Bundesparteitag von DIE LINKE – Richtungswechsel oder alles wie immer?

Basti Linowic, Neue Internationale 253, Februar 2021

Am 26. und 27. Februar 2021 findet der siebte Bundesparteitag der Partei DIE LINKE statt. Nachdem die ursprünglich für Juni letzten Jahres geplante Tagung aufgrund der Coronapandemie mehrmals verschoben werden musste, hat der Parteivorstand entschieden, dass der nun für Ende Februar angesetzte Parteitag vollständig online stattfinden wird.

Eine wichtige Entscheidung wird die Neuwahl des Bundesparteivorsitzes darstellen. Nachdem Bernd Riexinger und Katja Kipping, nach acht Jahren Amtszeit, angekündigt hatten, sich nicht erneut für dessen Wahl aufstellen lassen zu wollen, haben Susanne Hennig-Wellsow als Vertreterin des realpolitischen Flügels (Forum Demokratischer Sozialismus, Landes- und Fraktionsvorsitzende in Thüringen) und Janine Wissler als Vertreterin der Bewegungslinken (ehem. marx21 und Fraktionsvorsitzende in Hessen) ihrerseits erklärt, für die Nachfolge zu kandidieren. Susanne Hennig-Wellsow steht politisch innerhalb der Partei auf der Seite des rechten Flügels, sitzt seit 2004 im Thüringer Landtag, gilt als enge Vertraute von Ramelow und ist seit 2014 an den rot-rot-grünen Regierungskoalitionen in Thüringen beteiligt. Janine Wissler hingegen wird zum linken Parteiflügel gezählt, sitzt seit 2008 als Abgeordnete im Hessischen Landtag und war bis zur Ankündigung ihrer Kandidatur für den Bundesparteivorsitz noch Mitglied des zentristisch-trotzkoiden Netzwerkes marx21 (ehemals Linksruck).

Es gilt als ziemlich unumstritten, dass Hennig-Wellsow und Wissler auch tatsächlich für den Parteivorsitz gewählt werden. An der Ausrichtung und dem aktuellen Kurs der Partei ändert diese Personalumstellung wenig bis nichts. Der bisherige Kurs der Anbiederung an die SPD und Grünen, das Liebäugeln mit einer rot-rot-grünen Koalition auch auf Bundesebene, die hierzu stetig vorangetriebene Loslösung von den „roten Haltelinien“ und die ständige Betonung der eigenen Regierungsfähigkeit wird vermutlich auch unter der Führung einer Hennig-Wellsow mit einer Janine Wissler als linkem Feigenblatt unvermindert weitergehen. Auch ist nicht damit zu rechnen, dass mit der neuen Führung DIE LINKE plötzlich eine scharfe Kritik an der Politik der Bundesregierung während der Coronapandemie äußert, geschweige denn den so notwendigen Aufbau einer sozialen Bewegung gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die lohnabhängige Bevölkerung vorantreibt. Auch wenn sich Wissler in der Vergangenheit klar gegen den Kapitalismus, die NATO, Auslandseinsätze und Abschiebungen positionierte, ist ihr Austritt aus marx21 infolge ihrer Bundesparteivorsitzkandidatur doch ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch sie nicht für einen grundlegenden Richtungswechsel in der Parteipolitik steht, sondern vielmehr für die „Versöhnung und Einheit“ der verschiedenen Flügel.

Streitfragen

Dennoch dürften die Wahl und der künftige Bundesparteivorsitz nicht gänzlich ohne Spannungen auskommen und einige entscheidende Streitfragen zuspitzen, über die innerhalb der Partei schon länger diskutiert wird. Bereits aus dem Leitantrag für den Bundesparteitag lässt sich deutlich herauslesen, dass besonders die Regierungsfrage bzw. genauer die von Regierungsbeteiligungen Gegenstand der Debatte sein wird. Am Ende des Leitantrags steht dazu Folgendes: „Wenn wir uns heute und in den nächsten Tagen wieder in Erfurt zusammenfinden, um gerade auch über die Regierungsfrage zu diskutieren, sollten wir uns an zwei Aussagen im Erfurter Programm von 2011 besonders erinnern: ,Bündnisse mit anderen politischen Parteien gehen wir dann ein, wenn dies den von uns angestrebten Richtungswechsel in der Gesellschaft fördert’.“ Und: „An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt … werden wir uns nicht beteiligen.“

Rot-Rot-Grün

Vorausgesetzt, dass diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden wird, wird diese auch gerade hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahlen auch im neuen Parteivorsitz weiter für Zündstoff sorgen. Denn während Hennig-Wellsow als Landes- und Fraktionsvorsitzende in Thüringen selbst seit 2014 aktiv an der dortigen rot-rot-grünen Landesregierung beteiligt ist, gilt Wissler eher als Kritikerin von Regierungsbeteiligungen. So sagte sie selbst in einem Interview mit der Zeit vom 12. Juni 2020: „Die Differenzen zwischen SPD, Grünen und uns sind schon sehr groß, etwa bei der Frage der Bundeswehreinsätze, der NATO, aber auch bei vielen anderen Themen. Von Hartz IV bis zur Rente mit 67 hat die SPD vieles vorangetrieben, was wir falsch finden.“

Und weiter zu der Frage, was von einer möglichen Orientierung auf Grüne und SPD zu halten sei: „Im Wahlkampf müssen wir die Menschen davon überzeugen, warum es eine starke Linke im Bundestag braucht und was uns von anderen Parteien unterscheidet: dass man, wenn man Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit durchsetzen will, die Macht- und Einkommensstrukturen verändern muss. Dass wir eine antikapitalistische Kraft sind und konsequent gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmen. Ich halte es für unklug, in Konstellationswahlkämpfe zu gehen.“

Gleichzeitig ist es dem realpolitischen, rechten Flügel in der Partei DIE LINKE, der im Bundesvorsitz voraussichtlich von Susanne Hennig-Wellsow repräsentiert werden wird, besonders wichtig, eine eindeutige Positionierung in Richtung Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen nach außen zu vertreten.

Die Streitfrage könnte jedoch dadurch entschärft werden, dass eine rot-rot-grüne Mehrheit nach der Bundestagswahl sehr unrealistisch und rein hypothetisch bleibt, unabhängig von der Frage, ob DIE LINKE sich darauf orientiert oder nicht. Allerdings finden in diesem Jahr nicht nur Bundestags-, sondern auch viele Landtagswahlen statt, wo DIE LINKE sich weiter anschickt, sich an Regierungen zu beteiligen. Daher hätte eine eindeutige Orientierung auf Rot-Rot-Grün zur Bundestagswahl auch Signalwirkung auf mögliche Regierungsbeteiligungen auf Landesebene. Ob Janine Wissler mit ihrer Position im Bundesparteivorsitz an dieser Orientierung etwas ändern bzw. dem etwas entgegensetzen kann, ist fraglich – schließlich stellt der Kurs auf Beteiligung an Landesregierungen längst etablierte Politik der Partei dar.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Orientierung auf einen „Konstellationswahlkampf“ und die damit einhergehende Offensive des rechten Parteiflügels für Kompromisse in den sogenannten roten Haltelinien (bspw. Abkehr von der Position „Raus aus der NATO“ oder dem grundsätzlichen Nein zu Auslandseinsätzen) tatsächlich eine Mehrheit in der Partei finden würde. Zwar befinden sich der linke Parteiflügel, die Strömung der Bewegungslinken (u. a. AKL) und die zentristischen Kräfte in der Partei (SAV, Sol, marx21) in der Defensive, aber dennoch ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Mehrheit für den „regierungssozialistischen Kurs“ der Parteirechten.

Konsistenz

Andererseits hätte die Orientierung auf eine Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen auch eine gewisse Konsistenz in der Logik des Reformismus und unter regierungssozialistischen wie transformationsstrategischen AnhängerInnen. Denn wer den Kapitalismus reformieren will, statt den Herrschaftsapparat der kapitalistischen Klasse zu zerschlagen, kommt um die Frage der Regierungsverantwortung innerhalb des Systems und somit um die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung nicht herum – also an einer, die letztlich die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, den bürgerlichen Staat und seine parlamentarisch-demokratische Herrschaftsform verteidigt.

Anhand dieser Frage, was das (notwendige) Programm einer reformistischen Partei sein muss und was letztlich seine Konsequenzen sind, zeigt sich auch die ganze Crux mit den Linken innerhalb der Linkspartei. Denn auch wenn es oberflächlich vielleicht so aussehen mag, als ob die Entscheidung in der Auseinandersetzung zwischen einer realpolitischen (reformistischen) und einer bewegungsorientierten, antikapitalistischen Politik darin liegt, ob DIE LINKE sich auf Regierungsbeteiligungen orientiert und hierzu auch bereit ist, Konzessionen hinzunehmen, sieht die Realität längst anders aus und lässt sich auch nicht nur anhand der Positionierung zu Rot-Rot-Grün beantworten. Denn allein die Tatsache, dass DIE LINKE eben keine „sozialistische Oppositionspartei“ ist, sondern eine verbürgerlichte ArbeiterInnenpartei, die durch und durch reformistisch, in mehreren Bundesländern längst schon an bürgerlichen Regierungen beteiligt ist und allerlei Schweinereien mitverzapft, deren Führungsapparat selbst aufgrund seiner materiellen Stellung ein Interesse daran hat, Posten zu ergattern und die Partei weiter auf die „Regierungsverantwortung“ einzupeitschen, führt zwangsweise zur Anpassung an die anderen bürgerlichen Parteien und zur Orientierung auf Koalitionen mit diesen. Eine wirkliche Kritik an Rot-Rot-Grün würde also eine notwendige Kritik an Staat und Kapital und für den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen ArbeiterInnenpartei bedeuten, welche zwangsläufig zur offenen Konfrontation mit dem Parteiapparat, den reformistischen Strömungen führen und sich um eine grundlegende Änderung der Partei und des Programms drehen würde.

Kräfteverhältnis

Dass diese grundlegende Änderung aufgrund des Kräfteverhältnisses in der Linskpartei jedoch unrealistisch und utopisch ist, lässt sich auch am Leitantrag für den kommenden Bundesparteitag deutlich erkennen. Dort steht z. B. wortwörtlich: „Wir setzen uns für ein breites gesellschaftliches Bündnis und einen grundlegenden sozial-ökologischen Richtungswechsel ein. Das sind für uns die Maßstäbe, in eine Regierung einzutreten oder sie zu unterstützen. Wir stellen an Grüne und SPD die Frage, ob sie bereit sind, einen sozial-ökologischen und friedenspolitischen Politikwechsel einzuleiten, statt die CDU weiter an den Schaltstellen der Regierungsmacht zu belassen. DIE LINKE ist zu einem solchen Politikwechsel bereit.“

Von der Coronapandemie und dem längst überfälligen Aufbau einer Antikrisenbewegung geschweige denn von der Notwendigkeit des Aufbaus einer linken, sozialen Opposition auf der Straße ist dabei überhaupt keine Rede. Ansätze für eine linke Bewegung gegen das Pandemiemanagement der Bundesregierung wie die #ZeroCovid-Kampagne, finden keinerlei Erwähnung. Eine reformistische Ausrichtung und Strategie (und damit einhergehende Orientierung auf Beteiligungen an bürgerliche Regierungen) wird durch den Leitantrag also selbst gefordert, was aber eben komplett der inhärenten Logik einer reformistischen Partei entspricht. Die Möglichkeit, dies grundlegend zu ändern, geschweige denn, eine Mehrheit der Partei für einen revolutionär-sozialistischen Wechsel zu gewinnen, ist im Grunde ausgeschlossen.

Wir wollen damit keineswegs bestreiten, dass DIE LINKE immer noch über eine konkrete Verankerung in der ArbeiterInnenklasse, in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verfügt, wenn auch oft mehr unter den FunktionärInnen denn an der Basis. Dieser Umstand macht es für RevolutionärInnen unerlässlich, die Entwicklung in reformistischen Parteien zu verfolgen, an diese Forderungen zu richten und sie unter Druck zu setzen, sich am Klassenkampf zu beteiligen, bspw. in der aktuellen Situation durch die Aufforderung zur Beteiligung an und zum Aufbau einer Antikrisenbewegung, konkret durch das Aufgreifen der #ZeroCovid-Kampagne. Dies ist notwendig, da Parteien wie DIE LINKE (und auch die SPD) nach wie vor lohnabhängige, proletarische Mitglieder, AnhängerInnen und WählerInnen organisieren bzw. mobilisieren, die es in den gemeinsamen Kampf gegen Kapital und Regierung zu ziehen und vom Reformismus zu brechen gilt.

Hieraus kann nur eines folgen für die praktische Tätigkeit von RevolutionärInnen und SozialistInnen, eine Erkenntnis, welche Luxemburg und Liebknecht bereits vor über 100 Jahren in der realen schmerzlichen Auseinandersetzung mit dem Reformismus machen mussten: Um eine Organisation zu schaffen, die tatsächlich dem objektiven Interesse der ArbeiterInnenklasse an einer Zerschlagung der kapitalistischen Ordnung und der Machtergreifung des Proletariats gerecht wird, müssen wir diese selbst, unabhängig vom Reformismus, aufbauen. Das bedeutet konkret die Notwendigkeit, den Aufbau einer revolutionären Partei in Angriff zu nehmen, statt in der strategischen Ausrichtung auf eine Beteiligung an verbürgerlichten ArbeiterInnenparteien auf einen plötzlichen Wandel zu hoffen.




Britannien: Labour-Krise wegen Repression gegen AnhängerInnen Corbyns

Dave Stockton, Infomail 1128, 4. Dezember 2020

Am 29. Oktober 2020 wurde Jeremy Corbyn, Labour-Vorsitzender von September 2015 bis April 2020, von der Parteimitgliedschaft suspendiert und ihm seine Mitgliedschaft in der Parlamentsfraktion der Labour-Partei entzogen. Die Maßnahme wurde von dem nicht gewählten Generalsekretär der Partei, David Evans, in Absprache mit dem Parteichef Keir Starmer ergriffen. Als Vorwand wurde Corbyns Reaktion auf die Veröffentlichung des Berichts der Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte (EHRC) vom Oktober 2020 über den Umgang der Labour-Partei mit Antisemitismus unter seiner Führung angeführt. Er hatte erklärt:

„Ein/e AntisemitIn ist ein/e AntisemitIn zu viel, aber das Ausmaß des Problems wurde auch aus politischen Gründen von unseren GegnerInnen innerhalb und außerhalb der Partei sowie von einem Großteil der Medien dramatisch überbewertet. …. Auch wenn ich nicht alle Ergebnisse (des EHRC) akzeptiere, vertraue ich darauf, dass seine Empfehlungen rasch umgesetzt werden, um den Weg aus dieser Zeit zu ebnen.“

Im Bericht selbst wurde Corbyn weder für einen der antisemitischen Vorfälle verantwortlich gemacht noch kam er zur Ansicht, dass diese weit verbreitet waren, trotz derständigen Behauptungen prominenter rechtsgerichteter und pro-israelischer Labour-Abgeordneter sowie des Oberrabbiners und des Abgeordnetenrats, von denen ohnehin nicht gesagt werden kann, dass sie die gesamte jüdische Gemeinde repräsentieren. Weder die ultraorthodoxen noch die liberalen Synagogen oder viele säkulare und sozialistische Juden und Jüdinnen werden von ihnen vertreten.

Hexenjagd der Rechten

Das Nationale Exekutivkomitee der Labour-Partei setzte ein Gremium ein, das sich mit der Suspendierung Corbyns aus der Partei befassen sollte, wodurch seine volle Mitgliedschaft rasch wiederhergestellt wurde. Aufruhr entstand durch die konservativen und die liberalen Medien, die rechtsgerichteten Abgeordneten und den Rat jüdischer Parlamentsabgeordneter. Mitglieder der Labour-Parlamentsfraktion drohten mit dem Austritt aus der Partei. Dann kündigte der Generalsekretär der Partei, unterstützt von Starmer, an, dass Corbyn nicht wieder Mitglied der parlamentarischen Fraktion der Labour-Partei werden würde.

Evans, ein Veteran der New-Labour-Amtszeit von Tony Blair, wies letzte Woche die Parteigliederungen in den Wahlkreisen unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen an, nicht über die Suspendierung von Corbyn zu diskutieren. Starmer selbst sowie rechte Abgeordnete und führende Persönlichkeiten im Schattenkabinett haben diese Entscheidung lautstark und öffentlich unterstützt. Den lokalen Parteigliederungen wird jedoch dasselbe Recht verweigert – und sie wurden praktisch mundtot gemacht. Wo Parteigliederungen in Wahlkreisen wie Bristol West die Behandlung von Corbyn diskutiert haben, wurden ihre gewählten AmtsträgerInnen von nicht gewählten nationalen und regionalen ParteibürokratInnen suspendiert.

Dieses neue harte Vorgehen gegen die Rechte der Mitglieder hat bereits einen weiteren Rückschlag ausgelöst. Der benachbarte Labour-Wahlkreis Bristol Nordwest widersetzte sich in ähnlicher Weise den Anordnungen von Evans und verabschiedete einen Antrag, in dem er Corbyns Suspendierung als „spalterisch, demoralisierend und falsch“ kritisierte und fortfuhr, dass sie „unsere Partei schwächen würde, wenn wir stark sein müssen, um dem Schaden zu widerstehen, den die Politik der Tories Millionen von Menschen zufügt.“

Andere Labour-Parteigliederungen in Wahlkreisen und Ortsgruppen verabschieden immer mehr Anträge, in denen sie Jeremy Corbyn unterstützen oder Keir Starmer und David Evans verurteilen oder sogar gänzlich ablehnen. Andere werden durch antidemokratische Interventionen von regionalen FunktionärInnen daran gehindert, dies zu tun. Vierzehn Mitglieder des 39 Mitglieder zählenden Nationalen Exekutivausschusses (NEC) der Labour-Partei haben einen offenen Brief geschrieben, in dem sie sowohl David Evans als auch Keir Starmer verurteilen.

Hintergrund

Sobald Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden gewählt worden war, formierte sich eine Koalition von zwei Kräften: dem alten Blair-Flügel auf dem äußeren rechten Spektrum der Partei und der sogenannten Mitte-Links-Gruppierung. Beide vertraten die Auffassung, dass eine linke Führung wegen Medienfeindlichkeit niemals eine Wahl gewinnen könne, wie einen Glaubensgrundsatz und gingen daran, die Wahl der Mitglieder zu „korrigieren“. Mit der Erzwingung einer erneuten Wahl des Vorsitzenden im Jahr 2016 wurden sie erneut rundum geschlagen. Das war der Zeitpunkt, an dem die Kampagne zur Verleumdung und Diskreditierung von Corbyn richtig losging.

Im Wissen um seine lange Identifikation mit der Verteidigung der palästinensischen Rechte und seiner Opposition gegen die imperialistischen Kriege Großbritanniens und der USA haben sie ihn als Antisemiten und Rassisten ins Visier genommen. Tatsächlich weist Corbyn wahrscheinlich die längste und beständigste Geschichte aktiver Opposition gegen alle Formen von Rassismus und Faschismus aller Labour-Abgeordneten auf, die bis in die 1970er Jahre zurückreicht.

