpfen, so würden Kommunisten als objektive Vertreter der dezidiert konterrevolutionären reformistischen Programme nach außen erscheinen.

Die Einheitsfronttaktik ist allerdings auf beide Formen anwendbar. Es sind reformistisch geführte Klassenvertretungen mit Arbeitermassenanhang; sie verharren im Gefüge des Kapitalismus und sind gleichzeitig scharf seinen Widersprüchen unterworfen. Alle Versuche, die Anwendung der Einheitsfronttaktik auf einen Organisationstypus (Gewerkschaften), auf eine Ebene (Basis) oder ein bestimmtes Klassenkampfstadium („revolutionärer Aufschwung”) zu begrenzen, müssen als verfehlt zurückgewiesen werden. Syndikalismus und Sektierertum gehen eine verhängnisvolle Symbiose ein, denn wer es ablehnt, die Einheitsfronttaktik in vollem Umfang anzuwenden, lehnt letzten Endes die Aufhebung der Trennung von Ökonomie und Politik, von Basis und Führung ab und vertieft stattdessen nur die Illusionen davon.

Die künstliche Trennungslinie wird ständig faktisch durchbrochen, wie der Charakter von Aktionen der Arbeitermassen überall zeigt. Es ist für Revolutionäre darum bspw. notwendig, den Zusammenhang von Streiks mit politischen Konsequenzen herzustellen, ebenso wie reformistische Politiker bei Tarifauseinandersetzungen in die Pflicht genommen werden müssen, Partei zu ergreifen und sich nicht hinter einer Scheinneutralität oder Nichtkompetenz zu verschanzen.

Wer die Notwendigkeit der Anwendung der Einheitsfronttaktik auf allen Ebenen des Klassenkampfes leugnet, widerspricht elementar der Methode des trotzkistischen Übergangsprogramms. Jede noch so unscheinbare („rein ökonomische“) Forderung enthält immer die Frage nach ihrer Durchsetzung und dauerhaften Verankerung, nach selbstständiger Organisierung und Mobilisierung der Arbeiterklasse und eröffnet letzten Endes die Perspektive der politischen Dimension von der Größenordnung der Machtfrage im Staat.

Die  Vielfalt von Anwendungsbereichen ist bei der reformistischen Partei sogar größer, obwohl sie kein Einheitsfrontorgan per se ist; aber sie hat einen weitgesteckteren Kompetenzspielraum als der Gewerkschaftsapparat: sie kann die Regierung übernehmen. Von daher ist eine Taktik auch in bezug auf die reformistische Führung der Massen nicht nur vereinbar mit revolutionären Prinzipien, sondern sogar zwingend.

Wer jedoch vor der Anwendung der Einheitsfronttaktik auch hier zurückscheut, unterschreibt damit seine Kapitulationsurkunde vor dem Reformismus ebenso wie derjenige, der sich unkritisch an die reformistischen Massen und ihre Führer anpasst.

12. Die korrekte Anwendung dieser Methode enthält nicht nur das Potential, die Illusionen in einzelne Reformisten zu erschüttern, sondern in den Reformismus insgesamt, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die Arbeiter für eine alternative revolutionäre Führung zu gewinnen. Doch selbst in der drückendsten Krise existiert kein objektiver oder automatischer Prozess, der wie von selbst zu revolutionärem Bewusstsein führt. Falls eine alternative revolutionäre Führung und Strategie nicht die Oberhand gewinnen, werden Niederlage und Demoralisierung die Kontrolle der reformistischen Führer über eine gebändigte und gebrochene Mitgliedschaft wiederherstellen. Im äußersten Falle kann es der Bourgeoisie sogar möglich sein, die legalen Arbeiterorganisationen völlig zu zerstören. Die Dialektik des Klassenkampfes schafft der Arbeiterbewegung die Möglichkeit, sich hinsichtlich Führung, Organisation und Taktik auf eine revolutionäre Höhe zu erheben. Wenn die Entscheidung im Zusammenstoß zwischen Proletariat und Bourgeoisie jedoch nicht auf diesem höheren Niveau fällt, muss sie auf niedrigerem Niveau fallen, und das heißt, dass trotz möglicher Teilerfolge der Kampf in letzter Konsequenz im Interesse der Bourgeoisie, ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten, entschieden wird.

Obwohl die Sozialdemokratie in der großen Krisenperiode zwischen den imperialistischen Weltkriegen schwere Schläge erlitt, haben es verfehlte Taktiken von Revolutionären, Wankelmut der Zentristen und die verbrecherische Sabotage der stalinistischen Bürokratie den Reformisten erlaubt, sich verjüngt aus dem Staub zu erheben, in den Krise und Klassenkampf sie getreten hatten. Der Reformismus lag im Sterben, doch die Kräfte der Revolution waren unfähig, ihn gänzlich in den Abgrund zu stoßen.

Dies verdeutlicht die extreme Gefährlichkeit aller plump vereinfachenden Schemata für die Entwicklung revolutionären Bewusstseins. Sie alle, von den am meisten evolutionistischen und gradualistischen Vorstellungen bis hin zu den gröbsten Katastrophentheorien schieben die Dinge dem „objektiven Prozess“ zu, die in Wirklichkeit die Aufgaben von Revolutionären sind. Ein solcher Schematismus ist ein todsicheres Zeichen für Zentrismus gegenüber den reformistischen Führern: „Denn stets hat der Zentrismus die Sünden des Opportunismus mit feierlichen Hinweisen auf die objektiven Tendenzen der Entwicklung bemäntelt … aber eigentlich drückt sich in diesem vermeintlich revolutionären Objektivismus nur der Versuch aus, den revolutionären Aufgaben auszuweichen und sie auf den Schultern des sogenannten historischen Prozesses abzuladen.“ (10)

13. Einen solchen Schematismus kann man deutlich bei den modernen Zentristen sehen, auch wenn sie ihr Festhalten an Trotzkis Ideen beteuern. Die Katastrophentheorie der Tradition von Gerry Healy, verkörpert in den Dokumenten und der Perspektive des ‚Internationalen Komitees‘, ist lediglich eine frühe und primitive Form des Objektivismus, der den Pablo/Mandel-Flügel des „Trotzkismus“ (das Internationale Sekretariat) auszeichnet. Laut dieser Strömung befindet sich der Kapitalismus seit 30 Jahren direkt am Rande des Untergangs. Bei den Arbeitern brodelt angeblich das revolutionäre Bewusstsein, und nur eine dünne Schicht von reformistischen Führern hält die Massen von ihrem Weg zur revolutionären Partei ab. Letztere muss von Anfang an mit dem ganzen Apparat und der Selbstdarstellung einer Massenpartei aufgebaut werden, um für die Katastrophe bereit zu sein. Die Arbeiter könnten dann einfach massenweise in die Partei eintreten und von ihren Illusionen befreit werden. Somit rostet die Taktik zur Überwindung reformistischer Passivität, wozu die Einheitsfront da ist, ungenutzt vor sich hin, während die Organisation, die tatsächlich – trotz aller Selbstdarstellung – noch eine Propagandagruppe ist, zur Sekte verkümmert und von dort zum Kult eingehüllt in eine Wolke aus idealistischer Dialektik und Selbsttäuschung. Dies war die Krankengeschichte von Healys Workers Revolutionary Party.

Das andere Schema, typisch für den Mandel-Flügel der degenerierten Bruchstücke des Trotzkismus, trachtet danach, den Prozess der Weltrevolution als Organisator und Anwalt der zentristischen und linksreformistischen Führer zu fördern. Diese Führer müssten ermutigt werden, da sie den Vormarsch der Geschichte darstellen.

Zentristischer Schematismus und Objektivismus können sowohl zu sektiererischen als auch zu opportunistischen Schlußfolgerungen in ein und derselben politischen Gruppierung führen. Bspw. hat sich die Healy-Strömung in den 50er Jahren an die reformistischen Teile der Arbeiterbewegung angepasst und hat dann in den 70er Jahren hysterisch die revolutionäre Partei proklamiert. In ähnlicher Form schwankte die Haltung der deutschen Mandel-Anhänger, die bis Ende der 60er Jahre im tiefen Entrismus innerhalb der SPD versackt waren, um danach auf diverse „neue“ Avantgarden zu setzen, die allesamt darin fortschrittlich sein sollten, außerhalb der SPD zu stehen! Nach der Eigenkandidatur der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) zur Bundestagswahl 1976, die taktisch so sektiererisch wie programmatisch opportunistisch war, wurde wieder eine Brücke zum linkssozialdemokratischen Spektrum in SPD und Gewerkschaften geschlagen durch anpaßlerische Projekte wie „Aktionskreis Leben“, „Sozialistische Alternative“, etc. Die GIM hatte aber auch immer noch ihre Augen auf das Milieu der Reste der Linken und Einpunktbewegungen und der grün-alternativen Szene gerichtet. Diese Positionen erscheinen als Gegensätze, doch die zugrundeliegende Methode ist dieselbe.

Indem sie kämpferischen Arbeitern entweder die revolutionäre Umwandlung der reformistischen Parteien oder den „Parteiaufbau“ (d.h. den Eintritt in ihre Sekte) anbieten, erweisen sich beide Varianten als vollständig nutzlos für Arbeiter, die aktuell mit der Notwendigkeit konfrontiert sind, hier und jetzt innerhalb reformistischer Organisationen und an der Seite reformistischer Arbeiter zu kämpfen. Revolutionäre Kommunisten bieten ihr alternatives Programm nicht bloß wie eine Art Glücksbringer an, sondern sie benennen Taktiken, die gleichzeitig für den Sieg in den Klassenkämpfen und zur Überwindung des Reformismus geeignet und notwendig sind.

14. Solche Taktiken können nur auf der Grundlage der lebendigen Erfahrung des Klassenkampfes entwickelt werden. Daher erhielten sie ihre vollständigste Systematisierung während der Periode des intensivsten Konflikts zwischen Kommunismus und Kapitalismus, d.h. in den Jahren unmittelbar nach der ersten Eroberung staatlicher Macht durch ein kommunistisch geführtes Proletariat – nach der russischen Revolution vom Oktober 1917. In ihrem Kampf um die Macht in Russland standen die Bolschewiki vor einer zweifachen Aufgabe. Die Dynamik des Klassenkampfes hatte die Arbeiter zur Schaffung von Räten (Sowjets) geführt, von Kampforganen, gestützt auf die direkte Demokratie der Arbeiterklasse. Jedoch erkannte die Mehrheit der Arbeiterdelegierten in den Sowjets anfangs noch nicht die Notwendigkeit der Revolution. Dies führte dazu, dass die Führung in den Sowjets und damit in der Arbeiterklasse den Menschewiki zufiel, die – anders als die Arbeiterklasse -bewusst gegen die Revolution waren. Die Bolschewiki mussten daher den Massen sowohl den letzten Endes arbeiterfeindlichen Charakter der Menschewiki aufzeigen, als auch die Notwendigkeit der proletarischen Revolution.

Die Taktik der Bolschewiki, zusammengefasst in den Losungen „Alle Macht den Sowjets!“ und „Brecht mit der Bourgeoisie!“ zielte darauf ab, es den Massen der Arbeiterklasse zu ermöglichen, durch ihre eigene Kampferfahrung zu lernen, dass allein die Eroberung der Staatsmacht ihre Probleme lösen kann und dass die Menschewiki alles tun würden, um dies zu verhindern. Die Bolschewiki überzeugten die Arbeiter von der Notwendigkeit der Sowjetmacht als Mittel zur Erlangung von Frieden, Brot und Land und von der Notwendigkeit, von jenen Führern, die behaupteten, der Arbeiterklasse und den Sowjets ergeben zu sein, die praktische Durchführung einer solchen Politik zu verlangen. Dadurch wurde der Widerspruch zwischen dem sich rapide entwickelnden politischen Klassenbewusstsein der Arbeiter und der Kontrolle der Menschewiki über sie (die ja auf dem früheren Mangel an politischem Klassenbewußtsein beruhte) bis zum Äußersten verschärft.

In der Hitze der Revolution wurde diese Methode, die reformistischen Führer zu bekämpfen und die Massen zu befähigen, ihren eigenen reformistischen Bewusstsein stand zu überwinden, weder systematisiert noch verallgemeinert. Doch die Bolschewiki benutzten wiederholt die Taktik der Agitation für Massenaktionen und der Forderung an die reformistischen Führer, solche Aktionen zu unterstützen und zu führen, solange sie das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiter besaßen. Eben dies Praxis fasste die junge Kommunistische Internationale zu einem Bündel von Taktiken zusammen, bekannt als Einheitsfront.

Die Einheitsfront

15. Die effektive Anwendung von Taktiken zur Überwindung des Reformismus erfordert ein klares Verständnis der Strategie, von der diese Taktiken abgeleitet sind. So darf die unter dem Namen Einheitsfront bekannte Reihe von zusammenhängenden Taktiken niemals ihre untergeordnete Funktion überschreiten. Jede Theorie oder Praxis, die der Einheitsfront die Rolle eines direkte Weges zum Sozialismus zuschreiben – sei es in eine ihrer besonderen Formen oder über eine Reihe von Einheitsfronten – sind dadurch von selbst prinzipienlos und können nur zu systematischer und fortschreitende Preisgabe des revolutionären Programms führen. Die führt mit eherner Notwendigkeit zur Verneinung der unabhängigen und bewussten Rolle der Arbeiterklasse bei ihrer eigenen Emanzipation. Es entwertet und leugnet in der Praxis zunehmend die Rolle der revolutionärer Partei. Es verwandelt die Einheitsfront von einer Waffe gegen den Reformismus zu einem Vorwand für die ideologische Kapitulation vor dem Reformismus und die organisatorische Auflösung in ihn.

Der Weg zur Macht liegt für die Arbeiterklasse nicht auf einer geraden Linie von Gewerkschafts- oder Wahlkampfaktionen, auch wenn eine nationale Arbeiterbewegung lange Zeit auf solche Aktionen beschränkt gewesen sein mag. Unterbrechungen in ihrem Verlauf, Katastrophen ebenso wie Triumphe, der Verlust von vorherige Errungenschaften, die Entstehung neuer Formen von Organisationen und Taktiken, vorwärtsgerichtete Bewusstseinssprünge – das alles charakterisiert die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Die Aufgabe von Revolutionären ist es, sich programmatisch, taktisch und organisatorisch auf diese Ereignisse vorzubereiten.

Die schöpferische Rolle der Arbeiterklasse selbst und die anderer unterdrückter Klassen und Schichten ist das Fundament marxistischer Taktik. Die Erfahrungen der Arbeiterbewegung (mit ihrem Höhepunkt, der Pariser Kommune) waren die unersetzliche schöpferische Antriebskraft zur Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus. Auf der Grundlage einer kritischen Analyse dieser Erfahrungen kamen Marx und Engels zur Ausarbeitung der Prinzipien und der Strategie für die Machtergreifung der Arbeiterklasse, die Rolle der Gewerkschaften und die Notwendigkeit einer politischen Arbeiterpartei. Desgleichen entwickelten Lenin und Trotzki das revolutionäre Programm, gestützt auf die Erfahrung des russischen Proletariats mit Massenstreiks und Sowjets. Sie taten dies nicht aus einer Anbetung der „Spontaneität“ heraus. Sie waren weit davon entfernt die unbewussten, rückwärtsgewandten oder verwirrten Bestandteile in all diesen großartigen Beispielen proletarischer Kreativität festzuschreiben oder zu verteidigen. Durch ihre kritische Analyse erkannten sie jedoch die wesentliche vorwärtstreibende Dynamik dieser Errungenschaften. Vor allem verstanden sie die entscheidende Rolle der revolutionären Avantgardepartei. Sie begriffen ihre Funktion im Ausarbeiten und Propagieren von Strategie und Taktik, als militante Alternative für die Führung in den Alltagskämpfen der Klasse und notwendigerweise als Kader und Generalstab der entscheidenden Mehrheit des Proletariats bei der Eroberung der politischen Macht. Die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Programms – neu erarbeitet, wo immer fundamentale Veränderungen dies erfordern, aber unnachgiebig verteidigt gegen Revisionen, die von oberflächlichen Eindrücken herrühren – macht genau das Wesen der Partei, ihre entscheidende Bedeutung aus. Auf dieser Grundlage organisiert die Partei ihre eigene Arbeit und strebt danach, das Proletariat durch die Entwicklung konkreter Perspektiven und durch die prinzipienfeste Anwendung und Kombinierung von Taktiken anzuleiten. Diejenigen Taktiken sind prinzipienfest, die in einer bestimmten Situation helfen, die Klasse ihren historischen Zielen entweder allgemein oder teilweise näherzubringen. Das heißt, es müssen Taktiken sein, die das Klassenbewusstsein und die Organisierung des Proletariats vorantreiben. Dagegen sind jene Taktiken prinzipienlos (oder opportunistisch), die um vermeintlicher Augenblickserfolge willen oder zum Vorteil eines Teils der Arbeiterklasse grundlegende Interessen opfern oder gegen die Einheit und die Interessen der Gesamtklasse, national und international, verstoßen.

16. Für revolutionäre Strategie und Taktik kann man nicht nur mittels literarischer Darstellung, d.h. durch Propaganda kämpfen. Ideen überzeugen meist nicht von selbst, durch ihre eigene Korrektheit. Ihnen muss ein organisierter Ausdruck gegeben werden. Sie überzeugen die Massen nur in der Hand eines organisierten Kaders, einer potentiellen Führung für die Arbeiterklasse. Diese alternative Führung kann nicht im Handumdrehen triumphieren, sondern zunächst nur teilweise und ungleichmäßig. Erst im Endstadium wird dieser Kampf zu einem Konflikt zwischen Massenparteien, zwischen Sektionen des Proletariats, die sich unter den Bannern von Reform oder Revolution zusammenfinden.

Wenn das Proletariat durch Krieg, soziale Krise oder Revolution vor objektiv entscheidende Aufgaben gestellt wird, bewirkt das Fehlen eines revolutionären Kaders oder dessen Schwäche, seine mangelnde Verankerung (durch erfahrene Kämpfer) im Proletariat eine Führungskrise. Diese Krise eröffnet Revolutionären, die mit dem richtigen Programm und den richtigen Taktiken bewaffnet sind, aber auch enorme Möglichkeiten.

Angewandt werden diese Taktiken von der Organisation der Revolutionäre. Eine solche Organisation muss eine Reihe von Entwicklungs- und Wachstumsstadien durchlaufen: von einer ideologischen Strömung über eine kämpfende Propagandagruppe zu einer Partei, die die Vorhut der Arbeiterklasse umfasst. Grundlage auf allen ihren Stufen ist ein Prozess der ideologischen und programmatischen Diskussion, der in Beschlüsse zur gemeinsamen Aktion mündet. Hieraus erwächst, wenn die Gruppe mit den Kämpfen der Arbeiter verschmilzt und die fortgeschrittenen Arbeiter in ihre Reihen aufnimmt, die Arbeiterdemokratie und die disziplinierte Aktion – der demokratische Zentralismus. In allen Entwicklungsstadien des Parteiaufbaus und ungeachtet aller taktischen und äußerlichen Zugeständnisse darf das leninistische Prinzip des Organisations- und Parteiaufbaus nicht zugunsten von reformistischen oder zentristischen Alternativen kompromittiert und verwässert werden. Die Taktik kann und darf die Strategie nicht ersetzen. Falls dies trotzdem geschieht, so legt sich die Einheitsfront wie ein Schleier um die revolutionäre Organisation, verdeckt ihre Strategie, führt zu Zersetzung oder Degeneration und schließlich zum Triumph des Reformismus.

Der Reformismus konnte schon viel zu viele Siege dieser Art verbuchen. Doch es gibt keine Alternative zum Schlachtfeld des Klassenkampfes, und damit kommt man auch an den speziellen „Schlachten“ der Einheitsfront nicht vorbei. Die bordigistische Politik der Enthaltung – eine passive, rein propagandistische Ablehnung von taktischen Kompromissen, einschließlich der Einheitsfront – ist allerdings in keiner Hinsicht eine Lösung für die politischen „Gefahren“, die alle täglichen Konflikte mit sich bringen. (11) Ob die Sektierer es wollen oder nicht, die Arbeiterklasse kann sich dem Kampf um Tagesprobleme nicht entziehen. Dies reicht von Teilkämpfen bis hin zu Auseinandersetzungen, die objektiv die Frage nach der politischen Macht in der Gesellschaft aufwerfen. Die Arbeiterklasse kann und wird nicht in Passivität verharren, bis sie die „richtige“ Führung hat. Die Einheitsfronttaktik gestattet eine unmittelbare Antwort auf die Angriffe des Klassenfeindes. Sie erlaubt eine frontale Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Feind, aber sie beinhaltet notwendigerweise gleichzeitig einen politischen Kampf gegen die verräterischen reformistischen Führer. Diese Notwendigkeit wird sowohl von den unmittelbaren taktischen Erfordernissen des jeweiligen aktuellen Kampfes, als auch von den historischen Interessen der Arbeiterklasse diktiert. Diese Taktik ist unauflöslich mit dem prinzipienfesten Gebrauch von ökonomischen und politischen Tagesforderungen und von Übergangslosungen verbunden. Hierdurch können ein alternatives Aktionsprogramm und eine alternative Führung präsentiert werden, um den von den reformistischen Führern immer wieder im Kampf verursachten Krisen ein Ende zu machen.

Da kommunistische Taktiken das Produkt der Einheit von wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse und revolutionärer Praxis im Klassenkampf sind, sind sie selbst der historischen Entwicklung, der Neubeurteilung und Neuerarbeitung unterworfen. Das gilt nicht weniger für die marxistische Analyse des Reformismus und die Entwicklung von Taktiken zu seiner Bekämpfung.

17. Der marxistische Kampf gegen den Reformismus begann nicht erst mit der Einführung des Begriffs „Einheitsfront“ in der leninistischen Komintern. Der Marxismus selbst wurde im Kampf gegen den Reformismus geboren, gegen die niedergehenden utopischen Sozialisten und die Mixtur aus demokratischen und „sozialistischen“ Ideologien, die in den 1840er bis 60er Jahren verbreitet war. Marx‘ Kampf gegen Pierre Joseph Proudhon und dessen Anhänger, gegen Louis Blancs Sozialdemokraten um die Zeitung La Reforme, gegen den Einfluss von Ferdinand Lassalle in der jungen deutschen sozialdemokratischen Bewegung häufte bereits viel von dem programmatischen Kapital an, das dann Lenin, Rosa Luxemburg und andere vor 1914 in ihrem Kampf gegen die wachsende Kraft des Opportunismus und Revisionismus verwendeten. 1848/49 praktizierten Marx und Engels verschiedene Formen von „Einheitsfront“. Rjazanov bemerkt richtigerweise im Bezug auf die 1. Internationale und ihre „Inauguraladresse“, dass “Marx und Engels ein klassisches Beispiel von ‚Einheitsfronttaktik‘ gegeben haben”. (12)

Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus meinten durchaus richtig, dass der Reformismus, den sie bekämpften, seine Ursprünge in dem kleinbürgerlichen und handwerklichen Milieu hätte, aus dem das moderne Proletariat und seine Organisationen entstanden waren. Natürlich repräsentierten die reaktionären Utopien eines Proudhon oder Bakunin eine kleinbürgerliche Rückständigkeit, die sich in der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus nicht nennenswert behaupten konnte. Marx‘ und Engels‘ kritischer Optimismus schien angesichts der großen Leistungen der I. und II. Internationale, die die Weltarbeiterbewegung für den Marxismus gewonnen hatten, wohlbegründet. Nur in Britannien begegneten Marx und Engels dem, was wir „modernen Reformismus“ nennen würden – einem Proletariat, das dem bürgerlichen Einfluss erlegen war. Diesen Umstand schrieben sie der britischen Vorherrschaft auf dem Weltmarkt zu, der „Bestechung“ von Teilen der britischen Arbeiterführung durch die Bourgeoisie, sowie der Existenz einer aristokratischen Schicht von Facharbeitern, deren Gewerkschaften die Arbeiterbewegung dominierten und deren politischer Horizont nur radikalliberal war. Sie betonten auch die verheerende Wirkung der Feindschaft zwischen irischen Einwanderern und britischen Arbeitern und führten die politische Bedeutungslosigkeit der britischen Arbeiter auf deren stillschweigendes Einverständnis mit der nationalen Unterdrückung Irlands zurück. Ihre Prognose war, dass, wenn Britanniens ungehinderte Ausbeutung der ganzen Welt durch den sich rasch entwickelnden Kapitalismus in den USA und Deutschland durchbrochen würde, und wenn sich die großen unorganisierten Massen des Proletariats zu rühren begännen, „dann wird es wieder Sozialismus in England geben“. (13)

Marx‘ und Engels‘ Analyse der Wurzeln für das Scheitern der britischen Arbeiter bei der Schaffung einer unabhängigen politischen Bewegung gab Lenin zwar nach 1914 wichtige methodische Hinweise in die Hand, doch die optimistische Prognose, dass der Reformismus zusammen mit dem Verschwinden der ihn tragenden Schichten ein absterbendes Phänomen sein würde, stellte sich etwa seit der Jahrhundertwende zunehmend als falsch heraus. Der energische Widerstand der deutschen Gewerkschaftsführer gegen die Taktik des Massenstreiks, das Anwachsen des Revisionismus in der SPD, wie auch deren rasche Bürokratisierung nach 1905; all diese Phänomene, die sich mehr oder minder ausgeprägt bei allen Parteien der II. Internationale (1889 – 1914) vorfanden, zeigten die Notwendigkeit einer neuerlichen Untersuchung der Wurzeln dieses Problems an.

Von 1889 bis 1914 bekämpften Lenin und Rosa Luxemburg entschieden den Revisionismus und Opportunismus in der Sozialdemokratie und geißelten ihn als eine in Theorie und Praxis bürgerliche Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, erkannten jedoch bis 1914 weder seine Ursachen noch seine ganze Stärke. Die Katastrophe kam 1914, als mit Ausnahme der russischen Sozialdemokratie alle bedeutenderen Parteien der 11. Internationale für die Kriegskredite stimmten, obwohl sie auf ihren Kongressen in Zürich 1893, Stuttgart 1907 und Basel 1913 gemeinsame Antikriegs-Resolutionen verabschiedet hatten. Sie unterstützten einen Klassenfrieden, um den Sieg ihrer eigenen imperialistischen „Vaterländer“ zu sichern. Nicht nur war das Proletariat auf einen Schlag seiner Massenorganisationen für den Klassenkampf beraubt, die von zwei Generationen aufgebaut worden waren; auch das volle Ausmaß des krebsartig wuchernden Geschwürs des reformistischen Bürokratismus wurde nun offenbar. Ebenso zeigte sich der epochale Wandel des Kapitalismus in voller Größe, die Entwicklung zu seinem letzten Stadium, dem Imperialismus. Lenins Analyse dieser Veränderung war nicht einfach nur eine ökonomische Untersuchung. Die neue „Epoche von Kriegen und Revolutionen“ hatte auch eine neue Grundlage für bürgerliche Politik in der Arbeiterbewegung geschaffen.

18. Nach Lenins Analyse konnte der neue imperialistische Kapitalismus auf der Basis von Extraprofiten einer Oberschicht in der Arbeiterklasse, der Arbeiteraristokratie, Zugeständnisse machen. Diese Schicht wurde dadurch zunehmend konservativ und nahm eine kleinbürgerliche Lebensart an. Mit Hilfe der Gewerkschaften und durch die Reformen, die sie über den Gebrauch des kommunalen und parlamentarischen Wahlrechts erreicht hatten, bekam diese Schicht das Gefühl, dass sie „ihre soziale Frage gelöst habe“, ohne zu revolutionären Mitteln gegriffen zu haben. Als Folge wurde sie zur sozialen Basis einer mächtigen konservativen Bürokratie in den Gewerkschaften und Massenparteien, in den Genossenschaften und anderen Arbeiterorganisationen. Dieser Prozess des wachsenden Konservatismus und der Bürokratisierung nahm von 1890 bis 1914 rapide zu. Betroffen waren sowohl Arbeiterbewegungen, in denen der Marxismus dominierte, als auch solche, in denen dieser schwach war; allerdings versteckte sich im ersteren Falle die neue Tendenz hinter der Maske einer formal orthodoxen Phraseologie. Im August 1914 sah sich dieser neue Reformismus vor die historische Entscheidung gestellt. Nun musste er „es wagen, als das zu erscheinen, was er in Wirklichkeit war“, wie Bernstein es ausgedrückt hatte. Nur, unter den Bedingungen des imperialistischen Krieges war dies keine „demokratische Partei der sozialen Reform“, wie der Vater des Revisionismus gehofft hatte, sondern eine Partei des Sozialchauvinismus und Sozialimperialismus.

Der Reformismus offenbarte sich somit der von Lenin, Luxemburg und Liebknecht repräsentierten revolutionären Strömung nicht als der opportunistische rechte Flügel der proletarischen Kampfkräfte, sondern als der linke Flügel der Truppen der Bourgeoisie. Aber die Agenten der Bourgeoisie hielten den Großteil der Arbeiterorganisationen im Würgegriff ihrer weitverzweigte bürokratischen Strukturen, erstickten damit die proletarische Demokratie, hielten die Arbeiterorganisationen unter ihrer Überwachung und verfolgten und atomisierten die revolutionäre Avantgarde.

Es war offensichtlich, dass eine marxistische Taktik entwickelt werden musste, um diesen gewaltigen Rückschlag zu überwinden. Sie musste sich auf die Mobilisierung der Massen zum Sturz der reformistischen Bürokraten stützen, um die Mehrheit gegen die winzige Minderheit, die Basis gegen die verräterische Führung auszurichten. Diese Taktik wurde nicht losgelöst vom Klassenkampf von neunmalklugen Theoretikern „ausgedacht“. Sie wurde mitten in der Feuerprobe einer großen siegreichen Revolution und in der einer tragischen Niederlage für das Proletariat entwickelt. Die leninistische Komintern fasste dies auf der Grundlage der russischen und der deutschen Erfahrungen in der Taktik der Einheitsfront systematisch zusammen.

19. Zwischen Februar und Oktober 1917 hielt die russische Arbeiterklasse in den großen Städten durch ihre Sowjets praktisch die Macht in Händen. Der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets wies die Arbeiter und Soldaten an, nur solche Anordnungen der bürgerliche Provisorischen Regierung auszuführen, welche der Sowjet selbst bestätigt hatte. Jedoch akzeptierte die Mehrheit der Arbeiter in dieser Periode noch die Führung der reformistischen Menschewiki. Diese hatten nicht den Wunsch, die Macht der Sowjets zur Zerstörung des bereits brüchigen bürgerlichen Staates zu gebrauchen. Stattdessen benützten sie die Sowjets zur Stützung der bereits schwer erschütterten Provisorischen Regierung.

Die Bolschewiki erkannten, dass der bürgerliche Staat nur durch die bewusste Entscheidung einer Mehrheit der Arbeiterklasse, die Macht in die eigenen Hände übernehmen, gestürzt werden konnte, und sie entwickelten Taktiken, die die Arbeiter für diese Strategie gewinnen und vom Einfluss der Menschewiki loslösen konnten. Dies erforderte mehr als eine bloße Gegenüberstellung ihres Programms – der Revolution – gegen die Illusion der Massen, ihre Forderungen könnten ohne eine weitere (proletarische) Revolution erfüllt werden. Die Bolschewiki mussten in gemeinsamen Aktionen mit den menschewistisch geführten Arbeitern und der von den Sozialrevolutionären geführten Bauernschaft aufzeigen, dass die unmittelbaren Forderungen nach Frieden, Brot und Land nur durchgesetzt werden konnten, wenn der Bourgeoisie die Macht aus den Händen gerissen wurde.

Den Bolschewiki gelang dies letzten Endes nicht wegen einer etwaigen Schwäche des Reformismus im rückständigen Russland oder wegen der unbestreitbaren Genialität von Lenin und Trotzki. Im Laufe ihrer Entwicklung hatten die Bolschewiki gelernt, die doppelte Falle von Opportunismus und Sektierertum zu meiden, d. h. sie widerstanden der Versuchung, dem unentwickelten Bewusstsein der Arbeiter schlicht ihr Programm entgegenzuhalten oder aber ihr Programm im Interesse der Anpassung an dieses begrenzte Bewusstsein aufzugeben. Dies musste durch einen erbitterten Kampf in den Reihen der revolutionären Bewegung, der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) erreicht werden.

So musste 1905 die sektiererische Haltung zum ersten St. Petersburger Sowjet in der bolschewistischen Fraktion überwunden werden, genauso wie das opportunistische Ausweichen vor der Frage des bewaffneten Aufstands, das bei den Menschewiki vorherrschte. Im selben Jahr 1905 boykottierten die Bolschewiki korrekterweise das vom Zaren einberufene beratende „Parlament“ und verteidigten diese Position gegen opportunistische Wahltaktiken. 1906 wurde ebenfalls die Position des Duma-Boykotts aufgestellt, was Lenin jedoch später als „kleinen, leicht korrigierbaren Fehler“ bezeichnete. (14).

1907 dagegen wurde die Boykotthaltung vor dem Hintergrund einer Niederlage der Arbeiterklasse definitiv zum sektiererischen Fehler.

1914 standen die Bolschewiki in der Kriegsfrage fest gegen den Sozialpatriotismus. Diese Haltung hob sie unter den Revolutionären als die Hauptgruppierung heraus, die unter allen Umständen an einer unbeugsamen Opposition gegen jede Art von Klassenkollaboration festhielten. Trotz ihrer unerschütterlichen Antikriegshaltung erlahmten die Bolschewiki bei ihren Aktivitäten in der Arbeiterklasse keineswegs, auch nicht, als die Mehrheit der Klasse den Krieg noch unterstützte. Dies dauerte fort, als nach der Februarrevolution die Arbeiterführer selbst den Krieg führten. Diese prinzipienfeste Beharrlichkeit hat Lenin angesichts der feindlichen Haltung der britischen SDF gegen die Labour Party wie folgt zusammengefasst: „Wenn objektive Bedingungen vorherrschen, die die Entwicklung des politischen Bewusstseins und der Klassenunabhängigkeit der proletarischen Massen hemmen, muss man geduldig und beharrlich Hand in Hand mit ihnen arbeiten können, ohne  prinzipielle Zugeständnisse, aber auch ohne abzulassen von Aktivitäten INMITTEN der proletarischen Massen. (15) Die Bolschewiki korrigierten mit der Annahme der Aprilthesen ihre programmatische Konzeption von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und übernahmen damit praktisch die Strategie der permanenten Revolution. Erst danach konnten die Bolschewiki prinzipienfeste Taktiken anwenden, die von einer klaren programmatischen Vorstellung der Revolution abgeleitet waren, und die die Klasse zur Revolution hinführen konnten. Praktisch die gesamten führenden nicht emigrierten Bolschewiki unterstützten opportunistischerweise die Provisorische Regierung und teilweise auch deren Militärpolitik. Erst nach der Annahme von Lenins Aprilthesen hörte diese falsche Politik auf, und an ihre Stelle trat die totale Opposition gegen den Krieg, solange dieser einen imperialistischen Charakter hatte und zur Verteidigung des russischen bürgerlichen Staates geführt wurde. Gleichzeitig aber vermochten die Bolschewiki von diesem Punkt aus auch Taktiken zu entwickeln, die die Arbeiterklasse mobilisieren und im Klassenkampf von ihrer bestehenden Führung losbrechen konnten. Die Bolschewiki erkannten klar, dass die Menschewiki letzten Endes der Bourgeoisie die Treue halten würden und trachteten danach, deren Widerspruch zu den Interessen und Forderungen ihres Arbeiteranhangs offen aufzuzeigen.

Die Verschmelzung von programmatischen und taktischen Fortschritten bei den Bolschewiki 1917 kann in zwei an die Arbeiter und deren Führer gerichtete Schlüssellosungen zusammengefasst werden: “Brecht mit der Bourgeoisie!“ und „Alle Macht den Sowjets!“. In diesen Formeln ist die Konkretisierung all dessen enthalten, was Kommunisten bis dahin von der miteinander verbundenen Problematik des Programms, der Strategie und der Taktik begriffen hatten. Die Revolution ist unauflöslich mit den tatsächlichen Aktivitäten und den lebendigen Organisationen der Arbeiterklasse verbunden. Sie muss selbst die Macht ergreifen. Dies wird den Arbeitern wiederholt vor Augen geführt durch das Elend und die Leichenstarre in den eigenen Reihen, die das direkte Resultat der falschen Politik ihrer Führer sind. Diese Führer müssen daher praktisch beweisen, auf wessen Seite sie im Klassenkampf stehen. Falls sie nicht ihre Koalition mit der Bourgeoisie lösen wollen, müssen die Arbeiterorganisationen mit ihnen brechen. Währenddessen haben die Bolschewiki nicht passiv darauf gewartet, bis die objektive Entwicklung ihnen recht gab. Das hätte nur negativ bewiesen werden können, durch die Niederlage der Arbeiterklasse, die von ihren eigenen Führern fehlgeleitet worden war. Im Gegenteil, die Bolschewiki forderten den sofortigen Bruch der Menschewiki mit ihrer Koalition, nicht nur in der zentralen Regierungsfrage, sondern auch in den unmittelbaren Lebensfragen der Arbeiterklasse – Kontrolle der Sowjets über die Lebensmittelverteilung, Arbeiterinspektion der Kriegsindustrien und ihrer Gewinne, Verstaatlichung der Banken unter Arbeiterkontrolle, sofortige Durchführung der Landreform, um die Macht der Großgrundbesitzer zu brechen und die Bauernmassen auf die Seite des Proletariats zu bringen, und vor allem das sofortige Kriegsende.

In den Sowjets vertraten die Bolschewiki die Meinung, dass die Menschewiki diese Maßnahmen niemals durchführen würden, obwohl sie im Interesse der Arbeiterklasse unbedingt notwendig waren. Deshalb sollten die Sowjets diese Aufgaben übernehmen. Damit entlarvten die Bolschewiki nicht nur den wahren Charakter der Menschewiki und untergruben ihre soziale Basis, sondern sie entwickelten gleichzeitig auch die Fähigkeit der Sowjets, die Macht an sich zu nehmen.

Die Methode der Bolschewiki von 1917 kann wie folgt zusammengefasst werden: Erstens, das offene Eintreten für und die Forderung nach dem revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates durch die Arbeiterklasse; zweitens, die Aufstellung von Forderungen, die die lebendigen Erfahrungen und unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse mit den Erfordernissen der Revolution vermittelten; drittens, völlige taktische Flexibilität im Bezug auf die Masse der reformistisch geführten Arbeiter sowie Aktivitäten in ihren Organisationen und deren Verteidigung gegen den Klassenfeind; viertens, offen ausgesprochene Warnung vor den reformistischen Führern, verbunden mit der Verpflichtung, sie jederzeit zu verteidigen, falls sie von den offenen Kräften der Bourgeoisie direkt angegriffen werden sollten.

20. Während der revolutionären Welle, die mit der Russischen Revolution begann und bis 1921 dauerte, lag die Hauptaufgabe der Bolschewiki mit Blickrichtung auf das internationale Proletariat im Aufbau der Kommunistischen Internationale. Bei deren Gestaltung als revolutionärer Weltpartei war es notwendig, eine klare Scheidelinie zwischen Revolutionären auf der einen und Reformisten bzw. Zentristen auf der anderen Seite zu ziehen. Die entscheidenden Differenzpunkte konzentrierten sich auf die Frage der Strategie: Für den revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates oder für dessen Verteidigung, für proletarischen Internationalismus oder Vaterlandsverteidigung, für die Verteidigung Sowjetrusslands oder Krieg gegen Sowjetrussland? Unter den bedrückenden Bedingungen, die in den meisten imperialistischen Ländern damals vorherrschten, ging die Arbeiterklasse politisch nach links, und zumindest in Worten auch die Reformisten und Zentristen, um in ihren führenden Positionen verbleiben zu können. In dieser Situation mussten sich die schwachen kommunistischen Kräfte in jenen Ländern darauf konzentrieren, die wahren Absichten dieser Führer zu entlarven und sie samt ihrer ganzen Politik zu denunzieren. Die organisatorische Schlussfolgerung daraus war die Gründung von gesonderten kommunistischen Parteien bzw. die Umwandlung bestehender sozialistischer Parteien in kommunistische, durch die Säuberung von allen Spuren reformistischer oder zentristischer Politik. Der Komintern gelang auf diese Weise der Aufbau von kommunistischen Parteien. Sie spaltete die zentristische USPD in Deutschland auf dem Kongress in Halle 1920 und zog die Parteimehrheit zu sich herüber. Dadurch vergrößerte sich die Mitgliederzahl der KPD von einigen zehntausend auf eine halbe Million. In Frankreich spaltete sich im selben Jahr die SFIO auf ihrem Kongress in Tours, und die französische kommunistische Partei bildete sich. Im Jahr darauf spaltete sich die italienische PSI. Diesmal vollzog nur eine Minderheit den Bruch und formierte die kommunistische Partei (PCI). Die Komintern beharrte auf programmatischer Geschlossenheit und drückte dies beispielhaft in ihren berühmten 21 Mitgliedsbedingungen aus. Dies war nicht nur wesentlich für die Markierung einer Grenze zwischen Reformisten und Revolutionären in theoretischen Fragen, sondern entsprach auch den konkreten Erfordernissen des Klassenkampfes. Da die Bourgeoisie der Arbeiterklasse einige Zugeständnisse machte, um Zeit zu gewinnen und ihre Kräfte zu sammeln, mussten die Kommunisten gegen die Propaganda der Reformisten auftreten, solche Zugeständnisse seien ausreichend für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse und würden die Notwendigkeit einer Revolution aus-ser Kraft setzen.

Die Zugeständnisse konzentrierten sich bezeichnenderweise darauf, gerade die reformistischen Vertreter der Arbeiterklasse in „Macht“positionen zu bringen. Diese verlangten dann von den Arbeitern, die „neue“ Regierung zu verteidigen und ihr Zeit zu geben, damit sie beweisen könne, wie wertvoll sie sei. Keinesfalls sollten die Arbeiter durch weitere Forderungen an die „Gesellschaft“ den Verlust der bestehenden Errungenschaften heraufbeschwören. Die Kommunisten mussten solchen Verrätern und dem Staat, den diese verteidigten, die Mobilisierung der Arbeiter entgegenstellen. In Berlin wurde nach dem Sturz der Hohenzollern-Monarchie die tatsächliche Macht von einem Arbeiter- und Soldatenrat ausgeübt, dessen Milizen in den Straßen patrouillierten. Auch in Wien führte der Sturz der Habsburger zur Herausbildung von Elementen der Doppelmacht, die jedoch von der Sozialdemokratie vergleichsweise schnell abgewürgt wurden. Einen weiteren Beweis für die revolutionären Möglichkeiten und die Gangbarkeit des revolutionären Weges lieferten, trotz ihrer Kurzlebigkeit, die Räterepubliken in Bayern und Ungarn.

Doch außerhalb Russlands überlebte die Bourgeoisie, und die kommunistischen Parteien wurden zwar gegründet, blieben aber eine Minderheit in der Arbeiterklasse. 1921 erkannte die KI auf ihrem 3. Weltkongress, dass die anfängliche revolutionäre Nachkriegswelle vorbei war, und dass die Bourgeoisie nun in die Offensive gegangen war, um die ihr abgerungenen Zugeständnisse wieder zurückzuerobern. Auch die Reformisten, die jene Zugeständnisse politisch ausgehandelt hatten, waren vor dem Angriff der Bourgeoisie nicht sicher. Sie wurden mehr und mehr beiseite geschoben, ihre Nützlichkeit hatte sich überlebt. Die KI entwickelte Taktiken für diese neue Situation und besann sich dabei nicht nur auf die russischen Erfahrungen von 1917, sondern ganz besonders auch auf die Erfahrungen in Deutschland 1919 und 1920.

21. Wie in Russland ging auch in Deutschland die Macht auf die Arbeiterräte über, als die Monarchie im November 1918 stürzte. Wie in Russland wurden diese Räte von reformistischen Führern dominiert, von der SPD unter Noske und Scheidemann. Aber anders als in Russland waren in Deutschland die Reformisten äußerst fest in den Organisationen und Traditionen der Arbeiterklasse verwurzelt. Demzufolge waren die Arbeiter im Sinne einer reformistischen Praxis geschult, die sich real auf den Kampf für ein „Minimalprogramm“ beschränkte. Sie kämpften für Reformen, die zwar tatsächlich im Interesse der Arbeiterklasse waren, aber nicht den grundsätzlichen Rahmen der bürgerlichen Ordnung sprengten. Die deutschen Reformisten konnten ihre führenden Positionen in den Arbeiterräten ausnutzen, um ein solches Minimalprogramm scheinbar zu erfüllen. Die revolutionären Aktionen der Arbeiter fegten Kaiser und Bismarckreich hinweg. Die konterrevolutionären Aktivitäten in der SPD stellten die Herrschaft des reaktionären Generalstabs und der alten Bürokratie wieder her. Dabei wurden die Räte zunächst neutralisiert und danach zerstört. Was dabei herauskam, war das morsche Gebäude der Weimarer Republik. Die deutschen Revolutionäre im Spartakusbund und später in der KPD waren zahlenmäßig schwach und politisch unerfahren im Vergleich mit der Bolschewiki. Kaum gegründet (Dezember 1918), wurde die neue Partei in einen schlecht vorbereiteten Konflikt mit dem bürgerlichen Staat hineingezogen. Noske und Scheidemann benutzten die staatlichen Machtmittel, um die KPD-Führung zuerst in Berlin und dann in Bayern zu isolieren und schließlich zu liquidieren. Ihrer erfahrenste Kader beraubt, musste die KPD in die Illegalität gehen.

Ermutigt durch ihre Erfolge gegen die proletarische Avantgarde versuchte die äußerste Rechte der deutsche Bourgeoisie im März 1920 die sozialen Zugeständnisse zurückzugewinnen und griff die Regierung der Weimarer Republik an. Die Freikorps, eine von der Mehrheit des Generalstabs unterstützte Söldnertruppe, wurden von dem Reichswehroffizier Lüttwitz auf Berlin in Marsch gesetzt; sie sollten dort die Regierung stürzen und eine Militärdiktatur unter der Führung von W.Kapp installieren. Als die Regierung die Reichswehr ersuchte, die Republik zu verteidigen, weigerte sich die Armee unter v. Seeckt einzugreifen. Die Regierung floh nach Dresden und später nach Stuttgart.

Die Führer der deutschen Gewerkschaften mit K. Legien an der Spitze erkannten, dass nicht nur die kommunistischen Arbeiter, sondern auch sie selbst Zielscheibe dieses Angriffs waren und mussten darum die einzige Kraft mobilisieren, mit deren Hilfe sie sich dagegen verteidigen konnten. Sie riefen einen sofortigen Generalstreik zur Verteidigung der Republik aus. Die übergroße Mehrheit der Arbeiterklasse orientierte sich noch an dem politischen Programm ihrer reformistischer Führer und folgte dem Aufruf. Ganz Deutschland befand sich binnen Stunden im Streik. In Berlin patrouillierten wieder bewaffnete Arbeiter. Als die Freikorps abzogen, wurden Arbeiterräte in den größeren Städten gebildet, die Waffenlager gewaltsam geöffnet, ihr Inhalt an die Arbeiter ausgegeben und die größeren Gebäude und Eisenbahnlinien gegen mögliche Anschläge der Konterrevolution gesichert.

Die Führung der KPD hatte ihre besten Vertreter durch die Konterrevolution verloren und zeigte sich unfähig, die scharfe taktische Wende, die diese dramatische Situationswende erforderte, zu bewerkstelligen. Sie erklärte, das Proletariat habe kein Interesse am Ausgang eines Klassenkampfes, der sich im wesentlichen zwischen den Kräften der Konterrevolution abspielen würde. Die KPD-Führung erklärte, die Arbeiter sollten „keinen Finger zur Verteidigung der demokratischen Republik rühren“. Nichtsdestoweniger schuf die Dynamik des Kampfes in ganz Deutschland eine Einheit zwischen Kommunisten, Unabhängigen (USPD) und der Basis der SPD. In Sachsen bestand z.B. der Arbeiterrat aus Abgeordneten aller drei Parteien. Die Berliner Zentrale der KPD musste ihre Position binnen zwei Tagen umkehren. Doch als Legien, aufgeschreckt durch das Wiedererstarken der Reaktion einerseits und die von den Arbeitern gewonnenen Machtpositionen andererseits, die Bildung einer Arbeiterregierung aus SPD, USPD und Gewerkschaften vorschlug, lehnte die KPD jedwede Unterstützung dafür (sogar im Kampf gegen die Reaktion) ab. Die SPD war mehr an ihrem Bündnis mit der „fortschrittlichen“ Bourgeoisie interessiert und war ebenfalls gegen den Aufruf. Sie bildete stattdessen eine Koalition. Danach setzte sie abermals die Reichswehr ein, um genau die Arbeiterräte, die ihr das Leben gerettet hatten, zu vernichten.

Die Antwort der KPD auf den Kapp-Putsch war sektiererisch. Durch die ultimatistische Gegenüberstellung der Revolution gegen die Einheitsfront mit den Arbeitermassen zur Verteidigung ihrer demokratischen Errungenschaften verpasste sie die Möglichkeit, aus dem Kampf heraus das politische Bewusstsein und die unabhängigen Organisationsformen zu entwickeln, um auf diese Weise die SPD zur Rechenschaft zu ziehen und die Entwaffnung der Räte zu verhindern. Obwohl die KPD vom Kapp-Putsch über-rascht wurde, konnte sie im weiteren Verlauf des Jahres an Boden wieder gut machen. Durch ihre Verteidigung der Roten Ruhr-Armee und der Ablehnung des Verrates im „Bielefelder Abkommen“ gewann sie entscheidenden Einfluss im Ruhrproletariat und den linken Flügel der USPD, die hierzu eine opportunistische Haltung eingenommen hatte.

Im Vertrauen auf ihre Massenbasis und wirkliche gesellschaftliche Macht versuchte die KPD-Führung, nun unter Paul Levi, diese Macht zu nützen, um die SPD- und USPD-Führer zum Kampf gegen die rasch aufkommende kapitalistische Offensive (gegen Löhne und Arbeitsplätze) zu zwingen. Im Januar 1921 richtete die KPD einen „Offenen Brief“ an alle Arbeiterorganisationen, worin sie die Formierung einer Einheitsfront zum Kampf um diese Fragen vorschlug. Lenin unterstützte diesen Vorschlag. Nachdem er aber von den Reformisten und Zentristen abgelehnt worden war, wurde die Forderung der Einheitsfront fallengelassen zugunsten des fehlgeleiteten Versuches einer unabhängigen revolutionären Aktion, der März-Aktion von 1921. Der Versuch der KPD, die Arbeiterklasse unvorbereitet zur Revolution aufzuwiegeln, schlug krass fehl. Die Mitgliederzahl halbierte sich, und die rechten Kräfte in Deutschland wurden enorm gestärkt, begünstigt durch die Isolation der Kommunisten und die Feindseligkeit oder zumindest Gleichgültigkeit der Arbeitermassen.

Den reformistischen Führern war es gelungen, die Mehrheit der Arbeiterklasse während der revolutionären Periode 1918-1919 in Schach zu halten, indem sie auf Errungenschaften hinweisen konnten, die ohne Revolution gewonnen worden waren. Das war der Kern des Situationswandels in Deutschland, der die Möglichkeit der gemeinsamen Aktion von Kommunisten mit reformistischen Arbeitern eröffnete. Ein nicht unwesentlicher Teil des traditionellen reformistischen Programms war verwirklicht worden. Die Monarchie war weg, das allgemeine und gleiche Wahlrecht war gewährleistet. Die Fabrikräte waren legalisiert und eine Arbeiterpartei war nun an der Regierung, wenn auch nur in einer Koalition. Diese Errungenschaften seien genug, sagten die Reformisten. Sie könnten dazu benutzt werden, eine vergesellschaftete Wirtschaft zu entwickeln, die die Kapitalisten unter strenger Kontrolle halten würde. Aber als die revolutionäre Flut zurückgegangen war, konnte die Bourgeoisie zur Offensive übergehen, um sich die Macht zurückzuerobern, die sie in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft weitgehend hatte preisgeben müssen.

Sie griff die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse an und musste somit auch deren Unterhändler angreifen. Selbst das reformistische Bewusstsein der deutschen Arbeitermassen verlangte, dass für die Verteidigung der Weimarer Republik gekämpft werden müsse. Die Arbeiter gingen also während des Kapp-Putsches auf die Straße, wobei ihre reformistischen Illusionen noch im wesentlichen unangetastet blieben. Als die reformistischen Führer noch ganz auf Seiten der Konterrevolution waren, konnten die Kommunisten nur versuchen, die reformistischen Arbeiter direkt gegen ihre eigenen Führer auszurichten und zu verlangen, dass sie gemeinsame Sache mit den Kommunisten zu kommunistische Bedingungen machen sollten. Jetzt dagegen wurden die reformistischen Arbeiter und ihre Führer angegriffen, und es war möglich, eine Einheitsfront mit deren Führung und Basis vorzuschlagen.

22. In allen Wesenszügen fand dieselbe Entwicklung international im Jahre 1921 und danach statt. Die Schwierigkeiten der KPD mit der Einstellung auf die neue Situation und der Entwicklung flexibler Taktiken, um sie zu meistern, wiederholten sich in den Reihen der Komintern. Der 3. Weltkongreß konzentrierte sich auf die Analyse des tiefgehenden Wandels und die Notwendigkeit einer taktischen Neuorientierung. In seinen „Thesen zur Taktik“ erkannte der 3. Kongress als wichtigste aktuelle Aufgabe „die Gewinnung vorherrschenden Einflusses in der Mehrheit der Arbeiterklasse und die Mobilisierung ihrer entscheidenden Schichten für den Kampf. Denn trotz der objektiv revolutionären politischen wie ökonomischen Situation ist die Mehrheit der Arbeiter noch nicht unter kommunistischem Einfluss; das gilt besonders für Länder, wo das Finanzkapital mächtig ist und wo infolgedessen breite Schichten von Arbeitern vom Imperialismus korrumpiert werden können (z.B England und Amerika).“ (16)

In der „Teilkämpfe und Teilforderungen“ betitelten Entschließung wurde diese Notwendigkeit einer Teilnahme an den Arbeiterkämpfen besonders betont: „Kommunistische Parteien können sich nur im Kampf entwickeln. Sogar die kleinsten unter ihnen sollten sich nicht allein auf Propaganda und Agitation beschränken. Sie müssen die Speerspitze aller proletarischen Massenorganisationen sein. Sie müssen den rückständigen und schwankenden Massen durch praktische Vorschläge für den und durch Druck im Kampf für die Alltagsbedürfnisse des Proletariats aufzeigen, wie der Kampf geführt werden soll, um damit vor den Massen den verräterischen Charakter aller nicht-kommunistischen Parteien bloßzustellen. Nur wenn die kommunistischen Parteien sich an die Spitze der praktischen Kämpfe des Proletariats stellen und diese vorantreiben, können sie wirklich Massen für den Kampf um die Diktatur des Proletariats gewinnen“. (17)

In seinem Schlussmanifest nahm der Kongress noch einmal Bezug auf die Notwendigkeit der direkten Beteiligung an der Seite der Arbeitermassen im Kampf um deren unmittelbare Tagesforderungen: „Die Verräter am Proletariat, die Agenten der Bourgeoisie werden nicht durch theoretische Argumente über Demokratie oder Diktatur geschlagen, sondern durch die Beantwortung der Frage nach Brot, Löhnen und Wohnungen für die Arbeiter.“ (18)

Das Werk des 3. Weltkongresses mit seiner Hauptlosung „Heran an die Massen!“ war aber nur ein Anfang bei der Aufgabe, die benötigten neuen Taktiken auszuarbeiten. Im Dezember 1921 entwickelte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) den logischen Zusammenhang, der in den Thesen des 3. Weltkongresses bereits angelegt war. Wenn es notwendig war, sich an Teil- und Alltagskämpfen zu beteiligen und sie anzuführen, dann war es auch notwendig, solche Kämpfe zu entfachen. Solange eine Mehrheit der Arbeiter noch Vertrauen in ihre reformistischen Organisationen und Führer hatte, musste ihnen eine Zusammenarbeit mit Kommunisten in solchen Tageskämpfen möglich gemacht werden. Dies war die erste bewusste und geplante Anwendung der Einheitsfronttaktik. Viele Sektionen de Komintern hatten große Schwierigkeiten, die neue taktische Ausrichtung zu akzeptieren. Insbesondere jenen, die erst kurz vorher aus den Reihen der reformistischen Parteien herausgebrochen waren, erschien es widersprüchlich, nun zu fordern, dass ihre alten Führer mit den Kommunisten zusammenarbeiten sollten. Für viele erschien diese Taktik gleichbedeutend mit dem „Ausstreuen von Illusionen“ in die reformistischen Führer.

Trotzki hatte eine Auseinandersetzung mit der französischen KP, die besonders gegen diese Politik eingenommen war. In diesem Zusammenhang erläuterte er nochmals sehr eindringlich die Wesensmerkmale der neuen Taktik, ihre Ursprünge in den Erfordernissen des täglichen Kampfes und die Notwendigkeit, die reformistischen Führer durch die Forderung nach gemeinsamer Aktionen festzunageln. Trotzki schreibt: „Die Klassenaktivitäten des Proletariats hören selbstverständlich nicht während der Vorbereitungsphase auf die Revolution auf. Zusammenstöße mit den Fabrikherren, mit der Bourgeoisie insgesamt und mit der Staatsmacht, egal von welcher Seite dabei die Initiative ausgeht, nehmen ihre gewohnten Verlauf. In diesen Zusammenstößen – sofern sie die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterklasse oder einer Mehrheit von ihr bzw. des einen oder anderen Teils davon betreffen – verspüren die werktätigen Massen den Wunsch nach Einheit in der Aktion. Gemeint ist die Einheit, dem Angriff des Kapitalismus standzuhalten, und die Einheit, um zum Gegenangriff übergehen zu können. Jede Partei, die sich mechanisch gegen dieses Streben der Arbeiterklasse nach Aktionseinheit stellt, wird in den Augen der Arbeiter unweigerlich verurteilt sein. ( … ) Erstreckt sich die Einheitsfront nur auf die Arbeitermassen oder schließt sie auch die opportunistischen Führer mit ein? Die bloße Frage ist schon ein Missverständnis. Wenn wir die Arbeitermassen einfach um unser Banner oder unsere praktischen, unmittelbaren Losungen scharen und auf diese Weise die reformistischen Organisationen – seien es Parteien oder Gewerkschaften – überspringen könnten, wäre das natürlich die beste Sache der Welt. Aber dann würde die Frage der Einheitsfront sich gar nicht in der vorliegenden Form stellen. Das Problem ist, dass bestimmte, sehr bedeutende Teile der Arbeiterklasse reformistischen Organisationen angehören oder sie unterstützen. Ihre momentane Erfahrung ist noch nicht ausreichend, um sie zum Bruch mit den reformistischen Organisationen und zum Anschluss an uns zu befähigen. Gerade nach unserer Beteiligung an jenen Massenaktivitäten, die an der Tagesordnung sind, könnte ein größerer Umschwung hinsichtlich dieser Bindungen stattfinden. Gerade das streben wir an. Aber gegenwärtig sind die Dinge noch nicht so weit gediehen. (…)

Kommunisten dürfen sich, wie gesagt, solchen Aktionseinheiten nicht entgegenstellen, sondern müssen vielmehr sogar die Initiative dafür ergreifen. Je größere Massen nämlich in die Bewegung einbezogen werden und je höher ihr Selbstvertrauen steigt, desto mehr Selbstvertrauen wird die Massenbewegung insgesamt haben und desto entschlossener wird sie voranschreiten können, wie gemäßigt die Ausgangslosungen im Kampf auch gewesen sein mögen. Und das heißt auch, dass die Massenhaftigkeit einer bestimmten Bewegung an sich schon ein Faktor ist, der die Radikalisierung der Bewegung begünstigen kann und viel bessere Bedingungen für unsere Aktionslosungen und Kampfmethoden, sowie für die Führungsrolle der kommunistischen Partei im allgemeinen erzeugt.” (19)

Aber die Komintern sah auch klar die Gefahren der Einheitsfront als Taktik. Sie könnte zum Deckmantel für einen friedlichen Nichtangriffspakt mit den reformistischen Führern werden. Letztere werden natürlich immer die Einstellung „destruktiver“ Kritik verlangen. Darauf können Kommunisten niemals eingehen, weil das bedeuten würde, dass unmittelbar anstehende Kämpfe nur mit einer letzten Endes opportunistischen Perspektive geführt werden könnten.

Das EKKI forderte daher die „absolute Unabhängigkeit einer jeden KP, die ein Abkommen mit den Parteien der 2. oder 2 1/2. Internationale trifft, ihre vollständige Freiheit in der Darlegung eigener Anschauungen und in der Kritik an den Gegnern des Kommunismus. Kommunisten akzeptieren eine Aktionsgrundlage, aber behalten sich das unbedingte Recht und die Möglichkeit vor, ihre Meinung über die Politik aller Arbeiterorganisationen ohne Ausnahme frei zu äußern, und zwar nicht nur vor oder nach einer Aktion, sondern falls nötig auch WÄHREND IHRES VERLAUFES. Unter keinen Umständen sind diese Rechte veräußerlich. Kommunisten unterstützen die Losung der größtmöglichen Einheit aller Arbeiterorganisationen in jeder PRAKTISCHEN AKTION GEGEN DIE KAPITALISTISCHE FRONT. Sie lassen aber unter keinen Umständen davon ab, ihre Anschauungen zu propagieren, die der einzige zusam-menhängende Ausdruck der Verteidigung proletarischer Klasseninteressen insgesamt sind.“ (20)

Außerdem war die Einheitsfront nicht in erster Linie ein Versuch zur Übereinkunft mit reformistischen Führern, sondern ein Aufruf an die hinter ihnen stehenden Massen. Die Einheitsfront sollte von oben und unten gleichermaßen angesetzt werden: „Was ist die Einheitsfront und was will sie bewirken? Die Einheitsfront sollte keine bloße Verbrüderung von Parteiführern sein. Die Einheitsfront wird nicht durch bloße Abmachungen mit jenen „Sozialisten“ geschaffen, die kurz zuvor noch Mitglieder bürgerlicher Regierungen waren. Einheitsfront bedeutet Zusammenschluss aller Arbeiter, gleich ob Kommunist, Anarchist, Sozialdemokrat, unabhängig, parteilos oder  gar christlich organisiert, gegen die Bourgeoisie. Die Einheitsfront wird gegenüber den Führern praktiziert, wenn sie unbeteiligt abseits stehen; sie wird aber ihnen zum Trotz durchgesetzt und gegen sie gerichtet, wenn sie die Arbeiterkämpfe sabotieren.“ (21)

Wo die Reformisten sich der Formierung einer Einheitsfront widersetzen, sollten Kommunisten nicht auf bequeme literarisch-polemische Denunziationen ausweichen, sondern „auch eine lokale Einheitsfront aufbauen, ohne dabei auf die Erlaubnis von Führern der 2. Internationale zu warten.“ (22)

Wenn Einheitsfronten auf begrenzte Aktionen hin angelegt sind, bedeutet die Aufrechterhaltung eines Blocks mit den reformistischen Führern während oder nach einem Verrat an einer solchen Aktion nichts anderes als eine Komplizenschaft mit ihnen. Aus diesem Grunde kritisierte Trotzki die russischen Gewerkschaften, die während des britischen Generalstreiks an der Seite des britischen Gewerkschaftsverbandes im Anglo-Russischen Komitee verblieben waren: „Vorübergehende Abkommen können mit den Reformisten geschlossen werden, wenn sie einen Schritt vorwärts machen. Aber wenn sie erschreckt durch die Bewegung Verrat begehen, ist die Aufrechterhaltung eines Blocks mit ihnen gleichbedeutend mit krimineller Duldung von Verrätern und einer Verschleierung des Verrats.“ (23)

Die leninistische Komintern in den frühen 20er Jahren und auch Trotzki in den 20er und 30er Jahren betonten stark den begrenzten und besonderen Charakter der Forderungen und Losungen, um die herum eine Einheitsfront angeboten werden sollte. In den 20er Jahren hob Trotzki folgendes hervor: „Wie beschränkt die Losungen auch sein mögen, alles was den Massencharakter einer Bewegung entfaltet, bringt die Reformisten in Verlegenheit, deren bevorzugte Betätigungsfelder die parlamentarische Tribüne, die Gewerkschaftsbüros, die Schiedsstellen und die Vorzimmer der Minister sind.“ (24)

23. Der der Einheitsfront angemessene Organisationstyp ist eine Kampforganisation – keine propagandistische oder programmatisch fundierte Organisation. In diesem Sinne ist eine Gewerkschaft eine Einheitsfront. Korrekter ausgedrückt: eine  Einheitsfront schafft direkte, den anstehenden Aufgaben angemessene Kampforgane. Das können Streikausschüsse, Aktionskomitees und auf höchster Ebene Arbeiterräte (Sowjets) sein. Solche für den Kampf lebensnotwendigen Organe verstärken den Druck auf die reformistischen Führer, „mit der Bourgeoisie zu brechen“.

Die Einheitsfront ist eine Taktik, um ein Höchstmaß an Einheit in der Aktion zu erreichen, für begrenzte, direkte oder defensive Ziele, wenn die Kräfte des Proletariats zersplittert sind und Reformisten bzw. Zentristen noch bedeutende Teile der Klasse oder gar deren große Mehrheit anführen. Gleichzeitig ist die Einheitsfront eine Taktik zur Entlarvung der reformistischen Führer als Verräter selbst an den geringeren und unmittelbaren Zielen der Arbeiter, eine Taktik zur Gewinnung der Massen für eine kommunistische Führung. Trotzki erläuterte die Frage der Einheitsfront, und wie sie sich im Gesamtzusammenhang der revolutionären Strategie zu anderen Taktiken verhält:

„Die Einheit des Proletariats als allumfassende Losung ist ein Mythos. Das Proletariat ist nicht einheitlich. Die Spaltung fängt mit dem ersten politischen Er-wachen an und bildet den natürlichen Mechanismus seiner Bewusstwerdung. Nur unter den Bedingungen einer herangereiften Gesellschaftskrise kann die proletarische Avantgarde, die Machtergreifung als unmittelbare Aufgabe vor Augen und mit einer korrekten Politik ausgerüstet, die überwiegende Klassenmehrheit um sich scharen. Aber der Aufstieg zum revolutionären Gipfel vollzieht sich auf den Stufen fortgesetzter Spaltungen. Die Politik der Einheitsfront ist nicht eine Erfindung Lenins; wie die Spaltung im Proletariat musste auch sie mit Notwendigkeit aus der Dialektik des Klassenkampfes heraus entstehen. Erfolge wären unmöglich ohne vorübergehende Absprachen, um der Erfüllung unmittelbarer Aufgaben willen, zwischen verschiedenen Teilen, Organisationen oder Gruppen des Proletariats …(diese Kämpfe) erfordern eine SOFORTIGE Einheitsfront, auch wenn sie nicht immer genau diese Form annimmt … Auf einem bestimmten Niveau wird der Kampf um die Aktionseinheit von einer elementaren Tatsache zu einer taktischen Aufgabe. Die bloße Formel der Einheitsfront löst keine Probleme … Die taktische Anwendung der Einheitsfront muss in jeder Phase einer klar marxistischen strategischen Konzeption unterworfen sein. Zur Vorbereitung auf die revolutionäre Vereinigung der Arbeiter, ohne und gegen den Reformismus, ist eine lange und geduldige Erfahrung in der Anwendung der Einheitsfront gegenüber den Reformisten vonnöten; natürlich immer unter dem Gesichtspunkt des revolutionären Endziels.“ (25)

Wie sieht das Verhältnis von Strategie und Taktik aus? Trotzki macht in seiner Schrift „Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche“ dazu klare Aussagen: „Mit der taktischen Konzeption ist ein System von Maßnahmen gemeint, das einer momentanen Aufgabe oder einem Teilziel des Klassenkampfes dient. Revolutionäre Strategie umfaßt hingegen eine kombinierte Kette von Aktionen, die kraft ihrer Bündelung und ihres Zusammenhangs das Proletariat zur Machteroberung führen können.“ (26)

Von daher ist jede Einheitsfront oder Art von Einheitsfront nur eine Taktik und Bestandteil einer umfassenden Strategie, die Spaltungen, Brüche und schließlich die Vereinigung der Mehrheit der Klasse unter der revolutionären Avantgarde im Kampf um die Macht mit einschließt. In diesem Kampf befinden sich die reformistischen Führer höchstwahrscheinlich im Lager der Konterrevolution und können höchstens neutralisiert werden. Trotzki betonte immer wieder, dass keine Form der Einheitsfront mit dem Weg zum Kommunismus gleichbedeutend sein kann: „Die Politik der Einheitsfront mit Reformisten ist Pflicht, aber sie ist notwendigerweise auf Teilaufgaben beschränkt, insbesondere auf Verteidigungskämpfe. Es kann keinen Gedanken an die Durchführung der sozialistischen Revolution in einer Einheitsfront mit reformistischen Organisationen geben.“ (27)

Die von der Komintern zu Anfang der 20er Jahre vertretene Form der Einheitsfront war die Einheitsfront der Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Unter den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der kapitalistischen Offensive, aber auch wegen der zuvor in mehreren Ländern erfolgten Formierung politisch unabhängiger kommunistischer Parteien war dies möglich. Die wichtigsten kommunistischen Parteien waren in der Position, gemeinsame Aktionen zwischen ihnen und nicht-kommunistischen Organisationen als realistischen Beitrag zum Zusammenschluss der Arbeiterklasse vorschlagen zu können. In Situationen, wo die kommunistischen Kräfte jedoch gering und ohne großes Gewicht sind, können die Prinzipien, auf denen die KI die Taktik der Arbeitereinheitsfront aufgebaut hat, auch noch andere Formen der Einheitsfront erlauben. In den Jahren vor der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland propagierte Trotzki die Formierung einer „Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus“, obwohl die trotzkistischen Kräfte in Deutschland verschwindend gering waren.

Trotzki betonte die Unabdingbarkeit konkret zu stellender Forderungen und die Notwendigkeit, die völlige Unabhängigkeit der kommunistischen Kräfte zu wahren: „Das Aktionsprogramm muss ganz praktisch sein, ohne irgendwelche künstlichen ‚Ansprüche‘ und Vorbehalte, so dass sich ein durchschnittlicher sozialdemokratischer Arbeiter sagen kann: Was die Kommunisten da vorschlagen, ist völlig unverzichtbar im Kampf gegen den Faschismus.“ (28)  Aber gleichzeitig: „Keine gemeinsame Plattform mit der Sozialdemokratie oder den Führern der deutschen Gewerkschaften, keine gemeinsamen Publikationen, Spruchbänder oder Plakate! Getrennt marschieren, aber vereint schlagen! Absprachen nur über das Wie, Wann und Wo der Aktion! Eine solche Übereinkunft kann mit den Teufel persönlich, mit des Teufels Großmutter und sogar mit Noske und Grzesinski geschlossen werden. Unter einer Bedingung: sich nicht die eigenen Hände zu binden.“ (29)

Die Forderung nach einer Einheitsfront der Arbeiterorganisationen hängt demnach nicht von der Existenz einer revolutionären Partei ab, die groß genug ist, ein formales Einheitsfrontabkommen einzugehen, sondern von der objektiven Notwendigkeit einer Einheitsfront, wenn die Arbeiterklasse angegriffen wird und sie in sich gespalten ist. Aber auch in Zeiten relativer Ruhe des Klassenkampfes oder wenn sich die Arbeiterklasse in der Offensive befindet oder wenn die Arbeiterklasse in der Lage ist, der Bourgeoisie Zugeständnisse abzuringen, ist jede Möglichkeit, Einheitsfronten zu bilden, wahrzunehmen, um die Arbeiterklasse einer Einheit unter revolutionärer Führung näherzubringen. Die Logik des Klassenkampfes macht die Aktionseinheit erforderlich; den Kommunisten kommt dabei die Rolle zu, bewusst in solche Situationen zu intervenieren und die Forderungen und Methoden einzubringen, die die Klasse unter den gegebenen Umständen voranbringen können.

Die Einheitsfront der Massenorganisationen der Arbeiterklasse bzw. die agitatorische oder propagandistische Forderung danach erschöpft allerdings noch nicht das taktische Waffenarsenal, das von der KI erarbeitet und von den Kräften der Linken Opposition, der Internationalen Kommunistischen Liga und der IV. Internationale weiterentwickelt worden ist. Diese Taktiken wurden besonders für Situationen entwickelt, wo Revolutionäre unter äußerst ungünstigen Bedingungen antreten mussten, wo der Reformismus einen scheinbar unerschütterlichen Einfluss auf die Arbeitermassen ausübte und wo die Kommunisten wenig oder gar keinen Kontakt mit den Alltagsaktivitäten der Arbeiterklasse hatten. Das trifft auch auf die Gegenwart zu, wo diese Taktiken von besonderer Bedeutung für Revolutionäre sind, die aus ihrer Isolation ausbrechen, die politische Methode und das Programm des revolutionären Marxismus wiederherstellen und ihren führenden Platz in den Reihen der Arbeiterorganisationen einnehmen wollen.

Die Taktik der Labor Party

24. Um die Arbeiterklasse wirksam in eine zentralisierte Offensive gegen die bürgerliche Staatsmacht zu führen, ist eine demokratisch-zentralistische Kaderpartei unbedingt notwendig. Eine solche Partei muss große Massen hinter sich bringen, um auch die zum jeweiligen Zeitpunkt im Kampf befindliche vorderste Linie der proletarischen Kämpfer mit zu erfassen. Keine Sekte, die sich selbst zur Vorhut ernennt, kein „historischer Prozess“ und keine zentristischen Strömungen können der Partei diese Aufgabe abnehmen. Die Partei muss in den und durch die Kämpfe der Arbeiterklasse aufgebaut werden.

In der ersten Phase der imperialistischen Epoche haben bei der Bewältigung dieser Aufgabe revolutionäre Marxisten in manchen Ländern die Führung übernommen und Massenkaderparteien geschaffen. Doch auch damals stieß dieser Prozess in bestimmten Ländern, vor allem im angelsächsischen Bereich (Britannien, USA, Australien usw.), auf das mächtige Hindernis einer gewerkschaftlichen Massenbewegung, deren Führer mit einer bürgerlichen Partei verbunden waren. In Britannien bildeten die Gewerkschaftsführer eine Unterabteilung der Liberalen Partei (die sogenannten Lib-Labs). In den USA waren die Führer des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO seit den 30er Jahren auf ähnliche Weise ein Bestandteil der Demokratischen Partei. In den entwickelteren halb-kolonialen Ländern, z.B. in Argentinien, bleibt die Gewerkschaftsbürokratie an den bürgerlichen Nationalismus gebunden.

Um mit solchen Situationen. fertig zu werden, haben revolutionäre Marxisten eine Variante der Einheitsfronttaktik entwickelt, die zum Bruch der Gewerkschaften oder anderer proletarischer Massenorganisationen mit ihrer politischen Anbindung an die Bourgeoisie führen und die Erkenntnis der Unabdingbarkeit einer revolutionären Partei vermitteln soll.

Diese Taktik nennen wir die „Taktik der Labor Party“ (Arbeiterpartei). (30)  Sie zielt natürlich nicht auf die Schaffung von reformistischen Arbeiterparteien ab. Tatsächlich ist sie auf die Verhinderung der Bildung einer verschleierten bürgerlichen Partei ausgerichtet, zumal sie von der Losung des Bruchs mit der Bourgeoisie ausgeht. Formal unabhängige reformistische Parteien sind unabhängig nur im Wahlkampf, aber nicht im Klassenkampf. Ziel der Taktik der Arbeiterpartei ist die Erleichterung der Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei der Arbeiterklasse, die die Führung in den Gewerkschaften erringen kann. Wo immer sich eine gesonderte Arbeiterpartei formiert, die sich auf die Gewerkschaften stützt, wird ihr Charakter – reformistisch oder revolutionär – durch den Kampf bestimmt. Die Taktik der Arbeiterpartei entsprang natürlich nicht voll ausgeprägt den Köpfen von Engels, Lenin oder Trotzki. Alle drei trugen allerdings zur Entwicklung dieser Taktik bei, und Trotzki gab ihr in den späten 30er Jahren die endgültige Form.

Zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts meinten viele Marxisten, dass die Schaffung einer Arbeiterpartei an sich schon eine historisch progressive Tat sei.

Diese Meinung wurde sogar in Bezug auf Britannien und Australien für richtig gehalten, wo die betreffende Partei nicht das marxistische Programm vertrat. Engels‘ Haltung zur britischen Arbeiterbewegung war ein prägnantes Beispiel hierfür. Die imperialistische Konkurrenz begann zu Ende des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft des britischen Imperialismus zu schwächen. Die Beschränktheit der britischen Arbeiterbewegung, die sich auf den Trade-Unionismus und ein politisches Bündnis mit der offen bürgerlichen Liberalen Partei gestützt hatte, wurde offenbar. Die Verteidigung bzw. Anhebung des Lebensstandards erforderte ein politisches Instrument, das unabhängig von den offen bürgerlichen Unternehmerparteien war. Die Notwendigkeit einer unabhängigen Partei der Arbeiterklasse stellte sich in scharfer Form. Der reformistische Arbeitervertretungsausschuss (1900) und später die Labour Party (1906) waren das Ergebnis eines Bruches der Gewerkschaften mit den Liberalen und einer Hinwendung zu eigenständiger politischer Vertretung. Dieses reformistische Ergebnis war aber keineswegs von Anfang an vorherbestimmt. Ein korrektes Eingreifen von Revolutionären hätte möglicherweise die Etablierung der Partei als bürgerliche Arbeiterpartei verhindern können, oder hätte zumindest eine revolutionäre alternative Führung der Massen innerhalb oder außerhalb dieser Partei etablieren können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine reformistische Partei bildet, hätte Marxisten trotz ihrer anfänglichen zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht davon abhalten dürfen, sich am Formierungsprozess dieser Partei auf ihre Weise zu beteiligen. Der Zustand der Marxisten als verschwindend kleine Minderheit wäre dabei nicht entscheidend gewesen. Lenin merkte 1907 an: „Engels bestand darauf, wie wichtig eine unabhängige Arbeiterpartei sei, selbst mit einem schlechten Programm, weil er von Ländern sprach, wo bis dahin nicht das geringste Anzeichen einer politischen Unabhängigkeit der Arbeiter vorhanden war – wo die Arbeiter meistens der Politik der Bourgeoisie gefolgt sind und dies auch weiterhin tun.” (31)

Engels trat dafür ein, dass die Massen ihre -Erfahrungen mit der Bildung einer Partei machen müssen, und dass sie davon lernen könnten und lernen würden. 1889 schrieb er an Sorge über die Erhebung der Arbeiterklasse: „Die Bewegung ist jetzt endlich im Gang, und wie ich glaube, endgültig. Aber nicht direkt sozialistisch, und diejenigen Leute, die unter den Engländern unsre Theorie am besten verstanden, stehn außer ihr. (…) Dabei sehn die Leute ihre momentanen Forderungen selbst nur als provisorisch an, obwohl sie selbst noch nicht wissen, auf welches Endziel sie hinarbeiten. Aber diese dunkle Ahnung sitzt tief genug in ihnen, um sie zu bewegen, nur offenkundige Sozialisten zu Führern zu wählen. Wie alle andern müssen sie durch ihre eignen Erfahrungen, an den Folgen ihrer eignen Fehler lernen. Aber da sie, entgegen den alten Trades Unions, jede Andeutung von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit mit Hohngelächter aufnehmen, wird das nicht sehr lange dauern.“ (32)

Der hier enthaltene perspektivische Ansatz, den Engels oft wiederholte und der sich auf die offensichtliche Schwächung der ökonomischen Position Britanniens stützte, sollte sich als falsch erweisen. Engels konnte nicht das massive Wachstum imperialistischer Ausbeutung vorhersehen, das den Reformismus in der Arbeiterklasse stärken sollte. Dies zu verstehen und zu bekämpfen war die Aufgabe der nächsten Generation von revolutionären Marxisten. Engels erkannte aber, dass die Einheit von Marxisten und Nicht-Marxisten beim Aufbau einer proletarischen Klassenpartei kein Hemmnis war für den Kampf um unabhängige Klassenpolitik innerhalb einer solchen Partei. Das war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung der Taktik der Labor Party (Arbeiterpartei) in den USA durch die Komintern und später durch Trotzki.

25. Die kommunistische Bewegung in den USA entstand aus der schlimmen Krise der amerikanischen sozialistischen und syndikalistischen Bewegung während des 1. Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren. Sie entstand als eine gespaltene und verfolgte Bewegung, die von der großen Masse der amerikanischen Arbeiter isoliert war und die von Taktiken zur Oberwindung dieses Zustandes nicht viel hielt. Die Komintern führte einen sehr langen Kampf für die Vereinigung der Bewegung und gegen die sektiererischen Elemente darin. Die Wende kam auf dem 3. Kongress der KI im Jahre 1921.

Dort wurde die Kampagne der kommunistischen Parteien für die Gewinnung der Massen mittels praktischer Aktionseinheiten gegen die Unternehmer begründet. Auf dem Kongress wurde zwar nichts im Hinblick auf die Einheitsfront in Amerika beschlossen, doch Lenin stellte hier den US-Delegierten zum ersten Mal die Frage nach einer Labor Party. Auf dem 4. Kongress 1922 hatten die gerade aus dem Untergrund als „Workers Party“ aufgetauchten amerikanischen Kommunisten bereits eine Position zugunsten der Taktik der Labor Party zu entwickeln begonnen. Im Mai 1922 verabschiedete die Workers Party ein Thesenpapier zur Einheitsfront, das die Labor Party als besondere Form der Einheitsfront in den USA anerkannte. Im Oktober desselben Jahres veröffentlichte der Vertreter der KI in den USA, Pepper, eine Broschüre mit den Titel „Für eine Labor Party!“. Er stellte darin die Labor Party als Partei der gesamten organisierten Arbeiterklasse dar, aber mit dem Ziel „der Abschaffung der Lohnsklaverei, der Errichtung einer Arbeiterrepublik und eines kollektiven Produktionssystem.” (33)

Doch bei der praktischen Anwendung dieser besonderen Form der Einheitsfront zeigten die amerikanischen Kommunisten nur ein beschränktes Verständnis bezüglich der prinzipienfesten Handhabung einer solchen Taktik.