Bald zielte die Anti-Corbyn-Koalition auf die gesamte Corbyn-Bewegung ab, die die Mitgliederzahl der Labour-Partei von 190.000 auf 550.00 erhöht und sie damit zur größten linken Partei Europas gemacht hatte. Eine Handvoll jüdischer Abgeordneter, die lange Zeit AnhängerInnen Israels waren, behaupteten, Opfer „linker AntisemitInnen“ zu sein, ohne dass es nennenswerte Hinweise oder überhaupt Beweise dafür gab. Sie erklärten, dass im Falle der Wahl von Labour die jüdischen Menschen in physischer Gefahr wären und aus dem Land fliehen müssten. All dies wurde durch Fernsehsendungen wie die berüchtigte Panorama-Sendung vom Juli 2019 und die tägliche Propaganda in den Tory-Boulevardzeitungen und dem liberalen Guardian noch verstärkt. Prominente schwarze AktivistInnen und jüdische AntizionistInnen wurden ins Visier genommen und suspendiert oder ausgeschlossen.

Das Problem war, dass Corbyn und sein Beraterteam sowie Jon Lansman, der das Momentum-Netzwerk als sein Privateigentum betrachtete und führte, sich weigerten, sich diesem Ansturm zu widersetzen. Sie ließen zu, dass ihre AnhängerInnen aus der Partei gejagt wurden. Warum? Weil sie befürchteten, dass jedes Zurückschlagen zum Ausscheiden rechter Abgeordneter vor der Wahl führen und damit die Aussicht auf eine Regierung unter Corbyn zunichtemachen würde.

Tatsächlich verließen fünf von ihnen Labour, aber ihre „Partei“ verschwand bald. All dies offenbarte jedoch, dass auch das Projekt der reformistischen Labour-Linken die Beibehaltung eines Blocks mit der Labour-Rechten – in diesem Fall der großen Mehrheit der Parlamentsfraktion der Labour-Partei – erfordert. Das strategische Problem dabei ist, dass die Rechte die Linke nicht braucht, da sie die viel direktere Vertretung der Bourgeoisie innerhalb der Labour-Partei darstellt, ja normalerweise sogar ihre unhinterfragte Führung.

Angesichts des Mangels an „Beweisen“, auf die im EHRC-Bericht Bezug genommen wird (es sei denn man hält willkürliche Behauptungen auf irgendwelche Facebook-Posts und Tweets dafür), ist es empörend, dass die Untersuchung sich nicht auf die ungeheuerliche Verleumdungskampagne und die Sabotage durch die Parteibürokratie im Labour-Hauptquartier bezog.

Ein Bericht der Minderheit von Corbyn-AnhängerInnen, die in der Victoria Street Southside arbeiteten, schildert die entsetzlichen Schikanen, denen sie von der Anti-Corbyn-Bürokratie ausgesetzt waren, sowie von der völligen Sabotage der Corbyn-Führung und des Wahlkampfs 2017. Dieser wurde unterdrückt und musste über andere Kanäle nach außen dringen, weil die Parteiführung nichts gegen diese Repressionen unternahm.

Corbyn bereitete den Weg zu dieser Niederlage nicht nur durch seinen katastrophalen Umgang mit der politischen Krise um Brexit in den Jahren 2018 – 2019, sein Versagen im Kampf gegen die Scheinantisemitismus-Kampagne und sein Unvermögen, die Mitgliedschaft die Partei gründlich demokratisieren zu lassen, sondern auch durch seinen Rücktritt nach der Niederlage von 2019 und die Bahnung des Weges für Starmer.

Momentum unter Lansman trug ebenfalls zur Katastrophe bei, indem er die Entwicklung der  Bewegung zu einer wirklich autonomen Organisation der Basismitglieder blockierte. Stattdessen reduzierte er sie einem Jubelchor für Corbyn und McDonnell. Als Corbyn zurücktrat, stimmte daher eine große Minderheit seiner AnhängerInnen für Starmer. Die linken Abgeordneten nahmen dann eine höflich unterstützende Haltung gegenüber dem neuen Vorsitzenden ein, wie es das parlamentarische Protokoll nahelegt.

Der Kampf geht weiter

Trotz der Repressionen, die auf die Mitgliedschaft in den Ortsverbänden abzielen, hat die Zahl der verurteilenden Resolutionen weiter zugenommen. Darüber hinaus haben mehrere hochrangige GewerkschaftsführerInnen, darunter Len McCluskey von Unite, der größten Einzelspenderin der Partei, so heftig wie seit vielen Jahren nicht mehr protestiert. Er bezeichnete Starmers de facto Rücknahme der einstimmigen Wiederherstellung der Corbyn-Mitgliedschaft als „eine rachsüchtige und nachtragende Aktion, die die Demokratie aushöhlt“, als „Kapitulation vor dem Druck von außen“ und als Einleitung einer „Hexenjagd“. 14 Mitglieder des Exekutivausschusses der Labour Party unterzeichneten eine Erklärung, in der sie diese Aktionen ablehnten. In der Folge verließen 13 von ihnen die Sitzung des Nationalen Exekutivkomitees, als die Parteitrechte Margaret Beckett und nicht Ian Murray von der Gewerkschaft der Feuerwehrleute (FBU) zur Vorsitzenden dieses Gremiums gewählt wurde.

Die Suspendierungen von FunktionsträgerInnen aus Wahlkreisen, die zu Recht das Verbot missachtet haben, dass Parteimitglieder über Ereignisse dieser Größenordnung diskutieren dürfen, zeugen von der Existenz einer Spitze, die entschlossen ist, der Partei eine bürokratische Diktatur aufzuzwingen. Angesichts des Ausbleibens einer Konferenz bis mindestens September 2021, des Lockdowns bis mindestens März, des „Purdah“ (Verschleierung) während der Kommunalwahlen im Mai 2021 und der Sturm laufenden RegionalfunktionärInnen ist es eindeutig notwendig, dass die Basis die Kontrolle übernimmt. Sie sollte sich den völlig undemokratischen Anweisungen widersetzen und zusammen mit den örtlichen Verbindungsausschüssen mit angeschlossenen Gewerkschaften das weitere Funktionieren von Ortsgruppen, Wahlkreisparteigliederungen, Ortsgruppen der Labour-Jugend usw. sicherstellen.

Es ist die Pflicht jeder Ortsgruppen- und Wahlkreis-Parteigliederung, jeder angeschlossenen Gewerkschaft auf nationaler und örtlicher Ebene, sich nicht nur der Zusammenarbeit mit der Bürokratie in der Victoria Street zu verweigern, sondern auch eine Notparteikonferenz einzuberufen, um alle gegen Corbyn oder die Linke ergriffenen Maßnahmen rückgängig zu machen, den Parteichef zu rügen (und auf eine neue Führungswahl zu drängen) und David Evans von seinem Posten zu entfernen. Der/die GeneralsekretärIn der Partei und alle führenden regionalen FunktionärInnen sollten gewählt und nicht ernannt werden. Da Starmer nun über eine Mehrheit im Nationalen Exekutivkomitee verfügt, werden die Widerstandskräfte eine eigene Konferenz einberufen müssen, nicht nur, um sich dem Putsch von Starmer gegen die Mitgliedschaft zu widersetzen, sondern auch, um einen kämpferischen Aktionsplan gegen die Tories und die Massenarbeitslosigkeit zu verabschieden, die die Wirtschafts- und Covid-Krisen ausgelöst haben.

Eine demokratische Partei der ArbeiterInnenklasse muss eine militante Partei des Klassenkampfes sein. Wo Ortsgruppen und Wahlkreisparteigliederungen suspendiert sind, sollten sie sich sofort mit angeschlossenen Gewerkschaftsgliederungen und Gewerkschaftsräten organisieren, um eine solche Konferenz vorzubereiten und sich am Klassenkampf gegen die Tories – zum Thema Arbeitslosigkeit usw. – zu beteiligen. Die Abgeordneten der Socialist Campaign Group sollten eine eigene Fraktion im Parlament bilden, mit Jeremy Corbyn als Ehrenmitglied.

Wenn dieser Putsch der rechten Parlamentsfraktion, des Vorsitzenden und des Chefs der Parteibürokratie gegen die individuelle Mitgliedschaft und die Mehrheit der Gewerkschaften, zugelassen wird, wird es eine endgültige und historische Niederlage nicht nur für Corbyn, sondern für die gesamte Labour-Linke geben.

Aber die Schlacht ist noch nicht vorbei, vor allem weil die Rechte darauf bestand, Corbyn zu brechen und seine AnhängerInnen auszuschalten. Sie drängte Starmer, den EHRC-Bericht zu nutzen, um die Linke zu demütigen und zu knebeln. Ein mit den Gewerkschaften ausgehandeltes Abkommen scheiterte, als Starmer sich unter dem Druck des pro-zionistischen jüdischen Abgeordnetenrats und von Labour-Abgeordneten weigerte, Corbyn wieder in die Parlamentsfraktion aufzunehmen.

Die Empörung über das Vorgehen von Starmer bietet die Gelegenheit zum Gegenangriff. Dies erfordert jedoch die Einigkeit all jener, die eine Einheit mit Starmer weder als wünschenswert noch als möglich akzeptieren. Tatsächlich bedeutet es, das Ziel einer wirklichen Revolution in der Labour-Partei anzusteuern, die Auflösung der nicht gewählten Parteibürokratie, die Unterordnung der Parlamentsfraktion und der StadträtInnen unter die Disziplin von Gremien, die von den Basismitgliedern in den Ortsgruppen und auch in den angeschlossenen Gewerkschaften gewählt werden. Nicht zuletzt bedeutet es, die Partei in den Klassenkampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, gegen die Privatisierung, gegen den gesamten Tory-Angriff auf den „Sozialstaat“ zu stürzen.




Olaf Scholz als Zugpferd?

Jürgen Roth, Infomail 1113, 14. August 2020

Stolz präsentierten sie Scholz. Am Montag, dem 10. August, verkündeten der Bundesfinanzminister und die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass man sich auf einen Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geeinigt habe. Dass der Parteitag die Entscheidung absegnen wird, gilt als sicher.

Die beiden Vorsitzenden und der Vizekanzler präsentierten sich nicht nur in trauter Eintracht. Sie waren sogar etwas stolz darauf, dass sie vor allen anderen Parteien einen Spitzenkandidaten vorzuweisen haben und dass von diesem „Coup“ vorab nichts an die Presse gedrungen sei. Einigkeit beginnt in der SPD mit Schnauze Halten.

Absichtsbekundungen

Auch wenn die Umfragen im Keller sind, so gibt sich die SPD ambitioniert. Bis zur nächsten Bundestagswahl wolle sie natürlich verlässlich die Arbeit der Großen Koalition fortsetzen, dann aber solle ein „echter“ Politikwechsel mit einer linken „Reformkoalition“ folgen. Der kategorische Ausschluss einer Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene wurde nebenbei offiziell begraben – womit sich die politischen Zuggeständnisse von Scholz und Co. an die Vorsitzenden auch schon erledigt haben. Alle anderen „Brüche“ mit neo-liberalen doktrinären Marotten wie der „Schwarzen Null“ wurden nicht aus besserer Überzeugung, sondern aus pragmatischer Akzeptanz des Notwendigen angesichts einer historischen Krise des Kapitalismus und einer globalen Pandemie vollzogen.

Scholz gab als Ziel aus, die Umfragewerte der Partei zu steigern (aktuell zwischen 14 und 15 %) und die nächste Regierung anzuführen. Da er sich im gleichen Atemzug von DIE LINKE distanzierte wegen deren Ablehnung der NATO, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, sofern die Linkspartei – was sicher nicht auszuschließen ist – nicht noch weitere Abstriche und Verrenkungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr macht.

Da natürlich auch zweifelhaft ist, ob die SPD überhaupt vor den Grünen landen wird, hat die Vorsitzende Esken in einem ARD-Interview schon erklärt, die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter einer grünen KanzlerInnenschaft „Verantwortung“ zu übernehmen. Walter-Borjans mutmaßte, Scholz genieße hohes Ansehen in der Bevölkerung wegen seiner Fähigkeit, Krisen zu meistern. Deshalb wurde er auch einstimmig (!) von Vorstand und Präsidium nominiert.

Reaktion der Parteilinken

Doch nur Teile des linken SPD-Flügels zeigten sich angesichts dieser Personalentscheidung ratlos oder gar ablehnend. So Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21): „Warum versuchen wir, mit der immer gleichen Methode ein anderes Ergebnis zu erwarten?“ Andrea Ypsilanti zog den Schluss, dass die SPD als „transformatorische Kraft im Zusammenspiel mit Bewegungen“ ausfalle. Einigkeit sieht anders aus! Aber diese Kritik teilt auch nur eine Minderheit der Parteilinken. Die meisten tun so, als wäre die Entscheidung für Scholz keine politische Weichenstellung, als hätte sich der Architekt von Agenda 2010 nach links bewegt, nur weil er auch Kanzler werden wolle.

Viele Parteilinke verteidigen jedenfalls die Nominierung. Annika Klose, Berliner Juso-Vorsitzende, hofft auf Rot-Rot-Grün unter dem SPD-Spitzenkandidaten. Pragmatismus und Regierungserfahrung seien ein Vorteil und der Wahlkampf werde als Team geführt. Die Konjunkturprogramme in der Corona-Krise seien mit den Parteivorsitzenden und dem Juso-Bundeschef Kühnert abgesprochen, Schuldenaufnahme, Mehrwertsteuersenkung, Grundrente und die im Sozialstaatspapier versprochene Abkehr von Hartz IV hätten linke Akzente in der Großen Koalition markiert. Sie setzte ihre Hoffnung auf mehr Umverteilung, Schließen von Steuerschlupflöchern, Wiederbelebung der Vermögenssteuer und Änderungen bei der Erbschaftssteuer und auf diesbezügliche Unterstützung durch die EU. Hoffnung machte ihr auch, dass Olaf Scholz eine Regierungsbeteiligung ohne die Union haben möchte. Wiederum: mit wem? Fastnamensvetter Schulz hatte Ähnliches nach der verlorenen letzten Bundestagswahl verkündet – das Ergebnis ist bekannt.

Auch Fraktionsvize Miersch, seines Zeichen Sprecher der Parlamentarischen Linken, und Kevin Kühnert äußerten sich ähnlich. Letzterer gibt seinen Juso-Vorsitz im Herbst auf und kandidiert für den Bundestag. Dafür hat er gleich eine Eintrittskarte ins Scholz’sche (Schatten-)Kabinett gelöst und die Unterstützung der Parteijugend zugesagt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren marschierten Topleader und Jusos in eine gemeinsame Richtung! Gleichzeitig warnte er seine GenossInnen vom linken SPD-Flügel vor „destruktiver Kritik“.

In diesen Worten schwingt nicht unberechtigte Sorge mit. Schließlich sehen Teile der Parteibasis – und erst recht Millionen Lohnabhängige – Scholz als Architekten von Agenda 2010 und der Rente mit 67. Hilde Mattheis kritisierte, dass die SPD sich mit der Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden eigentlich von ihrer Politik der vergangenen Jahre verabschieden wollte. „Eigentlich“ wollte man schon vor 3 Jahren die Große Koalition aufkündigen und noch „eigentlicher“ erwiesen sich die „linken“ HoffnungsträgerInnen als SteigbügelhalterInnen für das Zurück zur Politik der vergangenen Jahre!

Bröckelt die Basis?

Einige linke BasisaktivistInnen verlassen die SPD, so der Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson. Er und viele Tausende hätten Esken und Walter-Borjans gewählt, damit sie die SPD-Basis gegen die Politik und Person Scholz vertreten, die im Wahlgang eine heftige Schlappe erlitten habe, nur um gestärkter denn je dazustehen. Er monierte auch, dass der Kandidat weder von einem Parteitag noch von den Mitgliedern gewählt wurde. Scholz habe die derzeitigen Zustände mit erschaffen, mit verteidigt und argumentiere für sie bis heute.

Innerhalb der organisierten Parteilinken hat sich im Vergleich zur Gemengelage vor 3 Jahren die Situation weitgehend geklärt. Nur noch in DL 21 versammeln sich SozialdemokratInnen, die auf eine personelle und inhaltliche Linkswende der SPD hoffen. Doch sie üben keinen Einfluss auf die Programmatik aus. Sie werden das auch weiterhin nicht tun, wenn sie nicht den Kampf innerhalb der Gewerkschaften um eine andere Führung aufnehmen. Schließlich ist die Bindung an die und die Kontrolle der Gewerkschaften  das einzige übriggebliebene organische Bindeglied zur organisierten ArbeiterInnenklasse, andere (Genossenschaftswesen, Kultur, Sport, ArbeiterInneneinfluss auf die Ortsvereine, Vorfeldorganisationen wie Jusos, Falken, ArbeiterInnensamariterbund, AWO, Mietervereine …) existieren entweder nicht mehr oder sind geschwächt und sind vor allem zum Tummelplatz reiner KarrieristInnen geworden.

Grüne und DIE LINKE

Die SPD ist schwer angeschlagen nach einer langen Serie von Wahlniederlagen und Personalquerelen. Die Grünen legen sich nicht fest und schielen auch auf Union und FDP. DIE LINKE profitiert nicht davon.

Am Wochenende, 8./9. August, noch vor der Verkündung von Scholz‘ Kandidatur erklärte die SPD ihre Bereitschaft zur Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund – nach 30 Jahren Unvereinbarkeitspose gegenüber PDS/DIE LINKE! Wir haben oben ausgeführt, von welchen Widersprüchen die SPD derzeit geprägt ist. Hier wird ein weiterer hinzugefügt. Es ist zu bezweifeln, ob mehr dahintersteckt, als sich viele Optionen für eine ungewisse Zukunft offenzuhalten.

Doch auch DIE LINKE wird nicht um die Frage herumkommen, wie sie mit ihrer bisherigen Rolle gegenüber der SPD umgehen will. Parteichef Bernd Riexinger sieht als entscheidend an, ob es inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Er findet an den Aussagen vom vergangenen Wochenende interessant, dass die SPD das Hartz-IV-System überwinden, Sanktionen abschaffen, einen deutlich höheren Mindestlohn und Reiche stärker besteuern wolle. Offen bleibe die Frage der Friedenspolitik wie eines sozial-ökologischen Umbaus. Mit der LINKEN seien Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu machen. Und was ist mit der NATO, Genosse Riexinger? Dass die Linke im Mai 2020 Gregor Gysi einstimmig zum außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion gewählt hat, zeigt, dass die Parteispitze und der Apparat eine Koalition mit SPD und Grünen nicht abgeneigt sind und sie faktisch vorbereiten.

Natürlich beteuert DIE LINKE weiter, dass sie keinen Koalitionswahlkampf betreiben werde, sondern eigene Positionen durch starke Unterstützung aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden verankern wolle. Doch das kann sie leicht verkünden, einen „Koalitionswahlkampf“ verlangt von ihr ohnedies niemand, zumal sie über andere Regierungsoptionen eh nicht verfügt.

Um den Willen zur Regierung auszudrücken, reicht es schon, wenn Riexinger erklärt, dass die CDU als Regierungspartei abgelöst gehöre. Momentan erschweren zweifellos eher die Grünen einen solchen „Politikwechsel“, sollte es denn die parlamentarischen Mehrheiten dafür geben. Diese haben sich schließlich der CDU schon seit längerem angenähert und erwägen, wie die Interviews des ehemaligen „Linken“ Trittin zeigen, eher eine Koalition mit der Union als eine Regierung mit SPD und Linkspartei.

Genau diese Umorientierung der Grünen mag aber andererseits dazu führen, dass sich auch die Linkspartei „härter“ in ihren Bedingungen gibt. Warum soll sie gleich alle politischen Positionen für ein Projekt fallenlassen, das auch mit ihrer Zustimmung ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich ist?

Dass die SPD ein mögliches rot-rot-grünes Projekt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wird, hängt daher nur bedingt damit zusammen, dass sie wirklich daran glaubt. Sie hat vielmehr kein anderes, mit dem die Partei überhaupt „geeint“ antreten kann. Man kann so auch viel leichter so tun, also ob sie nicht nur für einen Bruch mit der Großen Koalition, sondern auch für eine nicht näher definierte „andere“ Politik stünde.

Wahlkampf-Konstellation wie 1998?

Ein Vorteil der frühzeitigen Kandidaten„wahl“ besteht darin, dass Scholz sich von jetzt an profilieren kann. Er hat mehr Zeit, ein Programm und ein Team aufzubauen, als die KonkurrentInnen. Der zweite „Vorteil“ besteht für die Partei darin, eine Richtungsdebatte, wie zuletzt 2017 geführt, vermieden zu haben – unter Komplizenschaft großer Teile des „linken“ Flügels wie seitens der Jusos und der Vorsitzenden!

Die Geschichte der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998 liefert einige Parallelen zur heutigen Lage. Es waren immer Leute der Mitte, wenn nicht sogar vom rechten Flügel, die neuen Machtkonstellationen auf der linken Flanke des traditionellen Parteiensystems den Boden bereitet haben (Börner in Hessen Mitte der 1980er Jahre, Schröder 1998 im Bund), während linke Kräfte wie Ypsilanti 2008 dabei scheiterten. 1998 hatte Langzeitkanzler Kohl seinen Zenit überschritten, Langzeitkanzlerin Merkel will 2021 nicht mehr antreten. 1998 kandidierte mit Schröder ein erfahrener Landespolitiker als Gesicht für die Massen im Gespann mit dem linken Parteichef Lafontaine als programmatischer Kopf.

Anders als 1997/98 gibt es heute aber keine ernsthafte gesellschaftliche Bewegung, die eine (rot-)rot-grüne Option stärken und tragen könnte, wie es damals in Massenaktionen gegen die Angriffe der Kohl-Regierung und in der Erfurter Erklärung zum Ausdruck kam. Die Wahl des Duos Schröder-Lafontaine bildete den Auftakt zu einer sozialdemokratischen Tragödie samt Kriegseinsätzen und Agenda 2010. Mit dem Trio Esken, Scholz und Walter-Borjans wiederholt sie sich – als politische Farce.




Labour-Linke nach Corbyn – eine Chance zum Bruch mit der Kompromissstrategie

Urte March, Infomail 1103, 8. Mai 2020

Zwei aufeinanderfolgende Wahlniederlagen, die mit der Ablösung von Jeremy Corbyn als Vorsitzenden der Labour-Partei durch Keir Starmer endeten, haben eine Debatte über die Bilanz des Corbyn-Projekts, die Ziele der Labour-Linken und die Rolle, die Momentum (innerparteiliche „Graswurzel“organisation) in den kommenden Kämpfen spielen sollte, eröffnet.

Entbunden von dem Druck, sich hinter die Führung „zu stellen“, wurden zahlreiche Artikel veröffentlicht und Initiativen gebildet, die über die Niederlage reflektieren und für eine Neuzusammensetzung von Momentum mit einem stärkeren Fokus auf interne Demokratie und Verbindungen zu lokalen Strukturen plädieren. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, mit denen man sich schon längst hätte befassen müssen, die jetzt aber unvermeidlich geworden sind.

Grundlegende Fehler von Momentum

Die erste Frage ist eine, die sich die Labour-Linke selten stellt: Wofür ist die Labour-Partei da? Für die meisten Mitglieder ist die Antwort einfach – um eine Labour-Regierung zu bekommen. Das wirft die größere Frage auf: Wozu gibt es eine Labour-Regierung? Die meisten Mitglieder des linken Flügels würden sagen: Sozialismus. Aber was ist Sozialismus? Ist es das, was eine Labour-Regierung unter linker Führung tut? Wenn ja, dann besteht die einzige Aufgabe der Linken darin, eine/n linke/n Parteivorsitzende/n einzusetzen und zu verteidigen und eine Labour-Regierung wählen zu lassen.

Genau dieser Logik des Zirkelschlusses folgend hat Momentum die Wahl einer Labour-Regierung stets als erste Priorität betrachtet. Ihr Ziel war es, Corbyns Labour zu einer effektiveren Wahlmaschine zu machen, ihr zu helfen, die Macht zu erringen und eine radikale Politik umzusetzen, die dann das Gleichgewicht der Klassenkräfte von oben her verändern würde.

Hinter dem Scheitern von Momentum steckt nicht nur eine unzulängliche Organisationsstruktur, sondern auch ein Versagen der politischen Strategie. Von dem Moment an, als es sich weigerte, eine Debatte über den Zweck einer Labour-Regierung und den Inhalt der sozialistischen Agenda zu führen, war das Schicksal von Momentum völlig mit dem der Führung unter Jeremy Corbyn verbunden.

Momentums Fehler war es, das Verhältnis zwischen Staats- und Klassenmacht falsch zu verstehen. Die Machteroberung, selbst bei einer Wahl, hängt nicht nur von der Politik des Manifests oder der Reichweite der sozialen Medien ab, sondern auch davon, wie sich das bestehende Gleichgewicht der Klassenkräfte in der Wahlarena darstellt. Die Veränderung des Gleichgewichts der Klassenkräfte und das Verständnis, dass Wahlen nur ein Terrain eines Klassenkampfes sind, der auf mehreren Bühnen geführt wird, müssen vor und neben den Wahlkampagnen stattfinden. Dies erfordert ein Engagement für die Organisation von Taktiken, die die Unabhängigkeit der Bewegung über den Wahlsieg stellen.

Eine Reihe miteinander verbundener Krisen – die Coronavirus-Pandemie, der bevorstehende wirtschaftliche Zusammenbruch und der rasante Klimawandel – stellen eine unmittelbare und kolossale Bedrohung nicht nur für die Linke oder die ArbeiterInnenklasse, sondern auch für die menschliche Zivilisation dar. Wenn Momentum oder irgendeine andere Organisation der Labour-Linken die ArbeiterInnenbewegung in den Kämpfen zur Überwindung des kapitalistischen Systems effektiv organisieren will, muss sie die Debatte über ihre politische Strategie neu eröffnen und sich als unabhängige politische Kraft neu konstituieren, die erkennt, dass der Klassenkampf der Motor der Geschichte ist.

Corbyns Kompromisse

Momentum wurde einige Wochen, nachdem sich Zehntausende während Corbyns Kampagne um den Vorsitz 2015 der Labour Party angeschlossen hatten, gegründet und bezeichnete sich selbst als eine aktivistische Machtbasis innerhalb der Labour Party mit dem Ziel, die Partei zu demokratisieren und die Unterstützung für linke Politik zu festigen. In diesem Bestreben gab es einen inhärenten Widerspruch – sollte es eine breite „Bewegung“ oder eine politische Fraktion verkörpern?

Linke aller Couleur erkannten die objektive Notwendigkeit einer Organisation, die den Enthusiasmus der neuen, überwältigend jungen Mitglieder außerhalb der offiziellen Strukturen der Partei nutzbar machen konnte. Die schwerfälligen Bezirks- und Wahlkreisstrukturen kleiner Gruppen von AktivistInnen, die sich der routinemäßigen WählerInnenidentifikationsarbeit verschrieben haben und sich auf eine passive Mitgliedschaft stützen, wurden von den meisten als völlig ungeeignet für die Organisation der massiv ausgeweiteten Basis für jeglichen kollektiven sozialen Kampf angesehen.

Von Anfang an war Corbyns Führung prekär. Trotz seines überwältigenden Erfolgs beu seiner Wahl zum Vorsitzenden konnte man seine AnhängerInnen in der PLP (Labour-Unterhausfraktion) an zwei Händen abzählen, und die Zahl der loyalen ParteifunktionärInnen war kaum größer. Die neue Führung erkannte, dass die Massenbasis, die sie an die Macht brachte, auch ihr einziges Bollwerk gegen einen feindseligen Kern von rechtsgerichteten FunktionärInnen und ParlamentarierInnen war, und sah die Bedeutung der Pflege einer engen Verbindung zu den neuen Mitgliedern.

Der berühmt-berüchtigte „Hühnerputsch“ der Parteirechten wurde durch die Mobilisierung dieser Armee von Mitgliedern und AnhängerInnen vereitelt und gab dem Argument, dass Momentums Existenzberechtigung darin bestehen sollte, Corbyn zu unterstützen, anstatt ein unabhängiges Programm der Demokratisierung der Partei oder eine politische Agenda zu verfolgen, einen enormen Auftrieb.

Je mehr sich Corbyns Erfolg und Attraktivität und damit das Schicksal seiner Führung mit seinem „Graswurzel“-Image verflochten, desto wichtiger war es für die Führung, die Unterstützung der linken Mitglieder um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Da sowohl der Apparat als auch die Mitglieder sich einig waren, wie bedeutsam eine organisierte Verteidigung gegen rechte SaboteurInnen von Corbyns Anti-Austeritätsagenda war, erschien das Arrangement zunächst natürlich, ja für viele sogar unvermeidlich.

Gleichzeitig entschied sich Corbyn für eine Strategie des Kompromisses und nicht für die Konfrontation mit dem rechten Flügel der Partei und der Gewerkschaftsbürokratie. Dies war fatal. Während die Mitglieder der Basis eine Corbyn-Regierung zur Einführung lang anhaltender, schwer wieder aufhebbarer Sozialreformen wünschten, die schließlich zum Sozialismus führen würden, wollten die parlamentarische Fraktionsmehrheit und die Gewerkschaftsbürokratie, dass eine Labour-Regierung eine wachsende kapitalistische Wirtschaft mitverwaltet und erst dann begrenzte Sozialreformen einführt. Lässt man die Kritik an beiden Perspektiven beiseite, sind und erwiesen sich beide als unvereinbar.

Bei jeder Wende begünstigten Corbyns Kompromisse jedoch strategisch die letztgenannte Option. Das Vorzeigeversprechen, eine „offene Auswahl“ von Abgeordneten umzusetzen, wurde unter dem Druck von Len McCluskey, Chef der Gewerkschaft „Unite“, unter Missachtung des Mandats seiner Gewerkschaft fallen gelassen. Die Konferenz durfte mehr Debatten führen, aber immer noch keine Kontrolle über das Manifest ausüben. Die StadträtInnen wurden angewiesen, die Tory-Kürzungen nicht zu bekämpfen, indem sie keine Einschnitte oder Defizithaushalte verabschieden – unter Androhung des Ausschlusses. Der Druck der Gewerkschaften und der Parlamentsfraktion wurde auch auf die Positionen zu Atomkraft, NATO, sogar auf die Erweiterung des Flughafens Heathrow und die Bombardierung Syriens ausgeübt.

Die meisten Hoffnungen der Mitglieder auf eine „transformative“ Labour-Regierung richteten sich auf das Wirtschaftsprogramm von John McDonnell. Aber selbst hier war die Weigerung, eine Verstaatlichung der Banken und des Finanzsektors oder der größten UmweltverschmutzerInnen zu befürworten, ein katastrophales Zugeständnis an die Rechte. McDonnell und seine BeraterInnen der „neuen Linken“ behaupteten wiederholt, es sei ein geschickter Trick, makroökonomische Maßnahmen außen vor zu lassen, um die Märkte nicht zu verunsichern, und versuchten, ihre mangelnde Radikalität durch die Förderung von Genossenschaften als „neuer“ Lösung zu überspielen. In der durch die Tory-Sparpolitik berühmt gewordenen Fiskalregel – keine Reformen, bis die Wirtschaft wächst – wurde diese Unterwerfung unter den Kapitalismus untermauert.

„Red Flag“ hat immer argumentiert, dass es Corbyns Haltung in internationalen Fragen ist, die der rechten Fraktion und der hinter ihr stehenden Bourgeoisie am meisten missfällt. Und die Auseinandersetzungen über Antisemitismus und Brexit waren am schädlichsten für das Verhältnis zwischen der Führung und den Mitgliedern.

Corbyn hatte recht, sich gegen die Annahme einer Definition von Antisemitismus zu wehren, die das Recht, Israel wegen seiner Apartheid ähnlichen Politik gegenüber den PalästinenserInnen als „rassistisches Unterfangen“ zu definieren, ausdrücklich beschneidet. Als Jon Lansman von Momentum aus der Führungsriege ausbrach und eine Hexenjagd gegen linke Mitglieder des Nationalen Exekutivausschusses von Labour begann, wobei er auch mit der Rechten in diesem Gremium stimmte, spaltete sich die Linke, und viele verließen Momentum.

Beim Brexit waren sowohl die Linke als auch die Rechte gespalten, aber die Art und Weise, in der Corbyn seine eigene Position durchsetzte, war trügerisch und bürokratisch. Konfrontiert mit der Möglichkeit, dass die Konferenz einen „Verbleib und Reform“-Antrag verabschieden könnte, legte der Nationale Exekutivausschuss zwei Jahre in Folge einen verwirrenden und inkohärenten Kompromiss vor, der es im Wesentlichen dem Büro der Führung und der Labour-Parlamentsfraktion überließ, die Politik selbst festzulegen. Die fast einstimmige Verabschiedung eines Antrags über offene Grenzen im Bereich der Migration war bedeutungslos, als Corbyns Büro wiederholt deutlich machte, dass die Freizügigkeit mit Brexit enden würde.

Je mehr die Widersprüche von Corbyns Strategie aufgedeckt wurden, desto größer wurde die Gefahr ernsthafter Meinungsverschiedenheiten innerhalb seiner linken Basis, und desto mehr sah sich die Führung gezwungen, die Bewegung zu instrumentalisieren, auch wenn dies bedeutete, ihren unabhängigen Ausdruck zu unterdrücken und zu kontrollieren.

Die Strategie von Momentum

Letztlich hat Momentum es nicht nur versäumt, die Führung für ihre eigenen Demokratisierungsversprechen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern sie hat es sogar versäumt, für diese Politik zu kämpfen – bis es viel zu spät war.

Stattdessen bot Momentum wenig mehr als E-Mails-Nachrichten an, in denen die Linie aus dem Führungsbüro nachgeplappert wurde. „The World Transformed “ („Neu gestaltete Welt“), anfangs ein vielversprechendes Forum für eine offene Diskussion der Parteipolitik, weigerte sich bald, an Diskussionen über die Parteistrategie teilzunehmen oder die Rolle von Momentum oder die der Labour Party selbst zu analysieren. Es geriet zu einem Diskussionsforum, das an den buchstäblichen Rand der Konferenz gedrängt wurde, während der eigentliche Kampf um die Politik auf dem Parkett diskutiert und entschieden wurde.

Wie können wir die gescheiterten Bestrebungen von Zehntausenden von Momentum-Mitgliedern bilanzieren? Wie wurde das demokratische und radikale Versprechen von Corbyns euphorischen Wahlkundgebungen in bürokratische Trägheit und Loyalitätssucht kanalisiert? Im Fall von Momentum wurde es durch den inzwischen berüchtigten „Lansman-Coup“ durchgesetzt, der die embyronalen demokratischen Strukturen der Organisation auf Befehl unterdrückte.

Die ungelösten Widersprüche, die mit der Gründung von Momentum einhergingen, kamen an einen Bruchpunkt und mussten gelöst werden.

Unter Jon Lansmans Führung wurde die „sozialistische“ Mission von Momentum zum Synonym für den Sieg bei internen Wahlen, um Corbyns Einfluss auf die Partei zu festigen, und die Mobilisierung von Bodentruppen für allgemeine Wahlen, die letztlich über das Schicksal eines/r jeden Parteivorsitzenden entscheiden. Jedes Potenzial für eine wirklich unabhängige politische Organisation, die innerhalb und außerhalb der Labour Party für ihre eigene Auffassung vom Sozialismus kämpft, wurde zerschlagen, und die Organisation wurde als Privatunternehmen (Inhaber Jon Lansman) registriert.

Die Nationale Koordinierungsgruppe (NCG) entzog den lokalen Momentum-Gruppen jeglichen offiziellen Status, wodurch den Mitgliedern die Möglichkeit genommen wurde, Kampagnenschwerpunkte oder Gelegenheiten zur nationalen Koordinierung lokaler Kämpfe zu bestimmen. Die Ortsgruppen blieben isoliert, waren sich der Erfolge anderswo nicht bewusst und es fehlten ihnen Foren zur Erörterung von Strategie und Taktik. Wenn das nationale Büro von Momentum sich einmischte, war es ebenso störend, wie im Fall von „Labour Against Racism and Fascism“ („Labour gegen Rassismus und Faschismus“). Es überrascht nicht, dass sich die wirkliche, aktive Labour-Linke nicht insgesamt Momentum anschloss, und schließlich wurde dieser Unterschied ignoriert, da die Linke ihre eigenen Fraktionen und Datenbanken aufbaute.

Die symbolische Online-Demokratie von Lansman’s Momentum wurde genau für ihren Zweck entworfen – die Aufrechterhaltung und Mobilisierung der Wahlunterstützung für Corbyns Führung unter einem dünnen Deckmantel des „Movementism“ (Bewegungstümelei). Eine der wenigen Möglichkeiten der Einflussnahme, die Momentum-Mitgliedern zur Verfügung stehen, ist die Online-Petition. Wenn mehr als 10 % der Momentum-Mitglieder eine solche unterschreiben, muss der Vorschlag zu einer Online-Abstimmung aller Mitglieder gehen. Im Sommer 2018 erreichte eine Petition, die Momentum aufforderte, seine Mitglieder vor dem bevorstehenden Parteitag über die Brexit-Politik der Organisation abstimmen zu lassen, die 10 %-Schwelle.

Die NCG verzögerte die „Konsultation“ gebührend bis nach dem Parteitag, so dass sie nicht Gefahr lief, die Ereignisse tatsächlich zu beeinflussen, führte eine verworrene Umfrage mit bizarren Optionsangeboten und Leitfragen durch, berichtete über die Ergebnisse in unverschämt selektiver Weise und unternahm keinerlei Schritte, um gemäß deren Ergebnis zu handeln.

Dass dies die einzige tatsächliche Abstimmung über eine politische Frage war, die von den Mitgliedern kam, zeigt, wie es um die „Basisdemokratie“ von Momentum bestellt war. Die völlige Missachtung der Ansichten der Mitglieder, die die NCG zu dem wichtigsten politischen Thema der Ära Corbyn an den Tag legte, zeigt, wie oberflächlich ihr Engagement selbst für diese Farce war.

Ergebnisse und Aussichten

Fünf Jahre später ist klar, dass die Strategie gescheitert ist. Corbyn hat nicht nur zwei Wahlen verloren und die linke Führung der Partei eingebüßt, sondern es hat auch keine dauerhafte Demokratisierung oder Transformation der Labour-Partei gegeben. Momentum vermochte die Partei nicht dazu anzuspornen, aus dem Enthusiasmus ihrer Mitglieder Kapital zu schlagen, um größere Kampagnen oder Kämpfe jenseits auf den Kiez fokussierter Initiativen zu gewinnen oder gar zu führen.

Jetzt, da es keine einigende Person in der Parteiführung gibt und fast nichts unternommen wurde, um eine unabhängige politische und organisatorische Existenz aufzubauen, ist die in Momentum verkörperte pro-corbynsche Koalition zersplittert und droht, sich völlig aufzulösen. Die bevorstehende Neuausrichtung wird sich am unmittelbarsten in einer Debatte über die Zukunft von Momentum und die bevorstehenden Wahlen zur NCG der Partei niederschlagen.