1923 berief die Workers Party eine Konferenz zur Gründung einer Labor Party ein, zusammen mit der reformistisch geführten Chicago Federation of Labor und der populistischen Farmer-Labor-Bewegung (einem losen Zusammenschluss von Parteien aus verschiedenen Bundesstaaten). Auf dieser Konferenz stellten die Kommunisten ausschließlich die Notwendigkeit der raschen Parteigründung in den Vordergrund. Es wurde eher über den Zeitpunkt der Parteigründung als über die politischen Inhalte diskutiert. Dieser Organisationsfetischismus der Kommunisten beschwor eine vorzeitige Spaltung mit den reformistischen Gewerkschaftsführern herauf. Die Kommunistische Partei machte sich daran, die “Federated Farmer-Labor Party“ (FFLP) zu gründen. Durch erfolgreiche Konferenztaktik gewannen die Kommunisten die Kontrolle über jene Partei, aber das erwies sich als ein Pyrrhussieg. Die FFLP war nur der vergrößerte Schatten der Kommunisten und keine Massenpartei der amerikanischen Arbeiterklasse. Sie wollte sich auf zwei Klassen stützen, Farmer und Arbeiter, und sie hatte kein revolutionäres Programm.

In der Workers Party waren James P. Cannon und der frühere Syndikalist William Z. Foster die Hauptgegner dieser Orientierung auf die FFLP. Ihre Gegnerschaft beruhte freilich nicht auf dem politischen Inhalt der FFLP, sondern darauf, dass der Bruch mit Fitzpatrick von der Chicago Federation of Labor die kommunistischen Kämpfer von den „Fortschrittlichen“ in den AFL-Gewerkschaften isoliert hatte. Sie betrieben eine rechte Opposition gegen Pepper, den Befürworter dieses Bruches. Cannon gab selber zu, dass er damals „ausgesprochen rechts“ gewesen war. (34) Pepper beharrte andererseits darauf, dass die FFLP eine Massenpartei und ein Sieg für die Kommunisten sei. Über den programmatischen Inhalt dieser Taktik gab es keine Auseinandersetzungen. Das wurde durch die allseitige Unterstützung für Peppers späteren Plan bestätigt, die FFLP als Wahlhilfe für einen mittelständischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 1924 einzuspannen.

Sowohl Pepper wie auch Cannon sahen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Unterstützung des liberalen Senators La Follette aus Wisconsin als Mittel zur Rechtfertigung ihrer jeweiligen Orientierung an. Cannon sah darin ein Mittel für die Partei, eine neue Brücke zu den fortschrittlichen Gewerkschaftern zu schlagen, die mit La Follette sympathisierten. Auf der anderen Seite entwickelte Pepper eine Theorie, wonach die amerikanischen Farmer die wahre revolutionäre Kraft im Lande wären. Durch die Unterstützung La Follettes könnte die FFLP mit diesen Farmern zusammengehen und so ein Bündnis mit dem Kleinbürgertum in Gestalt einer Zweiklassenpartei zustandebringen. Diese Partei würde dann eine dritte (bürgerlich-demokratische) amerikanische Revolution hervorrufen, die schließlich den Weg für eine vierte, proletarische, ebnen würde. Das war eine frühe Fassung von Stalins menschewistischer „Etappenstrategie“. Erst das Eingreifen der Komintern vereitelte diese Pläne in Amerika. Der Einspruch der KI zwang die amerikanischen Kommunisten, mit allen Teilen der Farmer-Arbeiter-Bewegung vollkommen zu brechen, die FFLP aufzulösen und eine „Linkswendung“ zu vollziehen. Die von Sinowjew geführte KI legte der amerikanischen Kommunistischen Partei nahe, ihre Irrtümer zu korrigieren, indem sie nun La Follette als Faschisten beschimpfen sollte!

Das ganze Experiment deckte eine grundlegende Schwäche in der Taktik der Labor Party auf, wie sie von den amerikanischen Kommunisten verstanden wurde. (35)  Ausgehend von einem sektiererischen Fernbleiben von der wirklichen Labor-Party-Bewegung 1919 landeten die Kommunisten schließlich bei einer Position, die die Gründung einer Labor Party ohne Rücksicht auf die Inhalte ihres Programms als taktisches Ziel betrachtete. Das musste sie zur Übernahme einer Rolle als wohlgesonnener Geburtshelfer für eine reformistische Labor Party führen. Die „linke“ Alternative hierzu sah nicht besser aus; sie bestand darin, die auf politische Unabhängigkeit gerichteten Bewegungsansätze in den Gewerkschaften faktisch zu hintertreiben. Cannon dachte gewiss an eine reformistische Labor Party und fasste sogar ein Bündnis für eine dritte (bürgerliche) Partei über alle Klassen hinweg ins Auge. Der Fehler dabei lag in dem Rückgriff auf den Ratschlag von Engels aus den 1880er Jahren, ohne die Bedeutung der Spaltung in der 2. Internationale und die programmatische Entwicklung der 3. Internationale zu berücksichtigen. Diese Position ging von der nicht mehr gültigen Voraussetzung aus, dass jede Art von Arbeiterpartei einen unbedingten Schritt vorwärts darstellen würde. Die Verwirrung darüber hielt sogar unter den besten revolutionär-kommunistischen Elementen bis Ende der 30er Jahre an.

26. In der Komintern und der amerikanischen Partei vereitelte das Aufkommen des Stalinismus eine kritische Würdigung der Periode von 1922/23. Als sich die amerikanische Linke Opposition formierte, übernahm sie einfach die Position der KP von früher her. Cannons Programm der Linken Opposition in Amerika stellte fest: „Die Perspektive einer Labor Party als erster Schritt in der politischen Entwicklung der amerikanischen Arbeiter gilt heute genauso wie 1922, als diese Position nach scharfem Kampf in der Partei und auf dem 4. Kongress der KI angenommen wurde, obwohl die Formen und Methoden ihrer Verwirklichung heute etwas von denen abweichen, die damals angezeigt waren.“ (36)

Das Programm kritisierte wohl die Initiativen zur Etablierung einer Schein-Labor-Party (z.B. die FFLP), griff Peppers Idee von einer Zweiklassen-„Farmer-Arbeiter“-Partei an und rief stattdessen zur Bildung einer wirklichen Labor Party sowie zu einem Bündnis mit den armen Farmern auf. Doch der Kardinalfehler von 1922/23, nämlich eine solche Parteigründung an sich schon als notwendigen Schritt zu erachten, wurde wiederholt. Die innere rechte Logik des Fehlers wurde nicht erkannt. Diese Position veranlasste Trotzki 1932 zu einer Kritik an den amerikanischen Trotzkisten.

Trotzkis Kritik fußte auf der Abneigung gegen die Idee, dass Revolutionäre von sich aus zur Bildung einer Labor Party aufrufen sollten. So wie Cannon die Losung aufstellte – für eine reformistische Labor Party – traf Trotzkis Kritik ins Schwarze. Einerseits hatte die Phase relativer kapitalistischer Prosperität bis 1929 der Massenbewegung für eine Labor Party das Wasser abgegraben. Andererseits hätte ein Sieg der Linken Opposition in der Komintern eine erneuerte revolutionär-kommunistische Partei in die Lage versetzt, sich selbst an die Spitze der Arbeiterklasse zu stellen, wenn deren Milltanz wiedererwacht wäre. Außerdem war die Praxis, Langzeitblöcke mit Reformisten bzw. kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalisten zu bilden, der Kern des Stalin/Bucharinschen Verrats in China und Britannien gewesen. Dies war weiterentwickelt worden zu einer ausgewachsenen Etappentheorie. Für Trotzki war die Schaffung einer reformistischen Partei nicht der ersehnte „erste Schritt“, sondern eine potentielle Barriere für die revolutionäre Entwicklung der amerikanischen Arbeiter. Aus den genannten Gründen folgerte er: „Die Schaffung einer Labor Party kann nur hervorgerufen werden durch starken revolutionären Druck der werktätigen Massen und eine wachsende Bedrohung durch den Kommunismus. Unter diesen Umständen ist völlig klar, dass die Labor Party keine fortschrittliche Entwicklung für die Arbeiterklasse darstellen würde.“ (37)

Trotzkis Kritik an den rechten Positionen der amerikanischen Genossen war zwar an sich korrekt, aber mit dem Makel behaftet, dass er sich der Einschätzung anschloss, eine Labor Party sei nur als reformistische Partei denkbar. Trotzkis Anschauung war auf die Unterstellung verkürzt, eine Labor Party sei entweder nutzlos oder reaktionär. Als unnütz würde sie sich erweisen, falls es ein massenhaftes Anwachsen von revolutionärem Bewusstsein gäbe. In diesem Falle würde sich eine kommunistische Massenpartei formieren. Reaktionär wäre die Labor Party, falls die Gewerkschaftsbürokraten zur Kontrolle über die Bewegung imstande wären. Diese Anschauung war weit undialektischer als seine spätere Position, weil sie eine, Situation aus-schloss, die beide Erscheinungen miteinander kombinierte, und wo der Druck der Massen für die Schaffung einer Labor Party gegen die reformistischen Führer gewendet werden konnte.

Seine spätere Perspektive (vgl. das Übergangsprogramm von 1938) war geprägt von einem Verständnis für die Tiefe der imperialistischen Krise und die Bewusstseinsstagnation der Arbeiterklasse. Daraus ergab sich eine schwere Führungskrise in den proletarischen Organisationen. So war es lebensnotwendig für Revolutionäre, in vorwärtsweisenden Bewegungen der Arbeiterklasse intervenieren zu können, auch wenn diese noch unter reformistischem Einfluss standen. Eine solche Intervention war notwendig, um die Arbeiter für wirksame Taktiken und eine zusammenhängende antikapitalistische Strategie zu gewinnen. So kann im Feuer des Kampfes eine alternative Führung geschmiedet und die Führungskrise gemeistert werden.

Der Aufstieg der großen Industriegewerkschaften (die CIO-Bewegung) Mitte der 30er Jahre war die Grundlage für Trotzkis Wiederaufarbeitung der Taktik der Labor Party, die nun im Lichte der vollentfalteten Methode des Übergangsprogramms neu entworfen wurde.

27. Auf ihrer Gründungskonferenz wiederholte die amerikanische Socialist Workers Party (SWP) Trotzkis Position von 1932 zur Labor Party fast wortgetreu. Trotzki kritisierte sie deswegen und kämpfte für eine Umkehr der Parteiposition um 180 Grad.

Bei der Ausarbeitung seiner Position von 1938 berücksichtigte Trotzki zwei neue Entwicklungen. Zunächst analysierte er den Aufstieg der CIO als einen Faktor, der das Bewusstsein der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit politischer Aktionen beleben würde. Zu diesem Zweck würden sie eine politische Partei brauchen. Er stellte die Alternative für die Arbeiterklasse folgendermaßen dar: „Es ist eine objektive Tatsache, dass die von der Arbeitern neu geschaffenen Gewerkschaften in eine Sackgasse geraten sind, und der einzige Weg für die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter besteht darin, mit vereinten Kräften die Gesetzgebung und den Klassenkampf zu beeinflussen. Die Arbeiterklasse steht vor der Alternative: entweder Auflösung der Gewerkschaften oder Zusammenschluss zur politischen Aktion.“ (38)

Mit anderen Worten: die objektive Lage erforderte klar eine Arbeiterpartei. Wenn allerdings Millionen von Arbeitern in der CIO zur politischen Aktion übergingen, würde dies von der reformistischen Führern wahrscheinlich in eine nur reformistische Richtung kanalisiert werden. Revolutionäre können es sich nicht leisten, auf irgendeiner Stufe der politischen Entwicklung der Arbeiter abseits zu stehen, wenn sie die Chance haben wollen, diesen Prozess in eine revolutionäre Richtung zu lenken. Zu diesem Zweck müssen sie sich mit den Millionen von reformistisch geführten Arbeitern vereinigen und ihren Führern zurufen: Brecht mit den bürgerlichen Parteien, kettet unsere Gewerkschaften nicht politisch an die Unternehmer! Dadurch können sich die Kommunisten eine günstigere Position verschaffen, um das revolutionäre Programm in den politischen Bruch mit der bürgerlichen Demokratischen Partei inhaltlich einzubringen.

Trotzkis zweite Oberlegung fußte auf dem Umstand, dass die amerikanische Sektion der IV. Internationale unfähig gewesen war, die Führung der Arbeiterklasse so rasch zu übernehmen, wie er dies gehofft hatte. Das verschlimmerte die proletarische Führungskrise. Die Massen verlangten nach politischen Antworten. Das zeigte sich bei den neuerlichen Bewegungsansätzen für eine echte Labor Party in Organisationen wie der Liga parteiloser Arbeiter, der Amerikanischen Labor Party in New York und anderen Gruppen. Wenn die SWP abseits von diesen Bewegungen stünde, würden die Bürokraten die Führungskrise lösen, indem sie den Druck der Massen mit der Schaffung einer reformistischen Labor Party auffingen. Um dies zu verhindern und die Bewegung in eine revolutionäre Richtung lenken zu können, entwickelte Trotzki die Taktik der Labor Party und ging über seine früheren Einwände hinweg.

Er führte in die Taktik ein algebraisches Element ein, d.h. er wollte zugleich mit der Schaffung der Einheitsfront zum Aufbau einer unabhängigen Arbeiterpartei ein Übergangsprogramm in die Bewegung hineintragen. Wenn dieses Programm angenommen werden würde, würde das den Triumph der Revolutionäre in der neuen Partei bedeuten. Trotzki überwand die offenkundige Etappentheorie der – „reformistischen Labor Party“ und ersetzte sie durch eine Taktik, bei der der Kampf über die Herausbildung einer Labor Party entscheiden würde: „Sind wir für den Aufbau einer reformistischen Labor Party? Nein. Sind wir für eine Politik, die den Gewerkschaften die Gelegenheit einräumt, ihr Gewicht politisch geltend zu machen? Ja. Es kann eine reformistische Partei werden – das hängt von der Entwicklung ab. Hier kommt die Frage nach dem Programm herein.“ (39)

Durch den Kampf für das eigene Programm als Programm der Labor Party eröffnete die SWP die Möglichkeit, sie als revolutionäre Partei zu formen. Natürlich würde dies in einem relativ kurzfristigen, aber heftigen Kampf mit der Bürokratie entschieden werden. Allerdings war dies nur eine Möglichkeit, und darum blieb die Konsolidierung der SWP das wichtigere Ziel. Wenn die Revolutionäre gewinnen würden, könnten sie die Labor Party als revolutionäre, von Reformisten gesäuberte Kampfpartei organisieren, meinte Trotzki. Aber das Programm würde entscheiden, ob die Partei revolutionär oder reformistisch sein würde. Deswegen dachte Trotzki für den Fall der praktischen Realisierung, dass die Labor Party „eine fortschrittliche Bedeutung nur für eine vergleichsweise kurze Übergangszeit erhalten kann“. (40)

Das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, da der Kampf zwischen Reformisten und Revolutionären für eine Seite entschieden worden war. Würden letztere gewinnen, so würde das „unvermeidlich den Rahmen der Labor Party sprengen und es der SWP erlauben, die revolutionäre Vorhut des amerikanischen Proletariats um das Banner der IV. Internationale zu scharen“. (41) Wenn die Reformisten siegen würden, wäre eine konterrevolutionäre, sozialdemokratische Partei das Ergebnis.

Trotzki argumentierte, dass seine Position von 1938 keine theoretische Revision seiner Position von 1932 bedeutete, sondern lediglich eine Konkretisierung. Das ist nicht der Fall. Trotzki änderte tatsächlich seine Position. Alle Behauptungen, es gäbe keine Positionsänderung, führen zu einer sektiererischen Abwendung von der Labor-Party-Taktik; d.h. 1932 schloss Trotzkis Position die Anwendung der LP-Taktik in einer algebraischen, übergangsartigen Weise aus. Sektierer benutzen diese frühe Position, um zu beweisen, dass nur in Zusammenhang mit dem CIO-Aufschwung und dem Klassenkampf die spätere Verwendung der Losung durch Trotzki gerechtfertigt war. Ohne einen solchen Aufstand sei es unmöglich, die Taktik anzuwenden, und wir sollten zu Trotzkis Position von 1932 zurückkehren, die die revolutionäre Partei der Labor Party gegenüberstellte. Die LRP in Amerika ist ein treffendes Beispiel für eine von dieser sektiererischen Methode paralysierten Gruppe.

Der Druck der Massen ist zweitrangig beim Verständnis der Differenzen in den beiden Positionen Trotzkis. Er sagte 1932, dass die alleinigen Entstehungsbedingungen für eine Labor Party nur als Resultat des revolutionären Drucks der Massen zu sehen wären. Er kam zu dem Schluss, dass eine solche Entwicklung schlecht wäre, ein Hindernis wäre für die Schaffung einer revolutionären Partei. Der Grund dafür ist, dass Trotzki die Anwendung der LP-Taktik dem Aufbau einer revolutionären Partei gegenüberstellte. Beides in einer Perspektive wurde als widersprüchlich gesehen.

Doch 1938 war es genau der Druck der Massen, der sich in dem CIO-Aufschwung ausdrückte, der ihn zur Änderung seiner Position brachte. Trotzki trat nun für die Notwendigkeit ein, eine Labor Party zu fordern. Dabei war nun genau derselbe Druck vorhanden, den Trotzki 1932 als Grund bemühte, die Losung nicht zu verwenden. Geändert hatten sich nicht die Umstände, wie die Sektierer wahrhaben wollen, sondern Trotzkis methodischer Zugang zum Problem. Die Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse, der schreckliche Verrat der traditionellen Führungen, die geringe Größe der IV. Internationale und das enorme Ausmaß der Krise für die Menschheit brachten Trotzki zur erstmals in umfassendem Sinn vollen Entwicklung der Übergangsmethode. Im wesentlichen hieß das die Anwendung des Übergangsprogramms und der sich daraus ergebenden Forderungen und Taktiken, sowie der Versuch, die Führungskrise zu lösen. Von der fehlerhaften Position, die Anwendung der Einheitsfront sowie den Kampf für Übergangsforderungen darin und den Ruf nach einer revolutionären Partei (genau genommen der Forderung nach einer reformierten KP in der Position von 1932) einander gegenüberzustellen, bewegte sich Trotzki mithin zur korrekten Position, die Einheitsfront auf politischer Ebene als eine Taktik zum Aufbau der revolutionären Partei und dadurch zur Lösung der Führungskrise anzuwenden.

Wie Trotzki selbst bei der Begründung für die Positionsänderung feststellte: „Nun dürfen wir nicht mit unserer Prognose von gestern, sondern mit der Situation von heute rechnen … Wir müssen unser Programm ändern, weil die objektive Situation sich völlig unterscheidet von unserer früheren Prognose.“ („US- und europäische Arbeiterbewegungen: ein Vergleich”) Die Führungskrise wurde zum Zentrum von Trotzkis Überlegungen. Eine Rückkehr zur Position von 1932 wäre gleichbedeutend mit einem Verlassen des programmatischen methodischen Wegs, der von Trotzki gebahnt wurde, um jene Krise (von der wir meinen, dass sie noch besteht) zu lösen; stattdessen würde man ihn nur durch abstrakte Forderungen nach einer revolutionären Partei ersetzen.

28. 1938 hatte Trotzki die Taktik der Labor Party fertig entwickelt, bis in ihre ausgearbeitete revolutionäre Form. Die von ihm verfassten Leitlinien bleiben gültig bis heute. Sie können wie folgt zusammengefasst werden:

a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in “ruhigen“ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z.B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.

Obwohl diese Leitlinien heute in den USA und anderswo von Gruppen wie der mittlerweile durch und durch rechtszentristischen SWP (US) grob verfälscht und missbraucht werden, haben sie immer noch ihre Gültigkeit als Anleitung zur revolutionären Handhabung der Labor-Party-Taktik.

Ob wir die Labor-Party-Taktik anwenden oder nicht, hängt von den jeweiligen Zuständen in einzelnen Ländern ab. Wir würden als allgemeine Regel aufstellen, dass die Taktik in Ländern angewendet werden kann, wo die Arbeiterklasse Gewerkschaften geschaffen hat, aber keine Form von politischer Organisation entwickelt hat. Die Taktik wird Teil des taktischen Rüstzeugs für Revolutionäre in jenen Ländern. Natürlich heißt das nicht, dass sie immer als zentrale Taktik angewendet werden kann und dass man um sie kämpft als ein Allheilmittel gegen alle Krankheiten des Proletariats. Wie bei allen Taktiken erkennen wir, dass der Umfang ihrer Nutzbarmachung und der Charakter ihrer Anwendung unter verschiedenen Umständen variieren können. In den Vereinigten Staaten hätte die Losung in Wahlkampagnen, wenn die Gewerkschaftsführer damit beschäftigt sind, Geld für die Parteien der Bourgeoisie aufzubringen und Stimmen für sie zu gewinnen, eine enorme Bedeutung und würde damit einen integralen und zentralen Bestandteil revolutionärer Arbeit bilden. In anderen Perioden, bspw. zu Zeiten einer Klassenkampfruhe würde die Losung ihr Gewicht vornehmlich auf der Propagandaebene bewahren.

Man muss jedoch das Wesen der Taktik verstehen, nämlich: Bruch mit der Bourgeoisie als eine Forderung an die Gewerkschaftsführer und die Basis. In den USA würde dies insbesondere einen Kampf beinhalten, der zum Ziel hat, die Gewerkschaften von den Demokraten loszubrechen. In Argentinien wäre die Losung auf den Bruch der Gewerkschaften mit dem bürgerlichen Nationalismus abgestimmt, in Südafrika auf den Bruch mit der Volksfrontpolitik der UDF und der ökonomistischen Haltung vieler schwarzer Gewerkschaftsführer, die ihren Abstentionismus von der Politik pflegen. In Brasilien, wo eine Arbeiterpartei formiert worden ist, würde der Kampf für ein revolutionäres Aktionsprogramm in dieser Partei die Achse einer revolutionären Intervention bilden, um ein revolutionäres Instrument zu schmieden – eine Entwicklung, die noch nicht ausgeschlossen ist im Rahmen der Brasilianischen Arbeiterpartei PT.

Doch wir fordern keine Arbeiterparteien unter Umständen, wo auf Gewerkschaften gestützte oder zu bedeutenden Teilen aus gewerkschaftlicher Basis bestehende reformistische Parteien schon existieren. Dies wäre eine opportunistische Anwendung der Losung, wie sie das lambertistische IK in vielen Ländern praktiziert. Die Forderung nach einer anderen Arbeiterpartei, ohne damit eine revolutionäre Partei zu meinen, wie z.B. in Frankreich, würde allerdings den Kampf um die Lostrennung der gewerkschaftlichen Massen vom Reformismus scheuen. Eine solche Forderung hieße, den Kampf gegen die sozialistischen und stalinistischen Bürokratien zu scheuen.

Mit der Verwendung der Losung der Labor Party in einem übergangsartigen, algebraischen Sinn und durch die Untersuchung der konkreten Umstände, unter denen sie anzuwenden ist, vermeiden wir sowohl die sektiererischen wie auch die opportunistischen Anwendungen der Taktik, die bei den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale so üblich sind.

Anmerkung der Redaktion

Hinsichtlich der Anwendung der Taktik in Länder, wo es schon bürgerliche Arbeiterparteien hat die LFI vor mehr als einem Jahrzehnt ihre Position geändert. Wir halten eine prinzipienfeste Anwendung dieser Taktik für möglich, wo wichtige Sektoren der Avantgarde mit ihren “traditionellen” reformistischen Parteien brechen und sich nach links bewegen. Dieser Kampf muss jedoch in jedem Fall auf Basis einer revolutionären Aktionsprogramm geführt werden.

Die Taktik der organisatorischen Angliederung

29. Die politische Bewegung, die die Revolutionäre mit Hilfe der Labor-Party-Taktik zu steuern versuchen, existiert nicht nur in Perioden vor der Schaffung einer solchen Partei. Sie kann sich fortsetzen oder entwickeln, wenn die verschiedenen Tendenzen und Programme in der Arbeiterklasse bei der Frage des Parteiaufbaus und des Parteiprogramms aufeinanderprallen. Trotzki erkannte das 1932, als er schrieb: „Die Möglichkeit zur Teilnahme an der Bewegung für eine Labor Party und deren Nutzung ist offensichtlich größer in ihrer Anfangsphase, d.h. dann, wenn die Partei noch keine Partei, sondern erst eine konturlose politische Massenbewegung ist. Fraglos müssen wir dabei dann mit größter Energie mitarbeiten; aber nicht beim Aufbau einer Labor Party, die uns ausschließen und bekämpfen wird, sondern wir müssen die fortschrittlichen Elemente der Bewegung durch unsere Aktivität und Propaganda mehr und mehr nach links zu treiben versuchen.“ (42)

In den frühen 20er Jahren konnte die junge Kommunistische Partei Großbritanniens (CPGB) diese Taktik gegenüber die britischen Labour Party (LP) anwenden. Die LP wurde nicht als zentralisierte Partei, sondern als Verbund von Teilorganisationen gebildet. Sie schloss sowohl die Gewerkschaften, als auch politische Tendenzen wie die Unabhängige Labour Partei (ILP), den Sozialdemokratischen Bund (diesen nur kurze Zeit) und die „Fabier“ mit ein. (43)  Das föderative Prinzip verhinderte wirksam eine demokratische Kontrolle der Führung durch die Massen der Parteimitglieder. Dieses Prinzip bewirkte auch eine ideologische Schwammigkeit, die den Reformisten eine optimale Fortsetzung ihrer praktischen Kollaboration mit der Bourgeoisie erlaubte. Aber das föderative Prinzip erlaubte 1916 auch die Angliederung der Britischen Sozialistischen Partei (BSP), der Nachfolgerin des Sozialdemokratischen Bundes, die die bedeutendste Gruppierung von Marxisten in Britannien war. Als die BSP sich 1920 an der Gründung der CPGB beteiligte, stellte sich darum die Frage ihrer weiteren Mitgliedschaft in der Labour Party.

Im Gegensatz zu denen, die stillschweigend ihre Mitgliedschaft in der LP erneuern wollten, so als hätte sich nichts geändert, und diejenigen, die sich demonstrativ von der LP abspalten wollten, war Lenin für den Versuch der CPGB, sich geschlossen an die LP anzugliedern.

Er schlug dies vor, damit die Kommunisten sich einen direkten Kontakt mit den vielen Arbeitern an der Basis verschaffen konnten, die in die LP als Folge des Beschlusses, Einzelmitgliedschaften zu erlauben, nach 1918 eingetreten waren. Die Angliederungstaktik war darum als Test für den Anspruch der LP gedacht, die Partei der gesamten Arbeiterklasse zu sein – zu einer Zeit, als die bürokratische Kontrolle über die Partei noch nicht direkt spürbar war und der wirkliche Charakter dieser Partei Millionen von Arbeitern noch nicht durch die Erfahrung mit ihr an der Regierung enthüllt worden war. Lenin betonte, dass die Anwendung dieser Taktik minimale Zugeständnisse von Seiten der Kommunisten erfordern würde: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterklasse bewahrt.” (44)  Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunisten eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“ (45)

Der Antrag auf Angliederung der CPGB vom August 1920 wurde von den reformistischen Führern der LP abgelehnt. Trotzdem kämpfte die CPGB auf der Basis ihrer Einzelmitglieder in der LP bzw. über die von den angeschlossenen Gewerkschaften in die LP-Organe entsandten KP-Mitglieder bis 1928 weiter für das Recht auf Angliederung.

30. Die Parteien der Komintern betrieben systematisch während ihrer revolutionären Periode in der Labour Party (auch nach der Ablehnung der Angliederung) und in anderen reformistischen Parteien wie selbstverständlich Fraktionsarbeit. Die KPD-Fraktion kämpfte 1920 in der deutschen USPD höchst erfolgreich für die Anerkennung der Komintern-Mitgliedschaftskriterien und für die Trennung von den reformistischen und zentristischen USPD-Führern. Eine solche Fraktionsarbeit ist aber nicht zum Zwecke einer strategischen Umwandlung der Parteien gedacht, in denen fraktionell gearbeitet wird. Die Arbeit der KPD wirkte sich vielmehr so aus, dass der linke Flügel der USPD (mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern) sich von dieser Partei abspaltete und mit der KPD vereinigte. Der fortwährende Kampf um die Angliederung an die britische LP war auch das Ergebnis der disziplinierten und aufeinander abgestimmten Aktivitäten der kommunistischen Einzelmitglieder in der LP. Lenin riet ihnen vollkommen klar: Durch revolutionäre Politik begäben sie sich in die Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Doch sollten sie nicht davor zurückschrecken, denn in einem solchen Streit um ihre Mitgliedschaft würden die Reformisten bei den gegen die Bourgeoisie kampfbereiten Kräften als die Spalter entlarvt: „Lasst die Herren Thomas und die anderen sozialen Verräter, die euch soziale Verräter nennen, euch ausschließen. Das wird eine ausgezeichnete Wirkung haben auf die britischen Arbeitermassen … Wenn die britische KP sich anschickt, in der Labour Party revolutionär zu handeln, und wenn die Herren Henderson und Co. dann gezwungen sind, unsere Partei auszuschließen, wird das ein großer Sieg für die Kommunisten und die Arbeiterbewegung in England sein.“ (46)

Das Entwicklungspotential einer solchen Situation zeigte sich klar anhand der Erfahrungen mit der britischen LP, auch nachdem die Angliederung abgelehnt worden war. Der Aufnahmeantrag wurde auf den Jahreskonferenzen stets neu gestellt und schuf für die Kommunisten ständig Gelegenheiten, LP-Mitglieder zumindest für das Recht auf ihre Anerkennung als Bestandteil der Labour-Bewegung zu gewinnen. 1923 erhielten sie beispielsweise 200.000 Stimmen, wenn auch insgesamt die Entschließung zur Angliederung von 3 Millionen niedergestimmt wurde. Die reformistischen Führer waren damit nicht zufrieden, und im Laufe der 20er Jahre gelang ihnen die schrittweise Eindämmung der Rechte der Kommunisten in der Partei. 1924 wurde den Kommunisten das Recht auf Kandidatur für die LP entzogen. Im folgenden Jahr wurde ihnen die Einzelmitgliedschaft in der Partei verboten, und 1926 wurden sie für unwählbar als Konferenzdelegierte erklärt, selbst wenn sie von Gewerkschaftsorganen entsandt worden waren.

Diese Maßnahmen riefen ernsthafte Opposition in der Partei hervor. Ober 100 Wahlkreisvereine der LP weigerten sich, den Beschluss von 1925 zu übernehmen. Die KP versuchte, ein taktisches Bündnis mit Linksreformisten und Zentristen aufzubauen, um Ausschlüsse und andere Maßnahmen zu durchkreuzen. Über 50 Ortsvereine der LP schlossen sich mit dieser „Nationalen Bewegung des linken Flügels“ (NLWM) zusammen. Obwohl der Versuch, ein solches Bündnis zu formen, an sich korrekt war, ähnelte die Politik der CPGB doch keineswegs dem prinzipienfesten Herangehen Lenins. Als Teil ihrer Rechtswende von 1925-1928 ließ die CPGB die Betonung der eigenen politischen Unabhängigkeit fallen und unterstützte die erklärte Absicht des NLWM, den Rahmen der LP nicht zu sprengen, sondern sie „orientiert an den Wünschen der Basis neu zu gestalten“. (47)

Die KP tat alles andere, als die Linken und Zentristen durch scharfe Kritik an solchen wirren Erklärungen zu einem echten Linksruck zu veranlassen. Stattdessen gab sie eine Wochenzeitung, den „Sunday Worker“ heraus, wo ihre Verbündeten ohne ein Wort der Kritik von seiten der Kommunisten ihrer zentristischen Politik freien Lauf lassen konnten. Das NLWM wurde zu einem Nichtangriffspakt, da die KP verzweifelt versuchte, das Bündnis trotz des Rückzugs und Verrats ihrer „linken“ Verbündeten aufrechtzuerhalten. Nach der Niederlage des Generalstreiks von 1926 krümmten die „Linken“ weder in der LP noch in den Gewerkschaften einen Finger, um der erneuten Offensive des rechten Flügels entgegenzuwirken. Die Freiheit der Propaganda, die Lenin als Mindestvoraussetzung genannt hatte, ohne die eine Angliederung nicht möglich war, bestand nicht mehr. Die korrekte Antwort der KP hätte die schärfste Kritik an den Spaltungsmanövern der Führer und der Kampf gegen die vermeintlichen „Linken“ bzw. um die vielen Arbeiter unter deren Einfluss sein müssen. Stattdessen ging die KP unter der Führung der stalinistischen Komintern, die zuvor den rechten Kurs befohlen hatte, nun heftig nach links. Die ultralinke Politik der stalinistischen „3. Periode“ verleitete die KP zur Denunzierung der Labour Party als „sozialfaschistisch“. Demgemäss gab sie sowohl das NLWM wie auch den „Sunday Worker“ auf.

Die für eine kommunistische Fraktionsarbeit in reformistischen Parteien verbindlichen Grundprinzipien wurden durch die Kritik der Linken Opposition gegenüber den stalinistischen Irrtümern abgegrenzt und von den Trotzkisten in den 30er Jahren bei ihrem Kampf um die Vertiefung ihrer Wurzeln in der Arbeiterklasse entfaltet. 1938 nahm die SWP im Zuge ihrer Diskussion über die Arbeit in der stalinistischen amerikanischen KP folgende Entschließung an: “Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium ziehen wir nicht prinzipiell Anhänger der IV. Internationale in der KP individuell aus dieser Partei heraus, sondern trachten vielmehr danach, a) sie (unter unserer Disziplin) in strategische Positionen mit dem Ziel hineinzubringen, Information und Einfluss zu erlangen; b) versuchen wir, eine nationale Fraktion mit der Perspektive einer landesweiten Spaltung zu einem günstigen Zeitpunkt zu organisieren. Wenn unsere Fraktion stark genug ist, werden wir ein regelmäßiges nationales Organ dieser Fraktion für die KP und ihre Jugendorganisation (Youth Communist League) als leninistisches Blatt in der kommunistischen Bewegung herausgeben.“ (48)

Der Zweck solcher Fraktionsarbeit ist die Befähigung von Kommunisten zum Kampf für ihr Programm, mitten in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse, die von Reformisten oder Zentristen dominiert sind. Das erfordert eine Einheitsfronttaktik, mit der man an der Seite jener Arbeiter zu kämpfen versucht, die zwar die reformistische oder zentristische Parteiführung anerkennen, aber unausweichlich vor der Notwendigkeit stehen, den Klassenkampf führen zu müssen. Durch Forderungen an solche Führer und den Versuch, die Basis unabhängig von der Führung zu mobilisieren, versuchen Kommunisten, die Massen von ihren Führern über die direkte Erfahrung mit der Sabotage und der Halbherzigkeit jener Führer loszubrechen. Entscheidend für den Erfolg dieser Taktik ist die Erhaltung der politischen Unabhängigkeit als kommunistische Fraktion. Falls sie ihre politische Unabhängigkeit einbüßt, würden die Arbeiter, selbst wenn sie von ihren Führern desillusioniert werden sollten, keine klare Alternative mehr vorfinden. Wie alle Anwendungsarten der Einheitsfront birgt diese Taktik Gefahren in sich, besonders für desorientierte oder unerfahrene Kader. Die Gefahr des Opportunismus entsteht aus der Versuchung, sich durch eine Verwässerung des kommunistischen Programms der Politik der „Wirtspartei“ anzupassen. Ist die Fraktion nicht bereit, sich an begrenzten Kämpfen für nichtrevolutionäre Teilziele zu beteiligen, und hält sie den Arbeitern, die noch nicht gewonnen sind, stattdessen ultimativ das revolutionäre Programm entgegen, so führt dies zur entgegengesetzten Gefahr des Sektierertums. In allen Fällen muss die Fraktion als untergeordnetes Element unter der Disziplin der revolutionären Partei fungieren, die als unabhängige Organisation außerhalb der reformistischen Partei existiert.

Die Taktik des Entrismus

31. Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der Bolschewiki-Leninisten (wie die Trotzkisten sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese Taktik nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Trotzkis Perspektive für die Taktik des Entrismus war: a) Eine ernsthafte Linkswendung der Massen, d.h. eine revolutionäre Gärung, die Spannungen zwischen Basis und Führung heraufbeschwören würde. Der eigentliche Hintergrund der „französischen Wende“ war der Sieg des Faschismus in Deutschland und die gesteigerte Wachsamkeit der französischen Arbeiter gegenüber dieser Gefahr. b) Der Zusammenschluss der sozialdemokratischen SFIO und der französischen KP (unter dem Druck der Massen) zu genau jener Einheitsfront, für die allein die Trotzkisten von 1930 bis 1933 gekämpft hatten. Wegen ihrer geringen Größe und der stalinistischen Verfolgung liefen sie nun Gefahr, davon ausgeschlossen zu werden. c) Eine sich anbahnende revolutionäre Situation zog Arbeiter in die SFIO und zwang deren Führer, der Partei eine gewisse zentristische Färbung zu geben. d) Die Abspaltung des rechten Flügels (der Neo-Sozialisten) und die Eröffnung eines Fraktionskampfes zwischen zentristischen und sogar linkszentristischen Strömungen, z.B. der Gruppe um die von Zyromski und Pivert herausgegebene Zeitung „Bataille Socialiste“ (Sozialistischer Kampf), und der Parteiführung unter Blum schuf ernste Spannungen in der SFIO. Trotzki schloss daraus:

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten  Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme, wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“ (49)

Trotzki war für den Eintritt auf dem vollen Programm der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) bzw. der IV. Internationale, für eine eigene Zeitung, die auf die Darstellung und Propagierung dieses Programms ausgerichtet war und für ein Aktionsprogramm, das die Hauptaufgaben der kommenden Periode benannte. Er forderte eine besondere Hinwendung zur Jugend. In der Kritik an der reformistischen Führung sollte es kein Pardon geben und keine Vermischung mit linksreformistischen oder zentristischen Elementen.

Die „Wende“ wurde im September 1934 eingeläutet. Die französischen Bolschewiki-Leninisten spalteten sich aber wegen der Entrismustaktik. Eine Gruppe um Pierre Naville denunzierte sie als Kapitulation. Sie spaltete sich von der französischen Sektion ab, trat aber kurz darauf selbst in die SFIO ein. Trotzki kritisierte scharf diese Abspaltung und sagte, Navilles Unnachgiebigkeit sei darauf zurückzuführen, dass er „Angst vor der Perspektive eines harten Kampfes gegen einen mächtigen Apparat“ hätte. Später bemerkte Trotzki, dass Naville trotz seiner scheinbaren Unnachgiebigkeit „das Banner der Organisation, das Programm im Stich gelassen hat. Er hat bereits gemeinsame Anträge mit dem linken Flügel gestellt, wirre opportunistische Anträge, voll vom Wortschwall des sogenannten Linkszentrismus.” (50)

Dieselben Schwächen verriet eine weitere Gruppierung in der französischen Sektion um Raymond Molinier, als die Frage eines endgültigen Kampfes gegen den Ausschluss aus der SFIO auftauchte. Die Trotzkisten waren mit etwa 100 Mitgliedern und einigen jugendlichen Sympathisanten in die SFIO eingetreten. Im Juni 1935 waren ihre Kräfte stark genug, um auf dem Mühlhausener Kongreß gegen Blum auftreten zu können. Ihre Mitgliederzahl wuchs an auf 300 im Sommer 1935. Am stärksten waren sie im Pariser Seine-Bezirk (Seine-Bund), wo ihre prinzipielle Entschließung auf dem Kongreß 1037 Stimmen erhielt, gegen 2370 für Bataille Socialiste und 1570 für Blum und den Parteivorstand. Sie formierten auch eine mächtige Tendenz in der sozialistischen Jugendorganisation, wo die Trotzkisten ebenfalls mitarbeiteten, und gewannen dort schließlich eine Jugendgruppierung unter Fred Zeller, die zuvor den Zentristen Pivert unterstützt hatte. Während dieser Zeit hielten die Trotzkisten ihre volle revolutionäre Kritik nicht nur an Blum und der Führung, sondern auch an Zyromski und Pivert aufrecht.

Von Trotzki mit einem Aktionsprogramm sowie mit Artikeln und Broschüren bewaffnet, die die volle revolutionäre Perspektive und das Programm enthielten, konzentrierten sie ihre Angriffe auf die opportunistische Einheitsfrontpraxis von KPF und SFIO. Sie prangerten deren leere Gesten an. Sie griffen die so praktizierte Einheitsfront als prinzipienlosen gegenseitigen Nichtangriffspakt an und traten für Aktionskomitees und Arbeitermilizen gegen die faschistische Gefahr ein.

Aber die folgenden Ereignisse begannen nun, die Dauer der „französischen Wende“ einzuschränken.