Zwei grobe Trends haben sich herauskristallisiert. Der erste ist die Gruppierung von UltraloyalistInnen der Hauptströmung von Corbyn, darunter Mitglieder der derzeitigen NCG, ehemalige ParteimitarbeiterInnen oder FunktionärInnen der Jugendorganisation der Partei, „Young Labour“, die von der Redaktion der Zeitschrift „Tribune“ unterstützt werden. Die zweite ist Forward Momentum („Momentum voran“), eine neue Fraktion, die sich aus ehemaligen OrganisatorInnen von „The World Transformed “und etwas unabhängigeren Corbyn-AnhängerInnen zusammensetzt, die einen stärker horizontal ausgerichteten Ansatz bevorzugen.

Forward Momentum hat einen detaillierten Vorschlag veröffentlicht, während „Tribune“ bisher nur eine allgemeine Reflexion herausgebracht hat, die mit der NCG-Erklärung zusammenfällt, in der eine Erneuerung gefordert wird. Keine der beiden Gruppen hat jedoch dargelegt, was sie von der anderen unterscheidet. Beide Fraktionen bemühen sich, die breite Orientierung zu betonen, über die sie sich einig sind, und räumen ein, dass Momentum zu sehr institutionalisiert wurde, was letztlich nach hinten losging und den Wahlsieg verhinderte. Beide argumentieren, dass wir jetzt mehr Demokratie brauchen, um die Verbindung zwischen der Labour-Linken und Bewegungen außerhalb des Parlaments wiederherzustellen.

Das ist zwar soweit richtig, aber nach der umfassenden Niederlage der Linken wäre es für jedeN auch schwer zu leugnen. Vielleicht noch bezeichnender ist die Haltung wichtiger AktivistInnen beider Gruppen in der Vergangenheit. Viele waren bereits zentral an den Debatten um die Zukunft von Momentum in den Jahren 2016–2017 beteiligt; keineR sprach sich gegen den Lansman-Putsch aus. Einige in der Tribune-Fraktion unterstützten sogar aktiv die Bürokratisierung von „Momentum“ und trugen viel dazu bei, die Bunkermentalität und die Kultur der Führungsanbetung zu fördern, die auf den aufeinander folgenden Parteitagen immer deutlicher zutage traten.

Tatsächlich beschränken sich die festgestellten Unterschiede zwischen den Fraktionen weitgehend auf kulturelle Nuancen, die mehr ein Codewort zur Selbstidentifikation als eine sinnvolle Unterscheidung darstellen. „Tribune“ spricht von einem „Bruch mit der Londoner Komfortzone“ und einer Verlagerung „weg von einem engen Fokus auf die Jungen und UniversitätsstudentInnen“. Forward Momentum spricht von Internationalismus, Inklusivität und Befreiung. Dies sind kodifizierte Kennzeichen des Kampfes zwischen populistischen BefürworterInnen eines „linken Brexit“ und „neuen Linken“, BewegungstümlerInnen für kulturelle Hegemonie innerhalb der Linken. Obwohl die bisherigen Positionen der OrganisatorInnen zum Brexit nicht unbedingt in der Mitte auseinandergehen, sind die kulturellen und politischen Bedeutungsmerkmale, die die Brexit-Debatte begleiten (Internationalismus vs. linker Nationalismus), die deutlichsten Einzelaspekte, die die Spaltung aufzeigen.

Diese Unterscheidung würde zweifellos an Bedeutung gewinnen, wenn eine der beiden Gruppen die Gelegenheit zu einer ernsthaften Neuorganisation oder Führung der Bewegung erhalten würde. Während keine der beiden Gruppen es wagt, das B(rexit)-Wort zu erwähnen, hat die Regierung Johnson bereits einen umfassenden Angriff auf MigrantInnen und den öffentlichen Sektor begonnen. Die Haltung der Linken zur Freizügigkeit und zur Umsetzung der vollständigen Deregulierung der britischen Wirtschaft im Namen von Brexit ist eine wesentliche Frage.

Dennoch ist die Haltung der einzelnen Fraktionen zu diesen Fragen nirgendwo näher erläutert. Die aufstrebenden FührerInnen von Momentum haben die Trennung der organisierten Labour-Linken von der ArbeiterInnenklasse richtig diagnostiziert, doch sie sehen die Ursachen der Niederlage in kulturellen oder organisatorischen Fragen und weigern sich, das wirkliche Scheitern – eine Reihe politischer Fehler – anzuerkennen.

Die ganze Zeit, in der Momentum dachte, es würde den Kampf gegen die Rechte gewinnen, indem es seine Kontrolle über wichtige Ausschüsse und Parteiposten konsolidiert, verlor es den Krieg in der realen Welt. Der Triumph von Brexit, der von einem großen Teil der Corbyn-AnhängerInnen unterstützt wurde, war der der nationalistischen, chauvinistischen Kräfte. Die Unfähigkeit der Labour Party, ihre Opposition gegen diesen reaktionären Schwindel der ArbeiterInnenklasse klar zu definieren, und das ständige Manövrieren im Namen des Wahlkalküls ließen die Menschen das Vertrauen in die Partei als aufständische soziale Kraft verlieren.

Um eine Verbindung zwischen Labour-Linken und „sozialen Bewegungen“ oder Kampagnen einzelner „Identitätsgruppen“ zu erneuern, muss sich Momentum auf die entscheidenden Kämpfe beziehen, für die es mit einer konkreten Politik aufwarten muss. Dafür ist Demokratie notwendig, aber sie darf nicht als Selbstzweck betrachtet werden. Demokratie ist in jeder Organisation die Verpflichtung, die volle Äußerung der Interessen der Mitglieder zuzulassen, die Behauptung der Unabhängigkeit der Organisation, die Ablehnung der Sektionsinteressen jeglicher Bürokratie und die Ablehnung von Erwägungen „oberhalb“ der Basis. Organisationsziele und -strukturen bedingen sich gegenseitig, aber in letzter Instanz ist die Demokratie lediglich eine Methode, um Schlussfolgerungen aus diesen Fragen zu ziehen und sich zu organisieren, um Aktionsmaßnahmen zu ergreifen.

So ist es gerade die Frage nach den politischen Zielen, die die Linke dringend beantworten muss, aber das ist die Frage, die keine der beiden großen Momentum-Fraktionen bereit ist anzugehen.

Wie geht es weiter?

Die Coronavirus-Pandemie hat den Aktienmarkt zum Absturz gebracht und den Ausbruch einer weltweiten Wirtschaftsrezession beschleunigt, die die Krise von 2008 in den Schatten zu stellen droht. Millionen sind bereits arbeitslos geworden, und wenn der Abriegelungsprozess beendet ist, wird der Kampf zur Rettung des kapitalistischen Systems und zur Abwälzung der Kosten der Krise auf die Rücken der Werktätigen beginnen.

Um diese Krise zu bekämpfen, muss die Linke eine Reihe dringender Fragen beantworten. Wie sollten wir uns dem falschen Umgang der Regierung mit der Pandemie widersetzen, Maßnahmen zum Schutz der ArbeiterInnenklasse ergreifen und das Großkapital für die Krise, für die es verantwortlich ist, zahlen lassen? Wie sollten wir uns auf die kommende Wirtschaftskrise und die Klassenkämpfe, die sie auslösen wird, vorbereiten? Welche Rolle wird die Labour Party in diesen Kämpfen spielen, und wie kann sie zu einem Kampfinstrument für die ArbeiterInnenklasse gemacht werden? Was ist unser Ziel – wie definieren wir Sozialismus?

Angesichts der bevorstehenden Krise muss die Linke diese Fragen so schnell wie möglich diskutieren. Es besteht keine Notwendigkeit für eine ausgedehnte Konsultation darüber, wie man Momentum demokratisieren kann, die nur dazu dienen kann, weiter zu zittern und zu zögern. Die neue Nationale Koordinierungsgruppe sollte so schnell wie möglich eine demokratische Mitglieder- und AnhängerInnenkonferenz einberufen, um die Prioritäten von Momentum festzulegen.

Die Erfahrung der letzten fünf Jahre war eine intensive Schule für die britische Linke in ihrer Aufgabe zu erkennen, wofür sie kämpft und wie sie ihre Ziele erreichen will. Hier skizzieren wir fünf Prinzipien, die bei der Entwicklung der neuen Strategie von Momentum eine Rolle spielen sollten.

1. Eine klassenkämpferische Strategie in der Coronavirus-Krise und der kommenden Rezession

Die Coronavirus-Pandemie hat die Unfähigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems der Welt – des Kapitalismus – offenbart, die von ihm verursachten Krisen zu verhindern, geschweige denn zu lösen. Die wirtschaftliche Lähmung wird den Ausbruch einer globalen Wirtschaftsrezession beschleunigen und die zunehmenden Konflikte zwischen den Großmächten verschärfen.

Die politische Strategie des Reformismus – eine langwierige Kampagne von Zugeständnissen, Kompromissen und Verhandlungen innerhalb der Logik des kapitalistischen Systems – wird durch das Ausmaß und die Schwere der Herausforderungen, vor denen wir stehen, irrelevant. Bei der Entwicklung der Mittel zur Bekämpfung sowohl der Covid-19-Krise als auch des bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs brauchen wir eine Strategie, die mittelfristig die Verteidigung gegen die Angriffe der Bosse mit dem Kampf um ArbeiterInnenmacht und eine sozialistische Wirtschaft verbindet.

2. Demokratie

Der Zweck des Kampfes für mehr Demokratie in der Labour-Partei besteht darin, den Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, der Bürokratie und der falschen, kompromittierenden Politik der Führung und der Parlamentsfraktion wirksam entgegenzutreten. Deshalb ist sie als ein Prinzip im Kampf für den Sozialismus nicht verhandelbar.

Unser Ausgangspunkt muss die Forderung nach der vollen Souveränität des jährlichen Parteitages sein, über sein Programm zu entscheiden, auf dem die Wahlmanifeste und die Taktik der Parlamentsfraktion basieren sollten. Momentum muss sich weiterhin mit Nachdruck für die Umsetzung der gesamten bestehenden Konferenzpolitik, für die offene Auswahl von ParlamentskandidatInnen, Ratsmitgliedern, BürgermeisterInnen und anderen gewählten AmtsträgerInnen einsetzen. Parteimitglieder sollten auch gegen ungerechte Disziplinarverfahren verteidigt werden.

Ein Härtetest für die Bereitschaft von Momentum, für die demokratische Selbstdarstellung der Basis zu kämpfen, wird die längst überfällige Demokratisierung des eigenen internen Regimes sein.

3. Die Gewerkschaften transformieren

Die von der Corbyn-Bewegung repräsentierte politische Wende beruhte auf dem Versagen der Gewerkschaften, sich dem Sparprogramm der Koalitionsregierung wirksam entgegenzustellen. Die politische Strategie der professionellen bürokratischen Kaste, die die Gewerkschaften führt und die Labour Party finanziert, ist die der Vermittlerin zwischen Kapital und Arbeit, d. h. die reformistische, gradualistische Methode der Verhandlung und des Kompromisses.

Der Zustrom neuer Mitglieder und die Diskussion über die Labour Party gingen an den Gewerkschaften jedoch weitgehend vorbei: ein fataler Fehler. Die Gewerkschaften üben ihren Einfluss auf die Partei aus – auf allen Ebenen und in ihrem eigenen Interesse. Die Entwicklung von Taktiken, um die Gewerkschaften aus der toten Hand der Bürokratie zu befreien und sie durch klassenkämpferische Methoden zu ersetzen, um die Unorganisierten zu organisieren, eine bessere Bezahlung zu erreichen und allgemeine politische Forderungen zu verfolgen, ist ein Schlüsselziel für SozialistInnen innerhalb oder außerhalb der Labour Party.

4. Internationalismus

MigrantInnen und ethnische Minderheiten wurden systematisch zum Sündenbock für das Versagen des Kapitalismus, Sicherheit und Wohlstand für alle zu schaffen, erkoren. SozialistInnen müssen deshalb gegen Rassismus in all seinen Formen kämpfen. Alle, die hier leben und arbeiten wollen, sollten willkommen sein. Antirassismus muss universell sein, und so muss der Widerstand gegen Antisemitismus mit dem Widerstand gegen anti-palästinensischen Rassismus einhergehen.

Nur sozialistische Maßnahmen und eine internationale Neuordnung der Wirtschaft können dauerhafte Lösungen für die großen politischen Krisen unserer Generation – wiederkehrende Wirtschaftskrise, Klimawandel, Flüchtlingskrise, neue Kriege und ungleiche gesundheitliche Behandlung – bieten. Nur eine internationale sozialistische Bewegung kann die politische Führung bieten, die wir brauchen, um einem globalen System zu widerstehen.

Jede national basierte Bewegung, die für den Sozialismus kämpft, muss dem Aufbau internationaler Verbindungen, der Organisation der Solidarität mit allen ArbeiterInnen- und demokratischen Kämpfen auf der ganzen Welt Vorrang einräumen und letztlich dafür eintreten, den Sprung von Solidaritätsbekundungen mit den nationalen Kämpfen der anderen zu Strukturen für die Koordinierung gemeinsamer Aktionen zu schaffen.

5. Eine kämpfende Partei

Wie wir zuvor dargelegt haben, legen Wahlen das Gleichgewicht der Klassenkräfte offen und liefern eine Momentaufnahme des Klassenkampfes. Eine steigende Flut des Klassenkampfes ist daher nicht nur vorteilhaft, sondern wahrscheinlich auch wesentlich für die Wahl einer linken Labour-Regierung. Und die Fortsetzung dieses Kampfes durch die Labour Party ist sicherlich für jede linke Labour-Regierung notwendig, um die Sabotage der Bosse und ihres Staatsapparates zu überwinden.

Die Linke muss dafür sorgen, dass aus der Labour Party eine Partei des Kampfes wird und nicht nur eine Wahlmaschine. Es sollte keine Privilegien für Abgeordnete, Ratsmitglieder und Partei- oder GewerkschaftsfunktionärInnen geben. Im Gegenteil, diejenigen, die an der Spitze des Kampfes stehen, sollten diejenigen ersetzen, die die Sache des Sozialismus nicht über ihre persönliche Karriere stellen können.

Schlussfolgerung

Das Potenzial der Corbyn-Bewegung lag nicht nur in ihrem Versprechen, die Manifestpolitik der Partei nach links zu verlagern, sondern in der historischen Chance, die rechten prokapitalistischen Elemente, die die Labour Party kontrollieren, zu stören und sich von ihnen zu lösen.

Dies ist die Aufgabe, der sich die Labour-Linken nun wieder stellen müssen. Die Parteibürokratie, die Gewerkschaftsbürokratie und die große Mehrheit ihrer gewählten FunktionärInnen und MitarbeiterInnen sind ein Mühlstein um den Hals der ArbeiterInnenklasse, wann immer sie mit ihrem eigenen Schicksal konfrontiert wird, unabhängig davon, ob die Bürokratie einen „linken“ oder „rechten“ Charakter trägt.

Das Scheitern des Corbynismus und der entscheidende Sieg von Starmer sollten alle verbleibenden Illusionen in die Möglichkeit einer friedlichen, allmählichen, demokratischen – oder bürokratischen – Umwandlung der Labour Party von einer Wahlroutine im parlamentarischen System zu einer Waffe in den Händen der ArbeiterInnen im Kampf für den Sozialismus zunichtemachen.

Wirtschaftskrise und Klimanotstand werden den Kapitalismus in den kommenden Monaten vor existentielle Fragen stellen. Die Auseinandersetzungen darüber, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, in wessen Interesse sie ergriffen werden und wer sie bezahlen wird, sind ein Teil eines größeren Kampfes darum, wie die Gesellschaft ihren Reichtum nutzt und welche Klasse herrscht.

Nur antikapitalistische Lösungen können einen Fahrplan für eine Zukunft bieten, die auf menschlicher Solidarität und sozialer Gleichheit beruht. Um Demoralisierung und Verwirrung zu vermeiden, muss die Linke die Gelegenheit ergreifen, die sich durch diese historischen Krisen bietet, und eine Organisation aufbauen, die bereit ist, sich an vielen verschiedenen Methoden des Kampfes zu beteiligen, zunehmend auch außerhalb von Wahlkampagnen. Am wichtigsten ist, dass wir eine Organisation brauchen, die sich über ihr Ziel im Klaren ist – die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu schützen, die kapitalistische Offensive zu besiegen und den Kampf um die Macht zu führen.




Großbritannien: Die Wahl von Keir Starmer – das Ende von Corbyns Revolution

Red Flag, Infomail 1099, 15. April 2020

Die Wahl von Keir Starmer zum Labour-Vorsitzenden stellt mit 56,2 % der Stimmen einen klaren Sieg für die Rechte in der Partei dar. Weder die Tatsache, dass sich einige Linke dazu verleiten ließen, für Starmer zu stimmen, noch die Tatsache, dass Rebecca Long-Bailey 27,6 % der Stimmen erhielt, kann dies verschleiern.

Starmer selbst zerstreute jegliche Zweifel durch seine Wahl eines Schattenkabinetts aus rechten und Mitte-Rechts-PolitikerInnen, von denen viele auf wiederholte und bösartige Angriffe auf Corbyn und seine AnhängerInnen zurückblicken können. Nur Catherine Jane „Cat“ Smith und Rebecca Long-Bailey haben Corbyn in allen Krisen seit 2015 konsequent unterstützt. Ihre Einbeziehung ist eindeutig nur ein Feigenblatt.

Das Ende des Corbynismus

Dies markiert das Ende der „Revolution von oben“ durch Corbyn. Die Macht liegt nun in den Händen der Rechten und der Mitte-Rechten, die ihre Mehrheit in der Parlamentsfraktion der Labour-Party und unter den Labour-Gemeinderatsmitgliedern im ganzen Land stets behalten haben. Dass Corbyn seine FeindInnen in sein Schattenkabinett aufnahm, war in der Tat immer ein gefährliches Zugeständnis. Zweimal nutzten sie ihre Positionen, um Putsche gegen ihn zu starten.

In beiden Fällen wurden sie durch die Massenmitgliedschaft der Partei besiegt und griffen auf die völlig betrügerische Strategie der falschen Antisemitismusvorwürfe zurück. Dabei wussten sie, dass sie auf die Unterstützung des Establishments und der Medien zählen konnten. Vielleicht noch überraschender war, dass sie auch von der Weigerung von „Momentum“, der innerparteilichen Strömung unter der Führung von Jonathan Lansman, und sogar Teilen der radikalen Linken, insbesondere der AWL (Allianz für die Freiheit der ArbeiterInnen), profitierten, die Partei als diese Verleumdungskampagnen als das zu verurteilen, was sie waren.

Dass die Antisemitismusvorwürfe so wirksam waren, hängt mit der allgemeineren Frage der Außenpolitik zusammen. Dies trifft den Kern von Labours langjähriger Unterstützung für die globale Strategie des britischen Kapitalismus, in der die Unterstützung Israels ein grundlegendes Element seines Bündnisses mit den USA ist.

Corbyns Geschichte weist eine prinzipielle Opposition gegen imperialistische Kriege auf und er stand jahrlang für die Unterstützung der Rechte der PalästinenserInnen, neben anderen unterdrückten Völkern. Einen solchen Mann als Führer einer potentiellen Regierungspartei an der Spitze zu haben, stand nicht nur für den rechten Flügel von Labour, sondern sogar für einige auf der linken Seite immer völlig außer Frage.

Starmer hat sofort seine Anerkennung dieser Verleumdungen einen klaren Bruch mit der Corbyn signalisiert, als er Lisa Nandy vom rechten Parteiflügel zur Schattenaußenministerin ernannt hat. Aus dem gleichen Grund hat er versprochen, die Kampagne gegen die AntizionistInnen fortzusetzen, die fälschlicherweise am meisten des Antisemitismus beschuldigt werden, indem er sagte: „Ich werde dieses Gift an seinen Wurzeln ausreißen“, womit er meint, dass er weiterhin Mitglieder ausschließen wird, die Israels Tötung unbewaffneter palästinensischer DemonstrantInnen verurteilen, während es den letzten geisterhaften Umriss eines palästinensischen „Staates“ auslöscht.

Kurswechsel

Allgemeiner gesagt, zeigt Starmers Erklärung, nachdem er die meisten Corbynistas aus dem Schattenkabinett entfernt hat, in welche Richtung er gehen wird:

„Dies ist ein neues Team, das die Labour Party in einer neuen Ära voranbringen wird. Unter meiner Führung wird sich die Labour Party voll und ganz darauf konzentrieren, im nationalen Interesse zu arbeiten, das Vertrauen der Menschen in unsere Partei wieder aufzubauen und die nächsten Wahlen zu gewinnen.“

In wahrheitsgemäße Begriffe übersetzt heißt das:

„Ich werde meine Sicherheitsüberprüfung damit rechtfertigen, dass ich die nationalen und internationalen Interessen unserer KapitalistInnen loyal verteidige. Ich werde Corbyns Unterstützung für die PalästinenserInnen nicht wiederholen, sondern das Vertrauen derjenigen wiedergewinnen, die ihn verleumdet haben. Ich werde nur eine Politik verfolgen, bei der die Medien als Richterinnen die Labour-Partei nicht noch eine Wahl verlieren lassen würden. Kurz gesagt, ich bringe Labour zurück zu der Art von Partei, die sie größtenteils seit den 1960er Jahren war. Das kurze linke Zwischenspiel der letzten Jahre wird in der Erinnerung der Bevölkerung verblassen, so wie es die Benn-Jahre Anfang der 1980er Jahre taten.“

Er hat versucht, während der Coronavirus-Epidemie die Rolle der loyalen Opposition Ihrer Majestät zu spielen, was auch immer es wert ist, und sagte zum Nachrichtensender „Sky News“: „Ich versuche zu vermeiden, Entschuldigungen zu fordern [für den Mangel an persönlicher Schutzausrüstung für Krankenpflegekräfte an der Front] oder frühere Entscheidungen zu kritisieren [Versäumnis, die Tests früher hochzufahren].“

Zusammen mit seiner stark publik gemachten Bereitschaft, einer „Regierung der nationalen Einheit“ beizutreten, ist dies sein Versuch, an den nationalen Schulterschluss im Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen. Er will den Attlee (Labour-Führer der 1940er Jahre) zu Johnsons Churchill-Imitation spielen, indem er die Labour-Partei und die Gewerkschaften dazu benutzt, das britische Kapital in der herannahenden Krise zu retten und Churchill (Johnson) dann in der Zeit des Wiederaufbaus zu ersetzen.

Kein Wunder, dass Starmers am meisten bewunderter Labour-Chef Harold Wilson ist, der ehemalige Anhänger Bevans (Minister für Gesundheit und Wohnungsbau unter Attlee), der die Hoffnungen der Labour-Linken in den 1960er und 1970er Jahren enttäuschte und verriet. Obwohl er sagte, er werde von Corbyns Politik „nicht übermäßig wegsteuern“, beweist sein anderes Versprechen, Veränderungen herbeizuführen, dass dieser Wechsel an die Linke platzen wird.

„Wir haben gerade vier Wahlen in Folge verloren, und deshalb müssen wir uns natürlich ändern. Wenn wir uns nicht ändern, werden wir die nächste Parlamentswahl verlieren.“ Dies kann nur eine Änderung gegenüber der unter Corbyn beschlossenen Politik bedeuten.

Die Feier seines Sieges durch die gesamte Presse, vom „Daily Mirror“ und „The Guardian“ bis zur „Sun“ und dem „Telegraph“, zeigt, dass die herrschende Klasse Großbritanniens weiß, dass Labour jetzt wieder in sicheren Händen ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie jetzt den Druck von Labour nehmen wird. Im Gegenteil, nachdem sie Blut geleckt hat, wird sie mehr verlangen, um sicherzustellen, dass die Linke nie wieder in die Nähe eines Wahltrumpfs kommen kann.

In diesem Sinne hat Keir Starmer versprochen, „den Fraktionalismus zu beenden“, aber er meint damit nicht, die Partei von denen zu säubern, die systematisch versucht haben, nicht nur Corbyn, sondern die ganze Partei zu diskreditieren. Nein, was er meint, ist, dass er die Erzählung des rechten Flügels akzeptiert, dass der „Fraktionalismus“ von der corbynistischen Linken verursacht wurde und dass es rechte Abgeordnete wie Margaret Hodge waren, die ihm zum Opfer fielen, eine totale Umkehrung der Wahrheit.

Die Fraktionen „Fortschritt“ und „Labour Zuerst“, die Starmer unterstützt haben, werden ihre Angriffe auf die Linke nicht einstellen. Zweifellos werden sie mit der Unterstützung der Abgeordnetenhausfraktion und der Presse eine umfassende Säuberung all derer fordern, die sich noch immer für die Demokratisierung der Partei, antikapitalistische Lösungen für die Krise oder eine internationalistische Politik, z. B. im Fall von Palästina einsetzen.

Wird Starmer sie als FraktionalistInnen zur Ordnung rufen? Natürlich nicht. Der Ausschluss von Richard Burgon aus dem Schattenkabinett und die Ernennung von Matt Pound, dem ehemaligen nationalen Organisator von „Labour First“, zeigen, in welche Richtung der Wind unter seiner Führung wehen wird.

Wo ist alles schiefgelaufen?

Durcheinander und Verwirrung über Brexit und die Verteufelung Corbyns in den Medien selbst haben zweifellos eine Rolle bei der Niederlage vom 12. Dezember gespielt. Genauso wirkte seine eigene Bereitschaft, Johnson die Möglichkeit zu geben, sich vom Haken einer uneinigen Minderheitsregierung zu befreien, indem er eine Wahl einberief, als es ihm passte. Entscheidend war, dass die Einzelheiten des Brexit-Abkommens noch nicht öffentlich gemacht worden waren.

All das war damals klar, aber was die Enthüllungen in dem durchgesickerten Antisemitismusbericht jetzt deutlich machen, ist, wie führende Persönlichkeiten im Parteiapparat bewusst eine Niederlage bei der Wahl 2017 planten. Vielleicht werden die Einzelheiten dessen, was sie im Jahr 2019 getan haben, mit der Zeit öffentlich werden, aber wir brauchen nicht darauf zu warten, um zu erkennen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um die Niederlage herbeizuführen.

Warum waren die Rechten so begierig darauf, beide Wahlen zu verlieren? Weil dies, nachdem sie mit ihren Putschversuchen gescheitert waren, nun die einzige Möglichkeit war, Corbyn zu entfernen – ihr Ziel seit seiner Wahl zum Parteichef. In einer Partei, deren ganze Existenz auf Wahlen ausgerichtet ist, garantieren zwei Niederlagen in Folge den Sturz des Parteiführers. Den Sieg den Tories zu überlassen, war für sie kein zu hoher Preis.

Die Geschwindigkeit, mit der die Corbyn-Führung aufgerollt und weggeworfen wurde, macht deutlich, dass die Linke nie die Kontrolle über die Partei als Ganzes, insbesondere über die Parlamentsfraktion und den bürokratischen Apparat, erlangt hatte. Wie der versuchte Putsch der Parlamentsfraktion 2016 zeigte, gab es kaum eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Westminster oder in den Rathäusern. Es sollte nicht vergessen werden, dass Starmer in diese illoyale Verschwörung verwickelt war.

Dank Jon Lansman durfte die Organisation, von der viele hofften, sie wäre das Mittel zur Demokratisierung der Partei, „Momentum“, immer nur eine soziale Medien- und Wahlmaschine sein. Anstatt eine Kampagne zur Neustrukturierung der Partei anzuführen, beschränkte sie die Begeisterung ihrer Mitglieder auf den Aufbau eines Personenkults um Corbyn. Niemals wurde eine Organisation grausamer falsch benannt.

Corbyn seinerseits behielt die Befugnisse und die Schirmherrschaft, die das Amt des Parteichefs innehatte, ein Erbe der Ära Kinnock, Blair und Miliband. Anstatt die Mitglieder gegen diejenigen zu mobilisieren, die versuchten, ihn abzusetzen, schloss er sich den bürokratischen Mitte-Links-FührerInnen der Gewerkschaften, insbesondere Len McCluskey, an. Gemeinsam frustrierten sie die Wünsche der Mitglieder über die obligatorische Wiederwahl, dann über die Öffnung der Grenzen für MigrantInnen und schließlich über Brexit. Und warum? Weil sich alle darin einig waren, dass der rechte Flügel besänftigt werden müsse, um die Möglichkeit einer Spaltung zu vermeiden.

Dies war das Erfolgsgeheimnis der Rechten. Wenn das höchste Gut ist, eine Wahl zu gewinnen, dann muss die Partei geeint sein oder, wie ein Apologet es ausdrückte, die Partei braucht beide Flügel, um zu fliegen. Dies war die Lehre, die alle aus der Spaltung 1981 gezogen haben, als die Viererbande zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei ausscherte und Thatcher damit zu ihrem Sieg 1983 verhalf. Mit diesem Wissen verlangte der rechte Flügel ständig Zugeständnisse von Corbyn und gewann sie im Allgemeinen.

Wohin als Nächstes für die Linke?

Die Labour-Linken beginnen, sich nach den Hammerschlägen der Wahlniederlage und des Starmer-Sieges wieder zu erholen. „Novara Media“, „Forward Momentum“, „Tribune“ usw. fordern alle einen Richtungswechsel. Viele von ihnen konzentrieren sich auf „Momentum“ als den wahrscheinlichsten Ausgangspunkt, vor allem angesichts der bevorstehenden (weitgehend unechten) Führungswahlen.

Die ganz außergewöhnlichen Umstände der Pandemie und der Abriegelung mögen alle normalen politischen Aktivitäten gelähmt haben, aber sie verhindern nicht die Diskussion und Debatte. „Red Flag“ wird sicherlich zu dieser Debatte beitragen, und unsere unmittelbaren Prioritäten werden die Verteidigung jener politischen Errungenschaften sein, die unter Corbyn erzielt wurden, sowie der fortgesetzte Kampf für die Demokratisierung der Partei mit einer souveränen Konferenz und der automatischen Neuwahl von Abgeordneten und Ratsmitgliedern.

Die gegenwärtige Krise hat vielen Menschen jedoch auch die Augen für die Folgen der Wirtschaftspolitik sowohl der Tory-Regierung als auch der Labour-Regierung geöffnet: ein staatliches Gesundheitswesen ohne freie Kapazitäten; ein lähmender Mangel an Vorräten und Personal; Millionen von ArbeiterInnen, die auf Lebensmitteltafeln angewiesen sind, selbst wenn sie einen Arbeitsplatz haben; und, die Kehrseite der Medaille, die Notwendigkeit einer zentralen Zuweisung von Ressourcen und der Beschlagnahme von lebenswichtigen Gütern und Ausrüstungen.

Während Starmer und die Rechten Johnson ihre Loyalität und ihre unerschütterliche Unterstützung zusichern, muss die Linke die Lehren aus Corbyns Aufstieg und Fall mit dem Kampf um die Gewinnung der Partei für ein Programm verknüpfen, das die demokratische Kontrolle über die wichtigsten Ressourcen der Gesellschaft anstrebt, damit diese rationell geplant werden können, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, und nicht, um die weitere Herrschaft der Reichen zu sichern, wenn der unmittelbare Notstand vorüber ist.

In dem Maße, in dem der Ausnahmezustand gelockert wird, sich die Wirtschaftskrise jedoch vertieft, wird sich diese Regierung daran machen, die Milliarden zurückzuholen, zu deren Ausgabe sie gezwungen wurde. Um zu verhindern, dass dies von Starmer und dem rechten Flügel toleriert wird, ganz zu schweigen von jeder Art „dreiseitiger“ Zusammenarbeit bei den Sparmaßnahmen, brauchen wir mehr als eine demokratisierte Basisorganisation innerhalb der Labour Party.

Wir werden auch eine solche, parallele oppositionelle Kraft in den Gewerkschaften und in den örtlichen Gemeinden brauchen. Die Labour-Linken müssen eine aktive Rolle dabei spielen, sie für die für viele ungewohnten Aufgaben des Klassenkampfes zu mobilisieren. Wir haben keine Notwendigkeit und kein Interesse daran, auf allgemeine Wahlen zu warten. Wir müssen das Gleichgewicht der Kräfte radikal verändern und Johnson und seine Bande rauswerfen. Dann, und nur dann, wird eine Regierung mit einer wirklich sozialistischen Politik möglich werden.




SPD-Bundesparteitag: Alles kann, nix muss?

Tobi Hansen, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

In der Stunde der Not ist auf „linke“ SozialdemokratInnen
Verlass. Auf dem Altar der „Einheit“ der Sozialdemokratie opferten Norbert
Walter-Borjans und Saskia Esken ihren bei der Urabstimmung um den Parteivorsitz
gerade errungenen Erfolg. Ein „Kurswechsel“ fand auf dem Parteitag nicht statt.
Er wurde vertagt, verschoben – die Große Koalition macht samt Olaf Scholz
weiter.

Dabei hatte der Sieg der beiden keynesianisch orientierten
KandidatInnen Walter-Borjans und Esken für einige Tage den SPD-Apparat, die
Bundestagsfraktion ebenso wie die bürgerliche Konkurrenz verunsichert.
Womöglich würden die beiden „unerfahrenen“ AußenseiterInnen nicht nur
Scholz/Geywitz übertrumpft haben, sondern auch noch die SPD-Politik ändern und
die Große Koalition beenden.

Nicht nur AfD, FDP und CDU, sondern auch etliche bürgerliche
Medien malten den „Linksschwenk“ der SPD an die Wand. Der Partei drohe der
Untergang, wenn sie keine „staatspolitische Verantwortung“ zeige, also den Kurs
beende, der sie an den Rand der politischen Existenz gebracht hatte. Genährt
wurden diese Befürchtungen durch die teilweise „radikalen“ Forderungen der
neuen Vorsitzenden und ihrer UnterstützerInnen.

Einige davon gingen zwar in die Beschlüsse des Parteitags
ein. Sie stellen jedoch angesichts der wichtigsten politischen Entscheidung des
Parteitages wenig mehr dar als eine Beruhigungspille für Jusos, Parteilinke und
GroKo-GegnerInnen. Entgegen den Hoffnungen und Forderungen des linken
Parteiflügels entschieden sich die neuen Vorsitzenden und der Parteitag dafür,
über die Fortführung der Bundesregierung erst gar nicht abzustimmen. Der
Parteitag verpflichtete die SPD-Regierungsmitglieder zu – nichts.

Einigkeit über alles

Dies entsprach der Parteitagsregie, auf die sich die neuen
Vorsitzenden und der alte Vorstand, Parlamentsfraktion und Apparat im Vorfeld
geeinigt hatten. Kampfabstimmungen sollten zu allen Fragen vermieden werden –
und das wurden sie auch.

Relativ rasch nach der Urabstimmung wurde klar, dass im
gemeinsamen Antrag des geschäftsführenden Vorstandes und der neu gewählten
Vorsitzenden kein Ende der Bundesregierung gefordert wurde. Stattdessen soll es
„Nachverhandlungen“ und Gespräche mit der Union geben, so die Kompromisslinie.
Vor allem die DGB-Bürokratie hatte ihre Vorstellungen für den Fortbestand der
Großen Koalition deutlich geäußert.

Der neue Vorstand wurde relativ einhellig gewählt: Norbert
Walter-Borjans erhielt 89,2 % und Saskia Esken 75,9 % der Stimmen.

Die gesamte „Einhelligkeit“ wurde bei der Wahl zu den
stellvertretenden Vorsitzenden deutlich. Da jedoch eine Kampfabstimmung
zwischen Juso-Chef Kühnert und Arbeitsminister Heil „drohte“, wurde die Zahl
der StellvertreterInnen einfach erhöht. Eine Kampfabstimmung hätte schließlich
den „Burgfrieden“ zwischen dem Regierungslager und den neuen Vorsitzenden
ziemlich gefährdet. Daher wurde noch am ersten Tag die Anzahl der zu Wählenden
auf 5 erhöht. Beide Kandidaten, Heil und Kühnert, kamen durch, wenn auch mit
den schlechtesten Ergebnissen. Kühnert landete mit 70,4 % knapp vor Heil mit 70
%.

Klara Geywitz, die mit Scholz zuvor gescheitert war, wurde
ausdrücklich auf Vorschlag der neuen Vorsitzenden als Vizechefin gewählt (76,8
%) genau wie die eher „links“ verortete Landesvorsitzende aus Schleswig-Holstein
Serpil Midyatli (79,8 %) und die Landeschefin aus dem Saarland Anke Rehlinger
(74,8 %).

Der erweiterte Parteivorstand, welcher von 36 auf 24
verkleinert wurde, inkludiert zum einen einige Kabinettsmitglieder (Giffey,
Schulze, Roth, Maas). Außerdem wurden „Fraktionslinke“ wie Miersch, der bei der
Wahl das beste Ergebnis erzielte, neben rechten SozialdemokratInnen wie
Pistorius gewählt. Berlins Bürgermeister Müller oder Ex-Parteivize Stegner
flogen immerhin deutlich aus dem Vorstand.

Kräfteverhältnis?

Ausgeschlossen von dieser Regie des Parteitages versuchte
das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis, den
Antrag für den sofortigen GroKo-Ausstieg doch durchzubringen. Dies wurde sehr
deutlich abgelehnt. Kühnert, zuvor die „Führungsfigur“ des No-GroKo-Lagers,
verteidigte und veranschaulichte den Kompromiss vor dem Parteitag. „Er verspüre
keine Oppositionssehnsucht in der Partei“, ließ er verlauten – und sprach
sodann gegen die Parteilinken. Keine Oppositionssehnsucht verspüren zweifellos
Kabinett, Fraktion und die bisherige Führung in Bund und Ländern. Die neuen
Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken konnten sich durch die
Einbindung der vormaligen Konkurrenz und den Aufstieg von Kühnert zunächst eine
Machtbasis schaffen, zuvor hatten sie de facto keine. Unisono waren auch alle
SozialdemokratInnen aus fast allen Lagern überzeugt, dass sie nur gemeinsam die
programmatische Erneuerung schaffen, an Glaubwürdigkeit wiedergewinnen und
alles aus der GroKo rausholen können. Neu im Amt landeten sie somit bei einer
Neuauflage der gescheiterten Nahles-Politik, das Land zu regieren und im
„Erneuerungsprozess“ zugleich virtuelle Opposition zu spielen. Diese Politik
scheiterte auf ganzer Linie – eine Wiederholung wird die Sache nicht besser
machen.