1.) Der Beginn der „Volksfront“-Politik. Die Volksfront wurde am 14. Juli 1935 gebildet und schloss die SFIO, die KPF und eine bürgerliche Partei (die Radikalen) mit ein – eine Linie, die dann auf dem 7. Komintern-Kongreß im Juli/August des Jahres unterstützt und verallgemeinert wurde.

2.) Der Stalin-Laval-Pakt bestätigte: „Stalin billigt die französische Verteidigungspolitik“, d.h. die Wiederaufrüstung. Was zu Anfang als ein französisch-sowjetischer Pakt gegen Hitler begonnen hatte, wurde erweitert zu einer Unterstützung der KPF für die nationale französische Verteidigung. Die Volksfront wurde somit zu einem Träger der sozialpatriotischen Vorbereitung des zweiten imperialistischen Weltkriegs.

3.) Der endgültige Absturz der KI in den Sozialpatriotismus verschärfte die Notwendigkeit der Gründung der IV. Internationale.

4.) Die Blum-Führung beantragte auf stalinistischen Druck hin den Ausschluss der Bolschewiki-Leninisten.

5.) In Brest und Toulon brachen Streiks und Aufruhr aus und zeigten klar das Herannahen proletarischer Massenkämpfe.

Die Trotzkisten hatten mit Pivert und seinen Anhängern in praktischen Fragen wie proletarische Selbstverteidigung und Verteidigung gegen die Parteiführung zusammengearbeitet. Aber sie hatten weder ihre Politik mit dem Linkszentrismus vermengt, noch hatten sie aufgehört, ihn zu kritisieren. Doch angesichts der Notwendigkeit, die Arbeit in der SFIO zu beenden und eine unabhängige Partei aufzubauen, zögerten die Botschewiki-Leninisten. Alle drei Tendenzen in der BL-Führung bekämpften die Ausschlüsse ihrer Mitglieder aus der SFIO unter Berufung auf die Statuten und bezichtigten Blum des „Spaltertums“. Begleitet wurde dies von einer Abschwächung, ja sogar einem Verschweigen der Kritik an den SFIO-Führern und an Pivert. Pivert entlarvte seinen eingefleischten Zentrismus, als er sich weigerte, ein Verlassen der SFIO in Betracht zu ziehen. Gerade als die Ausschlüsse begannen, spaltete er sich vor. Zyromski ab und baute die Tendenz  „Gauche Revolutionnaire“ (Revolutionäre Linke) auf. Dies war dazu gedacht, die Zahl der SFIO-Mitglieder, die zu den BL gingen, in Grenzen zu hatten.

Während dieser Periode zeigten die Bolschewiki-Leninisten, dass sie nicht wussten, wann und wie sie die SFIO verlassen sollten. Sie fingen an, politische Zugeständnisse zu machen, um in der Partei bleiben zu können. Pivert wurde nicht kritisiert, aus Furcht, seine (rein verbale) „Unterstützung“ gegen die Ausschlüsse zu verlieren. Trotzki hob im Dezember 1935 hervor: „Man muss nicht nur wissen, wie man eintritt, sondern auch wie man austritt. Wenn man weiter an einer Organisation festhält, die keine proletarischen Revolutionäre mehr in ihrer Mitte dulden kann, wird man unweigerlich zum elendigen Werkzeug des Reformismus, Patriotismus und Kapitalismus.“ (51)

Alte drei Tendenzen kamen nun überein, dass die Gruppe Bolschewiki-Leninisten (GBL) eine „Massenzeitung“ herausgeben sollte, deren Programm nicht mit dem vollen revolutionären Programm identisch sein sollte. Dies war vielleicht der erste Versuch von vermeintlichen Trotzkisten, eine zentristische Zeitung und Organisation aufzubauen. Aber sogar in diesem Punkt zögerte die Organisation. Der Molinier/ Frank-Tendenz war es vorbehalten die Logik dieser Kapitulation vor dem Sozialpatriotimus zu Ende zu führen. Sie boten Pivert die Herausgabe einer gemeinsamen „Massenzeitung“ an. Dieser weigerte sich. Davon nicht abgeschreckt, brachten sie eine solche Zeitung (La Commune) heraus. Deshalb wurden sie wegen Disziplinbruchs aus der GBL ausgeschlossen. Die Spaltung dauerte bis zum Juni 1936, lähmte die französischen Trotzkisten effektiv und schränkte ihre Interventionsfähigkeit im großen Generalstreik des Sommers 1936 stark ein.

Trotzki fasste die mit der „französischen Wende“ zusammenhängenden Prinzipien der entristischen Arbeit dem Artikel „Lehren des SFIO-Entrismus“ folgendermaßen zusammen:

“1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) … fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“ (52)

32. In den Jahren 1933-1938 gab es auch andere Entrismus-Taktiken, wie z.B. den Eintritt der britischen Trotzkisten in die zentristische ‚Independent Labour Party'(ILP) von 1933 bis 1936 und später in die Labour Party, ferner den Entrismus der amerikanischen Trotzkisten in die Amerikanische Sozialistische Partei (1936-1937) und den Entrismus der belgischen Genossen in die Belgische Arbeiterpartei (POB). In jedem dieser Fälle blieben, soweit Trotzki selbst die Dinge beeinflussen konnte, die taktischen Prinzipien dieselben. Trotzkis Verständnis der entristischen Taktik, wie es beispielhaft in seinen Aussagen zur „französischen Wende“ erscheint, war fest auf die Hinwendung zu einem bedeutenden Teil der Vorhutelemente der Arbeiterklasse gegründet, auf deren Gewinnung für den Kommunismus und die IV. Internationale. Er sah die Entrismustaktik nicht als einen „Umwandlungsprozess“ der sozialdemokratischen Parteien in revolutionäre oder quasi revolutionäre Parteien an. Diese evolutionistische Verzerrung der Entrismustaktik, die heute vielfach anzutreffen ist, geht zurück auf die Verfallsperiode der IV. Internationale in den späten 40er Jahren.

Die so verfälschte Taktik schafft keine revolutionäre kommunistische Tendenz oder Fraktion in der Sozialdemokratie, um damit nach links gehende Reformisten oder subjektiv revolutionäre Elemente zu gewinnen. Stattdessen geht sie an die Bildung einer zentristischen Strömung mit der „Perspektive“, dass diese sich unter dem Druck objektiver Umstände automatisch in eine revolutionäre Richtung entwickeln werde. Nirgendwo in Trotzkis Schriften wird man den Ratschlag finden, Propagandablöcke mit den Zentristen, geschweige denn mit den „linken“ Reformisten zu bilden. Ganz im Gegenteil. Trotzkis politische Unbeugsamkeit während der Entrismustaktik  gegenüber Pivert – einer Figur, die hundertmal weiter links stand als heute ein Bevan oder Benn – ist ein Maßstab für die Degeneration der Nachkriegsepigonen  der IV. Internationale: Pablo, Mandel, Healy und Grant.

Die Perspektive der Entrismustaktik muss die Entfaltung des vollen revolutionären Programms in der reformistischen Partei sein. Um dieses Banner müssen die besten Elemente in der Partei gesammelt werden. Um dies erreichen zu können, muss eine reale Aussicht bestehen, dass die fortgeschrittenen Arbeiter in der reformistischen Partei den Revolutionären aufgeschlossen begegnen  werden. Auf der Grundlage der Arbeiterdemokratie müssen die fortgeschrittensten Elemente bereit sein, eine revolutionäre Minderheit zu dulden, sie anzuhören und gegen die Parteibürokratie zu verteidigen. Die Kommunisten müssen diese Arbeiter mit einem revolutionären Aktionsprogramm und spezifischen Einheitsfront-Forderungen ansprechen. Über Aktionseinheiten zu direkten Fragen und möglicherweise durch Übergangslosungen kann der kommunistischen Taktik und Propaganda Gehör verschafft werden. Auf diese Art kann sich eine revolutionäre Tendenz herauskristallisieren – Arbeiter können vom Linksreformismus und Zentrismus weggebrochen und für den Kommunismus gewonnen werden.

Angesichts der unvermeidbaren Angriffe der Parteibürokratie und der zu erwartenden Kapitulation der falschen „linken“ Führer werden revolutionäre Kommunisten ihr Programm kompromisslos verteidigen und dabei auch den Parteiausschluss nicht fürchten. Kommunisten sind zur Mitgliedschaft in reformistischen Parteien nicht strategisch verpflichtet. Da ihre taktische Absicht die Gewinnung von reformistisch beeinflussten Arbeitern für den Kommunismus ist, werden sie niemals um jeden Preis in der Partei verbleiben wollen – d.h. sie werden keinerlei programmatische Zugeständnisse als Gegenleistung für die Parteimitgliedschaft machen. Wenn die aus der sozialdemokratischen Basis gewonnenen Arbeiter wirklich durchdrungen sind von kommunistischen Ideen, dann können und werden sie bereit sein, den Ausschluss und eine unabhängige Existenz als revolutionäre Organisation ins Auge zu fassen. Man darf ihnen keine krankhafte Angst vor Ausschluss, „Sektierertum“ oder Isolation einimpfen. Eine kommunistische Organisation, die nicht isoliert stehen, nicht gegen den Strom schwimmen und dabei nicht den Weg zurück zu den Massen finden kann, ist keine kommunistische Organisation.

33. Die heute gängige Entrismus-Praxis der „Trotzkisten“ hat sich spätestens seit 1951 von Trotzkis Methode weit entfernt. Der „Theoretiker“ dieses Bruchs mit Trotzkis taktischer Methode war Michel Pablo, Sekretär der IV. Internationale. Pablos Bericht für die 10. Vollversammlung des internationalen Exekutivausschusses der IV. Internationale enthielt den Entrismus „besonderer Art“ (sui generis). Schon der Name verrät den Bruch mit Trotzkis Methode, und Pablo verbarg dies auch gar nicht. Zu Healys Praxis in England merkte er an: „Sie hat sich seither erheblich, man kann beinahe sagen, qualitativ von dem Entrismus unserer Bewegung in den Jahren 1934-1938 wegentwickelt.“ (53)

Pablo sah einen „langfristigen Entrismus“ in allen Ländern vor, deren Arbeiterbewegung von „Reformismus oder Stalinismus“ beherrscht war. Pablo rechtfertigte seine Taktik anfangs mit einer Perspektive von unmittelbar bevorstehenden Kriegen und Revolutionen. Ein objektiver Prozess der Weltrevolution ließe nicht Zeit genug, die reformistischen Parteien zu zerschlagen und sie durch revolutionäre zu ersetzen. Für Trotzki „war es nicht die entscheidende Frage, ob man die Aufgaben des Krieges und der Revolution innerhalb oder außerhalb dieser Parteien anpacken sollte.“ (54) Pablo erkannte den Unterschied zwischen seiner und Trotzkis Konzeption und betonte ihn deutlich: „Wir praktizieren Entrismus, um dort für lange Zeit zu bleiben, und wir verlassen uns auf die Wahrscheinlichkeit, dass diese Parteien unter neuen Bedingungen zentristische Tendenzen hervorbringen werden, was eine ganze Etappe der Massenradikalisierung und des objektiv-revolutionären Prozesses in den jeweiligen Ländern ausmachen wird. Wir wollen den linkszentristischen Reifungsprozeß aus dem Innern dieser Tendenzen heraus vertiefen und beschleunigen und sogar mit den zentristischen Führern um die alleinige Führung dieser Tendenzen ringen.“ (55) Pablo beharrte darauf, dass die Aufgabe der IV. Internationale darin bestünde, „bei der Entwicklung dieser zentristischen Tendenzen zu helfen und ihnen eine Führung zu geben.“ (56)  Die Taktik sollte „jedes Manöver und jede Politik vermeiden, die die Gefahr mit sich bringen, dass wir von den großen Massen in diesen Parteien abgeschnitten werden.“ (57)  Die damit implizierte Selbstaufgabe der trotzkistischen Politik wurde unzweideutig im Bericht der Österreichischen Kommission bestätigt. Österreich war neben Britannien einer der beiden „Sonderfälle“ in der Periode 1944-1947 gewesen, wo der neue Entrismus versuchsweise eingeführt worden war. In Britannien geschah dies unter Pablos direkter Aufsicht und um den Preis der totalen Liquidierung der Revolutionary Communist Party (RCP). In Österreich „werden die Aktivitäten unserer Mitglieder von folgenden Leitlinien geprägt sein: a) wir werden nicht als Trotzkisten mit unserem vollen Programm auftreten; b) wir werden keine programmatischen und prinzipiellen Fragen in den Vordergrund stellen.“ (58)

Anstelle des „alten Trotzkismus“ wurde eine Mischung aus konkreten Reformforderungen und einigen wenigen Übergangslosungen zusammengebraut – und alle bezogen sich auf eine Politik, die für die reformistischen Parteien an der Regierung gedacht war. Als Zusammenfassung dieser entristischen Politik gelangte Pablo zu der Formel: „Die sozialistische Partei an die Macht, um sozialistische Politik anzuwenden!“  Für Britannien lautete die Losung: „Labour an die Macht mit sozialistischer Politik / auf einem sozialistischen Programm!“

Pablos Position, die heute von der Mehrheit der degenerierten Bruchstücke der IV. Internationale praktiziert wird, ist durch und durch liquidatorisch. Damit: meinen wir nicht einfach und ausschließlich die organisatorische Auflösung trotzkistischer Gruppen. Diese Definition des „pabloistischen Liquidatorentums“, die ursprünglich von Pablos Gegnern im Internationalen Komitee (Cannon, Healy, Lambert) stammt, ist grob und irreführend. Der entscheidende Aspekt an Pablos Politik war die politisch-programmatische Liquidierung, die in seiner Fassung des Entrismus begründet lag. Dies geschah trotz der Aufrechterhaltung einer organisatorisch unabhängigen IV. Internationale während der 50er Jahre. Wir lehnen den „Entrismus sui generis“ als Taktik vöIlig ab und betrachten ihn als einen prinzipiellen Bruch mit dem revolutionären Kommunismus.

Die kritische Wahlunterstützung für reformistische Parteien

34. Ein wesentlicher Zweck der Einheitsfronttaktik ist die Loslösung der reformistisch beeinflussten Arbeitermassen von ihren Führern und ihre Vereinigung mit den Kommunisten. Der zentrale politische Anspruch der reformistischen Führer ist die Ausnutzung der bürgerlichen Staatsmacht für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Deshalb müssen Kommunisten Wege finden, um die Reformisten auf Regierungsebene testen zu können. Auf elementarste Weise ist das die kritische Wahlunterstützung für Kandidaten der bürgerlichen Arbeiterparteien. Lenin hat Zweck und Form dieser Taktik in seinen Ratschlägen an die britischen Kommunisten 1920 erklärt: „Wenn wir nicht eine revolutionäre Gruppe, sondern die Partei der revolutionären KLASSE sind, wenn wir die MASSEN mitreißen wollen (und tun wir das nicht, so laufen wir Gefahr, einfach Schwätzer zu bleiben), so müssen wir erstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George und Churchill zu schlagen (richtiger gesagt sogar, jene zwingen, diese zu schlagen, denn die ersteren FÜRCHTEN IHREN EIGENEN SIEG!); zweitens der Mehrheit der Arbeiterklasse helfen, sich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen, dass wir recht haben, d.h. sich von der völligen Untauglichkeit der Henderson und Snowden, von ihrer kleinbürgerlichen und verräterischen Natur, von der Unvermeidlichkeit ihres Bankrotts zu überzeugen; drittens den Zeitpunkt näher rücken, zu dem es möglich sein wird, AUF GRUND der Enttäuschung der Mehrheit der Arbeiter über die Henderson mit ernsten Aussichten auf Erfolg die Regierung der Henderson mit einern Schlage zu stürzen …“ (59)

Obwohl Lenin hier nur zu kommunistischen Gruppierungen von einigen  hundert Mitgliedern sprach, die sich noch nicht zu einer gemeinsamen Partei vereinigt hatten, war er kompromisslos in der Form der anzuwendenden Taktik: „Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, FÜR DEN LABOURISTEN UND GEGEN DEN BOURGEOIS ZU STIMMEN. Genossin Sylvia Pankhurst und Genosse Gallacher irren, wenn sie darin einen Verrat am Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialverräter sehen. Im Gegenteil, dadurch würde die Sache der kommunistischen Revolution ohne Zweifel gewinnen.“ (60)

Gerade die Schwäche der kommunistischen Kräfte und ihre geringe Verankerung in der Arbeiterklasse erforderte die Anwendung dieser Taktik: „Den englische Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich dazu auffordere, für Henders und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiß anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (die durch das Aushängeschild der bürgerlichen ‚Demokratie‘ veredelt wird), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabe ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass in dem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunktes bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie dies bei ihren Gesinnungsgenossen in Rußland und Deutschland der Fall war.“ (61)

Wie bei allen Spielarten der Einheitsfront bedeutet dies in der Aktionseinheit mit reformistischen Arbeitern angelegte Kompromiss – in diesem Falle die Stimmabgabe für „ihren“ Kandidaten – nicht im mindesten ein Abstrich vom politischen Programm der Kommunisten. Deswegen gibt es keinen Widerspruch zwischen kommunistischer Eigenkandidatur in einigen Wahlkreisen und der Stimmabgabe für Reformisten in anderen. Beide Male dient die ganze Wahl als Träger für die Darstellung des kommunistischen Programms.

Wo Kommunisten kritische Unterstützung gewähren, richten sie konkrete und klar definierte Übergangsforderungen an die Reformisten: Forderungen, die eine Antwort geben auf die dringendsten Bedürfnisse der Massen. Diese Forderungen sind zur Mobilisierung der Arbeiter gedacht, um die reformistische Partei an die Regierung zu zwingen und um den Kampf der Arbeit auch unabhängig führen und organisieren zu können. Revolutionäre müssen die Arbeitermassen darauf vorbereiten, dass die reformistischen Führer sich weigern werden, den Kampf um die Arbeiterinteressen zu führen.  Deshalb muss von Beginn an danach gestrebt werden den proletarischen Kampf der Arbeiterklasse unabhängig zu organisieren. Beide Elemente der kritischen Unterstützung -Forderungen an die Reformisten und Organisierung  des unabhängigen Kampfes zur Verwirklichung diese Forderungen – sind entscheidend, weil, die Regierung einer bürgerlichen Arbeiterpartei (d.h. eine bürgerliche Arbeiterregierung) unweigerlich ein Werkzeug des Kapitals gegen die Arbeiterklasse sein wird. Die Organisierung des unabhängigen Kampfes ist lebenswichtig, um Niederlage und Demoralisierung bei den Massen zu verhindern, wenn sich der reformistische Verrat in der Praxis herausstellt. Gleichzeitig werden die Kommunisten ihr eigenes Programm vorbringen und es den reformistischen Losungen entgegenstellen, auch dort, wo kein Kommunist kandidiert. Um die Arbeiter für eine revolutionäre Alternative zu gewinnen, muss man offen ansprechen (auch für die Dauer der Einheitsfront), wie diese Alternative aussieht.

35. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung beruht allein auf der Existenz der organischen Verbindung von bürgerlicher Arbeiterpartei und Arbeiterklasse. Sie hängt keineswegs vom Programm oder von den Versprechungen der Reformisten ab. Kommunistische Agitation und Propaganda für die Wahlunterstützung dürfen keiner Interpretation im Sinne einer Unterstützung für Reformisten als strategisches „kleineres Übel“ im Vergleich zu den offen bürgerlichen Parteien Raum geben. Unter bestimmen Umständen (z.B. der Gefahr eines Wahlsieges für offenbürgerliche Parteien, die wesentliche Angriffe auf die Arbeiterbewegung beabsichtigen) kann ein sozialdemokratischer Wahlsieg der Arbeiterklasse einen begrenzten zeitlichen Spielraum verschaffen. Das ist jedoch nur insoweit ein „kleineres Übel“ (oder genauer gesagt, eine weniger unmittelbare Bedrohung), wie das Proletariat diese Atempause dazu ausnutzen kann, sein reales Kampfpotential zu entwickeln. In anderen Situationen wiederum kann eine sozialdemokratische Regierung, wegen ihres Einflusses auf die Gewerkschaften und unter den Massen, die Arbeiterklasse wirksamer angreifen, als eine offen bürgerliche Partei dazu in der Lage wäre. Deshalb basiert unsere kritische Unterstützung nicht auf vorübergehenden taktischen Vor- oder Nachteilen, auch wenn diese an sich wichtig sein mögen. Mit der kritischen Wahlunterstützung wollen wir vielmehr die Arbeiter befähigen, aus den antiproletarischen Aktionen ihrer reformistischen Führer die politischen Lehren zu ziehen. Der Zweck, Reformisten an die Regierung zu bringen, ist genau der sie einem Test zu unterziehen und zu beweisen, dass sie (genau wie die offen bürgerlichen Parteien) Klassenherrschaft und die Staatsmacht der Bourgeoisie erhalten und verteidigen wollen und dass sie deswegen die Arbeiterklasse angreifen.

Kommunisten teilen auch ihre kritische Unterstützung für die bürgerliche Arbeiterpartei nicht auf, indem sie nur den „linken“ Kandidaten, nicht aber den „rechten“ ihre Stimme geben. Bei der Diskussion über die Frage der kritischen Unterstützung für die Labour Party in Britannien durch die ILP im November 1935 bestand Trotzki darauf, dass eine solche Unterstützung nichts mit der Frage von Sanktionen gegen Italien nach dessen Invasion in Abessinien zu tun habe:

„FRAGE: Handelte die ILP korrekt, als sie denjenigen Kandidaten der Labour Party, die für die Sanktionen waren, die Unterstützung versagte?

ANTWORT: Nein. Wirkliche Wirtschaftssanktionen führen zu militärischen Konsequenzen, zum Krieg. Die ILP selbst hat das gesagt. Sie hätte alle LP-Kandidaten unterstützen sollen, d.h. überall, wo die ILP nicht selbst kandidierte. Im ‚New Leader‘ (Neuer Führer) las ich, dass eure Londoner Gruppe übereinkam, nur solche LP-Kandidaten zu unterstützen, die GEGEN die Sanktionen waren. Auch das ist nicht korrekt. Die LP hätte nicht kritisch unterstützt werden sollen, weil sie für oder gegen Sanktionen war, sondern weil sie die Arbeitermassen repräsentiert. ( … ) Die Kriegsgefahr ändert nichts daran, dass die LP eine Arbeiterpartei ist, im Unterschied zur Regierungspartei. Sie ändert auch nichts daran, dass die LP-Führung ihre Versprechen nicht halten kann und das Vertrauen der Massen missbrauchen wird. In Friedenszeiten werden die Arbeiter Hungers sterben, wenn sie sich auf die Sozialdemokratie verlassen; im Krieg werden sie aus demselben Grunde an Kugeln sterben. Revolutionäre unterstützen den Reformismus niemals mit der Begründung, er könne an der Regierung die grundlegenden Forderungen der Arbeiter erfüllen. ( … ) Nein, im Krieg wie im Frieden muss die ILP den Arbeitern sagen: ‚Die LP wird euch täuschen und verraten, aber ihr glaubt uns nicht. Gut, wir werden mit euch gemeinsam diese Erfahrung durchmachen, aber wir werden uns auf keinen Fall mit dem LP-Programm identifizieren.“ (62)

DieBeziehung zwischen bürgerlichen Arbeiterparteien und der Arbeiterklasse kann sehr stabil sein, in einigen Ländern über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Die Erfahrung einer oder zweier Amtsperioden, besonders in Zeiten relativer kapitalistischer Expansion, mag nicht genügen, um diese Beziehung aufzubrechen und die Masse der Arbeiter für den Kommunismus zu gewinnen. Dies ändert jedoch nichts an unserer Taktik. Niemals kann die Regierungsübernahme der Reformisten ein strategisches oder notwendiges programmatisches Ziel der Arbeiterklasse sein. Die Taktik sollte im allgemeinen solange weiter angewendet werden, wie die Massen nicht mit ihren reformistischen Führern gebrochen haben – sogar dort, wo Revolutionäre glauben könnten, dass die Arbeiter schon genügend Erfahrungen gesammelt hätten, um sich von ihrer Führung abzuwenden. Dies ist ein Punkt, den wiederum Trotzki betont: „Es wird die Meinung vertreten, die Labour Party habe sich bereits durch vergangene Untaten an der Regierung und durch ihre momentane reaktionäre Plattform genügend entlarvt, z.B. durch ihre Entscheidung in Brighton. Für uns – ja! Aber nicht für die Massen, die acht Millionen, die Labour gewählt haben!“ (63)

Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung ist meistens nur auf bürgerliche Arbeiterparteien mit Massenbasis anwendbar, kann aber unter gewissen Umständen auch gegenüber kleineren reformistischen oder zentristischen Formationen praktiziert werden. Entscheidend ist wiederum die Beziehung solcher Strömungen zur Arbeiterklasse bzw. zu Teilen der Arbeiterklasse. Wo kleine reformistische oder zentristische Gruppen eine wirkliche Linkswendung von Arbeitern oder unterdrückten Gesellschaftsschichten repräsentieren, kann es möglich sein, dass Illusionen in deren unvollständige oder falsche Programme am besten durch die Anwendung der kritischen Unterstützung zerstreut werden können. Eine solche Taktik muss allerdings sehr sorgfältig in ihrem Zusammenhang erwogen werden. Kommunisten müssen jede Tendenz in solchen Formationen bekämpfen, die sich von der Arbeiterklasse abwenden will, weil diese noch die größere reformistische Partei unterstützt.

Im allgemeinen bezieht sich die kommunistische Taktik der kritischen Unterstützung auf die anderen (bürgerlichen) Arbeiterparteien. Es gibt jedoch Ausnahmen – revolutionären Nationalisten, die einen antiimperialistischen Kampf führen, kann unter gewissen Umständen Unterstützung gewährt werden. Trotz der nicht-proletarischen Klassenbasis solcher Parteien gelten (in den Sonderfällen, wo kritische Unterstützung gegeben wird) dieselben Leitlinien auch für diese Variante der Einheitsfront. Keinesfalls unterstützen wir kleinbürgerliche revolutionäre Nationalisten politisch oder unterschreiben gar deren Programm.

Wo reformistische oder zentristische Strömungen ohne nennenswerten Rückhalt in der Arbeiterklasse zur Wahl stehen, muss ihnen frontal entgegengetreten werden. Eine Unterstützung für solche Kandidaten könnte nur als Unterstützung ihrer Politik aufgefaßt werden, was für Kommunisten natürlich niemals in Frage kommt. Das gilt umso mehr für kleinbürgerliche Strömungen, wie z.B. umweltpolitische oder pazifistische Gruppierungen.

Die Arbeiterregierung

36. Der 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale stellte fest: in Ländern, wo das Kräfteverhältnis zwischen reformistischen und offen bürgerlichen Parteien die Frage aufwirft, wer die Regierung bilden soll, folgt die Losung einer Arbeiterregierung „unweigerlich aus der gesamten Einheitsfronttaktik.” (64)  Selbst dort, wo dies nicht zutraf, konnte diese Losung „praktisch überall als allgemeine Propagandalosung“ angewendet werden. Die Argumentation dabei muss lauten: die Regierung sollte von den Arbeiterorganisationen kontrolliert werden, sollte in deren Interesse gegen das Kapital handeln und die Arbeiterorganisationen bewaffnen. Dies sind elementare Bestandteile kommunistischer Propaganda.

Der 4. Kongreß vollendete nicht das notwendige Werk der vollständigen Ausarbeitung dieser Losung als Taktik, und danach wurde die wissenschaftliche Diskussion über diese Frage auf dem 5. Kongreß zunächst verunmöglicht und später ganz und gar gestoppt, als die stalinistische KI den Begriff der Arbeiterregierung zugunsten einer offenen Koalition mit der Bourgeoisie, der Volksfront, fallenließ. In den Diskussionen und Thesen des 4. Kongresses finden sich aber die wichtigsten Wesensmerkmale dessen, was für Kommunisten eine wirkliche „Arbeiterregierung“ ausmacht:

„Die vorrangigen Aufgaben einer Arbeiterregierung müssen die Bewaffnung des Proletariats, die Entwaffnung der bürgerlichen und konterrevolutionären Organisationen, die Einführung der Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Umverteilung der überwiegenden Steuerlast auf die Reichen und die gewaltsame Zerschlagung des Widerstandes der konterrevolutionären Bourgeoisie sein.

Eine solche Arbeiterregierung ist nur möglich, wenn sie sich aus dem Kampf der Massen heraus erhebt und von kampffähigen Arbeiterorganen gestützt wird, die von den am meisten unterdrückten Schichten der Arbeitermassen geschaffen worden sind.“ (65)

Diese Beschreibung einer von Kommunisten erstrebten Regierung hat die Funktion eines Einheitsfrontappells an nicht-revolutionäre Arbeiterparteien. Für Kommunisten wird eine solche Regierung der Bourgeoisie den Krieg erklären: „Die Bildung einer wirklichen Arbeiterregierung, d.h. die fortwährende Existenz einer Regierung, die revolutionäre Politik betreibt, muss offenkundig zu heftigen Kämpfen und schließlich zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie führen.“ (66)

Wenn dies aber der kommunistische Inhalt der Losung “Für eine Arbeiterregierung!“ ist, können und werden wahrscheinlich die Reformisten und reformistisch geführten Arbeiter dieser Losung, die als Einheitsfrontangebot gedacht ist, klarerweise einen anderen, nichtrevolutionären Inhalt geben. Der 4. Kongreß der KI befand es darum für notwendig, fünf Regierungstypen zu unterscheiden, denen eine solche Bezeichnung gegeben werden könnte.

Die erste Möglichkeit ist die „liberale Arbeiterregierung.” Damit war die Regierung einer Labour Partei gemeint, die nicht einmal behauptet, sozialistisch zu sein. Dies traf für Australien zu und war für Britannien zumindest wahrscheinlich. Als „sozialdemokratische Arbeiterregierung“ bezeichnete die KI eine Regierung der Sozialdemokratie, wie etwa in Deutschland. Diese beiden Typen waren Regierungen von bürgerlichen Arbeiterparteien und in Wirklichkeit verbrämte Koalitionen mit der Bourgeoisie. Solche Regierungen wurden von der Bourgeoisie geduldet, um revolutionäre Offensiven abzuwehren. Kommunisten können solchen Regierungen keine politische Unterstützung geben. Die Komintern erkannte dies, sah aber auch, dass „sogar solche Regierungen objektiv zur Beschleunigung des Desintegrationsprozesses der bürgerlichen Macht beitragen können.“ (67)  Als Repräsentanten der Arbeiter an die Regierungsmacht gekommen, hätten solche Parteien gezwungen sein können, weiter zu gehen als beabsichtigt und dabei die Erwartungen und Forderungen ihres proletarischen Anhangs zu fördern. Dadurch könnte die Desillusionierung der Massen in reformistische Parteien beschleunigt werden, da eine solche Regierung zwangsläufig mit der Bourgeoisie paktieren würde, wo immer dies nötig ist.

Die dritte Möglichkeit ist eine Regierung von Arbeitern und armen Bauern (damals auf dem Balkan, in Polen und der Tschechoslowakei möglich), und die vierte eine Arbeiterregierung, an der Kommunisten beteiligt sein könnten (z.B. die Regierungsform der Einheitsfront). Beide Regierungsformen könnten von Kommunisten unterstützt werden: „Kommunisten sind bereit, mit jenen Arbeitern gemeinsame Sache zu machen, die noch nicht die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur erkannt haben – mit Sozialdemokraten, Mitgliedern christlicher Parteien, parteilosen Syndikalisten usw. Wir sind also bereit, unter gewissen Umständen und mit bestimmten Garantien, eine nicht-kommunistische Arbeiterregierung zu unterstützen. Die beiden Typen 3 und 4, an denen Kommunisten sich beteiligen können, stellen nicht die Diktatur des Proletariats dar, sie sind nicht einmal eine historisch unvermeidbare Übergangsstufe dazu. Aber wo sich so etwas formiert, kann dies zum wichtigen Ausgangspunkt für den Kampf um die Macht werden.“ (68)

Die fünfte mögliche Form der Arbeiterregierung ist jene, in der die Kommunisten selbst die Regierung bilden. Das ist die einzig “reine” Form der Arbeiterregierung und wurde von der Komintern mit der Diktatur des Proletariats gleichgesetzt.

Die von der Komintern formulierte Typologie der Arbeiterregierungen ist heute freilich etwas anachronistisch. Die alten „liberalen Labour Parteien“ und die sozialdemokratischen Parteien sind einander näher gerückt und haben dadurch die beiden Typen der bürgerlichen Arbeiterregierung miteinander verschmolzen. Außerdem hat die bürokratische Degeneration der Sowjetunion und ihre konterrevolutionäre Politik seit dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit einer weiteren Form der Arbeiterregierung geschaffen: die „bürokratische Arbeiterregierung“, d.h. eine Regierung, die unter außergewöhnlichen Umständen, nachdem sie die Arbeitervorhut politisch zerschlagen hat, die Bourgeoisie auf bürokratische Weise enteignet und die grundlegenden ökonomischen Strukturen der proletarischen Diktatur einführt – Planwirtschaft und Staatsmonopol des Außenhandels. Obwohl dies eine (wenn auch entartete) Form der Diktatur des Proletariats ist, kann sie der revolutionären Sache nicht dienen und kann deswegen von Kommunisten nicht propagiert oder gefordert werden. Die spezifischen Maßnahmen einer solchen Regierung gegen das Kapital können jedoch verteidigt werden.

37. Die auf dem 4. Kongreß der KI angenommenen Thesen zur Arbeiterregierung tragen die Zeichen des sich schon 1922 entwickelnden und die spätere Degeneration der Komintern begleitenden Konflikts. Sinowjew wollte z.B. die Arbeiterregierung direkt und ausschließlich mit der Diktatur des Proletariats gleichsetzen. Eine solche Auslegung, die „Arbeiterregierung“ einfach zu einem anderen Wort für „Diktatur des Proletariats“ macht, beraubt die Losung ihrer Anwendungsmöglichkeiten in der Einheitsfrontpolitik. Sinowjews Gebrauch der Losung konnte sich beispielsweise nur ultimativ gegen eine sozialdemokratische Regierung richten. Ein solcher Ultimatismus kann sich aber leicht in sein opportunistisches Gegenteil verkehren. Stalin und Bucharin setzten die „Arbeiter- und Bauernregierung“ mit dem überholten und deshalb reaktionären Konzept der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ gleich. Indem sie den entscheidenden Punkt, dass eine solche Regierung ihrem politischen Inhalt nach eine bürgerliche sein würde, verwischten, stellten Stalin und Bucharin die Bildung einer solchen Regierung in China als programmatische Notwendigkeit hin. In Wahrheit aber wäre sie, wie Trotzki erklärte „ein Haupthindernis auf dem Weg zur sozialistischen Revolution“ (69) und somit eine Verfälschung der Taktik der Arbeiterregierung.

Die Gefahr bei solchen unpräzisen Formulierungen wie in den betreffenden Komintern-Thesen steckte am offensichtlichsten in den Typisierungen 3 und 4 der Arbeiterregierung. An solchen Regierungen können Kommunisten beteiligt sein oder auch nicht. Die Bedingungen, unter denen Kommunisten in solche Regierungen eintreten konnten, waren durch die Komintern streng festgelegt: nur nach Zustimmung der Komintern, nur wenn die kommunistischen Regierungsmitglieder unter strengster Parteikontrolle und in engstem Kontakt mit den revolutionären Arbeiterorganisationen standen und schließlich nur, wenn den Kommunisten völlige Unabhängigkeit und das Recht auf offene Kritik eingeräumt worden war. Nicht spezifiziert war dagegen die Haltung in dem Fall, wo diese Bedingungen nicht gegeben waren oder wo aus anderen Gründen Kommunisten nicht diesen Arbeiterregierungen angehörten. Innerhalb eines Jahres nach dem 4. Kongress sollten Meinungsverschiedenheiten über die Haltung zu den von SPD und USPD dominierten Landesregierungen in Deutschland und über die Bedingungen, unter denen Kommunisten diesen Regierungen beitreten könnten, verheerende Folgen für die KPD haben.

38. Die korrekte Anwendung der Taktik der Arbeiterregierung ist aus der Praxis der Bolschewiki in Rußland in den Monaten zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution zu ersehen. Als die Bolschewiki forderten „Alle Macht den Sowjets!“, forderten sie in der Konsequenz eine auf die proletarische Kampforganisationen gestützte Regierung, d.h. mit einem späteren Begriff: eine Arbeiterregierung. Ausgehend von diesem allgemeinen Aufruf (Alle Macht den Sowjets!) konnten die Bolschewiki in der damaligen Situation die Zusammensetzung der Arbeiterregierung, die sie forderten, auch schon genauer konkretisieren. Lenin schrieb im September 1917: „Ein Kompromiss ist unsererseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir bis zum Juli stellten: Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.” (70) Ihre politischen Aufgaben werden dabei äußerst klar benannt: sofortiger Friedensschluß, Arbeiterkontrolle über die Produktion, Vergesellschaftung aller Banken, Verteilung des Landes an die Bauern und der Einsatz der bewaffneten Staatsmacht (d.h. der Sowjetmiliz) zur Niederschlagung des bürgerlichen Widerstandes gegen diese Maßnahmen.

Mit der Gewinnung der Arbeiter für die Erkenntnis, dass dies die notwendigen Mindestforderungen waren, steigerten die Bolschewiki den Druck auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, dieses Programm zu übernehmen. Kombiniert mit der Forderung „Brecht mit der Bourgeoisie!“ und angesichts der Weigerung der Menschewiki, sich auf die Sowjets zu stützen und ein solches Programm durchzuführen, zerstörte dieser Druck die menschewistische Mehrheit in den Sowjets. Als die Macht schließlich den Sowjets zufiel, bestand die folgende Sowjetregierung aus jenen politischen Parteien, die bereit waren, sich auf die Rätemacht zu stützen und die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen – aus den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären.

Die Bolschewiki haben die Rolle der Sowjets bei der Machteroberung nicht fetischisiert. Nach den Julitagen, als die Bolschewiki von den Sowjets isoliert waren, ließen sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ fallen.

Stattdessen sah Lenin zunehmend in den Fabrikräten eine mögliche Organisationsform als Machtbasis für die Arbeiterregierung. Die Sowjets rückten erst wieder in den Mittelpunkt der bolschewistischen Propaganda, als sie nach dem Kornilow-Putsch redemokratisiert wurden.

Während des Kornilow-Putsches waren die Bolschewiki bereit, eine bürgerliche Arbeiterregierung mit der Waffe in der Hand bedingungslos gegen die Reaktion zu verteidigen. Sie verzichteten aktuell auf den Sturz Kerenskis und boten den Menschewiki und Sozialrevolutionären ein militärisches Bündnis an, weil es in diesem Augenblick darum ging, einem gefährlicheren Feind Schaden zuzufügen. Ihre Absicht war dabei nicht nur, den Fortgang der militärischen Vorbereitungen für die proletarische Revolution zu gewährleisten, sondern weit grundlegender, die Menschewiki vorerst noch an der Regierung zu halten, so dass deren Bankrott und Klassenverrat der Mehrheit der Arbeiterklasse klar vor Augen geführt werden konnte. Genau diese Unterstützung erwies sich als die Schlinge um den Hals der Kerenski-Regierung. Sie ebnete einer Form der Arbeiterregierung den Weg, die tatsächlich die Diktatur des Proletariats war.

39. Die bolschewistische Anwendung der Taktik der Arbeiterregierung besagt im Kern folgendes:

1.) Ein Aktionsprogramm mit Sofortmaßnahmen, die zum einen die Bedürfnisse der Arbeiter artikulieren und andererseits die Notwendigkeit der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse im gesamten Staat betonen, muss aufgestellt werden.

2.) Die Losung für eine Regierung zur Durchführung dieses Aktionsprogramms, für eine Arbeiterregierung, wird man anfangs zumeist algebraisch einbringen müssen, d.h. ohne die Zusammensetzung einer solchen Regierung genau zu definieren. Dies wird in der Mehrzahl der Fälle erst im weiteren Verlauf der revolutionären Entwicklungen möglich werden.

3.) Die Arbeiter- und Bauernparteien werden aufgerufen, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Regierung zu bilden, die sich auf die Verteidigung und Unterstützung durch die Kampforgane der Arbeiter gründet.

4.) Solange die Reformisten von den Massen unterstützt werden, verteidigen Kommunisten sie gegen die Reaktion, aber sie geben ihnen keinerlei politische Unterstützung und bleiben jederzeit vollkommen unabhängig.

5.) Sollten die Reformisten eine auf Räteorgane gestützte Regierung bilden, werden Kommunisten sie bedingungslos gegen die Reaktion verteidigen. Solange eine solche Regierung die Sowjetdemokratie achtet, werden Kommunisten sich gegen diese Demokratie nicht bewaffnet erheben.

6.) Die Kommunisten wahren stets ihre programmatische und organisatorische Unabhängigkeit, sowie ihre Absicht zur Machtergreifung im Staat, sobald die Arbeitervorhut und hinter ihr die Mehrheit der Arbeiterklasse von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt worden sind.

Nur das Aufeinanderprallen realer Gesellschaftskräfte kann der Forderung nach einer Arbeiterregierung einen genauen „arithmetischen“ Inhalt geben. Somit lautete im Jahre 1917 vor dem 2. Sowjetkongress die korrekte Losung „Alle Macht den Sowjets!“, auf dem 2. Kongreß jedoch lautete die korrekte Forderung: „Für eine Regierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären!“

40. Die Forderung nach der Bildung einer auf Sowjets oder anderen proletarischen Kampforganen basierenden Regierung ist wohl ein zentrales Element für die Taktik der Arbeiterregierung, muss aber immer dem politischen Programm untergeordnet sein. Sowjets können genauso eine reaktionäre wie eine revolutionäre Mehrheit haben, da sie nur Vertretungsorgane sind. Ihre Existenz an sich bietet keinerlei Gewähr. Das zeigt sich in negativer Form bei der deutschen Revolution von 1918. Damals lag die Macht in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, und wie in Russland im Februar 1917 überließen sie die Macht ihren reformistischen Führern. Die von Ebert und Scheidemann ausgerufene Regierung war (nach dem Scheitern des Versuches, im Verein mit Prinz Max von Baden die Monarchie zu retten) eine auf die Arbeiterräte gestützte republikanische Regierung. Der Form nach war sie eine Arbeiterregierung. Doch ihr politischer Inhalt war der einer bürgerlichen Regierung, d.h. ein verstecktes Bündnis mit der Bourgeoisie, um die revolutionäre Offensive des Proletariats aufzufangen und letzten Endes zu zerschlagen. Die SPD-Führer nutzten ihren Einfluss in den Räten, um ihre Machtbasis auf das bürgerlich-parlamentarische Gremium der Weimarer Nationalversammlung zu verlagern. Damit brachten sie ihre Regierungsform in Einklang mit ihren politischen Inhalten und Absichten.

1919 gebrauchten die Reformisten in einem nun offenen Volksfrontbündnis mit bürgerlichen und aristokratischen Elementen ihre bürgerliche Staatsmacht zum weißen Terror und zur Liquidierung der revolutionären Arbeitervorhut, begünstigt durch deren Isolation von der großen Mehrheit der Arbeiter.

Der Kapp-Putsch im März 1920 enthüllte sowohl die Beweglichkeit wie auch die Schranken des Reformismus, wenn er an die äußerste Grenze seiner Manövrierfähigkeit zwischen den Klassen getrieben wird. Die mobilisierten und teilweise bewaffneten Arbeiter hielten Ebert, Scheidemann und Noske an der Regierung, als die bürgerliche Armee sie stürzen wollte. Als Legien jedoch eine „Arbeiterregierung“ vorschlug (worunter er eine bürgerliche Arbeiterregierung verstand), um einer Wiederholung des Staatsstreiches vorzubeugen, erkannten die SPD-Führer, dass sie dadurch unter einen zu großen Druck von seiten der Arbeiterklasse kommen würden. In einer solchen Lage zu verkünden, die Arbeiterräte sollten die Grundlage der Regierung sein, würde bei den Arbeitern Erwartungen wachrufen, von denen die SPD wußte, dass sie sie weder erfüllen konnte noch wollte. Mit diesen Aussichten konfrontiert, ging die SPD lieber ein neues Bündnis mit der Bourgeoisie ein. Sobald die neue Regierung fest im Sattel saß, wurde die Reichswehr aufgeboten, um die Arbeiterräte zu entwaffnen.

Als Legien jenen Vorschlag machte, war die KPD kategorisch gegen die Bildung einer solchen Arbeiterregierung und stellte dem die Notwendigkeit der Revolution entgegen. Dies half der SPD aus der Klemme und war letzten Endes eine sektiererische Antwort. Welchen Wert die korrekte Handhabung der Taktik der Arbeiterregierung damals hätte haben können, dürfte klar sein. Die Propagierung eines politischen Programms für eine solche Regierung, die Legalisierung der bewaffneten Arbeiterräte, die Demobilisierung und Auflösung der Freikorps, ein sofortiges Bündnis mit Sowjetrussland, Opposition gegen die Versailler Reparationsleistungen usw., hätte Legiens Absichten bezüglich einer solchen Regierung durchkreuzen können. Zugleich hätte eine wohlwollende Unterstützung für die Idee einer Regierung der Arbeiterparteien und die bedingungslose Verteidigung einer solchen Regierung gegen die Reaktion die KPD näher an die Massen herangebracht und außerdem den Druck auf die Reformisten, kein Bündnis mit der Bourgeoisie zu schließen, verstärkt. Hätte die SPD dies trotzdem getan, so wären die Arbeiter dann besser auf unabhängige Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet gewesen, als die Reformisten versuchten, sie zu demobilisieren und zu entwaffnen.

Unter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist Deutschland ein weitaus typischeres Beispiel für die Kontrolle des Reformismus über die Arbeiterklasse als Rußland. Darum müssen Revolutionäre die Lehren aus der deutschen Erfahrung ziehen. Insbesondere muss ein Unterschied gemacht werden zwischen Verteidigung und politischer Unterstützung einer Regierung. Kommunisten sind bereit, reformistisch geführte Regierungen falls nötig mit der Waffe in der Hand gegen die Reaktion zu verteidigen, gleichgültig, ob sie formell auf bürgerlich- konstitutionellen Strukturen basieren (bürgerliche Arbeiterregierung), oder ob sie sich formell auf Arbeiterorganisationen stützen (Arbeiterregierung). Politische Unterstützung kann im Gegensatz dazu nur eine Arbeiterregierung erhalten, die den Weg der Revolution einschlägt, d.h. als eine „wirkliche Arbeiterregierung“ handelt. In Übereinstimmung mit der Linie der Komintern und der IV. Internationale erwarten wir von bürgerlichen Arbeiterparteien oder Zentristen nicht, dass sie sich fähig zeigen, eine solche Regierung zu bilden. Doch wie das Übergangsprogramm erklärt: „… man kann nicht im voraus prinzipiell die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass unter dem Einfluß von ganz außergewöhnlichen Umständen (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionärer Massendruck usw.) die kleinbürgerlichen Parteien, einschließlich der Stalinisten, weiter gehen auf dem Weg zum Bruch mit der Bourgeoisie, als sie selbst wollen.“ (71)

41. Trotzki sah diese schwache, theoretische Möglichkeit, dass die Sozialdemokraten oder Stalinisten unter außergewöhnlichen Umständen „wirkliche Arbeiterregierungen“ bilden könnten, die mit der Bourgeoisie in wichtigen Fragen brechen. Seine Epigonen haben dies zu einer Position verzerrt, die aus einer Regierung, die aus solchen Parteien besteht bzw. sie mit einschließt, eine „Arbeiterregierung“ macht. Da wird unterstellt, eine KP/SP-Regierung in Frankreich sei eine Arbeiterregierung, und dies etwa nicht im Sinne einer bürgerlichen Arbeiterregierung (siehe Pierre Lamberts IV. Internationale – IK). Da wird behauptet, die Bildung einer Arbeiterregierung durch die britische Labour Party sei nicht nur sehr gut möglich, sondern auch strategisch notwendig (britische WSL). Beides ist feigster Opportunismus. Wir weisen eine solche mißbräuchliche Verwendung des Begriffs „Arbeiterregierung“ weit von uns. Der Sinn der Thesen des 4. Kongresses der Komintern ist klar folgender: „Arbeiterregierung“ bezieht sich auf eine Regierung, die antritt, um die Bourgeoisie zu entwaffnen, die Maßnahmen zur Beseitigung der bürgerlichen Kontrolle über die Produktion einleitet und die, um diese Politik durchzusetzen und zu verteidigen, die Arbeiterklasse mittels ihrer eigenen Organisationen bewaffnet und jenen Organisationen gegenüber verantwortlich ist.

In diesem Sinne beziehen wir uns auf die Forderung nach einer Arbeiterregierung, womit wir den Vorschlag meinen, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen und offensiv voranzubringen. Dies steht im Einklang mit den Prinzipien der Einheitsfront, dass Kommunisten und Nicht-Kommunisten die Reihen schließen, sogar auf Regierungsebene. Alle anderen Regierungsformen von Reformisten oder Zentristen müssen korrekt als „bürgerliche Arbeiterregierungen“ bezeichnet werden. Ob man die Arbeiterregierung direkt fordert, hängt völlig von den Umständen ab.

Außer in revolutionären Krisen, in denen sich die Machtfrage unmittelbar stellt, fordern Kommunisten die Arbeiterregierung im Sinne einer Propagandalosung für eine wirkliche, revolutionäre Arbeiterregierung. Gleichzeitig fordern wir von den reformistischen Parteien an der Regierung, dass sie konkrete Schritte zum Bruch mit der Bourgeoisie und für die Interessen der Arbeiter unternehmen.

Anmerkungen

1) Leon Trotsky: The Struggle Against fascism in Germany. (New York 1971) S.284

2) ebenda, S.158

3) Karl Marx: Kapital Bd. 1. MEW 23, S.562

4) W.l. Lenin: Was tun? LW 5, S.396

5) Trotsky: a.a.O., s.159

6) Lenin, zitiert nach: On Scientific Communism  (Moskau 1967) S.490

7) Friedrich Engels: ebenda

8) Trotsky: The Crisis in the French Section (New York 1977) S.45

9) Trotsky: On Britain. (New York 1973) S.154

10) ebenda, S. 161

11) A. Bordiga war Wortführer der kommunistischen, abstentionistischen Fraktion der Sozialistischen Partei Italiens. Seine Leitsätze über den Parlamentarismus stellten den Wahlboykott als revolutionäres Prinzip auf und wurden vom 11. WK der Komintern zugunsten einer Vorlage Trotzkis und Bucharins abgelehnt. Bucharin bemerkte allerdings während der Debatten, dass „dieser prinzipielle Antiparlamentarismus uns viel sympathischer ist als der opportunistische Parlamentarismus.“ (vergl. Leitsätze der Kommun. Internat. über die Rolle der Kommun. Partei, den Parlamentarismus, die Gewerkschaften und Betriebsräte, die Arbeiterräte Revolutionäre Flugschriften Nr. 5, European Underground Press Syndikate, Marburg o.J.)

12) D. Rjazanov: Karl Marx and Friedrich Engels (New York 1973) S.150

13) Marx/Engels: Articles on Britain. (Moskau 1971) S.394

14) Lenin, LW 31, S.20

15) Lenin: British Labour and British Imperialism. (London 1969) S.97

16) J. Degras (Hrsg.)- The Communist International: Documents. (London 1971) Bd. 1, S.243

17) ebenda S.248

18) Theses, Resolutions and Manifestos of the Communist International. (London 1980) S.302

19) Trotsky: The First Five Years of the Communist International. (New York 1953) Bd. 2, S.91-94

20) Degras: a.a.O., S.313/14

21) ebenda, S.341

22) ebenda, S.342

23) Trotsky: The Third International After Lenin. (New York 1970) S.129

24) Trotsky: The First Five Years of the Communist International. Bd. 2, S.94

25) The Struggle Against Fascism in Germany. S.394

26) Trotsky: The Third International After Lenin. S.75

27) Trotsky: Writings 1933-34. (New York 1972) S.55

28) Trotsky: The Struggle Against Fascism in Germany. S.139

29) ebenda, S. 138

30) Wir verwenden hier die amerikanische Schreibweise „labor“, um diese ursprünglich mit Bezug auf die USA entwickelte Taktik von der britischen „Labour Party“ zu unterscheiden.

31) Lenin: British Labour and British Imperialism. S.77

32) Engels an F.A. Sorge ; 7.‘ Dez. 1889 (MEW 37, S. 320/21)

33) T. Draper- American Communism and Soviet Russia (New York 1960) S.36

34) J. Cannon- The First Ten Years of American Communism. (New York 1973) S.59

35) Eine endgültige Einschätzung der Position der Komintern in dieser Periode können wir an dieser Stelle allerdings nicht geben, da uns hierfür kein ausreichendes Material zur Verfügung steht.

36) Cannon: The Left Opposition in the USA, 1928 – 31.(New York 1981) S.106

37) Trotsky: Writings 1932. (New York 1973) S.95

38) Trotsky: The Transitional Programme. (New York 1977) S.190

39) ebenda, S.82/83

40) ebenda, S. 108

41) Founding of the Socialist Workers Party. (New York 1982) S.241

42) Trotsky: Writings 1932. S.96

43) Fabier, eine brit. reformistische, vor allem bei Intellektuellen verbreitete Strömung.

44) Lenin: Collected Works. (Moskau 1966) Bd.31, S.199

45) ebenda

46) Lenin: British Labour and British Imperialism. S.271

47) zitiert nach M.Woodhouse und B.Pearce: Essays in the History of Communism in Britain.

 (London, 1975 S.180. Für eine vollständige Analyse siehe Workers Power Nr. 35.)

48) Founding of the Socialist Workers Party. S.217

49) Trotsky: Writings, Supplement 1934-40. (New York 1979) S.494

50) Trotsky: Writings 1934-35. (New York 1974) S.393

51) Trotsky: The Crisis in the French Section. S.116

52) ebenda, S.125/26

53) Towards a History of the Fourth International. (New York 1974) Teil 4, Bd. 1, S.32

54) ebenda, S.35

55) ebenda

56) ebenda, S.36

57) ebenda

58) „Bericht der Österreichischen Kommission“ in: International Information Bulletin. (New York 1951)

59) Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus. LW 31, S.72

60) ebenda, S.75

61) ebenda

62) Trotsky: Writings 1935-36. (New York 1977) S.199

63) ebenda

64) Degras: a.a.O., S.425

65) ebenda, S.426

66) ebenda

67) ebenda, S.427

68) ebenda

69) Trotsky: The Transitional Programme. S.134

70) Lenin: LW 25, S.314

71) Trotsky: The Transitional Programme. S.135




Linkspartei nach Leipzig: SiegerInnen sehen anders aus

Tobi Hansen, Infomail 1007, 18. Juni 2018

Nach dem Parteitag zeigte sich das Spitzenpersonal zufrieden. Schließlich wurde ein Leitantrag beschlossen, den alle ihn ihrem Sinn interpretieren. Die Mehrheit des Vorstandes und auch die Parteilinke sprechen von einem Bekenntnis zu „offenen Grenzen“ und Antirassismus. Marx21 bezeichnet den Parteitag in einem Kommentar sogar als ein „Votum für Klarheit und Geschlossenheit“

So klar und geschlossen war das Ganze offenkundig nicht. Sahra Wagenknecht interpretierte den angenommenen Leitantrag in ihrem Sinn. Offene Grenzen heiße ja nicht offene Grenzen für alle, sondern beziehe sich nur auf Asylberechtigte. Dabei machte sie sich die wirklichen Unklarheiten des beschlossenen Antrags zunutze.

Doch auch die Gegenseite redete sich den Ausgang schön. Kipping zeigte sich zufrieden damit, kein „Wohlfühlergebnis“ bekommen zu haben. Das gelang ihr mit 64 % (gegenüber 78 % im Jahr 2016) und Riexinger mit 74 % (gegenüber 89 %) auch.

Versteckte Debatte

Festzuhalten bleibt, dass die eigentliche Debatte um die Migrationspolitik nur „versteckt“ geführt wurde, als Aussprache nach der Rede von Wagenknecht. Eine Stunde lang durften dann verschiedene Delegierte ihre Meinung kundtun, mal deutlicher kontra Wagenknecht, mal deutlicher pro Kipping. Dort wurde die Fraktionsvorsitzende recht entschieden daran erinnert, dass sie doch die Position der Partei vertreten sollte. Dieses für reformistische Parteien typische Dilemma hatte dazu geführt, dass der Parteitag als Entscheidung über „offene Grenzen“ oder nationalstaatliche Regulierung aufgefasst wurde. Dass der Leitantrag des Vorstandes von allen in ihrem Sinn interpretiert wurde, sicherte ihm zwar eine übergroße Mehrheit. Geklärt wurde damit aber nichts.

Bei den Wagenknecht-KritikerInnen, die zu Recht die sozialchauvinistische und national-reformistische Position bekämpfen, die auch von Leuten wie Fabio De Masi oder Ralf Krämer getragen wird, fiel freilich auf, dass es sich auch hier um einen eigentümlichen Block handelt.

So präsentieren sich die Berliner SenatorInnen Breitenbach und Lederer als internationalistisch und bemühen sich, Wagenknecht an jene programmatischen Versprechen und eine sozialistische Politik zu erinnern, die in der Berliner Landespolitik ständig unter die Räder kommt. Schon hier hätten viele „Linke“ wie AKL (inkl. SAV und ISO) sowie marx21 skeptisch werden müssen, aber auch viele Delegierte, die sich nicht in die Flügel einsortieren wollen und stattdessen „personenbezogen“ orientiert sind. In Berlin wurden über 1.600 Geflüchtete abgeschoben. Der Senat betreibt PPP zur schrittweisen Privatisierung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Der TV-L gilt eben nicht für Beschäftigte der Servicetochtergesellschaften VSG (Vivantes) oder CFM (Charité) und natürlich wird täglich Hartz IV umgesetzt. Wie auch aus Thüringen und Brandenburg bekannt, verweisen diese SozialistInnen dann stets auf Bundesgesetze, die man ja nicht ändern könne, wenn tagein, tagaus gegen das eigene Programm verstoßen wird.

Diese Widersprüche prägen schon seit einiger Zeit die Realität der Linkspartei und jede Landesregierung verschärft diese nur mehr. Im Programm der Partei finden sich viele richtige Reformforderungen nach Mindestrente, Mindestlohn und Abschaffung von Hartz IV, nach mehr Stellen und höheren Löhnen im Pflegebereich. Aber all das bleibt Schall und Rauch mit jeder bürgerlich-kapitalistischen Regierung, an der die Partei sich beteiligt.

Verluste

Da die Fragen der Migration und des Kampfes gegen den Rassismus nicht offen diskutiert, die Positionen nicht direkt einander gegenübergestellt wurden, erschienen sie notwendigerweise bei anderen Themenkomplexen. So wurde diskutiert, warum die Linkspartei bei einigen WählerInnengruppen verloren hat. Das sind die Arbeitslosen, die ärmeren RentnerInnen, die sogenannten Abgehängten, speziell in Ostdeutschland. Diese WählerInnen erleben täglich, dass Hartz IV, der Niedriglohnbereich und die Armutsrenten von der Linkspartei in Regierungsverantwortung nicht abgeschafft werden, dass deren Regierungsbeteilung nichts an ihren Lebensumständen ändert. Das sind die Gründe, warum die Partei in diesen WählerInnengruppen verloren hat. Wenn dann das „Wagenknecht“-Lager glaubt, dass sozialchauvinistische Rhetorik hilft, diese WählerInnen von der AfD zurückzugewinnen, dann geht auch dies am Kernproblem vorbei. Die Linkspartei ist eine Partei, die nichts an den sozialen Zuständen ändern kann, weil sie den Kampf gegen deren Ursachen schon längst aus dem Blick verloren hat. Die Anbiederung an rassistisches und chauvinistisches Bewusstsein unter Lohnabhängigen und Armen wird diese nicht von der AfD wegbrechen, sondern letztlich die Rechten stärken.

Der interne Führungskonflikt um die Frage der „offenen Grenzen“ soll nun auf einer Vorstands- und Fraktionsklausur diskutiert und „gelöst“ werden. Ob noch eine Kommission dazu eingerichtet wird, ist unbekannt, aber de facto wird auch dadurch der Konflikt nur verlängert. Auch eine Klausur wird wohl nur zu neuen Formelkompromissen führen. Derweil sammeln die sich neu formierenden Lager und Allianzen in der Linkspartei ihre Truppen.

So sammeln Wagenknecht und Lafontaine für eine „neue“ links-populistische Bewegung, die sie anführen wollen. Die aktuellen Umfragen der Bild-Zeitung, des Springer-Verlages mögen sie darin noch bestärken und bestätigen. Bei einer fiktiven KanzlerIndirektwahl würde Wagenknecht angeblich nur knapp hinter Merkel landen und einer „Wagenknecht“-Partei würden laut Bild derzeit ca. 25 % ihre Stimme geben. So befeuert auch der Springer-Verlag den Führungskonflikt in der Partei und die lässt es auch mit sich machen. Schließlich freut sich das populistische Lager, wenigstens beim Boulevard gut anzukommen.

Spannend kann in dieser Hinsicht der Europaparteitag werden. Schließlich wollten Lafontaine und Wagenknecht dort ihre „Sammlungsbewegung“ einfließen lassen. Dafür wird wohl auch das Prinzip der „offenen Listen“ favorisiert werden, das „prominenten KandidatInnen“ erlaubt, mit ihrem eigenen – natürlich noch rechteren – Programm anzutreten. Vor allem aber entscheidet so nicht der Parteitag über die reale Wahlpolitik und Plattform für die Europawahlen, sondern diese werden zwischen den Spitzen der Parteiflügel ausgehandelt.

Die „Linken“ und der Parteitag

In dem Artikel „Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?“ haben wir verschiedene Diskussionspapiere in der Linkspartei dargestellt. Diese standen zumeist zwar nicht zur Abstimmung. Aber sie machen in jedem Fall deutlich, dass AntirassistInnen und SozialistInnen in der Linkspartei politisch nicht nur mit den rechten Flügeln, sondern auch mit der Mehrheit der Parteiführung brechen müssen, wenn sie nicht weiterhin als linke Flankendeckung des Vorstands agieren wollen, mit jetzt äußerst zweifelhafter Unterstützung von den GenossInnen der Landesregierungen.

Marx21 – sicherlich in der Frage der Migration und der „offenen Grenzen“ am linken Flügel der Partei angesiedelt – verweist darauf, dass die Frage des Rassismus die Partei und auch die bestehenden Strömungen aufmischt, zu einer Neuformierung drängt. Sie unterlassen es aber, der Realität – nämlich der Rechtsentwicklung in der Linkspartei und dem Stärkerwerden chauvinistischer und pro-imperialistischer Strömungen – ins Auge zu sehen und diese direkt zu benennen. Die Linkspartei entwickle sich vielmehr zu einer „selbstbewussten Mitgliederpartei“. Als Beleg führt marx21 an, dass 90 Delegierte in der Generaldebatte und 100 nach Sahra Wagenknechts Rede das Wort ergriffen haben – dummerweise jedoch nicht für eine konsequente anti-rassistische, internationalistische und revolutionäre Politik. Es handelte sich vielmehr um die Zuspitzung eines Flügelkampfes – samt den unvermeidlichen Versöhnungsreden, dass sich doch alle „auf das Gemeinsame“ besinnen mögen – zwischen zwei bürgerlich-reformistischen Flügeln der Partei, deren reale Praxen in Bezug auf Abschiebungen, Migration keineswegs so weit voneinander entfernt sind.

Noch weitaus problematischer wird es freilich, wenn linke Gruppierungen selbst nicht auf einer konsequent anti-rassistischen Grundlage die Migrationspolitik der Rechten und der Führung kritisieren, sondern dieser Politik entgegenkommen. Stellvertretend für diese Tendenz sei auf ein Interview der SAV mit ihrem Bundessprecher und Parteitagsdelegierten Sascha Stanicic verwiesen. Dort heißt es zur Frage der „offenen Grenzen“:

„Katja Kipping sagt ja, dass das Eintreten für offene Grenzen eine Frage der Haltung ist. Das kann ich nachvollziehen. Die Frage ist trotzdem, ob diese Formulierung die beste ist, um Politik für MigrantInnen zu machen. Ich bin natürlich nicht gegen offene Grenzen, aber es kann solche im Rahmen des Kapitalismus nicht geben. Letztlich müssen wir sagen, dass eine Welt ohne Grenzen nur in einer sozialistischen Welt möglich ist. Das bedeutet aber, dass die Formulierung im Sinne einer Forderung wenig hilfreich ist. Hinzu kommt vor allem aber auch, dass es ein Reizbegriff ist, der Teilen der Arbeiterklasse schwer vermittelbar ist.“ (https://www.sozialismus.info/2018/06/der-parteitag-hat-der-linken-gut-getan/)

Stanicic versucht hier, die Forderung nach offenen Grenzen als „wenig hilfreich“ hinzustellen, weil sie im Kapitalismus ohnedies nicht verwirklichbar wäre. Warum aber wendet er dann diese Überlegung nicht auf andere Forderungen an? Warum sollten wir eigentlich eine Anti-Kriegsbewegung aufbauen, warum sollten wir Forderungen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit aufstellen, wenn wir doch wissen, dass der Kapitalismus nie friedlich sein kann, dass er nie ohne eine mehr oder weniger große Schicht von freigesetzten ArbeiterInnen existieren kann? Warum erklärt die SAV die Annahme der Forderung nach „Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum“ zu einer programmatischen Errungenschaft der Linkspartei, wenn wir doch alle wissen, dass es natürlich keinen Kapitalismus geben kann, wo die zentralen Produktionsmittel dem Privateigentum entzogen sind?

Wie der Kampf um offene Grenzen müssen auch diese Forderungen in den Rahmen des Kampfes gegen den Kapitalismus, also ein Programm von Übergangsforderungen eingebettet werden. Dass daher die Forderung nach offenen Grenzen als Grundlage des gemeinsames Kampfes der Geflüchteten und der ArbeiterInnenbewegung in Europa mit dem Eintreten für eine andere Gesellschaft verbunden werden kann und muss, scheint diesen „TrotzkistInnen“ schleierhaft.

Daher führt Stanicic auch ein anderes, das eigentliche „Argument“ der SAV an. Die Forderung nach offenen Grenzen sei den ArbeiterInnen halt „schwer vermittelbar“. Ob es einfacher zu vermitteln ist, dass wir neue Pflegestellen brauchen und die Reichen das bezahlen sollen, sei dahingestellt. Immerhin gilt das im Kapitalismus auch nicht als Selbstverständlichkeit.

Erst recht geht der Verweis darauf, dass andere Forderungen neben der nach offenen Grenzen erhoben werden müssen, daneben. Niemand hat je bestritten, dass wir z. B. gegen Residenzpflicht und Lagersystem, gegen jede Einschränkung von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt, für den Zugang zu erschwinglichem Wohnraum, zu Schulbildung, Rente und Krankenversicherung eintreten müssen – und zwar für alle, die hier leben. Doch für eine internationalistische Politik ist es kennzeichnend, diese Forderungen mit der nach offenen Grenzen, also der Abschaffung aller Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Geflüchtete und MigrantInnen zu verbinden.

Alles andere läuft letztlich darauf hinaus, den vorherrschenden chauvinistischen Stimmungen und national-staatlichen Illusionen nicht „der“ ArbeiterInnen, sondern vieler einheimischen Lohnabhängigen hinterherzulaufen. „Schwer vermittelbar“ ist die Forderung nach offenen Grenzen ja nicht für alle Lohnabhängigen und Unterdrückten, sondern allenfalls für jene, die schon in den nationalen Arbeitsmarkt und die staatliche Ordnung integriert sind. Jene, die sich zur Zeit auf der Flucht befinden, werden die Öffnung der Grenzen in der Regel wohl nichts als „unvermittelbar“ empfinden. Eine revolutionäre Politik muss jedoch vom Gesamtinteresse einer internationalen ArbeiterInnenklasse, nicht vom Sonderinteresse der ArbeiterInnen in einem Nationalstaat ausgehen.

Hier heißt es, eine offensive, klare Sprache zu sprechen – gerade weil jede Abkehr von der Forderung nach offenen Grenzen unwillkürlich die Frage nach Kriterien für die Zurückweisung, also die Selektion von Geflüchteten und MigrantInnen durch den bestehenden, bürgerlichen Staat aufwirft. Daher bedient die Relativierung der Forderung auch die rechteren reformistischen Strömungen in der ArbeiterInnenbewegung, so wie deren Ruf nach „kontrollierter Zuwanderung“ letztlich Wasser auf die Mühlen der Rechten ist.

Wie weit das schon gehen, wie abstrus und gefährlich das werden kann, verdeutlichen AnhängerInnen des Wagenknecht-Flügels, vor allem in den berüchtigten sozialen Medien. Dort wird in verschwörungstheoretischer Manier „erklärt“, dass die „No Border“-Neoliberalen nur gemeinsame Sache mit dem Finanzkapital machen würden, wobei darunter auch schon Kipping fällt. Solche reaktionären Märchen hatte schon Lafontaine verbreitet. Im Anschluss an den Parteitag lernten wir nun den Begriff „Replacement Migration“ als Instrument des globalen, speziell US- Imperialismus kennen, als imperialistischen „Menschenhandel“. Dieser hätte z. B. den syrischen Bürgerkrieg angezettelt, um die Menschen nach Europa zu „treiben“ und so die europäischen Länder zu schwächen. Ersetzt werden sollen wohl die europäischen Völker durch „Masseneinwanderung“ und schon sind wir bei der rassistischen These des „großen Austauschs“ angekommen, welche von Identitären und anderem nationalistischem bis faschistischem Gesindel vertreten wird. Viktor Orbán und Konsorten lassen grüßen!

Jene Kreise, welche sich in den sozialen Medien schon als „neue linke Sammlungsbewegung“ generieren, haben zum 200. Jahrestag von Karl Marx sämtliche Erkenntnisse auf den Kopf gestellt. Waren Marx und Engels und alle folgenden RevolutionärInnen darauf besinnt, dass der Klassenkampf nur der „Form“ nach national stattfindet, nämlich im Gegensatz zur nationalen Bourgeoisie, so insistierten sie darauf, dass der Inhalt stets international, internationalistisch zu sein habe, eben weil der Kapitalismus ein globales System ist.

InternationalistInnen, SozialistInnen, AntikapitalistInnen in der Linkspartei müssen eine Entscheidung treffen. Sind sie Teil einer Partei, der immer offener den Nationalstaat als Instrument ihrer Politik, des Klassenkampfes begreift, sich weiterhin deutlich zur Regierungsoption mit SPD und Grünen bekennt – oder wird damit gebrochen? Diese Entwicklungen von Nationalstaatsphantasien über Einwanderungsregulation bis zu abstrusen nationalen Theorien der „Replacement Migration“ sind Teil des gesellschaftlichen Rechtsrucks, der natürlich auch in den „linken“ Parteien, den ArbeiterInnenparteien angekommen ist. Diese zu bekämpfen, gehört heute zu den dringlichsten Aufgaben. Dabei helfen uns weder Gott, Kaiser noch Tribun – das müssen wir schon selber tun!




Altes Spiel trotz “neuem Stil” – der Niedergang der SPÖ

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 48, August 2016

Die Bundespräsidentschaftswahlen 2016 in Österreich waren ein tiefer Rückschlag für die traditionellen Großparteien, insbesondere für die SPÖ. Ihr Kandidat, der bis dahin amtierende Sozialminister und ehemalige Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes Rudolf Hundstorfer, erreichte gerade einmal 11,28 % der Stimmen und landete damit an vierter Stelle. Diese Niederlage war der Auslöser eines innerparteilichen Konfliktes, bei dem Teile der Partei zur offenen Rebellion gegen den SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler Werner Faymann übergingen. Zugrunde lag eine weit verbreitete Unzufriedenheit in der Partei nach einem starken Rechtsschwenk Faymanns in der Asylpolitik. Am 1. Mai wurde der SPÖ-Chef bei seiner üblichen Festtagsrede ausgepfiffen, auf Schildern wurde sein Rücktritt gefordert, während der rechte Parteiflügel mit dem Slogan „Werner, der Kurs stimmt!“ gegensteuerte. Eine starke Polarisierung prägte die Partei und offenbarte eine tiefgehende Krise in der österreichischen Sozialdemokratie, die mit dem Rücktritt Faymanns – trotz allgemeiner Aufbruchstimmung – keineswegs überwunden ist.

Wir wollen die derzeitige Entwicklung der SPÖ untersuchen, den Ursachen ihres Niedergangs auf den Grund gehen und dessen Bedeutung für den österreichischen Klassenkampf erfassen. Darin liegt keineswegs ein rein akademisches Interesse. Die SPÖ ist die traditionelle ArbeiterInnenpartei in Österreich, sie ist seit über einem halben Jahrhundert der einzige relevante politische Ausdruck der österreichischen ArbeiterInnenbewegung und dominiert bis heute unangefochten den Gewerkschaftsbund. Sie bestimmt organisatorisch, politisch und ideologisch unangefochten jenen Teil der Klasse der die Notwendigkeit einer eigenständigen politischen Organisierung der ArbeiterInnen anerkennt. Wer in Österreich Politik für und mit der ArbeiterInnenklasse machen möchte, kommt deshalb um eine Auseinandersetzung mit der SPÖ nicht herum. Ihre Krise muss als Chance begriffen werden, eine wahrhaftig sozialistische Alternative zu schaffen und die dazu notwendige Vorbedingung, die Überwindung der reformistischen Dominanz über die Klasse, zu erfüllen. In dieser Auseinandersetzung ist es die Aufgabe von MarxistInnen die Lehren aus den Fehlern der Sozialdemokratie zu ziehen, die politischen Verschiebungen in der ArbeiterInnenklasse und ihren Organisationen richtig einzuschätzen und daraus Perspektiven für die klassenbewusstesten Elemente in der Gesellschaft aufzuzeigen.

Die Krise der SPÖ

Wenn von einer Krise der österreichischen Sozialdemokratie gesprochen wird, dann drängt sich die Vorstellung einer akuten Existenzbedrohung für die SPÖ auf, ausgelöst durch ein Ereignis oder durch eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, welche die Partei in ihren Grundfesten erschüttern. Eine solche akute Existenzkrise können wir in Österreich (noch) nicht beobachten. Allerdings hat die Polarisierung der Partei in der Haltung zur Asylpolitik des Kabinetts Faymann II gezeigt, was für grundlegende Differenzen in der Parteibasis existieren und wie schnell solche Widersprüche zu einer Zuspitzung führen können.

Unter einer Krise der Sozialdemokratie ist an dieser Stelle aber weder eine Existenzkrise noch eine vergangene oder zukünftige konkrete Zuspitzung innerhalb der Partei gemeint. Die Krise der Sozialdemokratie ist nichts anderes als der Zustand ihres fortgeschrittenen Niedergangs bei gleichzeitigem Unvermögen, diesen umzukehren. So wie dieser Niedergang ein historisch langwieriger Prozess ist, so ist die Krise der SPÖ weder vollkommen neu noch unvermittelt. Ihre Anfänge reichen schon in die 1970er Jahre zurück. Am Ende dieses Jahrzehnts erreichte die SPÖ mit 721.262 Mitgliedern ihren historischen Höchststand (1). Seither ist die Mitgliedszahl rückläufig und auch die 51 % der WählerInnenstimmen bei den Nationalratswahlen 1979 blieben nicht nur unübertroffen, mit zwei relativen Ausnahmen verlor die Partei von Wahl zu Wahl jedes Mal weiter an Stimmen (2). Heute kann man davon ausgehen, dass die SPÖ jährlich 10.000 Mitglieder verliert und die zahlende Mitgliedschaft (bei angegebenen 3.589 Sektionen) bereits unter 200.000 liegt (3).

Der Klassencharakter der Sozialdemokratie

Wer die Krise der österreichischen Sozialdemokratie verstehen will, muss zuerst einmal begreifen, was die Sozialdemokratie ausmacht, welche Kräfte in der Partei wirken und welche Dynamik daraus entsteht. Wir charakterisieren die SPÖ als eine reformistische Partei, genauer ausgedrückt als eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei (4). Für eine solche Charakterisierung steht an erster Stelle die Frage, welche Eigentumsverhältnisse die Partei verteidigt und in diesem Zusammenhang die Macht welcher Klasse. Die SPÖ hat sich längst mit dem Kapitalismus und dem Privateigentum an Produktionsmitteln abgefunden und verteidigt die herrschende Ordnung – daher ist sie bürgerlich. Aber die alleinige Einschätzung einer Partei aufgrund ihrer Haltung zu den Eigentumsverhältnissen ist unzureichend, wenn man ihre eigentliche politische Rolle begreifen möchte. Es stellt sich auch die Frage, wie die Partei zusammengesetzt ist und welche Klasseninteressen in ihr existieren. Die SPÖ stützt sich aus ihrer Geschichte als die Partei der ArbeiterInnenklasse sehr stark auf ArbeiterInnen und Angestellte (das österreichische Gesetz unterscheidet LohnarbeiterInnen in Arbeitende und Angestellte), das spiegelt sich auch heute noch im Wahlverhalten, in der Parteimitgliedschaft, aber insbesondere in der Beziehung der Partei zum Gewerkschaftsbund ÖGB wider – in diesem Sinn ist sie proletarisch.

Eine solche historisch gewachsene Verbindung zur ArbeiterInnenklasse und ihren sonstigen Organisationen ist eine innewohnende Eigenschaft einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei. Wir bezeichnen sie als „organische Verbindung“, weil die Partei und die ArbeiterInnenklasse in einem für beide notwendigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, indem sie aufeinander eine bestimmende gegenseitige Wirkung ausüben. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist von zwei gegensätzlichen Klasseninteressen durchzogen, die in der reformistischen Politik vereint werden sollen. Eine solche Politik ist kein Zufall, sondern das Resultat des Drangs einer eigenständigen politischen Organisierung der ArbeiterInnenklasse, die sich nicht gegen den Druck der Bourgeoisie behaupten kann. Die instabile organisatorische Einheit des Klassenwiderspruchs ist für eine reformistische Partei charakteristisch und lässt sich wie folgt beschreiben: Die Parteibasis und die sozialdemokratische WählerInnenschaft wollen die Partei als Instrument zur Verteidigung oder Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse nutzen. Die Parteibürokratie strebt gut bezahlte Posten in der Partei und im Staatsapparat oder, nach einer politischen Karriere, Spitzenjobs in der Wirtschaft an. Diese „ArbeiterInnenbürokratie“ lebt auf Kosten der ArbeiterInnenbewegung, nährt sich von den in sie bestehenden Hoffnungen und Illusionen in die Partei und ordnet sie den Kapitalinteressen unter. Die SPÖ versucht den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in der Partei zu vereinen und über Reformen mittels des bürgerlichen Staatsapparats zu entschärfen. Das befriedigt die Interessen weiter Teile der der sogenannten „ArbeiterInnenaristokratie“, also jener Schichten der ArbeiterInnenklasse, die aufgrund besonderer Errungenschaften oder wichtiger Funktionen im Produktionsprozess Privilegien gegenüber dem großen Rest der Klasse erhalten und deshalb für die Ideologie der Klassenversöhnung empfänglicher sind.

Dass die Charakterisierung der sozialdemokratischen Politik als bürgerlich korrekt ist, muss wegen ihrer Offenkundigkeit aus jahrzehntelanger Praxis – darunter 22 Regierungsbeteiligungen und vier Alleinregierungen in der II. Republik – kaum weiter untermauert werden. Zusätzlich sei auf das Selbstverständnis der Sozialdemokratie verwiesen. In ihrem aktuellen Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1998 bekennt man sich zwar gleich im ersten Absatz zu einer Gesellschaft, „in der Klassengegensätze überwunden sind“. Diese ist aber keineswegs als eine nicht-kapitalistische gemeint, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln in Gemeineigentum überführt wäre. Für eine solche Perspektive gibt es im gesamten Programm keinen Hinweis. Stattdessen will man „diese Interessengegensätze (zwischen „Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern und Unternehmerinnen/Unternehmern; Anm. d. A.) partnerschaftlich überwinden“ und misst Märkten „einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Wohlstands“ bei (5). Das Programm der Sozialdemokratie bekennt sich also unzweideutig zur sogenannten „sozialen Marktwirtschaft“, in welcher die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zwangsweise weiter bestehen aber der Interessensgegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital angeblich praktisch überwunden wäre. Spätestens seit der Veröffentlichung von Marx‘ „Kapital“ ist aber klar, dass der Klassengegensatz zwischen KapitalistInnen und Proletariat unüberbrückbar ist, selbst wenn eine zeitlich beschränkte Befriedung der Klassen in einem Land durch besondere Umstände möglich ist.

Die besondere Verbindung der SPÖ zur ArbeiterInnenklasse ist historisch gewachsen, in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen, aber keineswegs gebrochen. Eine „organische Verbindung“ zwischen der österreichischen Sozialdemokratie und der ArbeiterInnenklasse drückt sich aus in der unerschütterten Dominanz der „Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen“ (FSG) über den eine Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaftsbund ÖGB, die Kontrolle über die Arbeiterkammer (57,16 % bei den Wahlen 2014) sowie dem immer noch vorhandenen Rückhalt bei einem großen Teil der ArbeiterInnenklasse (6). Die Feststellung des versuchten Schwenks in der sozialen Zusammensetzung und in der ideologischen Ausrichtung der SPÖ zu einer Volkspartei ist in diesem Zusammenhang trotzdem bemerkenswert, wobei das im allgemeinen sozialdemokratischen Verständnis keine Abwendung von den „Arbeitern“, sondern eine zusätzliche Hinwendung zu anderen Schichten der Bevölkerung, besonders zu „Angestellten“, kleinen Selbständigen (z. B. „Ein-Personen-Unternehmen“) oder der großen Klientel an PensionistInnen bedeutet. In diesem Sinn stellt die SPÖ in ihrem Grundsatzprogramm die eigene Entwicklung „von einer Partei der Arbeiter zu einer Partei aller arbeitenden Menschen“ fest und tritt für eine „wirksame Vertretung der Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch starke und überparteiliche GEWERKSCHAFTEN“ ein (7).