Die neuen Vorsitzenden werden zunächst gemeinsam mit
Vizekanzler Scholz und Fraktionschef Mützenich im Koalitionsausschuss die
„Gespräche“ führen. Dies gilt schon mal als „Erfolg“ einer anspruchslos
gewordenen Sozialdemokratie. Esken betonte, dass „die Parteien die Verträge
machen“ werden. Walter-Borjans/Esken vertreten zwar eine klassische
keynesianische Umverteilungspolitik und wollen mit der neoliberalen Agenda der
Regierungszeit brechen – aber nicht jetzt und nicht in der Praxis. Nach den
Beschlüssen des Parteitages zeigt sich nun auch Finanzminister Scholz bereit,
für Investitionen die „schwarze Null“ hinter sich zu lassen. Selbst Kreise der
Union würden die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bis 2021 zunächst
unterschreiben. Ein unverbindliches „Mehr“ für Klimaschutz und Digitales ließe
sich für die Große Koalition ohnedies gut verkaufen.

Dies soll allen Ernstes eine „strategische“ Ausrichtung
darstellen. Das Profil soll „geschärft“ werden, die „sensationellen Ergebnisse“
der SPD-MinisterInnen, allen voran die Grundrente von Hubertus Heil, sollen
gewürdigt werden. Walter-Borjans/Esken stünden zwar weiterhin für ein
frühzeitiges Ende der GroKo zur Verfügung – aber sie wollen und werden es
selbst nicht aktiv in Angriff nehmen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften,
ihre Apparate und FunktionärInnen scheinen derzeit die verlässlichsten
Agenturen für den Erhalt der Bundesregierung zu sein, auch wenn – ähnlich wie
in der SPD – unter der Oberfläche auch dort Konflikte schwelen.

Auch wenn der Parteitag die „Einheit“ erhalten sollte, so
versuchen beide Seiten, BefürworterInnen wie GegnerInnen der GroKo, die
Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Eine wichtige Rolle wird
dabei die Fraktion einnehmen, die sich zuvor noch recht deutlich für
Scholz/Geywitz als neue Vorsitzende ausgesprochen hatte. Dort stellt die
„Parlamentarische Linke“, der auch Saskia Esken angehört, ca. ein Drittel der
Abgeordneten. Zusammen mit dem „Netzwerk“ und dem „Seeheimer Kreis“ sind das
ihre tragenden internen Zusammenschlüsse.

Die „Parlamentarische Linke“ war zwar nie sonderlich
„links“, jedoch im Unterschied zum „Seeheimer Kreis“ immer stark an den
Forderungen der Gewerkschaften, Verbände, NGOs orientiert. Was die neuen
Gespräche in der Bundesregierung im Koalitionsausschuss angeht, wird die
entscheidende Frage sein, ob die neuen Vorsitzenden eine Basis in der Fraktion
erobern können. Die neuen Vorsitzenden sind nur auf Zeit bestellt. Die
endgültige Haltung zur Bundesregierung ist noch nicht festgelegt, wie auch
Entscheidungen zu den nächsten Wahlen noch anstehen. Der Parteitag stellte nur
eine weitere Station der tiefen Krise der SPD dar.

Ergebnisse und Perspektiven

Auch wenn Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken und Kevin
Kühnert de facto zunächst den Nahles- Kurs fortsetzen, so haben sie dafür aber
erst mal neue Mehrheiten. Recht langsam soll eine Verabschiedung von der
„Agenda-Politik“ hin zu einer der Umverteilung (Mindestlohn, Grundrente, Hartz
IV) eingeleitet werden – und all das bei laufender Regierungsbeteiligung
inklusive aller anfallenden Widersprüche zwischen Beschlüssen und Praxis.

In der kommenden Periode wird diese an sich schon
widersprüchliche und selbstmörderische Politik erst recht fatal. Erstens wird
die Union selbst den Preis für die GroKo und damit für Zugeständnisse der SPD –
z. B. in Fragen der Rüstungs- und Verteidigungspolitik – nach oben treiben.
Zweitens verengt die kommende Krise den Verteilungsspielraum selbst für eine
zahme keynesianische Politik.

Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich auch in der SPD
mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken der Wunsch der Mehrheit der
Parteimitglieder manifestierte, mit der offen neoliberalen Politik Schluss zu
machen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der vorsichtige, kompromisslerische Versuch,
den „Sozialstaat“ wiederzubeleben, vom deutschen Kapital, den
Unternehmerverbänden wie auch den bürgerlichen Medien heftig denunziert und
diskreditiert wird. Glaubt man manchen LeitartiklerInnen, so erscheinen die
vorsichtigen Reformbeschlüsse als Weg zu Sozialismus und Chaos. Die mediale
Schlammschlacht gegen Saskia Esken, ihre teuren Schuhe und ihre soziale
Unverträglichkeit im Landeselternbeirat von Baden-Württemberg wird
aufgebauscht. Eine ähnliche Neugier gibt es nicht, wenn es um Friedrich Merz
geht, wahrscheinlich wäre das Material zu umfangreich.

Die Nervosität der deutschen Bourgeoisie erklärt sich
natürlich vor allem aus der Krise der gesamten bürgerlichen Parteienlandschaft,
der EU und des drohenden Zurückfallens in der internationalen Konkurrenz.

Bezüglich der SPD zeigt sie sich gespalten. Einerseits
könnten die Sozialdemokratie, die liebgewonnene Marionette, und die mit ihr eng
verbundenen Gewerkschaften in der kommenden Krise noch einmal zur Befriedung
der ArbeiterInnenklasse gebraucht werden. Daher könnte das Auslaufmodell GroKo
noch nützlich werden, auch wenn abzusehen ist, dass sich die treue Dienerin SPD
nach Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan, Agenda 2010, EU-Formierung,
Krisenpaketen, Austerität verbraucht hat.

Zum anderen fürchtet die herrschende Klasse, dass sich ein
Machtwechsel in der SPD zu einer späten Wiederbelebung eines linken Reformismus
à la Corbyn auswachsen könnte. Die Niederlage der Labour Party kommt daher auch
innenpolitisch durchaus zur rechten Zeit. Vor allem aber möchte die Bourgeoisie
verhindern, dass die unter Schröder vollzogene Wende der SPD zur „neuen Mitte“
revidiert wird.

Konflikte

Auch wenn die neuen Vorsitzenden die grundsätzlich
bürgerliche Ausrichtung der Sozialdemokratie keineswegs in Frage stellen
wollen, so ist es vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet schon ein
Skandal, dass sie zu einer keynesianisch orientierten Umverteilungspolitik
zurückkehren und die Agenda-Politik hinter sich lassen wollen.

Diesen Konflikt, diese Krise der SPD sollten auch die
sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen für ihre Ziele nutzen. Der
Gegensatz zwischen den über 100.000, die mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken
auch gegen die Fortsetzung der GroKo stimmen wollten, und der Parteiführung
muss zugespitzt werden – auch mit dem Ziel, ihr Ende zu erzwingen.

2020 kann durch Kämpfe gegen Massenentlassungen,
Tarifrunden, Klimakatastrophe, Mietenwahnsinn und weitere soziale Bewegungen
ein Ende der GroKo herbeiführen. Das erfordert aber, diese Kämpfe und Konflikte
in die DGB-Gewerkschaften zu tragen, die Basis von Linkspartei und SPD zum
gemeinsamen Kampf aufzufordern gegen Klimawandel, für Mindestlohn, Vermögens-
und Reichensteuer.




SPD-Vorsitz: Klare Niederlage für Scholz/Geywitz – Große Koalition am Ende?

Tobi Hansen, Infomail 1079, 6. Dezember 2019

Die SPD-Basis
hat sich gegen die VertreterInnen des Parteiestablishments, Finanzminister und
Vizekanzler Scholz und die Bundestagsabgeordnete Geywitz entschieden. Im 2.Wahlgang
votierten letztlich 16.000 Mitglieder mehr für das Duo Walter-Borjans/Esken,
die 114.995 Stimmen gegenüber 98.246 Stimmen für Scholz/Geywitz erhielten. Mehr
Mitglieder als 54 % konnte die entscheidende Runde jedoch
nicht mobilisieren, sicherlich
dem scheintoten Zustand der
Partei geschuldet, auch wenn die Stimmen für
Walter-Borjans/Esken als ein womöglich letztes Lebenszeichen gedeutet werden
können.

Für die gesamte
Parteiführung der SPD stellt das Ergebnis eine schallende Ohrfeige, eine
weitere Niederlage dar. Schließlich hatten sich in der Stichwahl fast alle
„prominenten“ und „erfahrenen“ SozialdemokratInnen für Scholz/Geywitz
ausgesprochen. Fast niemand aus dem Kabinett hielt sich an die interne
„Verabredung“, keine Wahlempfehlungen auszusprechen. Vielmehr positionierten
sich fast alle für Scholz/Geywitz. Die Parlamentsfraktion war erst recht
deutlich gegen Walter-Borjans/Esken aufgestellt. Für
diese Kräfte ging es nicht nur um die Parteiführung, sondern zugleich auch um das Weiterleben der
Großen Koalition, in die sie die Partei nach der verheerenden Niederlage bei
den Bundestagswahlen 2017 manövrierte hatten.

Die dritte
CDU/CSU/SPD-Koalition unter Merkels Kanzlerschaft stand nie unter einem guten
Stern, jetzt könnten ihre letzten Wochen angebrochen sein.
Die Krise der Union wie auch
eine mögliche Neuausrichtung der SPD lassen Neuwahlen 2020 wahrscheinlicher
werden.

Auch die bürgerlichen Medien hatten in den letzten Wochen Vizekanzler Scholz äußerst wohlwollend begleitet, würdigten selbst seine Steuerfahndungsabteilung
für Reiche. Zahlreiche bürgerliche
ExpertInnen und JournalistInnen
stellten der Großen Koalition gar eine
„sozialdemokratische Handschrift“ aus – so als hatte die SPD von der
Öffentlichkeit unbemerkt Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse
umgesetzt.

Trotz aller
Schönfärberei verloren der „Scholzomat“ und damit auch die aktuelle
Regierungsmannschaft und Führung der SPD.

Die Wahl kommt
durchaus einer Zäsur in der Partei
gleich: Das
Führungspersonal, das die Bundesregierungen seit 1998 mitgestaltet hat, das
verantwortlich ist für Jugoslawienkrieg und Agendapolitik, wurde 20 Jahre
später endgültig abgewählt.
Die Frage bleibt nur: Kämpfen die neu
gewählten Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen für einen wirklichen Bruch
mit dieser Politik und damit mit der Großen
Koalition oder werden selbst ihre linkeren reformistischen Versprechen und der
von ihnen geforderte Bruch mit
dem Neo-Liberalismus auf dem Altar
der „Parteieinheit“ geopfert, wird der Regierung und der Parlamentsfraktion unter
linkeren Vorsitzenden praktisch eine Fortsetzung ihrer Politik gestattet?

Wofür stehen
Walter-Borjans und Esken?

Für die
Boulevardmedien und das aufgeschreckte BürgerInnentum Deutschlands stellt die Wahl eine Katastrophe dar. „Der SPD ging es doch schon schlecht, jetzt stürzt sie sich ins Chaos“, titelte die
„Süddeutsche Zeitung“ am 30. November, die FPD zitierend.
HinterbänklerInnen und Unerfahrene würden nicht nur die SPD in den Ruin,
sondern auch die Republik in die Neuwahlen treiben.
So wettern diejenigen, die sich stets gut auf die RegierungssozInnen
verlassen konnten und nun Zweifel daran haben, dass der neue Vorstand ähnlich
willfährig ist.

Auch der
ehemalige NRW-Finanzminister
Walter-Borjans (2010–2017) wie auch die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken nährten diese „Befürchtung“, schließlich wollten sie zumindest den
aktuellen Koalitionsvertrag neu verhandeln. Der Frage nach der Zukunft
der Großen Koalition wichen sie jedoch schon im Wahlkampf um den Vorsitz aus –
und tun es weiter. Es gibt kein explizites Ja oder Nein. Dies wollen sie von
Nachverhandlungen abhängig machen.

Wie fast alle
zur Wahl stehenden KandidatInnen wollten sie die programmatische und politische
Erneuerung der SPD betreiben, diese wieder zur linken „Volkspartei“ machen.
Walter-Borjans selbst strebt Wahlergebnisse von 30 % + x an. Beide spielten besonders die soziale und ökologische
Karte, versprachen einen Mindestlohn von 12 Euro, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer und höhere Steuern für Reiche sowie ein
Ende der „schwarzen Null“, also eigentlich klassisch sozialdemokratische
Politik.

Beide stehen
zweifellos weit weniger links als der britische Labour-Vorsitzende Corbyn. Sie sind klassische
UmverteilungsreformistInnen, wobei MdB Esken einen linkeren Akzent wählt
als der ehemalige Landesfinanzminister Walter-Borjans.

Vor dem
Parteitag

Vom 6–8.12 findet der Bundesparteitag der SPD
statt. Dieser soll eine Bilanz der Bundesregierung ziehen und entschieden, ob
die Partei die Koalition fortführen soll. Derzeit sieht es vor allem nach
unklaren Machtverhältnissen aus. Nicht nur die beiden Vorsitzenden sollen gemäß
der Urabstimmung gewählt werden. Große Teile des Bundesvorstands wie auch die
stellvertretenden Vorsitzenden werden neu bestimmt. Hier wird sich zeigen, wer die neue
Parteiführung dominiert, wer über reale Mehrheiten verfügt. So kündigte
Bundesarbeitsminister Heil seine Kandidatur zum stellvertretenden Vorsitzenden
an. Zur Zeit versucht er, in seinem Ministerium doch noch höhere
Hartz-IV-Sanktionen als vom Verfassungsgericht genehmigt durchzusetzen. Heil
und andere BefürworterInnen der Bundesregierung aus Kabinett und Fraktion
werden versuchen, den neuen Vorsitz
„einzurahmen“, ihn quasi
politisch kaltzustellen durch Mehrheiten im Vorstand. Den Parteiapparat wissen
sie ohnedies auf ihrer Seite.

Um Esken und Walter-Borjans zu stützen, erklärte sich auch der Juso-Vorsitzende Kühnert bereit, „Verantwortung“ zu übernehmen und als stellvertretender Vorsitzender zu kandidieren. Zugleich relativierte er – ganz auf Beschwichtigung des rechten Flügels und der Zentrums der Partei setzend – die Forderung nach einem Bruch der Koalition. Man müsse, so Kühnert, die Sache schließlich vom Ende her denken. So äußerte er gegenüber dem Bonner Generalanzeiger: „Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.“

Hier kommt die
Furcht des linken Flügels der Partei vor dem eigenen Sieg, vor den Konsequenzen
der eigenen Forderung und Kritik an der Großen Koalition deutlich zum Ausdruck.
Noch schwerer als die Fortsetzung der
arbeiterInnenfeindlichen, imperialistischen Politik an der Regierung wiegt die
„Einheit der Partei“, denn die wollen auch die „Linken“
in der SPD nicht riskieren. So droht der Sieg der GroKo-KritikerInnen und
GegnerInnen der Parteiführung bei der Wahl zum Parteivorsitz durch eine Reihe
von Zugeständnissen, „Sondierungen“, Formalkompromissen zu versanden.

Selten waren die
innerparteilichen Machtverhältnisse so unklar vor einem Bundesparteitag, selten
war die Lage so offen wie jetzt. Die neuen
Vorsitzenden und ihre UnterstützerInnen wollen aber einer
Klärung dieser Fragen ausweichen, zunächst am besten eine direkte Entscheidung zu Fortsetzung oder Bruch der Koalition vermeiden. Vielmehr
soll es ein – möglichst vage
formuliertes – Mandat für
Neuverhandlungen mit den Schwerpunkten Investition, Klima, Soziales und
Digitales geben, das die Entscheidung über die GroKo vom Parteitag praktisch
auf Vorstand, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion verlagert.

Gewerkschaftsbürokratie

Schon am 1.
Dezember machte die Spitze der DGB-Gewerkschaften ihre Position deutlich. Nach
der Entscheidung verkündete DGB-Chef Hoffmann via Bild-Zeitung, was er vom
neuen Vorstand verlange: „Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollten die
Regierung in der zweiten Halbzeit nach Kräften unterstützen, um die offenen
Projekte aus dem Koalitionsvertrag erfolgreich umzusetzen.“

Ganz ähnlich äußert sich ver.di-Vorsitzender Wernecke: „Die Halbzeitbilanz der Regierung kann aus Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnensicht sowie gesamtgesellschaftlich in mehreren Punkten Positives vorweisen. Dazu gehören die Stabilisierung des Rentenniveaus, Investitionen in Kitas und aktuell die Nachunternehmerhaftung bei Paketdiensten sowie der Ausbildungsmindestlohn und die Schaffung der Voraussetzung für tarifliche Bezahlung in der Altenpflege.“ (https://www.jungewelt.de/artikel/366373.verdi-zur-halbzeitbilanz-der-gro%C3%9Fen-koalition.html)

Wer an der GroKo
so viel Positives zu finden weiß, der lebt offenkundig in einer anderen Welt.
Die DGB-Bürokratie stellt jedenfalls
klar, wofür sie in den
nächsten Wochen und Tagen eintritt – für den Erhalt der Koalition.
Dass dafür auch die SPD endgültig geschreddert werden kann, deuten zumindest
Umfragen an. Die Gewerkschaftsführung ignoriert das geflissentlich. Zusammen
mit dem Kabinett, der übergroßen Mehrheit der Fraktion, den meisten regierenden
SPD- MinisterpräsidentInnen und BürgermeisterInnen sind die DGB-Führung wie
auch jene der Einzelgewerkschaften eindeutig gegen den neu gewählten Vorstand
aufgestellt.

Dass die
Gewerkschaftsführungen und -apparate ihre Augen vor dem Selbstmordkommando
GroKo für die Sozialdemokratie verschließen, entspring freilich kaum mangelnder
Sorge um ihre Partei. Die Politik der Sozialpartnerschaft und der Klassenzusammenarbeit
ist über Jahrzehnte zur politischen Natur dieser Bürokratie geworden, so dass
ihnen eine Politik ohne „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit dem Kapital und deren
direkten politischen Vertretungen als Unding, Unsinn, ja als Unmöglichkeit
erscheint. So wie selbst SPD-Linke wie Kühnert im Falle eines Koalitionsbruchs
einen „Kontrollverlust“ in Rechnung stellen, so erscheint der
Gewerkschaftsbürokratie – von den sozialdemokratischen ParlamentarierInnen ganz
zu schweigen – Einfluss nur über Kabinette, Institutionen und
sozialpartnerschaftliche Gremien möglich.

Allen, die sich
von dieser Denke nicht einseifen lassen wollen, soll außerdem die mögliche
Verantwortung für Niederlagen bei Neuwahlen und für das Zerbrechen der Partei
in die Schuhe geschoben werden.

Seit der
Wahlentscheidung werden alle nicht müde zu erwähnen,
dass die SPD ja „eine Partei“ sei und alle zusammen weitergehen wollten
und müssten. Diese Floskeln
sind zum einen ein gutes Anzeichen für den Kampf,
der hinter den Kulissen stattfindet. Schließlich kann sich der Regierungsflügel
nicht sicher sein, am
Parteitag überhaupt eine
Abstimmung zu gewinnen.
Schließlich war schon 2017 die
Entscheidung für die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen knapper als beim Mitgliederentscheid.