Historisch können wir eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der SPÖ beobachten, die wir als „Verbürgerlichung“ der sozialdemokratischen Partei bezeichnen. Mit diesem Prozess geht die Aufweichung der organischen Verbindung zur ArbeiterInnenklasse und eine zunehmende Abwendung von Teilen des Proletariats von der Partei einher. Schaffen sich die ArbeiterInnen keinen alternativen politischen Ausdruck, muss die fortschreitende Verbürgerlichung der reformistischen Partei als Spiegelbild der fortschreitenden Schwächung der ArbeiterInnenbewegung als solcher verstanden werden. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hört auf, eine reformistische Partei zu sein, wenn die besondere organische Verbindung zur ArbeiterInnenklasse abbricht und zur Nebensache wird, wenn die quantitative also in eine qualitative Veränderung umschlägt. Trotz ihrer historischen Schwäche und ihrer Versuche einer soziologischen Verbreiterung scheint uns, dass dieser Punkt in der Entwicklung der SPÖ noch nicht eingetreten ist. Wir glauben auch nicht, dass eine solche qualitative Veränderung vollkommen bruchlos vollzogen werden kann oder das österreichische Großbürgertum an einer offen bürgerlichen SPÖ besonders interessiert wäre, wenn diese ihre Funktion als Transmissionsriemen bürgerlicher Politik in die organisierte ArbeiterInnenbewegung hinein dadurch einbüßt. Auf jeden Fall bedroht der fortgeschrittene Verbürgerlichungsprozess die Existenz der SPÖ als bürgerliche ArbeiterInnenpartei selbst. Eine Umkehr dieses Prozesses, das heißt eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zur proletarischen Basis, wird nicht ohne weiteres, sondern – wenn überhaupt – nur unter dem Eindruck heftiger Klassenkämpfe geschehen können.

Historischer Abriss des Niedergangs

Der schleichende Niedergang der österreichischen Sozialdemokratie steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung des österreichischen Kapitalismus. Umgekehrt konnte sich die SPÖ nach dem Zweiten Weltkrieg drei Jahrzehnte lang stärken. Dabei profitierte sie von der großen Bedeutung der verstaatlichten Industrie und dem Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg, der eben bis in die 1970er Jahre anhielt. Vor diesem ökonomischen Hintergrund konnte die Sozialdemokratie bedeutende Reformen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse durchsetzen und den Großteil der Klasse selbst für die sozialdemokratische Politik gewinnen. Sie integrierte die österreichische ArbeiterInnenbewegung vollständig in das System der Sozialpartnerschaft, in dem der offene Klassenkampf einer institutionalisierten Klassenkollaboration Platz machte. Die reformistische Bürokratie suchte die Aussöhnung mit der KapitalistInnenklasse, die sich wiederum durch ihre ökonomische und politische Schwäche nach dem Krieg auf Kompromisslösungen einlassen musste. Noch heute, obwohl die KapitalistInnen kaum mehr zu Kompromissen bereit sind, versucht die SPÖ an ihrem sozialpartnerschaftlichen Kurs festzuhalten. Immerhin war die Politik der Sozialpartnerschaft ganz im Sinne der sozialdemokratischen Funktionärskaste: Die Bürokratie sollte sich um Lösungen kümmern, ungestört von der passivierten Partei- und Gewerkschaftsbasis. Die Aktivität in den Ortsgruppen wurde langsam ausgetrocknet, die Repräsentationswahlen zur staatlichen und betrieblichen Mitbestimmung wurden zum Höhepunkt des politischen Engagements und das niedrige Ausmaß an Streikmaßnahmen wurde als Erfolg gefeiert – nun lastet diese eingeübte politische Unkultur wie ein Alp auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse.

Ab Mitte der 1970er Jahre glitt auch die österreichische Wirtschaft in eine Phase der Stagnation. Konnten die Regierungen Kreiskys (1970 – 83) Anfang der 1970er Jahre in der Beschäftigungspolitik noch stark von der guten Konjunktur profitieren, musste Kreisky ganz im Sinne keynesianistischer Wirtschaftspolitik das staatliche Defizit ausbauen. Seit Anfang der 1980er Jahre kann man ein stetiges Sinken der bereinigten Lohnquote (8) feststellen (9). 1982 geriet die verstaatliche Industrie in die Krise, der Staat brauchte Geld und ein Jahr darauf verlor die SPÖ die absolute Mehrheit. Nachfolger Fred Sinowatz begründete daraufhin sogar die „kleine Koalition“ mit der FPÖ unter Norbert Steger, die erst mit der Parteiübernahme durch Jörg Haider ihr Ende fand. In der 1980er-Bewegung schuf die SPÖ-Politik, zum Beispiel beim geplanten Kernkraftwerk in Zwentendorf oder dem Kraftwerksbau in der Hainburger Au, neue FeindInnen: die wachsende Ökologie-Bewegung. Wenig später fuhr der oberösterreichische staatliche Stahlkonzern VOEST mit der internationalen Stahlkrise und durch Spekulationsgeschäfte einen Rekordverlust von 25 Milliarden Schilling ein. Der Konzern wurde in weiterer Folge umstrukturiert, das Personal reduziert und bis 1995 teilprivatisiert. Auch der „Glykolwein“-Skandal und die Korruption rund um den Neubau des Wiener AKH erschütterten Mitte der 1980er Jahre die SPÖ. Nicht zuletzt der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die gestiegene Unsicherheit unter frustrierten ArbeiterInnen ermöglichte der demagogischen und offen rassistischen FPÖ einen Einbruch in die Kernschichten der Klasse.

Mit der Jahrtausendwende stand die SPÖ mit einem Drittel der Stimmen an einem historischen Tiefpunkt. Das Kapital, politisch in erster Linie repräsentiert durch die ÖVP, nutzte die Gelegenheit, um die Sozialdemokratie von der politischen Macht auszuschließen. Da der Koalitionskompromiss mit der SPÖ nicht mehr notwendig war, versuchte sich die Regierung von den einengenden Institutionen der Sozialpartnerschaft zu befreien. Die bisher so wichtige Paritätische Kommission (10) verlor ihre praktische Bedeutung. Mit dem Tag der Angelobung der FPÖ-ÖVP-Regierung rollten Massenproteste gegen die sogenannte Bürgerblockregierung durch Österreich. Nun wurden staatliche Unternehmen (teil-)privatisiert, Studiengebühren eingeführt, die Pensionen massiv gekürzt und korrupte Geschäfte geführt. Erst durch diese Phase der Opposition gegen eine Reihe von Angriffen auf Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse konnte die SPÖ einen bescheidenen Wiederaufstieg hinlegen.

Die baldige Fortsetzung des Niedergangs war allerdings wenig verwunderlich als die Sozialdemokratische Partei unter Alfred Gusenbauer eine neue Koalition mit der ÖVP einging und darin alle ihre Wahlversprechen brach, insbesondere die geforderte Abschaffung der Studiengebühren und den Ausstieg aus dem Eurofighter-Kaufvertrag. In diese Zeit fällt ebenso die Aufhebung der bis heute nicht wieder eingeführten Erbschaftssteuer durch den Verfassungsgerichtshof.

Seit Mitte der 1970er Jahre war der österreichische Kapitalismus von schwachem Wachstum und Stagnation geplagt. In den 1980er Jahren hat sich mit den neoliberalen Offensiven in Großbritannien und den USA die Konkurrenz am Weltmarkt verschärft. Dieser Trend beschleunigte sich ab den 1990er Jahren durch eine umfassende Phase der Globalisierung. Diese Faktoren, durch die der Spielraum für Kompromisse mit dem Kapital immer geringer wurde, sind die Ursachen für den langsamen Niedergang der Sozialdemokratie. Sie bedeuten immer geringere Möglichkeiten, mittels reformistischer Politik die ArbeiterInnenklasse in das kapitalistische System zu integrieren. Stattdessen tritt in den fruchtlosen Regierungsbeteiligungen immer offener politisches Versagen oder direkter Klassenverrat hervor, gerechtfertigt mit neoliberalen, nationalistischen und sogar rassistischen Argumenten . Teile der ArbeiterInnenklasse, insbesondere die gewerkschaftlich unorganisierten, fühlen sich nicht mehr von der Sozialdemokratischen Partei vertreten, die noch dazu als Repräsentantin des herrschenden Systems betrachtet wird. Dieser politische Bruch findet aber nicht aus einer klassenbewussten Kritik am Reformismus statt, das Gegenteil ist der Fall. Das Fehlen einer glaubhaften politischen und sozialen Perspektive für die ArbeiterInnenklasse bis hinein in ihre Kernschichten hat zu Demoralisierung und einem Rückgang des Klassenbewusstseins geführt – auch innerhalb der Partei, wo sich der bürgerliche Einfluss stärken konnte.

Die Ära Faymann

Werner Faymann wird der österreichischen Geschichte als der Kanzler in Erinnerung bleiben, der das Land durch die für Österreich schwersten Jahre der Weltwirtschaftskrise führte, nämlich 2009 und 2010. Von bürgerlicher Seite wird man ihm dabei auch viel Gutes nachsagen, von proletarischer Seite wird er jener SPÖ-Chef sein, der die traditionelle ArbeiterInnenpartei in ihre größte Krise in der II. Republik führte und der aus „zu geringem Rückhalt“ in der eigenen Partei zurücktreten musste (11). Er ist das Aushängeschild einer Politik, die die SPÖ so weit in die Krise führte, dass in den Medien sogar die Frage einer Parteispaltung gestellt wurde. Wie hat diese Politik also ausgesehen und wie unterscheidet sie sich von der jetzigen?

Nachdem Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) die Koalition unter Alfred Gusenbauer (SPÖ) aufkündigte, kam es 2008 zu Neuwahlen, in denen der vormalige Infrastrukturminister Faymann den ersten Platz der SPÖ, mit 6 Prozentpunkten Stimmverlusten, verteidigte und eine Neuauflage der Großen Koalition einleitete. Zu dieser Zeit profitierte die Sozialdemokratie noch von dem gestiegenen Klassenbewusstsein aus der Zeit der schwarz-blauen Koalition 2000 – 2006, die für eine Welle an Privatisierungen, Korruptionsskandalen und für Sozialabbau steht. Im Wahlkampf versuchte sich Faymann mit einem Fünf-Punkte-Programm zum Teuerungsausgleich zu profilieren. Vier Maßnahmen konnte er im Parlament durchsetzen: Teilabschaffung der Studiengebühren, Erhöhung des Pflegegeldes, Verlängerung der „Hackler“regelung (12) und die Erhöhung der Familienbeihilfe durch eine 13. Auszahlung. Die geforderte Halbierung der Mehrwertsteuer wurde nur in Bezug auf Medikamente angenommen, in Bezug auf Lebensmittel wurde der Antrag der SPÖ mit den Stimmen von ÖVP, BZÖ und Grünen dem Finanzausschuss zugewiesen (13). Darüber hinaus sprach sich Faymann wiederholt für Vermögenssteuern aus, insbesondere für die Wiedereinführung der Erbschafts- und der Schenkungssteuer. Dementsprechend wurde der neue Kurs nach Gusenbauer durchaus als Linksruck der SPÖ interpretiert. Auch integrierte Faymann mit Rudolf Hundstorfer als Sozialminister wieder die Gewerkschaften in die Regierung, von denen sich Alfred Gusenbauer abheben wollte.

Aber die weitere Entwicklung zeigt, in welchem Interesse eine Regierung im Kapitalismus tatsächlich handeln muss. Das Kabinett Faymann I war von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt. Nach der Insolvenz der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers schlitterte die österreichische Wirtschaft im Jahr 2009 in die Rezession. Betriebe fuhren die Produktion zurück, viele LeiharbeiterInnen wurden entlassen, eine Kreditklemme drohte. Faymann versuchte mit Konjunkturpaketen und Bankenrettung die Wirtschaft am Laufen zu halten, die Integration der Gewerkschaften sicherte ihm unter „Abwendung der Härtefälle“ die Unterstützung dieser Politik auf Kosten der ArbeiterInnenklasse. Die Regierung reagierte mit einer Kurzarbeitregelung, die zwar den Anstieg der Arbeitslosigkeit dämpfte, aber einen Teil der Lohnkosten von den Unternehmen auf den Staat und somit auf die Gesamtbevölkerung übertrug. Mit dem Konjunkturpaket I („Mittelstandmilliarde“) sollten kleine und mittlere Unternehmen an billige Kredite kommen, das Konjunkturpaket II, mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro, sah im Wesentlichen Investitionsanreize und Infrastrukturinvestitionen vor (14). Schon 2008, vor der Neuauflage der Koalition, wurde ein Bankenhilfspaket im Umfang von 100 Mrd. Euro geschnürt und in weiterer Folge von allen großen Banken in Anspruch genommen. Kommunalkredit und Hypo Alpe Adria mussten notverstaatlicht werden und die ÖVAG (Volksbank) zum Teil (15). Durch diese wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen schnellte die Staatsverschuldung bedrohlich in die Höhe. Als Reaktion folgten zwei Sparpakete. Für das Jahr 2011 wurden Einsparungen in der Höhe von 1,4 Mrd. Euro und Steuererhöhungen von 1,2 Mrd. Euro beschlossen (16). Anfang 2012 folgte die nächste Sparrunde, diesmal ging es um 26,5 Mrd. Euro durch 70 % weniger Ausgaben und 30 % neue Steuern bis ins Jahr 2016 (17).

Bei den Nationalratswahlen im September 2013 musste die SPÖ weitere Verluste von 2,44 Prozentpunkten hinnehmen, blieb aber weiterhin die stärkste Kraft. Trotz der historisch schlechtesten Ergebnisse für die traditionellen Großparteien konnten Rot und Schwarz die Mandatsmehrheit im Nationalrat halten. In ihrem Wahlkampf titulierte sich die SPÖ als „Partei der Arbeit“ und setzte auf die Themen leistbares Wohnen, faire Löhne und Verteilungsgerechtigkeit.

Bei der Weiterführung der Großen Koalition erzeugte die Eingliederung des Wissenschaftsministeriums in das Wirtschaftsministerium besonders unter Studierenden Unmut, die SPÖ nahm das Manöver der ÖVP allerdings widerspruchslos hin. Unmut gab es auch über das „Auftauchen“ eines Budgetlochs in der Höhe von 24 Milliarden Euro bis 2018. Die Ministerien sollten nun 500 Millionen einsparen, trotzdem gab es eine Erhöhung der Familienbeihilfe und die Gratis-Kinderzahnspange. Die weitere Feststellung, dass die Notverstaatlichung der Hypo Alpe Adria den Staat bis zu 18 Milliarden Euro kosten könnte, bestimmte daraufhin die öffentliche Debatte (18).

Das größte Projekt der Regierung Faymann II war wohl die Steuerreform. Mit der Kampagne „Lohnsteuer runter!“ erarbeitete der ÖGB ein Lohnsteuerreform-Konzept im Ausmaß von sechs Milliarden Euro Entlastung, welches die SPÖ aufgriff. Mit der Kampagne bewies die Gewerkschaft, wozu sie eigentlich in der Lage ist, wenn sie ansatzweise für die Anliegen der Arbeitenden mobilisiert. Für die Lohnsteuersenkung hatte sie beinahe 900.000 Unterschriften gesammelt und eine Konferenz von BelegschaftsvertreterInnen mit 5.000 Teilnehmenden organisiert. Zusätzlich positionierte sie sich mit einer Gegenfinanzierung durch vermögensbezogene Steuern. Das von der Regierung erzielte Ergebnis war hingegen ernüchternd. Der Kompromiss der ÖVP sah eine Entlastung um 4,9 Milliarden Euro vor, sowie die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 25 %, vermögensbezogene Steuern waren de facto nicht enthalten. Die Entlastung stieg mit höherem Einkommen bis zur Grenze von 117.000 Euro, entlastete also durchaus so manche Reiche. Mit der Registrierkassenpflicht wurden vor allem kleine Betriebe belastet und die Gegenfinanzierung der gesamten Reform wurde zu einer Augenwischerei, die sich letztlich die Arbeitenden zu einem guten Teil selbst zahlen müssen (19). Die Steuerreform war also nicht nur ein Beweis der gewerkschaftlichen Stärke, sondern auch der Hemmung der gewerkschaftlichen Aktivität durch die bürokratische Kontrolle der SPÖ und der Unmöglichkeit, in der Koalition mit der ÖVP eine Politik im Interesse der ArbeiterInnen zu betreiben.

Insgesamt musste die Partei bei 18 von 20 Wahlen (die letzte Präsidentschaftswahl nicht mitgezählt) Stimmenverluste hinnehmen (20). Schon unter Alfred Gusenbauer hatte die Sozialdemokratie sechs Prozentpunkte abgebaut, Verluste im selben Ausmaß gehen nun auf das Konto Werner Faymanns. Dieser Niedergang ging deutlich langsamer vor sich. Einerseits hatte Gusenbauer ja so gut wie alle Wahlversprechen gebrochen, andererseits vollzog sich die Abwendung von der Sozialdemokratie bei Faymann wohl in stärkerem Ausmaß unter StammwählerInnen als noch bei Gusenbauer.

Der Rechtsruck in der Partei

In Faymanns Amtszeit fällt mit dem Jahr 2015 auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“, eine größere Fluchtbewegung, bei der mehr als eine Millionen Menschen, fast die Hälfte davon aus Syrien, über das Mittelmeer in die Europäische Union kamen. Während Faymann noch unter dem Eindruck einer überwältigenden Flüchtlings-Solidaritätsbewegung über den Sommer Hilfsbereitschaft signalisierte und sich für gesamteuropäische statt nationalistische Maßnahmen einsetzte, änderte sich seine Haltung gegen Ende des Jahres. Der Reihe nach griff ÖVP-Innenministerin Mikl-Leitner Forderungen der FPÖ auf, Faymann gab nicht nur nach, sondern änderte seine Haltung selbst. Immer weiter wurden Grenzkontrollen eingeführt und ausgebaut. In Spielfeld, beim Grenzübergang zu Slowenien, wurde das Tabu „Grenzzaun“ gebrochen, aus den vorgeschlagenen 25 Kilometern Länge wurde allerdings ein unsinniger Kompromiss mit 3,7 Kilometern und offenem Übergang, allein die Anmietung des Zauns kostet pro Halbjahr 330.000 Euro (21). Der islamistische Terroranschlag mit 130 Toten am 13. November 2015 und die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in Köln, an denen mehrheitlich Männer mit nordafrikanischem und arabischem Hintergrund beteiligt waren, führte zu einem breiten, rassistischen Diskurs in der Flüchtlingsfrage. In weiterer Folge wurde die Kandidatur von Sozialminister Hundstorfer für das Präsidentschaftsamt im Jänner zum Anlass einer Regierungsumbildung genommen, bei der Verteidigungsminister Gerald Klug, der sich über den Grenzzaun skeptisch geäußert hatte, durch den burgenländischen Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil ersetzt wurde – ein klarer Repräsentant des rechten Parteiflügels. Nicht zu Unrecht bezeichnete die Tageszeitung „Profil“ den neuen Verteidigungsminister als „rote Mikl-Leitner“: Immer wieder kritisierte er die Bundesregierung von rechts, forderte raschere Abschiebungen, den Ausbau von Grenzkontrollen (z. B. am Brenner), propagierte „Rückführungen“ von Flüchtlingen in Militärmaschinen und schlug vor, dass Asylanträge nur noch außerhalb der EU gestellt werden sollen („Asylzentren in Nordafrika“). Ende Jänner einigte sich die SPÖ dann mit der ÖVP auf eine Obergrenze von 37.500 Asylanträgen für das Jahr 2016. In weiterer Folge einigten sich die Regierungsparteien auf eine Asylnovelle, mit der das Aufenthaltsrecht auf drei Jahre befristet („Asyl auf Zeit“), der Familiennachzug erschwert und eine „Notfallverordnung“ beschlossen wurde (22). Mit diesem Gesetz kann die Regierung, wenn sie die „öffentliche Sicherheit und innere Ordnung“ bedroht sieht, das Asylrecht de facto aushebeln und Flüchtlinge an der Grenze abweisen (23).

Dieser Rechtsruck in der Asylpolitik stieß bei vielen SPÖ-Mitgliedern, Mitgliedern der Jugendorganisationen (VSSTÖ, SJ) und WählerInnen auf starke Ablehnung. Schließlich führte das am 1. Mai, nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, zum offenen Ausbruch des Konflikts zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen des Faymann-Kurses.

Das Verhältnis zur FPÖ

Der Streit um den Parteikurs drehte sich nicht ausschließlich um die Haltung in der Asylpolitik, auch wenn diese eindeutig im Vordergrund stand. Ausgelöst wurde der Konflikt allerdings durch den Wahlsieg Norbert Hofers in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, während Rudolf Hundstorfer auf dem vorletzten Platz landete. Dieses Ergebnis war für die SPÖ nicht nur schockierend, es strafte den Rechtsruck Lügen: Die Parteiführung hatte sich angesichts der nach rechts gehenden Stimmung in der Bevölkerung mit einer verschärften Asylpolitik größere Zustimmung erwartet, das Wahlergebnis zeigte aber, dass die FPÖ-WählerInnen lieber das rassistische Original wählten, während sich AntirassistInnen abgestoßen fühlten und sich dem Grünen Van der Bellen zuwandten. Die SPÖ hatte sich also in der Flüchtlingsthematik zwischen die Stühle gesetzt und war dadurch hart am Boden der Realität aufgeschlagen.

Hinter dem Rechtsruck der SPÖ steckt aber nicht nur eine opportunistische Anbiederung an die verschärfte rassistische Grundstimmung. Die SPÖ möchte sich die Option einer Zusammenarbeit mit der FPÖ gegen die ÖVP offenhalten und versucht die politische Kluft zu den Blauen zu verkleinern. Die Taktik ist aus reformistischer Logik nur folgerichtig: Wer die Koalition mit bürgerlichen Parteien zum Bestandteil der politischen Strategie zählt, ist gezwungen zwischen diesen zu taktieren oder sich unterzuordnen. Nachdem die SPÖ weder in der Lage ist eine Alleinregierung noch eine Minderheitsregierung zu bilden, muss sie sich die Frage stellen, wie sie der Erpressung der ÖVP mit der Option Schwarz-Blau entgehen kann. Die richtige Antwort wäre natürlich die Änderung der Strategie vom parlamentarischem Koalitionskurs hin zu der des oppositionellen Klassenkampfs. Für die SPÖ lautet die Antwort aber Rot-Blau, auch wenn das bisher nur Teile der Partei, wie etwa der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl oder ÖGB-Präsident Erich Foglar, offen ansprechen.

Der sozialchauvinistische Asylkurs

MarxistInnen, AntirassistInnen und linke SozialdemokratInnen sollten aber nicht ihre Augen vor dem Ausmaß der Zustimmung zu dem rechts-sozialdemokratischen Kurs innerhalb der Partei verschließen. Anfang Februar gab der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Gerhard Schmid das Ergebnis einer partei-internen Umfrage bekannt, in der sich (von 11.000 Befragten) 65,34 % für den sogenannten „Richtwert“ (Obergrenze) aussprachen (24). Zusätzlich gab es auch mehrheitlich Zustimmung zu weiteren diskriminierenden Maßnahmen wie etwa der Umstellung von Geld- auf Sachleistungen in der Grundversorgung von Flüchtlingen. Auch das ist typisch für reformistische Politik, für die Internationalismus (25) eine leere Tradition ist. Genau wie ein Betriebsrat Angriffe auf einen anderen Standort unter der Bedingung hinnehmen kann, dass die Beschäftigten des eigenen Standorts verschont bleiben, bedeutet diese Standortpolitik auf nationaler Ebene die Unterstützung des „eigenen“ Kapitals auf Kosten des ausländischen. Ähnlich ist es in der Flüchtlingspolitik, wenn die Solidarität mit den Geflüchteten, ihre Versorgung, Unterbringung und Integration in den Arbeitsmarkt nicht aus den Profiten der KapitalistInnen finanziert wird und der Reformismus die „heimische“ ArbeiterInnenklasse stattdessen in eine unheilige Allianz mit dem Kapital gegen die Geflüchteten führt.

MarxistInnen erkannten die fatalen Fehler einer solchen Politik sozialdemokratischer Parteien, die sie als „Sozialchauvinismus“ bezeichneten, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zeigten auf, wie diese Fehler, als logische Schlussfolgerung, zur Unterstützung der nationalen Kriegsbestrebungen im Ersten Weltkrieg führten. Die Bolschewiki, die in Russland schon früh mit dem opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie gebrochen hatten, zählten sich zur äußersten Opposition gegen diesen Verrat an der internationalistischen ArbeiterInnenbewegung. Im Text „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ charakterisierte W. I. Lenin den Sozialchauvinismus wie folgt:

„Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und des Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse. Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselbe: Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, bedingungslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Misstrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber.“ (26)

Dass diese Charakterisierung auch auf die Asylpolitik der Sozialdemokratischen Partei zutrifft wird klar, wenn man die große Mehrheit der Flüchtenden im weiteren Sinn zur ArbeiterInnenklasse zählt. Nicht nur, dass viele von ihnen in ihren Herkunftsländern selbst LohnarbeiterInnen waren, zu ärmeren oder zu bäuerlichen Schichten der Bevölkerung gehörten, d. h. zu den unterdrückten Klassen, der Großteil von ihnen wird in den imperialistischen Zentren zu einer Tätigkeit in den unteren Reihen der ArbeiterInnenklasse gezwungen sein. Wann und in welcher Form Flüchtlinge ihre Ware Arbeitskraft am Arbeitsmarkt verkaufen müssen, hängt selbstverständlich von der spezifischen nationalen Gesetzeslage ab. Vom internationalistischen Standpunkt aus muss sich die ArbeiterInnenklasse im Fall scharfer sozialer Krisen auf die Solidarität der ArbeiterInnen aus anderen Ländern verlassen können. Umgekehrt müssen ArbeiterInnen alle Bestrebungen scharf zurückweisen, die Notleidende zu Sündenböcken machen. Dabei geht es nicht um abstrakte Menschenwürde, sondern um eine Absage an nationalistische Antworten auf Krisenerscheinungen des Kapitalismus in seinem imperialistischen (27) Stadium, die den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat verschleiern. Um ökonomische Spaltungsmechanismen zu verhindern, kann eine Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt erstens keine ökonomisch sinnvolle Option sein, zweitens würde das zu einer entrechteten und ghettoisierten Bevölkerungsschicht führen. Flüchtlinge und MigrantInnen müssen also gegenteilig in die ArbeiterInnenbewegung integriert und am Arbeitsmarkt gleichgestellt werden. Die nationalistische und rassistische Gefahr einer verschärften ökonomischen Spaltung der Gesamtklasse durch die Bourgeoisie anhand von Migration macht die Flüchtlingsfrage zu einem Grundthema des ideologischen, politischen und ökonomischen Klassenkampfs. Migration und Flucht nicht vom Standpunkt der internationalen ArbeiterInnenklasse zu betrachten, sondern vom Standpunkt einer nationalen, ist das Einfallstor für sozialchauvinistische Fehler.

Ein linker Flügel?

In der Vergangenheit gab es schon mehrere Versuche einen organisierten linken Flügel in der SPÖ aufzubauen, bisher haben diese Projekte allerdings keinen nachhaltigen Erfolg verbuchen können. Seit einiger Zeit läuft ein solcher Versuch rund um den Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler. Gemeinsam mit Erich Fenninger (Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe), Julia Herr (Vorsitzende der Sozialistischen Jugend) und Christian Buchinger (Betriebsratsvorsitzender und selbst ernannter „Revoluzzer“ (28)) wurde die Plattform „Kompass“ gegründet. Mithilfe dieser soll die SPÖ wieder „auf Kurs“ gebracht werden, das heißt die „historische Aufgabe als Interessensvertretung arbeitender Menschen ( … ) in die Jetztzeit zu bringen“, dabei sei die Beseitigung sozialer Ungleichheit die „vorrangigste Aufgabe“. In der Migrations- und Asylpolitik wirft der „Kompass“ der eigenen sozialdemokratischen Bewegung vor, „vor lauter Angst unter dem Tisch“ zu sitzen und fordert eine Orientierung am Humanismus. Diese Floskeln zeigen vor allem, dass die Plattform keinen Bruch mit dem Reformismus der SPÖ einfordert und auch kein gemeinsames Programm für eine Veränderung der Partei bietet. Nach eineinhalb Monaten soll die Initiative zwar schon 1.000 UnterstützerInnen gesammelt haben (29), seither hat sie aber kaum etwas getan um diese zu organisieren und ihnen eine Perspektive zu geben. Fiona Kaiser (Vorsitzende der SJ-Oberösterreich), die den „Kompass“ ebenfalls unterstützt, bestätigt diese Einschätzung in einem Interview:

„Beim ‚SPÖ-Rettungskongress‘ ( … ) wurde diese Initiative gegründet – ohne klar und deutlich ihr Programm oder ihre Zusammensetzung definiert zu haben. ( … ) Wir haben also einfach einen ersten offenen Kompass-Kongress nach den Landtagswahlen organisiert (mit etwa 150 TeilnehmerInnen) und dort eine gemeinsame Stellungnahme zum Wahlergebnis und unseren Ableitungen für die SPÖ verabschiedet.“ (30)

In dem einen Jahr ihrer Existenz ist die Initiative „Kompass“ nicht über Oberösterreich hinausgekommen. Erst Anfang Juli 2016 wurde ein österreichweiter Kongress in Wien organisiert. Warum aber der „Kompass“ von nun an erfolgreicher sein soll als in der Vergangenheit, ist auch ein Monat nach diesem Kongress nicht klar.

Bei der Betrachtung der Initiative „Kompass“ drängt sich die Frage auf, welches Potential linksoppositionelle Politik in der SPÖ eigentlich bietet. Klar ist jedenfalls, dass wir zu den sozialdemokratischen Linken große Teile der Sozialistischen Jugend, des Verbands Sozialistischer StudentInnen und die UnterstützerInnen der Initiative „Kompass“ zählen können. Eine Presseaussendung (31) der Sozialistischen Jugend vom 25. Juni 2016 lässt darüber hinaus einen kleinen Einblick in die Zusammensetzung und in die Denkweise einiger dieser Leute aus der SPÖ selbst zu. Mehr als 100 Unterzeichnende – darunter Babler, Herr und Buchinger – stellen sich darin hinter die Argumente des neuen SPÖ-Vorsitzenden Christian Kern zu Arbeitszeitverkürzung, Wertschöpfungsabgabe und Integration und fordern eine Demokratisierung der Partei. Damit ist auch klar, dass sie sich vorerst hinter den neuen Parteichef stellen anstatt sich oppositionell zu positionieren. Julia Herr von der Sozialistischen Jugend macht diese Vorgehensweise in einer eigenen Presseaussendung (32) klar, in der sie sagt:

„Der Wechsel an der Parteispitze muss jetzt dringend dafür genutzt werden, die SPÖ inhaltlich und organisatorisch neu aufzustellen. ( … ) Wir brauchen Sofortmaßnahmen gegen die steigende Arbeitslosigkeit, Wohnkosten und die wachsende soziale Schieflage. Die Sozialdemokratie muss wieder glaubwürdig auf der Seite der arbeitenden Menschen stehen und eine Perspektive für eine andere Politik vermitteln.“

Die Politik Christian Kerns und die Haltung, die Partei-Linke zu ihm einnehmen sollten, wird an anderer Stelle noch untersucht werden, an dieser Stelle reicht es zu sagen, dass Kern keineswegs sonderlich links ist. Im Gegenteil, bisher hat er den Kurs von Faymann in den wesentlichen Aspekten mit einer anderen Rhetorik fortgesetzt. Angesichts dessen drängt sich SozialistInnen die berechtigte Frage auf, ob die sozialdemokratischen Linken überhaupt „wirklich links“ sind.

Hanna Lichtenberger und Martin Konecny, beide ehemals in sozialdemokratischen Jugendorganisationen aktiv und nun in der Initiative „Aufbruch“ (33), gehen sogar so weit, den innerparteilichen Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen einem liberalen und einem rechten Flügel zu charakterisieren. Natürlich drehte sich die Auseinandersetzung rund um Faymanns Politik vorrangig um das Ausmaß sozialchauvinistischer Ausrichtung und war keineswegs ein Kampf zwischen einem unverfälscht-internationalistischen Pol auf der einen und einem sozialchauvinistischen Pol auf der anderen Seite.

Dennoch können wir dem „rebellischen“ Teil der SPÖ nur bedingt eine klassisch bürgerlich-liberale Positionen unterstellen, würden Konecnys/Lichtenbergers Stellungnahmen in diesem Sinn als „sozial-liberal“ einschätzen. In der SPÖ existiert nicht in dem Sinne ein „linker Flügel“, dass Teile der Partei gegen die Klassenzusammenarbeit und um die Bundesführung kämpfen würden. Auch gibt es eher diffuse Netzwerke von „KritikerInnen“ als feste und schlagkräftige Strukturen; einer bürokratisierten Partei angemessen arbeiten diese in erster Linie über Absprachen und Interventionen im Parteiapparat, nicht über demokratische Instanzen, die die Parteibasis miteinbeziehen. Der Konflikt zwischen Faymann-KritikerInnen und der Parteispitze sowie den RechtsauslegerInnen (im Burgenland und an der ÖGB-Spitze) machten aber einen offenen Konflikt zwischen diffusen, aber sich gegenüberstehenden Polen sichtbar.

Regierungsneustart

Nach der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und den Spannungen am 1. Mai war die Krise der SPÖ in aller Munde. Befeuert wurde das durch öffentliche Unmutsäußerungen aus der eigenen Partei. So äußerte sich Salzburgs SPÖ-Chef Walter Steidl „optimistisch, dass es in Wien beim Bundesparteivorstand eine Mehrheit für den Rücktritt von Werner Faymann geben wird“ (34). Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Bau-Holz und Nationalratsabgeordnete Josef Muchitsch sagte „Werner, bitte lass los!“ (35). Offenbar hatte der Kanzler versucht die Probleme auszusitzen, der Druck in der Öffentlichkeit, und damit in den eigenen Reihen, wurde aber zu groß.

Eine ernsthafte Debatte um die Ausrichtung der Partei wurde dennoch nicht geführt. Für die Nachfolge von Faymann wurden real nur zwei Personen gehandelt: Christian Kern und Gerhard Zeiler. Christian Kern startete als Wirtschaftsjournalist, machte es zum Büroleiter und Pressesprecher des SPÖ-Klubs und wechselte danach in die Privatwirtschaft zur Verbund AG, wo er Geschäftsführer und später Vorstandsmitglied wurde. Gerhard Zeiler war in den 1980er Jahren Pressesprecher von Fred Sinowatz und später von Franz Vranitzky. Danach wurde er Generalsekretär des ORF und von da an Geschäftsführer bei Tele5, dann RTL II, dann Generalintendant, wieder beim ORF, schließlich CEO der RTL Group und 2012 Präsident des Konzerns „Turner Broadcasting System International“ (Teil des Time-Warner-Konzerns). Neben den beiden Managern gab es keine Alternative, die diskutiert wurde, und erst recht keinen linken Kandidaten. Diese Tatsache zeigt. wie schwach die linken Kräfte in der SPÖ und besonders in der oberen Bürokratie sind. Es zeigt sich auch dass diejenigen, die sich als die „Parteilinken“ präsentieren, schnell Ruhe geben wenn ihnen ein Parteivorsitzender vorgelegt wird der sich zumindest als modern und linkliberal präsentiert.

Der neue SPÖ-Chef Christian Kern ist nichts anderes als ein klarer Kandidat des politischen Zentrums, ein scheinbarer Anti-Funktionär, der die Krise der SPÖ technokratisch überwinden soll. Er ist Kapitalist – aber aus dem verstaatlichten Bereich. Er ist kein Repräsentant des rechten Flügels, aber auch nicht besonders links. Er will keine Lobbypolitik betreiben, aber auch nicht gegen die Gewerkschaft regieren. Er will keine schlechten Kompromisse, aber auch keinen Stillstand in der Regierung. Die Asylpolitik Faymanns setzt er ungebrochen fort, aber er spricht sich für Menschlichkeit aus. Kern möchte die Investitionsbereitschaft und die Forschung stärken, aber auch die Kaufkraft. Er kündigt einen New Deal an, um Stagnation und Arbeitslosigkeit gleichzeitig zu überwinden. Kern sucht in allen wichtigen Fragen die Mitte, hat für alle Seiten etwas übrig – messen kann man ihn also nur an seinen Taten.

Auch wenn Christian Kern auf einen „neuen Stil“ setzt und sich pragmatisch und modern inszeniert, ist seine Politik, wie schon erwähnt, in den wesentlichen Aspekten schlichtweg die Fortsetzung des bisherigen Kurses. Das ist wenig verwunderlich, beispielsweise scheint die ÖVP die Fortsetzung des Asylkurses zur Bedingung für die weitere Zusammenarbeit gemacht zu haben. Dennoch versucht Kern gleichzeitig die Rechten und die Linken in der Partei zu befrieden, indem er beispielsweise in seiner Rhetorik die „Integration“ von AsylwerberInnen gegenüber Sanktionsmaßnahmen betont. In diesem Sinn einigte sich die Regierung auf ein „Integrationspaket“, mit dem man AsylwerberInnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wolle (36). Öffentliche Akteure sollen nun Asylwerbende für maximal 110 Euro im Monat zu Hilfsjobs anstellen – eine Maßnahme, die AsylwerberInnen allerdings zu überausgebeuteten HilfsarbeiterInnen macht. Anfang Juli wurde im Nationalrat die sogenannte Ausbildungspflicht für Jugendliche beschlossen, laut der Jugendliche unter 18 Jahren eine Ausbildung über den Pflichtschulabschluss absolvieren müssen. Eine solche erweiterte „Schulpflicht“ ist prinzipiell positiv, fraglich ist natürlich ob eine Ausbildungsgarantie unter Wahlfreiheit gewährleistet werden kann. Das große Problem an der Ausbildungspflicht ist aber, dass die Regelung – auf Druck der ÖVP – nicht für AsylwerberInnen gilt. Ungelernte Arbeit wird somit zukünftig in erster Linie von MigrantInnen erledigt. Die Abtauschpolitik, als die sich Kerns „neuer Stil“ langsam entpuppt, ist im Fall der Bankenabgabe am offensichtlichsten. Statt 650 Millionen Euro zahlen die Banken ab 2017 jährlich nur mehr 100 Millionen. Zusätzlich zahlen sie einen einmaligen Abschlag in der Höhe von einer Milliarde Euro, von der 750 Millionen in den Ausbau von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägiger Betreuung fließen, 100 Millionen an Fachhochschulen und 150 Millionen an Forschungsstiftungen. Das heimische Bankkapital erhält seine Entlastung und die Budgetverluste werden als Sozialmaßnahme kaschiert. Um darüber hinaus eine „positive Stimmung für Wirtschaftstreibende in diesem Land“ zu schaffen hat der neue Bundeskanzler die Registrierkassenpflicht (37) entschärft und ein 185 Mio. Euro Paket (38) zur Förderung von Unternehmensgründungen („Start-ups“) für die nächsten drei Jahre beschlossen. Gemeinsam mit der ÖVP kann die SPÖ offenbar einfacher auf die „Volkspartei-Strategie“ setzen als auf die einer ArbeiterInnenpartei. Zwar ist es wohl richtig, das KleinbürgerInnentum unter Führung der ArbeiterInnenbewegung gegen das Großkapital zu verteidigen, die Start-up-Strategie zielt aber auf eine Erhöhung des kleinbürgerlichen Anteils an der Gesamtbevölkerung. Das ist einerseits altbekannter Bestandteil der ÖVP-Ideologie, die vorgibt alle Menschen zu kleinen EigentümerInnen machen zu können, andererseits ist die Erhöhung der Kleinunternehmensschaft der allgemeinen Kapitalentwicklung gegenläufig, ökonomisch ineffizient und kann kein Bestandteil proletarischer Strategie sein. Aber Kern geht es nicht nur um das KleinbürgerInnentum. Großer Wurf seines „New Deal“ soll ein Wirtschaftspaket (39) zur Senkung der Lohnnebenkosten um bis zu eine Milliarde Euro werden – ein Vorhaben, das Finanzminister Schelling bestimmt gerne mit Pensionskürzungen verbinden möchte. Gerechtfertigt wird das nach alter reformistischer, linkskeynesianischer Weise mit der Wunschvorstellung, eine Ankurbelung der Wirtschaft folge daraus, was eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit zur Folge haben solle. Anstatt die Arbeitszeit zu verkürzen und die notwendige Arbeit aufzuteilen, wird also auch hier die ArbeiterInnenklasse hinter die Kapitalinteressen gespannt – angeblich zum eigenen Wohl.

Die neue alte Einheit

Die Partei-Linke hat sich bisher, wie die Presseaussendung vom 25. Juni gezeigt hat, hinter den neuen SPÖ-Chef gestellt. Die dahinter stehende Haltung ist ähnlich jener der ausgetretenen „Parteirebellin“ Sonja Ablinger: Sie habe Kerns Problemanalyse der SPÖ „positiv wahrgenommen“, wisse allerdings auch: „Ein Vorsitzender alleine wird nicht die Dinge ändern können.“ Über dieses Wissen verfügen Herr, Babler usw. ebenso. Allerdings glauben diese offenbar, sie können ihrer eigenen Position mehr Gewicht verleihen, wenn sie die eine oder andere Aussage Kerns als Bestätigung ihres Kurses umdeuten. Das Problem ist aber, dass sie dabei auf eine eigenständige Oppositionspolitik weitgehend verzichten.

In einem Artikel (40) für den Mosaik-Blog problematisiert Fiona Kaiser gemeinsam mit Hanna Lichtenberger das Verschwinden jener kritischer Töne, die man unter Faymann noch laut hören konnte. Die Faymann-KritikerInnen ließen „Kern im Jubel vieles durchgehen, was sie Faymann zurecht vorgeworfen hatten“. Das lasse sich nur vor dem Hintergrund der jahrelangen schwarz-roten Lähmungspolitik verstehen, denn „einen wortgewandten Vorsitzenden mit Charisma, der der FPÖ Contra gibt und sich bei öffentlichen Auftritten nicht blamiert – so einen Vorsitzenden hat die SPÖ schon lange nicht mehr gehabt“. Dieser, fast schon psychologische, Erklärungsansatz für die erneute Geschlossenheit der Partei ist bestimmt gerechtfertigt, allerdings erscheint er uns weder ausreichend noch geeignet, denn er wirkt auf die ganze Angelegenheit entpolitisierend. Vielmehr scheint es, als hätten es die kritischen Kräfte in den krisenhaften Tagen nach Faymanns Abtritt mit der Angst zu tun bekommen – immerhin hat der Richtungsstreit kein vertrauenvolles Licht auf die Partei geworfen und der Koalitionsbruch mit schwarz-blauem Ausblick geisterte bedrohlich durch die sozialdemokratischen Köpfe. Mit dem Führungswechsel konnte die SPÖ ihr Image in der Öffentlichkeit wieder aufpolieren und in den Wahlumfragen gewann sie ein paar Prozentpunkte dazu. Diesen bescheidenen Erfolg wollen anscheinend auch die „Linkeren“ nicht zerstören. Unsere Analyse ist also, dass sich die linken Kräfte innerhalb der SPÖ vor der Konfrontation mittels einer eigenständigen Politik scheuen, denn damit könnten sie die neue Einheit stören und sich unbeliebt machen. Sie wollen erst einmal abwarten, denn entweder es komme wirklich zu Verbesserungen oder die Ausgangslage für eine klare Oppositionspolitik verbessere sich wieder. Diese Taktik ist selbst wieder opportunistisch, denn sie stellt vermeintlich kurzfristige Vorteile für die Partei über die Problematisierung von Problemen, die mittelfristig wieder zur akuten Parteikrise führen werden. Auf diese Weise spielen die „loyalen KritikerInnen“ der von Kern gerührten Illusion in die Hände, laut der eine pragmatische Politik abseits des Links-Rechts-Schemas eine Politik für alle sein könne. Letztendlich dürfte der „linke Flügel“ aus „Kompass“, Teilen der SJ, Linken aus dem VSSTÖ sowie einzelnen GemeinderätInnen und GewerkschafterInnen derzeit auch gar nicht in der Lage zu einer eigenständigen Oppositionspolitik gegenüber der Parteiführung sein, dazu müsste er sich als eigene Kraft auf einer gemeinsamen politischen Basis innerhalb der Partei organisieren.

Die neue Einheit ist brüchig und wird früher oder später wieder aufbrechen. Anlässe dafür sind auch schon absehbar. Wenn die Obergrenze für Asylanträge erreicht ist, wird die ÖVP gemeinsam mit dem rechten SPÖ-Parteiflügel auf die Umsetzung der Notverordnung drängen, um das Asylrecht auszuhebeln. Im Herbst oder Winter könnte es außerdem erneut zu einer Zuspitzung rund um das Thema Pensionsreform kommen und das Wirtschaftspaket könnte sich als Sanierungsmaßnahme auf Kosten der ArbeiterInnenklasse herausstellen. Das grundlegende Problem der SPÖ ist jedenfalls nicht behoben, denn es sitzt viel tiefer als das Problem eines unbeliebten Parteivorsitzenden: Die reformistische Politik der SPÖ zielt (im angeblichen Interesse der Arbeitenden) auf die Verwaltung des kapitalistischen Systems – zu diesem Zweck geht sie auch Koalitionsregierungen mit anderen bürgerlichen Parteien ein und opfert dafür die proletarischen Ambitionen der Parteibasis. Dieses Vorgehen hat die Sozialdemokratie zunehmend von der ArbeiterInnenklasse entfremdet und geschwächt, es hat die Partei so weit in die Macht- und Perspektivlosigkeit geführt, dass jedes ernsthafte Versagen die Frustration in den eigenen Reihen in Wut umwandeln kann, wodurch die Differenzen in der Partei wieder hochkochen würden.

Dass die Differenzen in der Partei eskalieren, bedeutet auf jeden Fall, dass die linken Teile der Partei wieder unter Zugzwang geraten. Das ist nach der prinzipienlosen Unterstützung des „Technokraten“ Kern ein notwendiger und begrüßenswerter Schritt, der die grundlegende Frage, wie lange man als SozialistIn oder nicht rückgratlose/r BetriebsrätIn in derselben Partei wie Faymann und Niessl bleiben kann, erneut aufwirft. Dass das Boot SPÖ unter dem Druck der politischen Krise in Österreich ins Wanken geraten ist, bedeutet aber nicht, dass es notwendigerweise kentern muss. Es gibt kein grundsätzliches Gesetz, dass eine erfolglose Bürokratie die Kontrolle über die Partei verlieren muss. Besonders nicht, wenn die Kräfte links der Sozialdemokratie sich in einem bemerkenswert schwachen Zustand befinden und wenig Anziehungskraft auf politisch aktive ArbeiterInnen und sozialdemokratische Basismitglieder ausüben können. Das gilt besonders, weil die rechten Teile, die „Mitte“ und die Personen um Kern herum die parteiinternen Manöver einer bürokratisierten Partei besser beherrschen als die eher versprengten linken Elemente. Die ungünstigen subjektiven Bedingungen für ein Eingreifen in die Krise der Sozialdemokratie entschuldigen aber auf keinen Fall, die objektiv notwendigen Maßnahmen nicht zu erkennen.

Notwendige Taktiken

MarxistInnen und andere Linke sollten sich von der scheinbaren Geschlossenheit um Christian Kern nicht täuschen lassen – die Einheit ist brüchig und kann sich schon bald wieder in ihr Gegenteil umkehren. Das bedeutet nicht unbedingt einen drohenden Zerfall der Partei. Auch in der Krise ist der bürokratische Griff auf die Strukturen fest und routiniert. Aber in die Umbrüche der dominanten ArbeiterInnenpartei in Österreich einzugreifen oder zumindest ein Verständnis zu haben, wie das zu erfolgen hätte, ist notwendig. Vorsicht ist hier besser als Nachsicht, daher sollte die Frage gestellt werden, wie ernsthafte Umbrüche in der Parteikrise für die Formierung einer neuen ArbeiterInnenpartei genutzt werden können, denn eine solche wird nur unter Einbeziehung der besten Elemente der jetzigen ArbeiterInnenbewegung entstehen können. Die „österreichische Linke“ war in der ganzen Zweiten Republik in kaum einer Situation, wo eine Neuformierung der ArbeiterInnenbewegung als solche realistisch erschien. Kein Wunder, dass sie von einem besonderen Pessimismus geplagt ist, der opportunistische und sektiererische Fehler begünstigt.

Die zentrale Aufgabe für RevolutionärInnen in Österreich ist der Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei und eine solche kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Dominanz der Sozialdemokratie in der ArbeiterInnenklasse überwindet. Die tiefgreifende Krise der SPÖ macht es möglich, dass sich die ArbeiterInnenbewegung in den nächsten Jahren grundlegend verändern könnte. Gerade wegen der organischen Verbindung der SPÖ und FSG zur ArbeiterInnenklasse und gerade, weil ihre Dominanz ungebrochen ist, ist es notwendig für den Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei die fortschrittlicheren Teile der sozialdemokratischen Basis und linke BetriebsrätInnen zu gewinnen.

Ob so ein Vorhaben gelingt, wird nicht nur von der politisch-ökonomischen Entwicklung abhängen, sondern auch davon, ob die „österreichische Linke“ in Konflikte innerhalb der Partei hineinwirken kann. Die kommunistische Bewegung hat in ihrer Vergangenheit unter dem Begriff „Einheitsfront“ eine Reihe von Taktiken entwickelt, um die Führung der Sozialdemokratie über die ArbeiterInnenklasse zu brechen. Um die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnen im Kampf zu gewährleisten, sah sie Absprachen und eine Zusammenarbeit unter den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung vor. Gleichzeitig wollte man damit die Fehler des Reformismus in der Praxis aufzeigen und die Gewinnung der Arbeitenden für den Kommunismus erleichtern.

Aus dem Arsenal der Einheitsfront stammt auch die ArbeiterInnenparteitaktik. Die Losung „Schafft eine neue ArbeiterInnenpartei!“ hat enorme Bedeutung, um die Klasse und ihre Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei loszulösen (z. B. in Argentinien weg vom Peronismus, in den USA Bruch mit der Demokratischen Partei). Trotzki schlug folgendes Vorgehen gegenüber den verschiedenen Initiativen zur Bildung einer ArbeiterInnen in den USA der 1930er Jahre vor:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeosie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Laborparty zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation  auch innerhalb der Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden.. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.“ (41)

„Die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie oder stalinistischer Parteien hat heute in einigen Ländern die Möglichkeit geschaffen, dass die ArbeiterInnenparteitaktk auch angewandt werden kann, wenn es schon eine etablierte, reformistische Partei gibt (z. B. in Deutschland bei Formierung der WASG).“ (42)

Österreich befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie Deutschland 2003/2004!

Die Partei steht aber bei weitem noch nicht direkt vor einer Spaltung, geschweige denn vor einem gemeinsamen Austritt der linken Teile, die für ein sozialistisches Programm gewonnen werden könnten. Die öffentlich sichtbaren Teile der SPÖ, die in der Öffentlichkeit als der „linke Flügel“ dargestellt und von den linken Teilen der Basis zum größten Teil auch als ihre Führung respektiert werden, sind im besten Falle linke ReformistInnen oder sogar KarrieristInnen auf der Suche nach einer innerparteilichen Plattform, die kein Interesse an einer Spaltung haben.

Die drohende Existenzkrise der SPÖ und ihre weitere Rechtsentwicklung im Rahmen der Krise haben ihre Spuren nicht nur in der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den politischen Organisationen links von der SPÖ hinterlassen. Das Projekt „Aufbruch“ ist eine direkte Reaktion auf das Fehlen von zumindest selbsterklärt klassenbewusster Politik in Österreich und könnte aus der Parteikrise am ehesten Vorteile ziehen. Es geht dabei um eine Organisierungskampagne mit dem Ziel einer linken Vereinigung, die im Juni 2016 in Wien mit einer Aktionskonferenz ins Leben gerufen wurde. Die über 1000 Teilnehmenden auf der ersten Konferenz repräsentierten relevante Teile der organisierten und unorganisierten Linken sowie der „Zivilgesellschaft“ links der SPÖ. Mehrere hundert Personen beteiligten sich an den Vorbereitungen für verschiedene Schwerpunktkampagnen unter dem gemeinsamen Slogan „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“ und an den lokalen Strukturen des „Aufbruch“. Das stellt einen quantitativen und angesichts des breiten Spektrums, das angesprochen wird, auch einen qualitativen Schritt nach vorne dar.

So gut auch die OrganisatorInnen des Projekts den richtigen Zeitpunkt damit getroffen haben, so schlecht ist aber die Aufbauperspektive. Statt einer Partei oder einer Vereinigung mit einem politischen Programm sollen die Kampagnen für den notwendigen Zusammenhalt und öffentliche Bekanntheit sorgen.

Die sehr schnell aufgebauten lokalen „Aufbruch“-Treffen, die auch Delegierte in die zentrale „Koordination“ schicken, sind zwar ein wichtiger Ansatz. Aber die Kampagnen, halb-bindenden Koordinationsgremien und unklaren politischen Grundlagen entsprechen mehr einem politischen Netzwerk, wie etwa der „Interventionistischen Linken“ in Deutschland, als dem einer neuen Partei. Inhaltliche Kampagnen und produktive Zusammenarbeit können aber nicht die notwendige neue Organisation der ArbeiterInnen, eine neue ArbeiterInnenpartei ersetzen.

Den Kampf für den Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei zu führen ist eine zentrale Aufgabe von RevolutionärInnen heute. Dazu ist es notwendig, einen Großteil der Kräfte links der etablierten, reformistischen SPÖ zusammenzubringen, wie es der „Aufbruch“ ermöglicht. Es gilt zum einen, eine kritische Masse an AktivistInnen und kämpferischen ArbeiterInnen in diesen Prozess einzubinden. Zum anderen ist es notwendig, eine politische Debatte um die programmatischen Grundlagen einer solchen neuen Partei offen, strukturiert und ergebnisorientiert zu führen. Dabei müssen KommunistInnen von Beginn an für ein revolutionäres, sozialistisches und antikapitalistisches Aktionsprogramm eintreten.

Darauf muss die Politik von RevolutionärInnen in Bezug auf solche linken Vereinigungsprojekte, wenn sie das Potential dazu haben, ausgerichtet sein. Es geht hierbei zentral darum, die Basis und das Umfeld des Projekts anzusprechen, um den Grundstein für die notwendige Verankerung in der ArbeiterInnenklasse legen zu können. Die Vorgehensweise, halb über Absprachen und halb über lokale Delegationen an die Spitze solch eines Projekts zu kommen statt eine demokratische und transparente Programmdiskussion durchzusetzen, führt zu einer Bürokratisierung, vor allem aber dazu, dass die politischen Kernfragen auf die lange Bank geschoben werden. So wird auch noch außerhalb der SPÖ die Politik der SPÖ-Linken nachgeahmt.

Dass viele politische Fragen – vor allem die brennende Debatte eine Positionierung bei den Präsidentschaftswahlen – ungeklärt sind und auch bleiben sollen, ist ein Problem des „Aufbruch“, das, wird es nicht überwunden, nur zu dessen Scheitern und Demoralisierung führen kann. Eine glaubhafte Alternative zur Tragödie des rechten Reformismus der SPÖ darf sich nicht als etwas linkere, etwas sozialere, aber weitgehend harmlose Alternative präsentieren, sondern muss klare politische Antworten auf die brennenden Probleme der ArbeiterInnen geben. Dazu braucht es auch einen transparenten und demokratischen Diskussionsprozess und letztendlich ein Aktionsprogramm, das über die thematisch beschränkten Slogans der einzelnen Kampagnen hinausgeht. Nur mit einer klaren Programmatik, demokratischen Strukturen und einer Politik, die sich auf die ArbeiterInnen statt auf das universitäre Umfeld der meisten linken Organisationen ausrichtet, kann der „Aufbruch“ erfolgreich sein.

Auch die Methode der im Aufbruch bestimmenden Kräfte – linken ReformistInnen aus SPÖ-Teilorganisationen oder NGOs, „Postautonomen“ und ZentristInnen aus dem trotzkistischen Spektrum – muss sich grundlegend ändern, wenn sie unorganisierte ArbeiterInnen oder die SPÖ-Basis erfolgreich ansprechen wollen. Sie haben es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, sich in den kleinen und großen Klassenkämpfen nachhaltig einzubringen und sich eine ernstzunehmende Verankerung aufzubauen. Stattdessen hat sich der größte Teil der linken Politik auf die Universitäten konzentriert. Schritte über dieses Milieu hinaus blieben fast immer erfolglos. Auch bei der Intervention (oder sogar der Führung) von sozialen Bewegungen, zum Beispiel antifaschistischen und antirassistischen Protesten, ist es ihnen nicht gelungen, sich auf die an den Kämpfen beteiligten ArbeiterInnen auszurichten. Die Aktionen wurden vor allem auf Universitäten beworben, das Angebot auf Studierende und linke BildungsbürgerInnen ausgerichtet und es beteiligten sich vor allem diese Schichten. Wenn mit dieser Methode, Politik in der „Echokammer“ der „linken Szene“ unter Vernachlässigung politischer Kritik an den bestenfalls reformistischen Führungen zu machen, nicht gebrochen wird, bleibt der Aufbruch für die Mehrheit selbst der fortschrittlichsten SPÖ-Basis-Mitglieder und unteren Funktionärsebenen unattraktiv.

Das Fehlen von Programm und Perspektive ist nur die andere Seite davon, dass dem „Aufbruch“ ein angemessenes taktisches Verständnis gegenüber der Sozialdemokratie fehlt. Ein Ansatz zur Einheitsfront hier und heute sind zum Beispiel betriebliche und kollektivvertragliche Auseinandersetzungen, die im Herbst ohne Zweifel auf uns zukommen. Hier können AktivistInnen Solidaritäts- und Unterstützungskampagnen für die Beschäftigten starten, sie in den „Aufbruch“ einbinden, die Zusammenarbeit mit linken sozialdemokratischen BetriebsrätInnen suchen, die Gewerkschaften im Kampf unterstützen und zugleich die politischen Fehler der Führung kritisieren.

Ein anderer Ansatz ist der Kampf gegen weitere rassistische Verschärfungen, welche die Bundesregierung plant, wie etwa eine mögliche Notverordnung zum Stopp von Asylanträgen. Bündnisse mit sozialdemokratischen Jugendorganisationen und fortschrittlichen Teilen der Gewerkschaften gegen die Parteiführung sind nicht nur denkbar, sondern müssen offensiv eingefordert werden. Auf diese Weise kann der Konflikt um die Asylpolitik der Sozialdemokratie wieder aufgebrochen werden.

Zu guter Letzt kann der „Aufbruch“ der sozialdemokratischen Bewegung (oder realistisch zumindest ihren fortschrittlicheren Teilen) ein Angebot zur Mitarbeit in der Kampagne machen. Denkbar wären hier zum Beispiel Maßnahmen zur Verteidigung der Mindestsicherung vor den Kürzungsplänen der ÖVP. Das würde so einer Kampagne eine reale Stärke geben, Teile der sozialdemokratischen AnhängerInnenschaft aktivieren und Verbindungen zu sozialdemokratischen AkteurInnen schaffen, die zukünftig von Vorteil sein könnten.

Was aber für die Linken in der SPÖ gilt, gilt ebenso für die Aktiven im „Aufbruch“ – sie haben keine gemeinsame politische Basis. Außerdem gibt es im „Aufbruch“ kaum Leute, die sich eine eigenständige Taktik gegenüber der Sozialdemokratie vorstellen können. Einzelne AkteurInnen wie Fiona Kaiser oder „Der Funke“ scheinen keine Verbindung zwischen der Unterstützung des „Aufbruch“ und einem kritischen Engagement in der Sozialdemokratie herzustellen. Zusätzlich stellt der „Aufbruch“ kaum den Anspruch, auf politische Entwicklungen zu reagieren, er habe ja auf der Konferenz eine mittelfristige Aktionsperspektive beschlossen, die man nun ausschließlich umsetzen müsse. Aber auch wenn dieses Argument nicht existieren würde, gibt es keine legitime politische Führung. So mangelt es den Entscheidungen an Legitimität und den EntscheidungsträgerInnen an Rechenschaftspflicht. Zugleich können sie sich so der Aufgabe entziehen, grundlegende politische und taktische Entscheidungen für Plena oder Delegiertenkonferenzen vorzubereiten. Erst durch dieses Versäumnis erscheinen die alle paar Monate statt findenden Delegiertenkonferenzen zu schwerfällig, um taktische Entscheidungen zu treffen. Hier erweisen sich schon kurz nach der Gründung die Organisationsform („Kampagne“) und die politische Breite als hemmend, um auf notwendige Entwicklungen zu reagieren. Sollte es nicht bald gelingen, diese Herausforderungen zu bewältigen, droht die Möglichkeit, den Grundstein für eine neue Partei der ArbeiterInnen zu legen, ungenutzt vorüberzugehen.

Die heutige Situation, in der die Krisenentwicklung der österreichischen und der gesamteuropäischen politischen Ökonomie und die sich seit Jahrzehnten verschärfenden Niedergangstendenzen der Sozialdemokratie zeitlich mit dem Anspruch einer neuen, klassenbewussten linken Organisation zusammenfallen, bietet historische Möglichkeiten für RevolutionärInnen, ihre Verankerung in der ArbeiterInnenklasse zu vervielfachen und in weiterer, späterer Folge die Dominanz des Reformismus über die ArbeiterInnenbewegung anzugreifen. In dieser Situation sind klare Analysen, harte, aber zugleich solidarische Kritik und politische Auseinandersetzung unersetzlich. Dann können uns eine geschickte Anwendung revolutionär-kommunistischer Taktiken und der Kampf für ein revolutionär-kommunistisches Programm der Überwindung der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse zumindest einen Schritt näherbringen.

 

Endnoten und Anmerkungen

(1) Sandner, Günther: Sozialdemokratie in Österreich, Von den Anfängen der Arbeiterbewegung zur modernen Sozialdemokratie, Wien, 2. Auflage, 2013, Karl-Renner-Institut, S. 59

(2) Eine Abbildung der Nationalratswahl-Ergebnisse in der II. Republik findet sich online unter: de.wikipedia.org/wiki/ Sozialdemokratische_Partei%C3%96sterreichs#/media/ File:Spoe_nationalratswahl.png (abgerufen am 31. Juli 2016)

(3) „Parteibuch bricht weg“, unter: www.orf.at/stories/2254885/2254886/ (abgerufen am 12. Juli 2016)

(4) Zum genaueren Verständnis der bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verweisen wir auf „Thesen zum Reformismus – die bürgerliche Arbeiterpartei“ in:  „Revolutionärer Marxismus“ 44, Berlin, November 2012

(5) SPÖ-Grundsatzprogramm 1998, online unter: https://parteiderarbeit.spoe.at/das-spoe-parteiprogramm (abgerufen am 31. Juli 2016)

(6) Bei den Nationalratswahlen 2014 erhielt die SPÖ 24 % der Stimmen der ArbeiterInnen und 26 % der Stimmen der Angestellten, d. h. 26 % der lohnabhängigen Stimmen, s. SORA/ISA im Auftrag des ORF: Wahlanalyse Nationalratswahl 2013, online unter: www.sora.at/ fileadmin/downloads/wahlen/2013_NRW_Wahlanalyse.pdf (abgerufen am 31. Juli 2016)

(7) SPÖ-Grundsatzprogramm 1998, online unter: www.parteiderarbeit.spoe.at/das-spoe-parteiprogramm (abgerufen am 31. Juli 2016)

(8) Die bereinigte Lohnquote bezeichnet den Anteil des Einkommens der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen, bereinigt durch die Veränderung der Erwerbstätigenstruktur.

(9) Guger, Marterbauer: Die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Österreich, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, S. 258, online unter: www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/5/3/8/CH2171/ CMS1218533993618/12_einkommen.pdf (abgerufen am 31. Juli 2016)

(10) Die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen (PKPL) ist ein informelles Gremium zur Zusammenarbeit der „Sozialpartner“ (d. h. Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer) mit Unterausschüssen zu Lohn-, Preis-, Wirtschaftsfragen und internationalen Fragen. Die Kommission ist nicht gesetzlich verankert und kann daher auch keine verbindlichen Entscheidungen treffen.

(11) Ausschlaggebend für Faymanns Rücktritt waren die Streitigkeiten in der Partei über den Asylkurs der Regierung, den Faymann nicht nur mittrug, sondern mitgestaltete. Zum Rückhalt seines Kurses in den eigenen Reihen meinte er: „Die Mehrheit ist zu wenig“.

(12) Eine Sonderregelung der Pensionsversicherung für Langzeitversicherte und Schwerarbeitende.

(13) „SPÖ bringt vier von fünf Punkten gegen die Teuerung durch!“, unter: www.bezirkneunkirchen.spoe.at/artikel/spoe-bringt-vier-von-fuenf-punkten-gegen-die-teuerung-durch“ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(14) „Das zweite Konjunkturpaket im Detail“, unter: http://diepresse.com/home/politik/ innenpolitik/439909/Das-zweite-Konjunkturpaket-im-Detail?direct=439847&_vl_backlink=/ home/wirtschaft/economist/439847/ index.do&selChannel=&from=articlemore (abgerufen am 30. Mai 2016)

(15) „Weitere Milliarden könnten folgen“, unter: „http://www.orf.at/stories/2198075/ 2198148/ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(16) Die Details diese Sparpakets aus dem Jahr 2010 finden sich in: „Wo das Geld herkommen soll“, unter: http://www.orf.at/stories/2032510/2031300/ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(17) Ein Überblick über die Eckpunkte des Sparpakets 2012 findet sich in: „Von Harmonisierung der Pensionen bis Halbierung der Bausparförderung“, unter: http://derstandard.at/ 1328507461488/Das-Sparpaket-im-Detail-Von-Harmonisierung-der-Pensionen-bis-Halbierung-der-Bausparfoerderung?_artikelIndex=1 (abgerufen am 30. Mai 2016)

(18) Baumann, Meret: Bilanz der österreichischen Regierung; Pleiten, Pech und Pannen, 26.3.2014, unter: http://www.nzz.ch/pleiten-pech-und-pannen-1.18270379 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(19) Eine ausführlichere Analyse der Steuerreform haben wir im Artikel „Steuerreform: Ja zur Entlastung, nein zu schlechten Kompromissen!“ erstellt, unter: http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=1627 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(20) „Die 18 Niederlagen der Ära Faymann und des Kanzlers Erklärungsversuche“: http://derstandard.at/2000036295227/Die-18-Niederlagen-der-Aera-Faymann-und-des-Kanzlers-Erklaerungsversuche (abgerufen am 6. Juni 2016)

(21) „Innenministerium hält an Zaunbau fest“, unter: http://orf.at/stories/2313997/2313999/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(22) „Asyl-Novelle: SPÖ und ÖVP stellen Kompromiss vor“, unter: http://www.krone.at/ oesterreich/asyl-novelle-spoe-und-oevp-stellen-kompromiss-vor-notfallverordnung-story-507199 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(23) „Kritik an Notfallverordnung im Asylgesetz“, unter: http://www.heute.at/news/politik/Kritik-an-Notfallverordnung-im-Asylgesetz;art23660,1282108 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(24) „SPÖ-Umfrage: Zwei Drittel für Asyl-Obergrenze“, unter: http://www.heute.at/news/ politik/SPOE-Umfrage-Zwei-Drittel-fuer-Asyl-Obergrenze;art23660,1255928 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(25) Internationalismus bedeutet in der ArbeiterInnenbewegung den Standpunkt der internationalen ArbeiterInnenklasse einzunehmen und ein spezifisch-nationales Interesse abzulehnen.

(26) Lenin, W. I.: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, in: LW 22, Berlin/O., 1972 (3. Auflage), S. 111

(27) Als Imperialismus bezeichnen wir das höchste Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem die zunehmende Konzentration des Kapitals die freie Konkurrenz am Markt durch das Monopol ablöst und sie auf der Ebene des Weltmarkts verschärft. In diesem Stadium ist der Weltmarkt unter kapitalistische Großmächte aufgeteilt.

(28) „Buchinger-Clan: Schreiendes Rot und wahre Revoluzzer“, unter: http://diepresse.com/ home/politik/innenpolitik/544789/BuchingerClan_Schreiendes-Rot-und-wahre-Revoluzzer (abgerufen am 31. Juli 2016)

(29) „Reger Zuwachs für rote Rebellen“, unter: http://mobil.derstandard.at/2000020366733/ Reger-Zuwachs-fuer-rote-Rebellen (abgerufen am 31. Juli 2016)

(30) „Zustand der SPÖ ist dramatisch“, unter: http://www.derfunke.at/aktuelles/jugend/ 10378-zustand-der-spoe-ist-dramatisch (abgerufen am 31. Juli 2016)

(31) „Vorwärts GenossInnen, vorwärts!“, unter: http://www.ots.at/presseaussendung/ OTS_20160625_OTS0019/vorwaerts-genossinnen-vorwaerts (abgerufen am 31. Juli 2016)

(32) „SJ-Herr ad SPÖ: Politische Stärke und Einheit braucht demokratischen Neustart“, unter: http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20160509_OTS0133/sj-herr-ad-spoe-politische-staerke-und-einigkeit-braucht-demokratischen-neustart (abgerufen am 31. Juli 2016)

(33) Die Initiative „Aufbruch“ versteht sich als Organisierungskampage zu den Themen „Reichtum“, „Arbeit“ und „Gesundheit/Soziales“. Diese wurde mit einer Aktionskonferenz am 3. und 4. Juni 2016 in Wien mit bis zu 1.000 Teilnehmenden ins Leben gerufen und stellt den Anspruch einer neuen linken Organisierung.

(34) „Salzburgs SPÖ-Chef gegen Kanzler Faymann“, unter: http://salzburg.orf.at/news/stories/2772485/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(35) „Josef Muchitsch: Werner, bitte lass los!“, unter: http://www.profil.at/meinung/josef-muchitsch-werner-faymann-ruecktritt-kern-6352303 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(36) „Koalition will Asylwerber beschäftigen“ unter: http://derstandard.at/2000039465141/ Koalition-will-Asylwerber-beschaeftigen (abgerufen am 31. Juli 2016)

(37) „Registrierkassen: Unmut bleibt trotz Entschärfungen“, unter: http://kurier.at/politik/ inland/registrierkassen-unmut-bleibt-trotz-entschaerfungen/205.715.635 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(38) Steinschaden, Josef: Das neue Start-up-Paket: SPÖ und ÖVP einigen sich auf Maßnahmen im Rahmen von 185 Millionen Euro, unter: https://www.trendingtopics.at/start-up-paket-spoe-und-oevp-einigen-sich-auf-massnahmen-im-rahmen-von-184-millionen-euro/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(39) „Regierung will Wirtschaft ankurbeln“, unter: http://www.nachrichten.at/nachrichten/ politik/innenpolitik/Regierung-will-Wirtschaft-ankurbeln;art385,2279341 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(40) Kaiser, Lichtenberger: Macht Kerns Coolness KritikerInnen blind?, unter: http://mosaik-blog.at/christian-kern-coolness-kritik-fiona-kaiser-hanna-lichtenberger/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(41) Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale: Thesen zum Reformismus, in: „Revolutionärer Marxismus“ 44, Berlin, November 2012, S. 176

(42) Suchanek, Martin: Krise, Klasse, Umgruppierung, Strategie und Taktik in der aktuellen Periode, in: „Revolutionärer Marxismus“ 47, Berlin, September 2015, S. 50 f.




Nein zur Großen Koalition!

Markus Lehner, Infomail 981, 14. Januar 18

Nach der verlorenen Bundestagswahl hatte die SPD noch verkündet, dass es ein „Weiter so“ nicht geben könne und die Partei sich auf sozialer Grundlage wieder „erneuern“ müsse. Eine kräftige Opposition („eins in die Fresse“) im Sinne der noch verbliebenen Klientel bei den abhängig Beschäftigten wurde versprochen. Wem sich diese Partei vor allem verpflichtet fühlt, weiß man ja eigentlich spätestens schon seit 1914, als man sich auch schon als „staatstragend“ erwies. Die ArbeiterInnenbasis wird allemal verarscht, wenn es darum geht, dem Staat des Kapitals zu dienen. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen war es daher keine Überraschung, dass sich die SPD-Führung wieder als günstig zu habende Mehrheitsbeschafferin für die Unionsparteien bereitfand.

Dies ist auch insofern nicht überraschend, da die wesentliche Verbindung der SPD, die sie noch zur ArbeiterInnenklasse aufweist, die Gewerkschafts- und Betriebsrätebürokratie darstellt. Die Spitzen der letzteren waren selbst nach dieser Wahlschlappe weiterhin überzeugte GroßkoalitionärInnen. Ihnen ist der direkte Draht zum Arbeits- und Sozialministerium die Essenz der „Sozialpartnerschaft“ – also des geordneten Ausverkaufs der Interessen der ArbeiterInnenklasse, solange nur Gewerkschaften und Betriebsräte dabei „mitbestimmen“ dürfen.

Ergebnis der Sondierungsverhandlungen

Dies ist letztich auch der Geist der „sozialdemokratischen Handschrift“ in dem am 12.1. veröffentlichten Einigungs-Dokument „Ergebnisse der Sondierungsverhandlungen von CDU/CSU und SPD“. In nächtelangem „Ringen um Kompromisse“ (ähnlich wie bei Tarifverhandlungen) wurden wieder mal sämtliche grundlegenden SPD-Forderungen abgeräumt, um dann ein paar soziale Brosamen als „hervorragendes Ergebnis“ (Originalton Martin Schulz) zu feiern. Selbst die moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 45 % (bei um die 100.000 Euro Jahreseinkommen) wurde vollständig und ohne Ersatz aufgegeben. Dies wäre noch die einzige tatsächliche Umverteilungsaktion im SPD-Programm gewesen. Angesichts der enorm gestiegenen Schere zwischen großen Einkommen und denen des überwältigenden Rests wäre das das Mindeste gewesen. Ganz zu schweigen von Besteuerung der gewaltig gestiegenen Vermögen – Vermögensbesteuerung traut sich die SPD angesichts der zu erwartenden bürgerlich-medialen Empörung schon überhaupt nicht mehr, mal zu erwähnen. Das ganze Kapitel zu Steuern enthält genau nichts außer der schrittweisen Absenkung des Solidaritätsbeitrags – also einer allgemeinen, vor allem für höhere Einkommen relevanten Steuersenkung. Das ganze Finanzierungskonzept der KoalitionärInnen in spe beruht also auf der derzeitig günstigen Finanzlage, die sich aus historisch niedrigen Zinsen und einer gerade günstigen Konjunkturlage ergibt. Dass hier keine langfristige Finanzplanung vorgelegt wird, bedeutet, dass sowohl das absehbare Ende der Nullzinspolitik der EZB (Europäische Zentralbank) als auch der wahrscheinliche Konjunktureinbruch im Laufe der Legislaturperiode sofort zu Haushaltslücken und zum Gezeter über nötige Sparpakete führen wird – natürlich auf Kosten eben besagter sozialer Brosamen. So wird hier mit diesem scheinbar „leichten Zugeständnis“ in der Steuerpolitik der nächste zukünftige Angriff auf die ArbeiterInnenklasse zielsicher vorbereitet.

Statt also auf Grundlage von Besteuerung der Profite die nötigsten Maßnahmen gegen Verarmung und Prekarisierung weiter Bevölkerungsteile anzugehen, wird der Angriff auf Beschäftigtenrechte weitergeführt, mit sozialdemokratischer „Abmilderung“. Zu dem entscheidenden Feld der Leiharbeit steht der einzige Satz im Ergebnispapier, dass es 2019 eine „Evaluierung“ des Arbeiternehmerüberlassungsgesetzes geben wird. Von einem notwendigen Verbot der Leiharbeit also keine Spur! SPD und Gewerkschaftsführung werden bei besagter Evaluierung sicher weiterhin Leiharbeit als „Standortvorteil“ für die Großkonzerne in welcher Pseudo-Regulierung auch immer verteidigen. Einzige konkrete Maßnahme ist die schon in der letzten GroKo angekündigte Umsetzung des Rechts auf befristete Teilzeit mit Rückkehrrecht. Dazu wurde zur angeblichen Beschleunigung der Umsetzung in das sonst so blumige Papier eine Unmenge an konkreten Ausnahmebestimmungen (nicht für Betriebe unter 200 Beschäftigte, Grenzen für größere Firmen, keine Verlängerungs- oder Verkürzungsrechte….) hineingeschrieben. Angesichts der gerade laufenden Auseinandersetzung um das 28-Stunden-Teilzeitrecht in der Metallindustrie ist zu befürchten, dass die Arbeit„geber“Innen auch bei der Beratung zu diesem Gesetz noch weitere Verwässerungen durchsetzen werden – und die „Wirtschaftssachverständigen“ angesichts des „Fachkräftemangels“ sicher zur Kompensation die Flexibilisierungen der Arbeitzeithöchstgrenzen fordern werden.

Zu den sozialen Brosamen zählen die Garantie eines nicht unter 48 % sinkenden Rentenniveaus, die Grundrente von 10 % über der Grundsicherung, die Erhöhung des Kindergeldes sowie eine Absichtserklärung zum Bau von 1,5 Millionen „erschwinglicher“ Wohnungen. Eine Änderung der Rentenformel wird angesichts der neoliberalen Fiananzierungslogik bei entsprechend schlechterer Einnahmensituation nicht ein weiteres Absenken verhindern. Eine Rentenreform, die die bestehenden Ungerechtigkeiten (z. B. Unterschied zu den Pensionen, Finanzierungsmöglichkeiten der Vermögenden) und Finanzierungsprobleme (z. B. durch ein steuerbasiertes System) behebt, sieht anders aus. Auch die Grundrente, die derzeit für eine Einzelperson damit etwa bei 900 Euro liegen würde, ist alles andere als ein Gegensteuern gegen die wachsende Altersarmut, ebenso wie 25 Euro mehr an Kindergeld ein Tropfen auf den heißen Stein wachsender Probleme junger Familien oder Alleinerziehender darstellt.

Die 2 Milliarden Euro, die für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden sollen, erscheinen als wenigstens mal eine Art Wiedereinstieg in denselben. Allerdings ist die geplante Umsetzung angesichts der Bund-/Länder-/Kommunal-Kompentenzen sehr ungewiss. Konkret wird nur deutlich, dass vor allem frei finanzierter Wohnbau und Wohneigentum gefördert werden sollen, also der Sektor, der gerade nicht sozial Schwachen zugutekommt. Dazu passt, dass weiterhin nichts Konkretes zur tatsächlichen Beschränkung der explodierenden Mieten im Dokument steht – außer natürlich, dass die Mietpreisbremse demnächst „evaluiert“ werden soll.

Als großen Erfolg der SPD-VerhandlerInnen feiern diese die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der Krankenversicherung – dabei wurde von einer SPD-geführten Regierung selbst dieses Prinzip durchbrochen. Dabei bleibt das Papier in Bezug auf die Umsetzung aber vage – was mit Zusatzbeiträgen und Zuzahlungen geschehen soll, bleibt unklar, da nur von paritätischen Beiträgen zur Krankenversicherung die Rede ist. Ganz abgeräumt wurde die von der SPD großspurig angepriesene „Bürgerversicherung“. Nicht mal ein Einstieg in die Überwindung der Ungleichbehandlung von Privatversicherten und KassenpatientInnen ist auch nur erwähnt – ein Punkt, der für die SPD-Führung besonders schändlich ist.

Auch die gefeierten Versprechen für Bildungsinvestitionen haben einen Haken: sie erfordern eine Grundgesetzänderung, um dem Bund überhaupt den Eingriff in die Bildungshoheit der Länder an diesen Stellen zu erlauben (Stichwort „Kooperationsverbot“). Dabei ist die GroKo dann auf Oppositionsparteien angewiesen. Von der Union wird da natürlich vor allem an die FDP gedacht. Diese wird sich ihre Zustimmung sicherlich mit Zugeständnissen in Bezug auf die zu fördernden Schultypen abkaufen lassen.

Zusätzlich relativiert werden die Finanzsummen für „Neuinvestitionen“, wenn man liest, dass auch der Etat der Bundeswehr um 2 Milliarden Euro erhöht werden soll, um das selbst gesetzte Ziel von 0,7 % des BIP für die Militärausgaben zu erzielen. Dies soll natürlich im Rahmen eines Ausbaus der „europäischen Verteidigungsfähigkeit“ erfolgen – dabei wird explizit das neue militaristische Projekt der EU, die Beteiligung an PESCO, genannt.

EU-Imperialismus und Rassismus

Insgesamt wird besonders im Teil zur Europäischen Union die staatspolitische Bedeutung des Dokuments klar. Das Verhältnis zur EU und besonders zu Frankreich stellt den Kern der Differenzen innerhalb der deutschen Bourgeoisie dar, der auch zur derzeitigen Krise bei der Regierungsbeteiligung geführt hat. Insbesondere das Verhalten zu den Vorschlägen des französischen Staatspräsidenten Macron stellte eine Herausforderung für die bisherige EU-Politik dar. So war es die völlig ablehnende Haltung der FDP zu einer stärkeren Integration vor allem in Finanzfragen, die letztlich die Jamaika-Verhandlungen zum Scheitern gebracht hat. Tatsächlich sind auch weite Teile der Union, insbesondere die CSU, hier weiterhin auf einer kompromisslosen neoliberalen Linie. Dies spiegelt sich in einer gewissen Schwammigkeit des Sondierungs-Dokuments gerade in dieser Frage wider – was weitere Auseinandersetzungen und Krisen in den nächsten Jahren hierzu vorhersehen lässt. An der entscheidenden Stelle besagt das Dokument:

„ Dabei befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein können…. Wir wollen in diesem Sinne und insbesondere auch in enger Partnerschaft mit Frankreich die Eurozone nachhaltig stärken und reformieren, so dass der Euro globalen Krisen besser standhalten kann“.