Zum anderen gebrauchen
gerade der rechte Flügel, RegierungsvertreterInnen und Parlamentsfraktion das
Gerede von der Einheit demagogisch, ja stellen es auf den Kopf. Würden der
Parteitag oder die neuen Vorsitzenden einen Bruch der Koalition betreiben, so
würde sie das womöglich aus der Partei drängen. Einige HinterbänklerInnen,
womöglich gar die Mehrheit der Parlamentsfraktion könnte sich gar weigern, die
GroKo zu beenden. Mit anderen Worten, der rechte Flügel droht unter der Hand
mit Bruch von etwaigen „harten“ Parteitagbeschlüssen – und stellt es so dar,
als wären solche Mehrheitsbeschlüsse unzumutbare Gewalttaten gegen das
großkoalitionäre „Gewissen“. Es ist zu befürchten, dass sich
Walter-Borjans/Esken und ihre UnterstützerInnen auf solche Erpessungsmethoden
einlassen – damit würden sie aber nicht nur einen weiteren Zerfall der SPD,
sondern auch den Anfang vom Ende ihres eigenen Parteivorsitzes vorbereiten.

Reaktion der
Union

Nachdem AKK
„ihren“ Parteitag überstanden hat, will sie ihrerseits
den neuen Vorstand der SPD unter
Druck setzen. Wenn die GroKo
in Gefahr sei, gäbe es keine Grundrente – das zeigt zum einen,
wie egal Altersarmut real in Deutschland ist. Der Wirtschaftsrat der Union hat
selbst schon abgeschlossen mit der Koalition und legt nach –
die ganzen „Geschenke“ an die SPD wie die Grundrente bspw. hätten schließlich nichts gebracht. Die
Botschaft an den SPD-Parteitag ist klar: Entweder ihr nehmt die Krumen vom
Koalitionstisch oder ihr kriegt gar nichts!

Diese Drohung
sollte eigentlich alle verzagten und halb-entmündigten SPD-Delegierten und Aktiven
ermuntern, zumindest sich eben nicht erpressen zu
lassen. Auf deren
„Festigkeit“ sollte sich freilich keiner verlassen.

Perspektive für
einen Linksruck?

Die Wahl von
Esken und Walter-Borjans hat immerhin gezeigt, dass es noch ein gewisses politisches Potenzial gibt. Die 114.995
Stimmen waren solche für
einen Bruch mit GroKo und
der Agenda-Politik, eine Fortsetzung der No-GroKo-Stimmung in Teilen der
Partei. Jetzt stellt sich die Frage, ob sich diese anti-neoliberale reformistische Strömung
formiert und tatsächlich den
Kampf gegen den „Agenda 2010“-Flügel, die RegierungssozialistInnen, die
Parlamentsfraktion und den Parteiapparat
aufnimmt. Alle wichtigen Bestandteile ihrer „Erneuerung“ hätten das Potenzial, die DGB-Mitgliedschaft, also die organische
Verbindung der SPD zur Klasse zu mobilisieren und politisch zu erneuern, gerade
auch gegen die dortige
bürokratische Führung, den verlängerten Arm der Großen Koalition in die
ArbeiterInnenbewegung hinein.

Auch wenn großen Teilen der Linken in Deutschland wenig bis nichts
zu dieser Lage einfällt, so kann dies eine zentrale politische Auseinandersetzung werden.

Während die DGB-Spitze vor allem die Koalition und damit ihren vermeintlichen
Einfluss auf die Regierung
retten will, wäre es doch sehr interessant,
was denn eigentlich die sechs Millionen DGB-Mitglieder von den Forderungen und Vorschlägen der neuen SPD-Führung
halten. Das Ende der Schuldenbremse als strategisches Ziel für mehr
Investitionen in die öffentlichen Güter, die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer, höhere Besteuerung der Reichen und einen höheren Mindestlohn
von 12 Euro wie auch das reale Ende von Hartz IV,
all diese „neu“ entdeckten Positionen könnten auch Mittel sein, die Basis der SPD und die
Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Auf dieser Grundlage wäre auch eine
gemeinsame Aktion aller Kräfte der Linken und der ArbeiterInnenbewegung
möglich. Genau diesen Kurs müssten die UnterstützterInnen von
Esken/Walter-Borjans einschlagen.

Juso Chef
Kühnert hatte an anderer
Stelle sogar den stellvertretenden BMW-Betriebsrat
daran erinnert, dass sogar die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in der
Gewerkschaftssatzung stehe. Hier kam sogar etwas „Corbynismus“ zum Vorschein.

Das Forum
Demokratische Linke 21 (DL21) um die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, eine Art Pro-Corbyn-Strömung in der
SPD, hat dazu
aufgerufen, die Partei möge sich
hinter dem Vorstand „sammeln“.
Doch was heißt das? Hinter
welchem Vorstand? Einem, der für einen Bruch mit Scholz und Heil steht, oder
einem, der in- und außerhalb der GroKo, Regierung und Opposition gleichzeitig
zu sein verspricht?

Nur ersteres
würde wirklich einen Schritt vorwärts darstellen. Es würde zugleich heftigsten
Widerstand und Hetze nicht nur der bürgerlichen Presse und der Unionsparteien
mit sich bringen –es könnte auch zu einem Bruch mit dem rechten Flügel der SPD
führen und würde einen politischen Kampf um die Gewerkschaften erfordern. Wie
selbst das Beispiel des weit linkeren Corbyn und seiner Massenunterstützung in Labour
zeigt, werden sich der rechte Parteiflügel, die strikt sozialpartnerschaftliche
Gewerkschaftsführung durch Kompromisse und Entgegenkommen nicht besänftigen
lassen. Sie wird solche allenfalls annehmen, wenn sie sich zu schwach fühlt,
die SPD unmittelbar wieder unter ihre Kontrolle zu kriegen.

Die Frage der
Großen Koalition spielt dabei eine Schlüsselrolle. Jede Form der Fortsetzung
oder auch „ergebnisoffenen Überprüfung“ wird letztlich den Rechten und
RegierungssozialistInnen in die Hände spielen. Daher sollten die linken, gegen
die Fortsetzung der Großen Koalition eingestellten Delegierten zum Parteitag
jedes Rumeiern um die Koalitionsfrage ablehnen und die GroKo offen zu Grabe
tragen. Damit hätten sie – nach Jahren der Unterordnung unter Kapital und Unionsparteien
– etwas Positives für die ArbeiterInnenklasse getan.




SPD-Vorsitzendenwahl: NRW gegen GroKo?

Tobi Hansen, Neue Internationale 242, November 2019

Zunächst die
Zahlen: 53 % Wahlbeteiligung, d. h. praktisch 213.693 gültige Stimmen
von 425.690 Mitgliedern. Die Übergangsführung um Dreyer, Schäfer-Gümbel und
Schwesig sowie Generalsekretär Klingbeil wollten auf jeden Fall die über 50 %
als basisdemokratische Erneuerung feiern. Dass die sechs zur Auswahl stehenden Duos
über 200.000 Mitgliedern praktisch egal waren, zeigt auch den zerrütteten
Zustand dieser Partei.

Das Duo „Erfahrung
und Vereinigung“, Schwan und Stegner, erhielt 9,6 % und fuhr somit das
schlechteste Ergebnis ein. Köpping und Pistorius, die LandesministerInnen aus
Sachsen und Niedersachsen, erzielten 14,61 %. Sie hatten eher mit „Law and
Order“ und „Sorgen der BürgerInnen“ zu punkten versucht und wurden mit 14,63 %
knapp von Scheer/Lauterbach geschlagen. Diese hatten deutlich Richtung
Rot-Rot-Grün argumentiert, ein „GroKo“-Ende gefordert wie auch mit Klima und
Gesundheit argumentiert. Eher überraschend war, dass Kampmann/Roth, das
dynamische „Wohlfühl“-SPD-Duo mit 16,28 % den 3. Platz machten, nur
geschlagen von den „FavoritInnen“ im Vorlauf. Das nordrhein-westfälische Duo Walter-Borjans/Esken
holte mit 21,04 % den 2. Platz, knapp hinter Scholz/Geywitz die mit 22,68 %
schlussendlich gewannen.

Vom 19.–29.
November wird per Urabstimmung zwischen diesen beiden Duos entschieden. Beim
Bundesparteitag vom 6.–8. Dezember soll das Siegerduo durch die Delegierten
bestätigt werden. Während in der britischen Labor Party die Abstimmung über den
Parteivorsitz zu hunderttausenden Eintritten führte, wollten 47 % der SPD-Mitgliedschaft
darüber nicht abstimmen und schon gar niemand neu eintreten. Da war z. B.
die „NoGroKo“-Kampagne der Jusos 2018 deutlich erfolgreicher. Mehrere zehntausende
Eintritte folgten. Jetzt unterstützt die Jugendorganisation Walter-Borjans/Esken.

Während Scholz/Geywitz
vor allem für ein geräuschloses Weiterregieren in der Bundesregierung stehen –
Scholz macht Vizekanzler und Geywitz Parteiführung –, steht das „NRW“-Duo für
eine Rückbesinnung auf die „linke“ Volkspartei, inkl. Steuergerechtigkeit, digital
für alle und etwas Sozialromantik. Vor allem will es auch eine andere
Regierungspolitik, weiß neben den Jusos auch den größten Landesverband hinter
sich wie wahrscheinlich auch die dortigen DGB-GewerkschafterInnen.

Dass die Konkurrenz
zur aktuellen Bundes-SPD aus NRW kommt, ist nicht überraschend. Hier lebt mehr
als ein Drittel der Mitglieder der Partei und der aktuelle Landesvorstand steht
der GroKo kritisch gegenüber.

Eine „finale“
Krise?

Die zerfaserte
SPD-Linke könnte in diesen Vorstandswahlen und den begleitenden Diskussionen
über die GroKo gewinnen. Es ist aber weder klar, ob sie die politischen
Entscheidungen herbeiführen kann, noch wohin sie eigentlich will – inwieweit
die Jusos, die man nicht insgesamt auf „Kühnert-Kurs“ sehen sollte, die DL 21
um Mattheis/Hirschel oder gar Landesverbände wie Bayern und NRW tatsächlich die
GroKo platzen zu lassen bereit wären.

Gerade deshalb
wäre eine breite Diskussion in den Gewerkschaften, Betrieben, Ortsverbänden,
Stadtteilen, Quartieren eine gute Möglichkeit, tatsächlich große Teile der
Mitgliedschaft zu mobilisieren für ein GroKo-Ende und für einen Bruch mit der
neoliberalen und sozialpartnerschaftlichen Spitze in Partei und letztlich auch
den Gewerkschaften zu kämpfen. Dazu ist die SPD-Linke derzeit jedoch nicht in
der Lage.

Die
krisengeschüttelte SPD erodiert in ihrer aktuellen Krise so sehr, dass sie
ihren letztmöglichen „Sinn“ für den deutschen Imperialismus verlieren könnte.
Dieser besteht ja gerade darin, ihre soziale Basis unter den Lohnabhängigen
„einbinden“ zu können und zugleich als tüchtige Vollstreckerin der
Gesamtinteressen des Kapitals zu fungieren. Bundesweite Umfragewerte von 13 %
lassen Zweifel an dieser Fähigkeit aufkommen. Wird der aktuelle Kurs
fortgesetzt, so könnte für die Partei tatsächlich die „finale“ Phase ihrer
Krise anbrechen.

Für
sozialistische, kommunistische, revolutionäre Linke beinhalten diese Krisen,
Umbrüche und Wendepunkte jedoch Chancen, wenn sie in die Konflikte der
reformistischen Organisationen eingreifen, von deren linken Flügel einen
innerparteilichen Kampf wie auch Mobilisierungen auf der Straße fordern – und
zugleich immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären Alternative, einer
neuen und kommunistischen ArbeiterInnenpartei betonen.




SPD-Vorstandswahlen: Richtungsentscheid für die Große Koalition (GroKo)?

Tobi Hansen, Infomail 1073, 23. Oktober 2019

Nach dem krachenden Rücktritt von Andrea Nahles hat der
geschäftsführende Vorstand der SPD zunächst auch der Bundesregierung Zeit
verschafft – zumindest bis zum regulären SPD-Parteitag im Dezember. Allzu laut
waren die Rufe nach einem direkten GroKo-Abschied nach den katastrophalen
EU-Wahlergebnissen. Schon davor wollten z. B. die Jusos, aber auch die
Landesverbände NRW und Bayern den Parteitag inklusive „Halbzeitbilanz“ und
Entscheidung über die Fortführung der GroKo vorziehen.

Der kommissarische Vorstand aus Schwesig, Dreyer und
Schäfer-Gümbel nahm Dampf aus dem Kessel und setzte eine Mitgliederbefragung um
den Posten der Parteivorsitzenden an, an der sich etwas mehr als 10 %
beteiligten. Jetzt laufen die „Vorwahlen“ für den neuen Vorsitz. Eine
Doppelspitze aus Mann und Frau soll es werden. Dementsprechend zogen 8 Duos und
der dann doch genehmigte Einzelkandidat des Seeheimer Kreises, Karl-Heinz Brunner,
durch die Lande. Bei der Mitgliederbefragung stehen jedoch nur noch sechs zur
Wahl. Anfang September hatten Simone Lange/Alexander Ahrens ihre Kandidatur
zurückgezogen. Mitte September folgte ihnen Karl-Heinz Brunner, am 12. Oktober
meldeten sich ebenfalls Hildegard Mattheis/Dierk Hirschel aus dem Rennen ab. Unter
den beiden SiegerInnen sollen dann ebenfalls per Urabstimmung die neuen
Vorsitzenden bestimmt werden.

Auf sog. „Regionalkonferenzen“ stellten sich die
KandidatInnen vor.

Professor Lauterbach, welcher mit Genossin Scheer eines der
ersten Duos bildete, berechnete, dass jedes Duo insgesamt je 9 Minuten und 20
Sekunden Redezeit hätte, also ein „Speed Dating“ mit kleiner Fragerunde der
Mitgliedschaft stattfinde. Manche vergleichen das Format auch mit dem
ARD-Klassiker „Herzblatt“.

Alle KandidatInnen eint, dass sie engagiert die SPD als
„linke Volkspartei“ wieder entdecken, für Soziales, Investitionen, Klima,
Digitales und den Weltfrieden begeistern wollen. Das aktuelle Wahlprogramm wie
auch sehr viele Versprechen werden ausgebreitet, nur kaum ein Wort darüber,
warum dies alles nicht in der recht langen Regierungsverantwortung angegangen,
geschweige denn umgesetzt wurde, oder warum die Regierungspolitik Millionen in
die Armut geschickt hat.

Stattdessen versuchen die KandidatInnen, sich als zupackende
Führung zu inszenieren, eine, die mal Wahlen gewinnen könnte, die das Volk
mitnehmen will, quasi den Gegenentwurf zur Amtsvorgängerin.

Die KandidatInnen

Entscheidender ist die Frage, wie sich die Duos zur Frage
der GroKo verhalten. Das „vorletzte“ nominierte Duo Scholz/Geywitz steht am
klarsten für die Weiterführung der Regierung. Schließlich berichtet der
Bundesfinanzminister und Vizekanzler, dass die aktuelle Regierungspolitik schon
die Umsetzung der meisten Versprechen beinhalte.

Für alle KandidatInnen gilt zur GroKo die allgemeine
Aussage, dass sie sich natürlich an die Entscheidung des Parteitages halten
würden wie auch, dass sie alle „ergebnisoffen“ diskutieren wollten.

Deutliche Absagen an die GroKo finden wir eigentlich nur bei
3 Duos. Da wäre das zuletzt nominierte aus Walter-Borjans/Esken
(Ex-Finanzminister NRW aus Köln/MdB aus Calw/Landesliste Baden-Württemberg),
das quasi als „Antwort“ auf Scholz/Geywitz einen Tag vor Ablauf der Frist
seinen Antritt erklärte. Die Nominierung des Landesverbandes NRW deutet auf das
Abstimmungsverhalten der dortigen Delegierten hin, die ein Drittel der
Mitgliedschaft repräsentieren. Allein deshalb hat dieses Duo sehr gute Aussichten,
die Endrunde zu erreichen.

Ebenfalls deutlich haben sich Scheer/Lauterbach für die Beendigung
der GroKo ausgesprochen. Diese werben ebenso wie ehemals Mattheis/Hirschel (MdB
aus Ulm/Landesliste Baden-Württemberg und Vorsitzende des Forums Demokratische
Linke 21; DL 21/ver.di Bundesvorstand) offen für ein rot-rot-grünes Bündnisse
auf Bundesebene. Diese drei Duos stehen bzw. standen deutlicher für ein Ende
der „Agendapolitik“, eine eher keynesianische Umverteilungspolitik, für einen
wahrscheinlich direkten Bruch mit der Regierungsbeteiligung, anders als ihre KontrahentInnen.

„Lieblingsthema“ dieser eher „linken“ KandidatInnen bilden
die Schuldenbremse, die „Schwarze Null“, die letztlich zu einem massiven
Investitionsstau des öffentlichen Sektors geführt hat und verantwortlich ist
für einen Teil der Misere, die der künftige SPD-Vorstand beenden möchte.
Ebenfalls ist die Steuerpolitik für diese Duos zentral. Höhere Steuern für die
Reichen und Unternehmen wird gefordert. Wenn Lauterbach noch die
Bürgerversicherung ins Spiel bringt, wirkt es wie ein anstehender Bundestagswahlkampf
– alle fordern das Gegenteil der bisherigen Regierungspolitik.

Eher pragmatisch bzw. in der „Mitte“ der Partei geben sich
Schwan/Stegner. Bevor Scholz seinen Antritt erklärte, waren dies sicherlich die
bekanntesten „Gesichter“, eine zweimalige Bundespräsidentschaftskandidatin und
der aktuelle Vizevorsitzende. Sie geben sich als wählbar für alle – vom
„Seeheimer Kreis“ bis zur ziemlich zertrümmerten „Parteilinken“ – und als
„Versöhnungsduo“. Damit mögen sie Chancen bei älteren Parteimitgliedern haben,
aber auch nicht viel mehr.

Dem Duo Pistorius/Köpping (beide LandesministerIn in
Niedersachsen bzw. Sachsen) werden durch die Nominierung zweier Landesverbände
ebenfalls gute Chancen ausgerechnet. Sie appellieren besonders an die kommunale
und Landesebene der Partei. Dies bringt ihnen sicherlich mehr Stimmen als die
Unterstützung durch Ex-Chef Gabriel. Hinsichtlich der GroKo sind sie
pragmatisch gesinnt. Beide setzen eher „Akzente“ bei der Migrationspolitik und
zwar durchaus vorwiegend rechte. Während der niedersächsische Innenminister
Pistorius mit „Law and Order“ die Sicherheitsbedürfnisse der WählerInnen im
Blick hat und „konsequente“ Abschiebungen fordert, kommt Köpping als
Integrationsministerin eher mit den „Sorgen der BürgerInnen“ daher, die man
natürlich ernst nehmen müsste. Ob das die Sorgen des rassistischen Mobs in
Chemnitz waren, lassen wir mal unbeantwortet, aber dieses Duo blinkt deutlich
Richtung Ressentiments gegenüber MigrantInnen.

Ebenfalls sehr pragmatisch, aber sehr hip treten Kampmann/Roth
als „jüngeres“ Duo auf – sie ehemalige NRW-Familienministerin und dortige
Landtagsabgeordnete, er aktueller Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
Im Gegensatz zu Köpping/Pistorius, Schwan/Stegner und vor allem Scholz/Geywitz
geben sie sich rhetorisch teilweise sehr „links“, wollen ein Ende von Hartz IV
(das wollte ja auch Nahles) und auch eine gewisse Abrechnung mit der sog.
„Agendapolitik“. Was das Marketing angeht, sind die beiden ganz vorn dabei. Vielleicht
erreichen sie „ihre“ Generation der um die 40-Jährigen damit, auch wenn
Staatsminister Roth mal übertreibt und die SPD als Bollwerk gegen Nationalismus
und Kommunismus verteidigt und erneuern will.

Gefährlich kann die Kandidatur für Bundesfinanzminister und
Vizekanzler Scholz werden. Als sich niemand aus dem Geschäftsführenden Vorstand
oder der aktuellen Regierungsmannschaft aufstellte, warf der „Top-Sozi“ der
Bundesregierung seinen Hut in den Ring. Immerhin fand er später in der ehemaligen
brandenburgischen Generalsekretärin Geywitz zumindest eine Partnerin. Bislang
wurde seine Rolle bei den Regionalkonferenzen mit jeweils einigen hundert
Mitgliedern eher kritisch hinterfragt, wie auch manche Themen wie „Schwarze
Null“, Schuldenbremse und „Steuergerechtigkeit“ eher geeignet sind, den
Bundesfinanzminister in die Bredouille zu bringen.

Innerhalb der Debatte scheint klar zu werden, dass diesem
Duo nicht zugetraut wird, die GroKo zu beenden bzw. die programmatische
Erneuerung nur irgendwie einzuläuten. Andererseits dürfte Scholz durch Ämterhäufung
auch gewisse Vorteile in der Mitgliedschaft genießen, wenn auch bei denen, die
nicht unbedingt zu den Regionalkonferenzen gehen. Sollte Scholz in der ersten
Wahlrunde scheitern, wäre automatisch seine Zukunft in der GroKo bedenklich bzw.
die Frage aufgeworfen, ob denn ein „schwacher“ Vizekanzler noch gebraucht  wird. Auch die Fortsetzung der GroKo im
kommenden Jahr würde damit unwahrscheinlicher.

Im Oktober Richtungsentscheidung?

Im Verlauf der Regionalkonferenzen sind derzeit auch noch
weitere Rückzüge zu erwarten. Als erstes Duo verließen die OberbürgermeisterInnen
Simone Lange (Flensburg) und Ahrens (Bautzen) die Ausscheidung. Sie riefen zur
Wahl von Walter-Borjans/Esken auf, da diese eine „linke“ Politik vertreten
würden. Am Abschluss der Vorstellung trat mit Mattheis/Hirschel ein weiteres
„linkes“ Duo zurück. Zwar repräsentiert Mattheis als Bundestagsabgeordnete DL
21, nur ist sie inzwischen als einzige Vertreterin dieser „Strömung“ in der
Bundestagsfraktion verblieben. Einstige KollegInnen wie z. B. Andrea
Nahles sind schon länger weg. Der ver.di-Chefökonom Hirschel war der einzige
„Gewerkschafter“, der sich zur Wahl stellte. Bei den Konferenzen trat er
besonders stark gegen Scholz auf, meinte, der Finanzminister „müsse nur das
Geld aufheben“, das quasi auf der Straße liege, um investiert zu werden. Andere
wie Pistorius/Köpping hatten schon den Wert der SPD als „Krisenverwalterin“
erwähnt, wohl wissend, dass die nächste Weltwirtschaftskrise naht. In welche
„Hände“ dann Geld verteilt wird, scheint mit der SPD gesichert.

Der Rückzug von Mattheis/Hirschel und der Aufruf der Juso-Spitzen
haben sicherlich die Chancen für das „NRW-Duo“ erhöht. Gerade die Jusos mit
70.000 Mitgliedern könnten mitentscheidend für die Wahl werden, aber wie auch
bei den Nominierungen von ganzen Landesverbänden ist derzeit schwer absehbar,
ob sich dies im Abstimmungsergebnis niederschlägt.

Dass auch Einzelkandidat Brunner vom Seeheimer Kreis
zurückgezogen hat und eine Wahlempfehlung entweder für Scholz/Geywitz oder
Pistorius/Köpping aussprach, wird aber wahrscheinlich kaum ins Gewicht fallen.

Erstaunlich zurückhaltend geben sich die Gewerkschaften und
auch die ehemalige Führungsriege (abgesehen von Gabriel) mit Empfehlungen. Das
kann ein Hinweis darauf sein, dass die Entscheidung „sehr“ offen ist wie auch,
dass die ehemalige Spitze möglicherweise denkt, dass ihr Unterstützungsaufruf
wenig hilfreich wäre.

Die beiden stärksten Duos werden um den Vorstand
kandidieren. Sollten Scholz/Geywitz gegen Esken/Walter-Borjans antreten, hätte
dies Aspekte einer Richtungsentscheidung. Als Finanzminister in NRW war
Walter-Borjans zwar auch gehorsamer Vollstrecker von Schuldenbremse und
Zwangsverwaltung der Kommunen, machte sich aber durch den Kauf der
Steuergeheimnis-CDs aus der Schweiz einen Namen, tritt sehr entschieden für
Steuergerechtigkeit auf wie auch MdB Esken, die deutlich von „links“ die GroKo
beenden will.

Schlussfolgerungen

Nach den katastrophalen Wahlergebnissen seit 2017, dem Ende
von Nahles, die an dem Kunststück scheiterte, gleichzeitig „programmatische
Erneuerung“ und Vollstreckung der GroKo-/Unions-Politik als Partei und
Fraktionsvorsitzende zu schaffen, könnten nun tatsächlich die Weichen für ein
Ende der Bundesregierung gestellt werden. Dies „trifft“ sich mit möglichen globalen
ökonomischen Krisentendenzen, für die der amtierende SPD-Finanzminister Scholz
bereits mehrere Milliarden in der Hinterhand bereithält.

Würden Scholz/Geywitz gewinnen, würden sowohl der Grundsatz
„Erst das Land, dann die Partei“ wie auch die „Sozialpartnerschaft“ in der
Bundesregierung als mögliche Mottos dienen. Dieses Szenario würde am ehesten
Fliehkräfte Richtung Neuwahlen unterbinden, sowohl bei SPD wie auch der Union.
Die GroKo könnte es sogar bis 2021 turnusgemäß über die Runden schaffen.

Schließlich gilt es, die EU-Kommission unter deutscher
Führung abzusichern und die nächste mögliche Wirtschaftskrise zu verwalten, zum
Wohle des deutschen Kapitals. An den Grünen wird auch 2021 wahrscheinlich keine
Bundesregierung vorbeikommen und ob die SPD jetzt Juniorpartnerin der Grünen
werden will, darf auch bezweifelt werden. Das gilt erst recht für die Union.

Während also die mitgliederstärkste politische Kraft in der
deutschen ArbeiterInnenbewegung in einer tiefen inneren Krise steckt, die
Fragen Regierungsverbleib, Schuldenbremse etc. massive Auswirkungen auf die
aktuelle Bundesregierung wie auch die ArbeiterInnenbewegung haben, so findet
dies ohne tiefere Resonanz in der Klasse, der „Bewegung“, der „Linken“ statt.

In gleichzeitig stattfindenden Auseinandersetzungen von
sozialen Bewegungen, Fragen des aktuellen Klassenkampfs, der
MieterInnen-Bewegung oder der Klimastreiks finden wir die SPD bspw. auf allen
Seiten wieder, zumeist aber auf jener der Herrschenden.

Die Tatsache, dass 2018 ein Drittel der Mitgliedschaft gegen
die GroKo gestimmt hat und die Entscheidung pro Koalitionsverhandlungen auf dem
Bundesparteitag 2018 knapp war (56 – 44 %), zeigt, dass dort eine
Auseinandersetzung stattfindet. Es wäre die Pflicht der Gewerkschaften, diese
Auseinandersetzung um die Fortführung der GroKo offen zu führen. Die teilweise
recht ausgeschmückten keynesianischen Versprechungen der möglichen neuen
Vorsitzenden sollten von den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften
aufgegriffen und eingefordert werden – sei es bei den Wohnungen, bei der
Klimapolitik, bei Mindestlohn und Mindestrente, bei Stellen für die Pflege und
deren Bezahlung, bei Abrüstung und Ende aller Bundeswehreinsätze im Ausland.

Die Diskussion über die Zukunft der SPD findet zwar sehr
sicher in der Gewerkschaftsbürokratie statt, ziemlich wahrscheinlich mit
stärkerem Pro-GroKo-Flügel bis 2021. Sicherlich werden Teile der Bürokratie aus
den Gewerkschaften den Bundesfinanzminister und Vizekanzler stützen, nur ist
hier auch nicht klar, was das an konkreten Prozenten bringt.

Eine offene Diskussion will die Gewerkschaftsführung aber
keinesfalls. Diese könnte und müsste von in Gewerkschaften und Betrieben
oppositionell gesinnten KollegInnen eingefordert und organisiert werden. Dort
wäre auch zu diskutieren, was man mit einem „Klimastreik“ als
ArbeiterInnenklasse so anfangen könnte und müsste, z. B. in der
Automobilindustrie. Hier könnte die Spaltung vorhandener Bewegungen überwunden
und gemeinsam gekämpft werden – z. B. durch den Kampf für die Zukunft der
Verkehrsbranche wie auch ökologische Nachhaltigkeit mit gleichzeitiger
Beschäftigungssicherung.

Statt sich diesen Möglichkeiten zu stellen, erlebt die
ArbeiterInnenbewegung mit, wie Fridays for Future – eine Massenbewegung zur
Klimapolitik, die de facto von den Grünen geführt wird –,aktuell die
Bundesregierung vor sich hertreiben kann. Als sichtbare, organisierte Klasse
finden die Ausgebeuteten aber nicht statt in diesen Protesten. Vielmehr ist es
nicht gelungen, die Spaltung zwischen den Beschäftigten des Energiesektors und
der Klimabewegung zu überwinden. Teilweise treten Gewerkschaften wie IG BCE
(Hambacher Forst) deutlich feindlich der Klimabewegung gegenüber. Als Bedrohung
der Arbeitsplätze durch letztere dargestellt, übernehmen hier die
„Konzerngewerkschaften“ oftmals die Position der Geschäftsführung.

Eine „finale“ Krise?

Die zerfaserte SPD-Linke könnte theoretisch in diesen
Vorstandswahlen und den begleitenden Diskussionen über die GroKo gewinnen. Es
ist aber weder klar, ob sie die politischen Entscheidungen herbeiführen kann,
noch wohin sie eigentlich will. Inwieweit die Jusos, die man nicht insgesamt
auf „Kühnert-Kurs“ sehen sollte, die DL 21 um Mattheis/Hirschel oder gar
Landesverbände wie Bayern und NRW tatsächlich die GroKo platzen lassen und sich
z. B. Rot-Grün-Rot (oder Grün-Rot-Rot) auf Bundesebene öffnen, ist derzeit
sehr ungewiss. Es gibt wenig organisierte Führung der „Linken“.

Gerade deswegen wäre eine breite Diskussion in den
Gewerkschaften, Betrieben, Ortsverbänden, Stadtteilen, Quartieren eine gute
Möglichkeit, tatsächlich große Teile der Mitgliedschaft zu mobilisieren für ein
GroKo-Ende und für einen Bruch mit der neoliberalen und
sozialpartnerschaftlichen Spitze in Partei und letztlich auch den
Gewerkschaften zu kämpfen. Dazu ist die SPD-Linke derzeit jedoch nicht in der
Lage.

Die krisengeschüttelte SPD erodiert in ihrer aktuellen Krise
so sehr, dass sie ihren letztmöglichen „Sinn“ für den deutschen Imperialismus
verlieren könnte. Dieser besteht ja gerade darin, ihre soziale Basis unter den
Lohnabhängigen „einbinden“ zu können und zugleich als tüchtige Vollstreckerin
der Gesamtinteressen des Kapitals zu fungieren. Bundesweite Umfragewerte von 13 %
lassen Zweifel an dieser Fähigkeit aufkommen. Wird der aktuelle Kurs
fortgesetzt, so könnte für die Partei tatsächlich die „finale“ Phase ihrer
Krise anbrechen.

Ob es mittelfristig gar zu einer Fusion mit der Linkspartei
kommt, wird teilweise schon mal andiskutiert. Sicher scheint, dass es neben
Niedergang auch Umbrüche und mögliche Umgruppierungen im reformistischen Lager
in Deutschland geben könnte. In anderen europäischen Staaten traf den
Reformismus die Krise seiner Politik zum Teil mit noch größerer Härte als die
SPD – z. B. die französische PS. Auch für Syriza oder die PSOE stehen die
Zeichen schlecht, von der SPÖ oder den osteuropäischen SozialdemokratInnen gar
nicht zu reden.

Für sozialistische, kommunistische, revolutionäre Linke
beinhalten diese Krisen, Umbrüche und Wendepunkte jedoch Chancen, wenn sie in
die Konflikte der reformistischen Organisationen eingreifen, von deren linken
Flügel einen innerparteilichen Kampf wie auch Mobilisierungen auf der Straße
fordern – und zugleich immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären
Alternative, einer neuen und kommunistischen ArbeiterInnenpartei betonen.




Kühnert: Mit dem Juso-Chef BMW enteignen?

Tobi Hansen, Neue Internationale 238, Juni 2019

Noch vor wenigen Wochen hatte der Vorstoß des Juso-Chefs
Kühnert für eine gewisse Irritation in der bürgerlichen Landschaft gesorgt.
Nach dem jüngsten Wahldebakel scheint man wieder beruhigt, dass der „Linke“ mit
der SPD untergeht, der Vorstoß also nicht so ernst zu nehmen sei.

Während der Abstimmung über die Große Koalition hatte
Kühnert in der SPD zumindest für die Ablehnung mobilisiert, sich allein dadurch
schon „links“ hervorgetan. Dass er aber auch über eine mögliche Enteignung von
BMW spekulierte, war nicht unbedingt zu erwarten.

Aber der Reihe nach. Schon das Berliner Volksbegehren
„Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ sorgte für relativ viel Aufregung in der
bürgerlichen Klasse und deren Parteien. Die Initiative, Miethaie zu enteignen
und MieterInnen vor Abzocke, Verdrängung und Spekulation zu schützen, erfährt
schließlich relativ offene Sympathie, sogar in einigen bürgerlichen Medien. Das
Thema Enteignung wird wieder öffentlich diskutiert und die dementsprechenden
Paragraphen aus Landesverfassungen und dem Grundgesetz werden ausgegraben.

Auch die Berliner Jusos unterstützen das Volksbegehren und
gehen damit auf Konfrontation mit dem Regierenden Bürgermeister Müller, welcher
Enteignungen entschieden ablehnt.

Dass die FDP eine Änderung des Grundgesetzes und der
Landesverfassungen fordert, um Enteignungen von KapitalistInnen auszuschließen,
und die Unternehmensverbände in heller Aufruhr sind, zeigt, dass die
Bourgeoisie an ihrem „wunden“ Punkt getroffen wurde, nämlich beim
Privateigentum. So steht es um das Nervenkostüm der besitzenden Klasse, sobald
die Quelle ihrer Bereicherung, das Privateigentum an den Produktionsmitteln,
auch nur ein Stück weit in Frage steht.

Alles in allem war es nicht sonderlich ungewöhnlich, dass
ein Juso-Vorsitzender mal „links“ ausholt und sich im Interview für die
Interessen von MieterInnen und nicht von Wohnkonzernen ausspricht. Bei BMW
wurde es deutlicher und gewissermaßen „gefährlicher“. Kühnert wollte, dass die
ArbeiterInnen bei BMW entscheiden sollen, was produziert wird, dass BMW auch
enteignet werden und in die Hände der ArbeiterInnen übergehen kann.

Betriebsrat gegen jede Enteignung

Interessant war, wer aus dem „eigenen Lager“ als erstes
gegen Kühnert ausholte. Dass die bürgerlichen Medien und Politik schon die SED
in der SPD wiederauferstanden sahen, war klar. Dass der
Seeheimer-Kreis-Sprecher Kahrs dem Juso-Vorsitzenden den Konsum illegaler
Drogen unterstellte („Was hat der denn geraucht, war bestimmt nicht legal“), war
bei diesem rechten Flügel der SPD-Bundestagsfraktion zu ahnen.

Spannender war der Auftritt des BMW-Betriebsratsvorsitzenden
Schoch. Dieser stellte fest, dass die SPD nun keine Option mehr für die
BMW-Beschäftigten wäre. So tolle Arbeitsplätze wie beim bayrischen Autokonzern
gäbe es fast nirgends. Die SPD sollte erst mal die Wirtschaft verstehen, bevor
sie darüber rede. Da haben wir viel gelernt vom und über den IGM-Betriebsrat.
Wenn die Wirtschaft gut funktioniert und die BesitzerInnen gut verdienen, geht es
anscheinend auch den Beschäftigten gut. Schochs Äußerung stellt freilich keinen
Ausrutscher dar. Er denkt gewissermaßen nur die Sozialpartnerschaft zu Ende,
frei nach dem Motto, wenn es dem/r HerrIn (dem/r EigentümerIn) gut geht, bleibt
auch für den Knecht/die Magd (die Lohnabhängigen) mehr übrig.

Nun wussten auch alle Medien, als Juso-Vorsitzender muss man
mal „richtig“ links sein können. Sicherlich hatte er mit der Kampagne „NoGroko“
für den Seeheimer Kreis, Gabriel und Co. schon genügend, wenn auch konsequenzlose
Opposition gezeigt. Dass er nun noch politische Forderungen aufstellte, war
dann für einige doch zu viel. Die Medien erinnerten uns daran, dass alle
Juso-Vorsitzenden der letzten 30–40 Jahre schon mal „marxistisch“ daherkamen.
Als wenn die ArbeiterInnen tatsächlich von Kühnert erwarten würden, dass dieser
Firmen enteignet! Aber im Zug der Debatte um das Berliner Volksbegehren war die
Enteignung für bundesdeutsche Verhältnisse erstaunlich oft in aller Munde und
hätte die Möglichkeit geliefert, diese Debatte als Vorlage zu benutzen.

Umso bescheidener war die Reaktion der Linkspartei. Deren
Vorsitzende Kipping verteidigte den Juso-Vorsitzenden zwar im Protesthagel
seiner eigenen Partei. Ihrer Ansicht nach wäre das ein Zeichen für einen
gesellschaftlichen Gesinnungswandel. Doch der Vorschlag Kühnerts, dass jede/r
nur eine eigene Wohnung haben sollte, ging Kipping dann doch zu weit. Sie hofft
weiterhin auf anständige VermieterInnen. Diese  Hoffnung wurde in Westdeutschland lange Zeit „soziale
Marktwirtschaft“ genannt und – hoppla! – schon ist Kipping bei Wagenknecht
gelandet. Wichtiger als die schützenden Worte für Kühnert war freilich, dass
sogar DGB-Chef Hoffmann dessen Gedanken lobte und seinen Kollegen Schoch auf
die Satzung der IGM hinwies. Dort wird wie auch bei Sonntagsreden anderer
GewerkschaftsfunktionärInnen eine Vergesellschaftung von Großbetrieben
zumindest in Betracht gezogen.

Perspektive Enteignung

Dabei müssten sich gerade die Gewerkschaften angesichts
einer möglichen Wirtschaftskrise Gedanken machen, wie mit Betrieben und
Konzernen umzugehen ist, die geschlossen werden und Massen in die
Arbeitslosigkeit schicken. Ohne Kampf für die entschädigungslose Enteignung und
Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle wird es nicht möglich sein, die
Angriffe zu stoppen. Dazu reichen freilich keine Lippenbekenntnisse wie von
Kühnert – dazu braucht es Klassenkampf, Betriebsbesetzungen und Massenstreiks.
Dazu hat der Juso-Chef bezeichnenderweise nichts gesagt.