Hier werden in äußerst vager Form die Vorschläge Macrons eines stetig steigenden Investivhaushalts und der Schaffung eines Euro-Finanzministeriums „aufgegriffen“. An anderer Stelle wird eine Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen bis hin zu einem neuen Élysée-Vertrag angesprochen. Ebenso vage bleiben Ankündigungen in Bezug auf europaweite Festlegungen von Mindestsätzen bei der Unternehmensgewinnbesteuerung und einen europäischen Sozialpakt zur Herstellung gleicher Bedingungen für Löhne und Arbeitsverhältnisse, die für alle an einem Ort Arbeitenden gleich sein sollen. Was hier an tatsächlicher Politik herauskommen wird, kann man daran ablesen, dass dies schon „Vorhaben“ der letzten GroKo waren.

Der wahre Geist des Dokuments kommt natürlich beim Thema Migration und Klimaschutz zum Ausdruck. Die rassistischen Vorgaben der CSU zur „Begrenzung“ der Migration (220.000 Obergrenze jährlich und Beschränkung des Familiennachzugs bei Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus auf 1000 pro Monat) wurden voll übernommen. Dazu wurden noch die zentralen Aufnahmeeinrichtungen – eine Art Flüchtlingskonzentrationslager, die so natürlich nicht bezeichnet werden –, wie es sich die Unions-RassistInnen gewünscht haben, in das Dokument aufgenommen. Die SPD hat sich hier nochmals als selbsternannte „Verteidigerin des Grundrechts auf Asyl“ bis auf die Knochen blamiert.

Dass das von der letzten GroKo selbst gesetzte Klimaziel gleich als erstes von den SondiererInnen aufgegeben wurde, zeigt, wie „langfristig“ und „grundlegend“ die GroßkoalitionärInnen mit solch entscheidenen Fragen wie der bedrohten Zukunft des Planeten insgesamt umgehen – wenn es um Kosten für den „Industriestandort Deutschland“ geht.

Dieses Dokument der Schande muss zu Fall gebracht werden – egal, ob durch Proteste vor der endgültigen Entscheidung der SPD oder im Fall der Regierungsbildung zur Verhinderung der Maßnahmen. Im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzungen, des sozialen Widerstands, der anti-rassistischen Mobilisierungen, der Klima-Proteste etc. muss die Gegenwehr gegen diese Politik auf die Straße gebracht und gebündelt werden. Die Jusos und SPD-Linken, die jetzt gegen dieses Dokument protestieren, müssen in ihrem Widerstand sich glaubhaft mit diesem Protest der Straße verbinden. Der Juso-Vorsitzende Kühnert hat einige der Kritikpunkte richtig benannt und auch Teilerfolge erzielt (z. B. bei der Ablehnung des Dokuments beim SPD-Landesparteitag in Sachsen-Anhalt). Jusos und SPD-Linke müssen jetzt ihren Worten Taten folgen lassen und einen Fraktionskampf in der SPD beginnen, der die bestehende Führung, die für diesen neuerlichen Verrat verantwortlich ist, stürzen soll. Ebenso muss die Linkspartei jenseits inhaltsleerer Forderungen nach einer neuen „linken Sammlungsbewegung“ (Lafontaine) zu Protesten und Demonstrationen aufrufen. Nur aus solchen heraus kann der Wunsch nach einer wirklich anderen und sozialistischen Politik zu einer Machtoption werden – nicht durch weitere parlamentarische Klüngelspielchen. Bringen wir die Möchtegern-GroßkoalitionärInnen zu Fall und kämpfen gemeinsam für das Ende ihrer Politik!




Dilma Rousseff an der FU Berlin: Reformistische Traumwelten

Martin Suchanek, Infomail 971, 15. November 2017

Der Hörsaal war überfüllt, 400 ZuhörerInnen wollten die weggeputschte Präsidentin Brasiliens sehen und hören. Mit Standing Ovations wurde Dilma Rousseff im Hörsaal A des Henry-Ford-Baus empfangen. Die Mehrzahl des Publikums bildeten studierende, lehrende und andere AnhängerInnen der Präsidentin, darunter ein guter Teil von in Berlin lebenden BrasilianerInnen. Darüber hinaus waren viele SPD-Mitglieder anwesend, hatte doch die Friedrich-Ebert-Stiftung die Reise organisiert und trat die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin als Co-Referentin auf.

Eingeladen hatten neben der SPD-Stiftung die FU Berlin und das Forschungszentrum Brasilien. Der akademische Background sorgte wohl auch für den sperrigen Titel „Von der Verrechtlichung der Politik zur Politisierung der Justiz?“, was jedoch das Publikum nicht abschreckte. Schließlich waren die Menschen nicht wegen „akademischer“ Untersuchungen dieses „Spannungsfelds“ gekommen, sondern um sich mit den Ursachen und Folgen des reaktionären Putsches und den politischen Perspektiven auseinanderzusetzen.

VorrednerInnen

Die einladende Professorin Barbara Fritz gab zwar noch vor, dass sich die Referate und Diskussion weniger auf Politik, sondern mehr auf das Spannungsfeld zwischen Justiz und Politik beziehen sollten – zum Glück hielt sich Dilma Rousseff nicht daran.

Einzig Däubler-Gmelin – ihres Zeichens auch Gastprofessorin an der FU – langweilte das Publikum mit einer Co-Rede zum Thema, wie man Korruption bekämpfen könne. Dabei bemühte sie alle möglichen Allerweltsweisheiten und führt lange aus, dass es – welch Wunder! – überall Bestechlichkeit gebe. In einigen Ländern eben mehr, in anderen weniger, um schließlich Deutschland ein vergleichsweise gutes, Brasilien ein sehr viel schlechteres Zeugnis auszustellen. Immerhin bezeichnete sie die Korruptionsvorwürfe gegen Dilma und Lula als manipulierte Vorwände für einen anderen politischen Zweck.

Die Korruptionsvorwürfe hat sie jedoch nicht als das entlarvt, was sie sind: ein Mittel im Klassenkampf, um eine Regierung, die ihre Schuldigkeit getan hat, loszuwerden, um das Land geo-strategisch neu auszurichten und die bestehenden Rechte der Lohnabhängigen und Armen zu schleifen. Und ganz fern lag ihr die Schlussfolgerung, dass „Missbrauch“ und „Anmaßung“ der Justiz nicht durch die Suche nach ständigen neuen rechtsstaatlichen Reformen, sondern nur durch den Kampf auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden können.

Diese Schlussfolgerung fürchtete die Sozialdemokratin offenkundig wie der Teufel das Weihwasser. In ihrem Vortrag suchte sie vielmehr nach der fünften Dimension der Rechtsstaatlichkeit, nach einer über den Klassen stehenden Justiz, die nicht nur die Korruption und Verbrechen bekämpft, sondern auch „die“ Demokratie gegen alle Krisen, Kämpfe, Unsicherheit sichert.

Auch wenn Däubler-Gmelin eine wenig politische Rede hielt, so gab sie insofern den Ton für den Abend vor, als sie deutlich machte, worin die RednerInnen und VeranstalterInnen die Lösung für die Probleme Brasilien sehen – in einer „echten“ Reform der bestehenden Institutionen, im „Rechtsstaat“.

Noch vor der Ex-Ministerin hielt Michael Sommer, ehemaliger DGB-Vorsitzender und nun stellvertretender Leiter der Ebert-Stiftung, ein Grußwort. In diesem brachte er die Sache immerhin so weit auf den Punkt, als er von einem „politischen Putsch“ gegen Dilma sprach. Die Reaktion habe zurückgeschlagen, weil die PT in den Augen von Michael Sommer fast schon ein sozialdemokratisches Musterland errichtet hatte. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg gehören eben für den Sozialpartner Sommer zusammen – dumm nur, dass das die brasilianische Bourgeoisie nicht so sieht.

Rousseff über Putsch und Politik

In ihrer Rede begann Rousseff damit, dass sie auf die Neuartigkeit des Putschs von 2016 verwies. Dieser war kein Militärputsch, der unmittelbar mit Massenverhaftungen, Folter, Ausnahmezustand und der Errichtung einer offenen Diktatur einherging. Es handelte sich vielmehr um einen „parlamentarisch-justiziellen“ Putsch. Es ging darum, eine vom Volk gewählte und legitimierte Regierung mittels formaljuristisch legitimierter Verfahren und an den Haaren herbeigezogener Vorwürfe zu stürzen.

Der Putsch richtete sich nicht nur gegen die Präsidentin, die Regierung und die „ Partido dos Trabalhadores“ (PT = Partei der ArbeiterInnen). Ihr Sturz war gewissermaßen nur der Auftakt.

Unter tosendem Applaus erklärte sie, dass das eigentliche Ziel des Staatsstreichs neuer Art die Gesellschaft, genauer die ArbeiterInnenklasse, die Armut, die Landbevölkerung, die rassistisch Unterdrückten, die Frauen gewesen sind und weiterhin bleiben.

Innerhalb weniger Monate hat die Putschistenregierung um Temer, den ehemaligen Koalitionspartner der PT, das Arbeitsrecht dereguliert, die Privatisierungen vorangetrieben, die Ausgaben für den Öffentlichen Dienst massiv gekürzt und Personal abgebaut. Ebenso wurden zahlreiche Beschränkungen für die Abholzung des Amazonas-Regenwalds und Investitionen internationalen Kapitals aufgehoben. Zugleich habe sich die wirtschaftliche Krise des Landes verschärft. Die Putschisten würden nicht nur die Armen entrechten und ausbluten, sie würden auch das Land ruinieren, so Dilma, indem sie die Bildungsinstitutionen und die Grundversorgung der Massen angreifen, indem sie Millionen in die Armut stürzen.

Die PT-geführten Regierungen unter Lula (2003-2011) und Dilma (2011-2016) hätten einen anderen Kurs verfolgt. Sie hätten ein alternatives Modell zum Neo-Liberalismus umzusetzen versucht, die Privatisierungen wichtiger Banken und Unternehmen verhindert und mit dem Bolsa Familia ein Programm zur Verbesserung der Lage von Millionen Verarmter auf den Weg gebracht. Damit und mit dem Mindestlohn hätten sie zugunsten der ArbeiterInnenklasse umverteilt.

Außerdem hätte Brasilien ein anderes Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten und den USA etabliert. Den USA hätte man sich nicht mehr bedingungslos unterworfen, den Ländern Lateinamerikas freundschaftlich zugewandt.

Immer wieder verglich Dilma die Regierungen vor Lula und unter den Putschisten mit 13-Jahren PT-geführter Politik – und diese schneidet regelmäßig gut ab und wird geschönt, als hätte die Regierung immer nur zum Wohl aller gehandelt.

Fortgesetzte Repression, die Zustände auf dem Land, die Räumung von städtischen Wohnvierteln der Armen z. B. im Zuge der Großprojekte WM und Olympia verschwieg sie. Dass Export und wichtige Kapitalgruppen gestärkt wurden, war ihr keine Erwähnung wert. Dabei agieren Konzerne wie Petrobras (Petróleo Brasileiro S. A.) oder Odebrecht gegenüber anderen Ländern genauso aggressiv wie US-amerikanisches, deutsches oder chinesisches Kapital. Von der Stationierung brasilianischer Truppen in Haiti war „selbstverständlich“ auch keine Rede.

Wenn sie über die Außenpolitik sprach, verklärte Dilma die Expansionsinteressen des brasilianischen Kapitals und die geo-strategischen hegemonialen Interessen des Landes in Lateinamerika zur Sorge um einen „netten Umgang“ mit allen. Ganz so „nett“ empfanden jedoch die bolivianische Regierung und Bevölkerung die Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen durch den halb-staatlichen brasilianischen Konzern Petrobras nicht, so dass dessen Handlungsfreiheit 2009 per Gesetz etwas eingeschränkt wurde.

Dass am Land nach wie vor die Großgrundbesitzer herrschen, gestand Dilma zwar zu. Die PT hätte eben noch nicht „alles“ erledigen können.

Auch die Bolsa Familia, ein Grundprogramm für die Armen, ist keineswegs nur ein Rechtsanspruch. Lassen wir einmal beiseite, dass sie zu gering ausfällt, so verwies Dilma auch darauf, dass Teile der Familienförderung auch an Leistungen der Armen (Schulbesuch der Kinder von 86 %) gebunden sind, also eine brasilianische Variante des Schröder’schen „Förderns und Forderns“ darstellen.

Reform und Kapital

Zweifellos haben diese Reformen – so ungenügend sie vom Standpunkt der Lohnabhängigen und sozialistischer Politik aus auch sind – zu einer Verbesserung der Lage von Millionen beigetragen. Sie konnten aus zwei Gründen umgesetzt werden. Erstens weil sich die PT noch immer auf eine Massenbasis in den Gewerkschaften und bei Bewegungen stützen konnte. Zweitens weil diese begrenzte Umverteilung mit den Expansionsbedürfnissen und Profitinteressen des brasilianischen Kapitals und ausländischer Investoren vereinbar war. Unter Lula erlebte das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung. Trotz des von den imperialistischen Zentren abhängigen Charakters des brasilianischen Kapitalismus vermochte es sich, ähnlich wie andere Regionalmächte, stärker eigenständig zu positionieren.

Bis zu einem gewissen Grad erforderte die Expansion des Kapitals sogar eine Politik zur Stärkung der Kaufkraft, die Sicherung von Mindestlöhnen und die Erhöhung des Bildungsniveaus der ArbeiterInnenklasse. Diese mussten – auch das ist in der Geschichte des Kapitalismus nichts Neues – einzelnen UnternehmerInnen durch den Staat und gesellschaftlichen Druck aufgezwungen werden, selbst wenn sie im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals lagen oder jedenfalls damit vereinbar waren.

Dass die Politik der PT – auch in ihrer Selbsteinschätzung – durchaus kapitalverträglich war, stellte auch Dilma nicht in Abrede. Sie warf den Putschisten vielmehr vor, das Land – und darunter versteht sie auch die brasilianische Industrie – zu ruinieren, wenn sie die Kaufkraft und das Bildungssystem auf die Elite und traditionellen Mittelschichten (lt. Dilma rund 35 Millionen Menschen) beschränken wollen. Damit würde der Binnenmarkt schrumpfen, die für Industrie, Dienstleistungen und die Herausforderungen der Digitalisierung nötigen, qualifizierten Arbeitskräfte könnten nicht herangebildet werden, rechnete die gestürzte Präsidentin den Putschisten vor. Fazit: Unter der PT war eigentlich auch das brasilianische Kapital besser dran.

Dumm nur, dass auch beim „brasilianischen Modell“ die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Führung der PT oder ihre politischen Zwillinge vom Schlage eines Michael Sommer mögen gerade darin ein besonderes Verdienst sehen, Sozialpolitik mit dem Kapitalinteresse in Einklang zu bringen. Das ändert aber nichts daran, dass diese „Partnerschaft“ immer nur für bestimmte Schichten und begrenzte Zeit möglich ist und nur, wenn sie die grundlegenden Interessen des Kapitals nicht berührt.

Indes sind Bourgeoisie und Großgrundbesitz nicht nur in Brasilien undankbare Klassen. Der Lakai hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.

Traditionelle Eliten und Apparat

An eine längerfristige Umstellung des „Modells“ der Herrschaftsausübung, an die Aufgabe ihres Machtmonopols haben die alten Eliten im Land, ihre US-imperialistischen Verbündeten und die mit ihnen verbundenen, traditionellen, weißen und reaktionären Mittelschichten nie gedacht. Hinzu kommt, dass in einer Periode der tieferen Krise, niedergehender Profitraten die Gewinne des Kapitals zu ihrer Sicherung einer Umverteilung von unten nach oben bedürfen. Bestehende Schranken der Ausbeutung müssen beseitigt, nicht mehr oder minder sozial verträglich gestaltet werden.

Und hier zeigt sich eine grundlegende Grenze der „Reformpolitik“ der PT-geführten Regierungen. Das Eigentumsmonopol und den Machtapparat der herrschenden Klasse hat sie nie angriffen, ja nicht einmal angerührt.

Die Reformprogramme der PT-Regierungen wie Bolsa Familia und Fome Zero (Kein Hunger) wurden zu einem großen Teil aus Steuereinnahmen der ArbeiterInnenklasse und Mittelschichten finanziert. Das Kapital und die Reichen mussten unter 13 Jahren PT-Regierung keinen Cent Vermögens- und Erbschaftssteuer zahlen.

Die Regierung mag zwar langsamer privatisiert haben. Das Großkapital, die zunehmende Unternehmenskonzentration, den Filz von Staat und Kapital, also die viel beklage Korruption, hat sie nie angegriffen. Die großen Monopole wurden nicht beschränkt, sondern als Speerspitze des „Landes“ in der Weltmarktkonkurrenz gefördert. Das Medienmonopol, das fest in den Händen der Reaktion liegt, wurde nicht gebrochen, sondern hat sich auf noch weniger Unternehmen konzentriert.

All das zeigt, dass die PT-Führung nie eine wirkliche Konfrontation mit dem Kapital und Großgrundbesitz wollte. Das hat sie auch dadurch deutlich gemacht, dass sie immer im Bündnis mit offen bürgerlichen Parteien regiert hat. Die wichtigste „Partnerin“, die „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB, Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung), organisierte maßgeblich den Putsch und stellt nun mit Temer den Staatspräsidenten.

Doch nicht nur auf Regierungsebene hat die PT ihre Bündnistreue mit dem Kapital deutlich gemacht. In ihrem Schlusswort verwies die ehemalige Präsidentin darauf, dass eine Reform über das Parlament in Brasilien nie gelingen könne, weil die Machtbasis der Reaktion, vor allem des Großgrundbesitzes in den Regionalparlamenten und -regierungen noch viel größer sei. Notwendig, so Rousseff, sei daher eine verfassunggebende Versammlung. Da ist sicher etwas daran. Was aber hat die PT in 13 Jahren an der Regierung getan, um diese Machtbasis zu brechen? Die Frage stellen, heißt (leider) auch schon, sie zu beantworten.

Nach dem Putsch gibt sich der Reformismus reuig und radikal. Während man 13 Jahre die Institutionen schöngeredet hat, wird nun eine „verfassunggebende Versammlung“ aus dem Hut gezaubert.

Besonders deutlich wird das Versagen der Reformpolitik der PT, wenn es um den Staatsapparat des Landes geht. Selbstredend wurde das Militär nie angetastet. Dilma rechnete ihrer Regierung außerdem hoch an, dass sie Polizei und Staatsanwaltschaft finanziell und personell ausgebaut hat. Dummerweise und zu ihrer größten Überraschung waren es StaatsanwältInnen und RichterInnen, die unter der PT-Regierung ernannt wurden, die das Amtsenthebungsverfahren gegen sie selbst und die Ermittlungen gegen Lula durchgeführt haben. Wie war das möglich, wurde Dilma nach ihrem Vortrag vom Moderator gefragt: „Das konnten wir uns nicht vorstellen,“ antwortete sie.

Logik des Reformismus

Solche Naivität erstaunt wohl jede/n, erscheint unglaubwürdig. Sie hat jedoch auch eine innere Logik, die aus sozialdemokratischer Reformpolitik folgt. Der bestehende bürgerliche Staatsapparat muss als Mittel zur Reform im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten unterstellt werden – mag er auch eine noch so blutige Geschichte der Repression und Herrschaftsausübung haben.

Diese Illusion wird zusätzlich dadurch genährt, dass der bürgerliche Staat und seine Institutionen nicht unmittelbar von der herrschenden Klasse personell gestellt werden, sondern von gewählten oder ernannten FunktionärInnen. Dieser Apparat ist jedoch durch tausende Kanäle institutionell wie auch historisch eng mit der herrschenden Klasse verbunden. Im Gegensatz zu den Hoffungen des Reformismus trifft das auch in seiner „perfekten“ rechtsstaatlichen Form zu – in gewisser Weise sogar mehr, weil der Staat des Kapitals solcherart seiner scheinbar über den Klassen stehenden Funktion besser nachkommen kann. Diese geht einher mit einer historischen Tendenz zur immer engeren Verbindung von Staat und Großkapital in der imperialistischen Epoche. Gewaltenteilung und Rechtsstaat stellen dazu keine Gegentendenz dar, sondern nur eine Form ihrer Durchsetzung, die für westliche imperialistische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg zur Norm wurden, für die halbkolonialen Länder aufgrund ihre ökonomischen Rückständigkeit hingegen immer nur eingeschränkt möglich waren und sind.

Wie eng diese Verbindung zwischen dem formal unabhängigen Apparat und der herrschenden Klasse wirklich ist, verdeutlicht die Tatsache, dass Dilma und Lula von „ihren“ StaatsanwältInnen und RichterInnen der Prozess gemacht wurde. Selbst wenn die ReformistInnen das Personal bestimmen können, so ist es eben nicht „ihr“ Personal, sondern in letzter Instanz immer noch das der herrschenden Klasse.

In Brasilien dominiert ein historisch gewachsener Block aus Großkapital, Grundbesitz und einer weißen, aus der Sklavenhaltergesellschaft hervorgegangenen Mittelschicht diesen Apparat konkret. Sie ist historisch mit dem US-Imperialismus verbunden und will das Land nicht nur ökonomisch, sondern auch geo-strategisch neu ausrichten.

Aber – und darin besteht das Dilemma der herrschenden Klasse – sie befindet sich trotz Putsch in einer eigenen tiefen Krise. So liegt trotz Medienmonopol, Hetze, Repression Lula in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 vorn. Auch wenn die Mobilisierungen der Bewegung gegen den Putsch deutlich schwächer wurden, so konzentrieren sich die Hoffnungen der Massen auf die Wahl Lulas. Seine Versammlungen werden von Zehntausenden besucht. In den Umfragen liegt er bei rund 35 Prozent, in den Bundesländern des Nordostens mit einem weit größeren Anteil an Armen sogar bei 70 Prozent.

Die traditionellen bürgerlichen Parteien haben keine/n veritablen GegenkandidatIn. Sie zerfleischen sich entweder selbst oder sind, wie Präsident Temer, so unbeliebt, dass sie keine Chance haben, überhaupt nur auf 10 Prozent zu kommen.

Zugleich radikalisiert sich zur Zeit die Reaktion, die extrem Rechte um Jair Bolsonaro. Der Vorsitzende der „Christlich-Sozialen Partei” liegt in Umfragen bei rund 17 Prozent und damit vor allen „respektablen“ bürgerlichen KandidatInnen. Er verteidigt nicht nur offen die Militärdiktatur, er fordert auch offen die Errichtung einer neuen. Zugleich steht er auch an Spitze der rechts-radikalen, sexistischen, homophoben, rassistischen Bewegung „Freies Brasilien“, deren AnhängerInnen sich aus Großgrundbesitzern, FaschistInnen und Evangelikalen zusammensetzen. Diese Kräfte agitieren nicht nur für extrem reaktionäre Ziele, ihre Mitglieder greifen auch Transsexuelle, Homosexuelle, Afro-BrasilianerInnen und Angehörige religiöser Minderheiten an, bis hin zum Mord.

All das deutet auf eine weitere Zuspitzung der Lage, in deren Zeichen die Präsidentschaftswahl 2018 steht. Die PT setzt dabei auf die Karte „Lula“ und auf eine rein elektorale Strategie. Sie bastelt auch wieder an einer möglichen Koalition mit bürgerlichen Verbündeten, auch wenn diese schwer zu finden sind. Zweifellos hoffen auch Millionen ArbeiterInnen auf Lula und die PT und darauf, dass er die Konterreformen Temers rückgängig machen kann.

Doch der Pferdefuss liegt in der Strategie der PT. Selbst wenn Lula antreten kann und gewinnen sollte: Was würde die PT tun, um eine neuerliche Offensive von Seiten der Elite oder gar einen Militärputsch zu verhindern? Wie will sie den bürokratischen Staatsapparat unter Kontrolle bringen? Wie soll dessen Macht gebrochen werden? Warum soll es nach der Erfahrung von 13 Jahren PT-geführter Koalitionsregierung bei einem Wahlsieg 2018 klappen?

Wenn Dilma und die PT keine Antwort auf diese Fragen haben, so sollte sich die brasilianische ArbeiterInnenklasse nicht auf das Prinzip Hoffnung verlassen. Sie bedarf trotz aller Solidarität mit Dilma und Lula gegen die Angriffe der Putschisten eines politischen Bruchs mit der Strategie der PT und einer neuen ArbeiterInnenpartei, die den Kapitalismus nicht besser verwalten, sondern stürzen will.




Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen – Fessel Sozialpartnerschaft

Martn Suchanek/Jürgen Roth, Neue Internationale 222, September 2017

Ohne Mobilisierungen wie gegen die G20 könnte man meinen, dass das Niveau der Klassenauseinandersetzungen in Deutschland jährlich sinkt, sowohl in Quantität wie Qualität. Die gewerkschaftlichen Tarifkämpfe finden unter Federführung der großen Industriegewerkschaften wie IG-Metall und IG BCE, aber auch von ver.di in ritualisierter Form statt, zu deren „Erfolg“ sich die Gewerkschaftsführungen regelmäßig selbst gratulieren. Die wenigen härteren, langwierigen Kämpfe blieben wie bei Amazon sektoral und auf rein ökonomische Fragen beschränkt.

Auf politischer Ebene feiern SPD- und DGB-Spitzen das neue Gesetz zur Leiharbeit als Erfolg. Sicherlich ist es ein Schritt vorwärts, wenn betriebliche Vereinbarungen den Status und den Lohn der Beschäftigten erhöhen bzw. diese mit der „Stammbelegschaft“ gleichstellen. Leider trifft dies in den wenigsten Fällen zu. Stattdessen erlaubt das neue Gesetz betriebliche Regelungen, welche die Dauer der Leiharbeit auf bis zu 6 Jahre erhöhen können – mit regelmäßigen „Pausen“ der Arbeitslosigkeit. So verkommt die neue „Reform“ zu einer realen Verschlechterung für immer mehr LeiharbeiterInnen.

Statt diese für das Kapital zu regulieren und auszudehnen, wäre die Abschaffung der Leiharbeit ebenso wie der Kampf gegen die Zeitarbeitsfirmen erforderlich. Davon wollen weder die Führungen der DGB-Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie etwas wissen. Und auch die Linkspartei vertritt diese Forderungen nur zaghaft und kaum hörbar.

Ein Ansatz für eine Bewegung hat sich jedoch im Gesundheitssektor entwickelt, wo es nach dem Vorbild der Charité Berlin bundesweite Tarifrunden für mehr Personal geben sollte. Die Situation in der Pflege erfordert mehr Anstrengungen der Gewerkschaft für Neueinstellungen auch bei kommunalen Trägern. Im Zug der Schuldenbremse werden bis 2019/2020 alle Haushalte der Kommunen und Länder auf ein Ende der Neuverschuldung getrimmt. Dies wird einen weiteren massiven Kahlschlag im öffentlichen Bereich zur Folge haben. Im Gesundheitssektor geht es dabei um rund 200 kommunale Krankenhäuser und ebenso viele Pflegeeinrichtungen, die aufgrund von Kürzungen vor der Pleite stehen. Die anstehenden und bereits erfolgten Privatisierungen stellen einen weiteren Schritt neoliberaler Politik dar. Es stehen bereits Firmen sogar zur Privatisierung von Rathäusern in den Startlöchern.

Für die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals können noch viele Bereiche des öffentlichen Lebens und Dienstes privatisiert werden. Hier werden Staat und Kapital alle gesellschaftlichen Sphären genau durchleuchten. Frauen treffen diese Angriffe als Beschäftigte z. B. im Gesundheitssektor und als Lohnabhängige, die unter der Doppellast von Lohnarbeit und Haushalt leiden, besonders schwer.

Rolle der Bürokratie

In den letzten Jahren haben sich die Spaltung und die Ungleichheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse infolge der Angriffe der KapitalistInnen, der Ausweitung von Billiglohnsektor und Armut und der „Reformen“ der Regierungen vertieft. Diese zunehmende Spaltung wird seit Jahren von den Führungen der Gewerkschaften, deren Apparat und den Betriebsräten in den Großkonzernen allenfalls „kritisch“ begleitet. Ziel dieser ArbeiterInnenbürokratie, die die Schaltstellen der Gewerkschaften und Betriebsratsstrukturen kontrolliert, ist letztlich nicht die Überwindung dieser Entwicklung, sondern deren „soziale“ Ausgestaltung.

Auch in der letzten Legislaturperiode hätte es genug Möglichkeiten gegeben, Verbesserungen für die Lohnabhängigen zu erkämpfen – sei es für einen Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten wirklich deckt, sei es für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaftsspitzen sind dabei den KollegInnen nicht nur einmal in den Rücken gefallen. Die Steigerungen der Tariflöhne blieben im Rahmen des von den Arbeit„geberInnen“ Tragbaren.

Die Spitzen haben sich außerdem – gegen Forderungen aus einigen lokalen Gliederungen – geweigert, die Geflüchteten zu organisieren und die Organisation für diese zu öffnen. Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“ drängte auch die Bürokratie auf „regulierte“ Zuwanderung. Im Klartext heißt das: staatliche Selektion, welche Geflüchteten in Deutschland leben und arbeiten dürfen. Es bedeutet, dass die Schließung der Grenze akzeptiert wird. Die Diskriminierung, Entrechtung, Abschiebung und andere Formen des staatlichen Rassismus gegen diese Menschen, von denen viele Teile der ArbeiterInnenklasse sind, werden somit geduldet, wenn nicht gar befürwortet. Der Sozialchauvinismus spaltet nicht nur, er bereitet selbst einen Nährboden für Rassismus und Nationalismus unter deutschen Lohnabhängigen.

Unterordnung

Diese Politik ist jedoch kein Zufall, sondern Bestandteil der Unterordnung der Interessen der Lohnabhängigen unter die Erfordernisse der internationalen Konkurrenz. Die Diesel-Krise zeigt wieder einmal, dass die deutschen Gewerkschaften und Betriebsräte auf der Seite „ihres“ Unternehmens stehen. Die Zuspitzung der inner-imperialistischen Konkurrenz „festigt“ auch die Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele des deutschen Kapitals. Die Europapolitik der Bundesregierung, ihre Handels- und Exportinteressen werden wie auch die globalen Ambitionen Deutschlands gegenüber den USA und anderen KonkurrentInnen mehr oder weniger offen unterstützt – zumal, wenn sie, wie von Merkel beim G20-Gipfel vorgetragen, als „vernünftig“ und „humanitär“ daherkommen.

Diese Politik entspricht dem Interesse der ArbeiterInnenbürokratie. Ihr geht es nicht darum, den Imperialismus in Frage zu stellen, sondern einen für die deutschen ArbeiterInnen „vernünftigen“ sozialpartnerschaftlichen Kompromiss, einen Anteil am Erfolg des deutschen Kapitals auszuhandeln. Im Gegenzug bietet sie betriebliche Ruhe, Partnerschaft, Abwürgen jeder unabhängigen, kämpferischen Regung der Klasse – sei es durch Einbindung und Korrumpierung, sei es durch offene Repression.

Dabei stützen sich Führungen und Apparat der Gewerkschaften und die Konzernbetriebsräte nicht nur auf die bürokratische Kontrolle der Mitglieder. Sie bedienen sich auch der Spaltung der Klasse. Gewerkschafts- oder Betriebsratspolitik wird unter ihrer Ägide vor allem zur Politik für die im Verhältnis zur gesamten ArbeiterInnenklasse schrumpfenden tariflich gesicherten Stammbelegschaften der Großkonzerne und in Teilen des Öffentlichen Dienstes. Dieser relativ privilegierte Teil der Klasse – die ArbeiterInnenaristokratie – ist einerseits ein wichtiger Teil der Klasse der Lohnabhängigen, ja ihr am besten organisierter, andererseits jedoch über die Institution der Sozialpartnerschaft, der Mitbestimmung, der sozialdemokratischen Dominanz und Ideologie an die Gewerkschaftsführungen gebunden.

Die Sozialpartnerschaft prägt dabei alle größeren gewerkschaftlichen und betrieblichen Auseinandersetzungen, stellt ein Korsett dar, das nur schwer über eine systematische Oppositionspolitik und dies auch nur im Rahmen großer Kämpfe abzustreifen sein wird. Darüber hinaus hat sie aber auch enorme politische Auswirkungen. Sie erschwert, ja verhindert die Einbeziehung der Kernschichten der Klasse in politische und gesellschaftliche Mobilisierungen. Außerdem setzt sich die Klassenzusammenarbeit auf der politischen Ebene fort, mit der „Großen Koalition“ als ihrem derzeit „höchsten“ Ausdruck.

Auch unter der nächsten Regierung wird die Sozialpartnerschaft ein Kernbestandteil der deutschen Verhältnisse bleiben. Ohne konsequente Abkehr von dieser Ideologie werden die Verhältnisse hierzulande letztlich nicht aufzubrechen sein.

Die Bürokratie wird dabei die „Partnerschaft“ mit Zähnen und Klauen gegen jede linke Kritik verteidigen, da ihre eigene Vermittlerrolle zwischen Lohnarbeit und Kapital und auch ihre Privilegien an dieser hängen. Umgekehrt werden die nächsten Jahre auch zu Konflikten und Verwerfungen führen, die alle Schichten der ArbeiterInnenklasse in Konflikt mit Kapital und Kabinett und die Bürokratie an die Grenzen ihrer „Vermittlungsfähigkeit“ führen können.

Dazu müssen RevolutionärInnen jedoch nicht nur Chauvinismus und Reformismus kritisieren. Sie müssen zugleich auch in den Betrieben versuchen, der Masse der KollegInnen die Perspektivlosigkeit und Sackgasse zu verdeutlichen, in die sie die Politik der Spitzen führt. Dazu braucht es auch eine Taktik, die Anwendung der Einheitsfrontpolitik. Durch Aufklärung und Kritik allein werden die Massen nicht von ihrer Führung gelöst werden können. Es ist auch notwendig, an diese Forderungen zu stellen, von ihnen die Mobilisierung für die Interessen aller Beschäftigten zu verlangen, um so erstens die möglichst große Einheit im Kampf herzustellen und zugleich den KollegInnen zu verdeutlichen, dass es einer neuen, klassenkämpferischen Führung und einer demokratischen Erneuerung der Gewerkschaften bedarf.

Die SPD

Das Hauptsächliche am Schulz-Effekt war, dass dieser zuvor nicht Teil der Regierung war und gewissermaßen „unabhängig“ von der Großen Koalition als Kanzlerkandidat von der eigenen Mitglieder- und Anhängerschaft ernst genommen wurde. Schulz konnte dieser Basis eine Zeitlang „glaubhaft“ vermitteln, nicht allein deswegen anzutreten, um die nächste Koalition mit der Christenunion zu schmieden, sondern real eine Führungsposition der SPD zu beanspruchen. Sein Slogan „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ ließ vorübergehend die Befürchtung (bei Kapital und Union) aufkommen, hier könnte unbemerkt von der bisherigen SPD-Spitze eine „linkere“ Politik zu erwarten sein. Wahrscheinlich hoffte das auch die Basis, wie die höheren Umfrageergebnisse der ersten Monate seiner Kandidatur nahelegten. Dies wurde von Schulz und den Wahlkämpfen in Schleswig-Holstein und NRW zügig entkräftet. Albig und Kraft haben beide auch einen Schwerpunkt darauf gelegt, die Linkspartei „draußen“ zu halten. Als Schreckgespenst für die SPD-Spitze gilt nämlich weiterhin eine Bundesregierung mit der Linkspartei, wohl wissend, dass die Linkenspitze zwar zahm ist, aber trotzdem eine Generaländerung an bis Rücknahme von Hartz IV durchsetzen muss, um einigermaßen glaubwürdig zu bleiben.

Somit trägt die SPD auch ihren Teil zur „Regeneration“ der FDP bei. Schließlich soll die Ampel nun die Regierungskoalition sein, welche die SPD zur Kanzlerschaft führen soll.

An der letzten Bundesregierung konnte die SPD einen Mindestlohn und eine teilweise Herabsetzung des Renteneintrittsalters erreichen (nach 45 Beitragsjahren). Diese werden als soziale Wohltaten wohl den Wahlkampf bestimmen wie auch das angekündigte verlängerte Arbeitslosengeld Q (Qualifizierung) als Zukunftsversprechen. Wegen der zuletzt wieder einbrechenden Umfragewerte packte Schulz jetzt auch mal den Populismus in der Sommerpause aus. Wenn jetzt kein Druck auf die EU-Staaten gemacht würde, könnten sich die Ereignisse von 2015 wiederholen. Somit betreibt auch Martin Schulz ein schmutziges Spiel mit den Geflüchteten. Sein Spiel mit der Angst vor Überfremdung erhöht eher die Chancen der AfD.

Das Verhältnis zwischen SPD und DGB hat sich wieder stabilisiert. Gerade auch die passive Politik der Linkspartei in den Gewerkschaften trägt dazu bei. Während die Linkspartei auf eine „Linksregierung“ wie auf ein Wunder hofft, setzen Schulz und Co. auf Abgrenzung vom Linksreformismus, um dem Kapital ihre Treue zu beweisen, an der ohnedies niemand zweifelt.

 

Anhang: Bürgerliche ArbeiterInnenpartei

Als bürgerliche ArbeiterInnenparteien bezeichnen wir Formationen, die bürgerliche Politik in die ArbeiterInnenklasse reintragen, aber mit ihr über organische Bindeglieder verbunden sind.

In Deutschland zählen wir Linkspartei und SPD dazu. Die SPD stützt sich heute im Wesentlichen über ihr nahezu politisches Monopol in den Gewerkschaften auf unsere Klasse. Vorfeldorganisationen wie Bildungs-, Sport- und Gesangsvereine spielen eine geringere Rolle als vor dem 2. Weltkrieg oder keine mehr, auch wenn es nach wie vor Jusos, Falken, Arbeitersamariterbund, Arbeiterwohlfahrt und Mieterbund sowie SoVD (früher Reichsbund) gibt. Das sozialdemokratische Genossenschaftswesen in Wohnungsbau, Versicherungen und Bankwesen ist ebenso verschwunden, wie es die Konsumvereine oder die Parteimassenpresse sind. Die Teilnahme von IndustriearbeiterInnen an der Politik der sozialdemokratischen Grundorganisationen (Ortsvereine) ist ebenfalls deutlich rückläufig.

Die Linkspartei stützt sich wie die SPD auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung, den politisch bewusstesten Teil der ArbeiterInnenmassen, hier aber mehr auf Organisationen in Wohnviertel und im Vorfeld (Volkssolidarität) sowie besonders seit der Fusion der PDS mit der WASG auf eine Minderheit im DGB-Funktionärskörper. Beide Parteien sind eigenständige Schöpfungen der ArbeiterInnenbewegung, verfolgen indes seit 1914 (SPD) bzw. 1935 (KPD als Vorläuferin der SED/PDS/Linkspartei) eine durch und durch bürgerliche und konterrevolutionäre Politik. Sie stellen folglich das größte Hindernis für den Aufbau einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei innerhalb (!) der ArbeiterInnenbewegung dar.

Im Gegensatz zu den offen bürgerlichen Formationen zieht sich ein Klassenwiderspruch durch die reformistischen ArbeiterInnenparteien. Um den Einfluss der Bürokratie zu brechen und ihre Massenbasis für revolutionäre Politik zu gewinnen, dürfen wir uns nicht mit bloßer Propaganda begnügen, sondern müssen das Arsenal der Einheitsfronttaktiken ausschöpfen.

Keine Kategorien wie „liberale“ Partei für die SPD und auch kein Wahlboykott werden ihre Vorherrschaft über die organisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse brechen.

Wir wissen, dass diese von der konterrevolutionären ArbeiterInnenbürokratie dominierten Parteien und Gewerkschaften Sozialrassismus und -chauvinismus betreiben. Aber dies müssen wir den ihnen nach wie vor folgenden ArbeiterInnenmassen vermitteln – nicht nur in der Propaganda, sondern v. a. im Kampf für gemeinsame Ziele.

Dazu dient z. B. die „kritische Wahlunterstützung“ gegenüber diesen Parteien, wenn die KommunistInnen aus Schwäche nicht selbst kandidieren können außer als Farce wie bei den „Parteien“ DKP, MLPD oder der SGP.

Heute sehen wir in der kritischen Wahlempfehlung für DIE LINKE allerdings sehr viel mehr Möglichkeiten für Diskussion und Debatte als mit der anderen verbliebenen bürgerlichen ArbeiterInnenpartei, der SPD. Diese hat nicht allein historisch ihre Stellung zum deutschen Imperialismus bewiesen, sondern auch durch die Agenda 2010 und Hartz IV ganz konkret, wie ihre Regierungspolitik aussieht, und dabei die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Diese Partei bleibt auf diesem Kurs und hat sich in mehreren Koalitionen mit CDU/CSU derzeit als deren Mehrheitsbeschafferin etabliert. Dort ist derzeit keinerlei Bewegung nach links zu verorten, dort wäre eine Taktik der kritischen Wahlunterstützung derzeit unangebracht. Das kann sich aber auch ändern, wie z. B. die aktuellen Geschehnisse in der britischen Labour Party zeigen. Dort kamen hunderttausende neue Mitglieder in die Partei und schufen den Raum, neu über Wahlmanifest, Regierungsprogramm und Widerstand gegen Kapital und Tories zu diskutieren.

Das heißt auch, dass die Taktik der kritischen Wahlunterstützung stets von den Faktoren des Klassenkampfes, also auch von den Möglichkeiten für KommunistInnen, dort einzugreifen, abhängt.