China nach dem 20. Parteikongress der KP

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

In den letzten Monaten des Jahres 2022 wurden der Welt zwei sehr unterschiedliche Bilder von China präsentiert. Der 20. Parteitag der KPCh, der Mitte Oktober stattfand, war das China, wie seine Herrscher:innen es von der Welt sehen wollten: geordnet, geeint, mächtig, ein Staat, mit dem man rechnen muss, ein Staat, der die Fremdherrschaft abgeschüttelt und sich unter einer entschlossenen und einfallsreichen Führung zu einer Weltmacht entwickelt hat.

Einige Wochen später verbreiteten sich Szenen von Straßenschlachten zwischen Tausenden von Bürger:innen und schwer bewaffneten Bereitschaftspolizist:innen nicht nur in Chinas Wirtschaftsmetropole S(c)hanghai, sondern auch in Provinzstädten im ganzen Land, in den sozialen Medien Chinas und anschließend in der ganzen Welt. Mitte Dezember wurde die Null-Covid-Politik, die vom Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Xi Jinping selbst nicht nur als notwendig, sondern auch als vorbildlich verteidigt wurde, vollständig abgeschafft.

Es lohnt sich, Xis Hinweis auf die Covid-Politik des Regimes, Zero-Covid, in seinem Bericht an den Parteitag ausführlich zu zitieren:

„Als wir auf den plötzlichen Ausbruch von Covid-19 reagierten, stellten wir die Menschen und ihr Leben über alles andere, arbeiteten daran, sowohl importierte Fälle als auch das Wiederaufflammen im eigenen Land zu verhindern, und verfolgten beharrlich eine dynamische Null-Covid-Politik. Indem wir einen umfassenden Volkskrieg gegen die Ausbreitung des Virus geführt haben, haben wir die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung so weit wie möglich geschützt und sowohl bei der Bekämpfung der Epidemie als auch bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung äußerst ermutigende Erfolge erzielt.“ (1)

Kein Wort über die Umkehrung dieser Politik. In der Tat wurde die Verpflichtung zur „dynamischen Null-Covid“-Politik in den folgenden Wochen immer wieder wiederholt, bis sie angesichts des breiten Widerstands nicht nur der aufbegehrenden Bevölkerung, sondern auch der Provinzbehörden, die es sich nicht mehr leisten konnten, sie durchzusetzen, kurzerhand fallen gelassen wurde. Auch die Sorge um den „größtmöglichen Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung“ scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl bei einer zu schnellen Aufhebung der Null-Covid-Bestimmungen eine Welle von Covid-Infektionen unvermeidlich gewesen wäre.

Die Kehrtwende in der Politik war nicht nur dramatisch, sondern auch ganz offensichtlich nicht geplant. Dies ist vielleicht noch bedeutsamer als der Wandel selbst und deutet darauf hin, dass Xis Führungsteam im Ständigen Ausschuss des Politbüros das Land nicht so vollständig im Griff hat, wie die Bilder der dicht gedrängten Reihen von Kongressdelegierten vermuten ließen.

In jüngster Zeit gab es weitere Anzeichen für weitreichende Änderungen der Politik. Im Zuge der dramatischen Schuldenkrise auf dem Immobilienmarkt, die durch Evergrande symbolisiert wird, aber keineswegs auf dieses Unternehmen beschränkt ist, wurden die „drei roten Linien“, die das Verhältnis von Schulden zu Vermögenswerten beschränken und die Krise ausgelöst hatten, im Dezember gelockert. Berichten zufolge sollte die Frist für die Einhaltung der neuen Quoten verlängert werden, um den Unternehmen und ihren Gläubiger:innen mehr Zeit zu geben, halbfertige Projekte abzuschließen und zu verkaufen.

Im Januar folgte dann eine plötzliche Lösung der Probleme, die das Regime bei einigen der reichsten und erfolgreichsten Privatunternehmen Chinas, den Hightechgiganten wie Alibaba, Tencent und Didi Chuxing (DiDi), entdeckt hatte. Die Unternehmen räumten ihre Fehler ordnungsgemäß ein, wie aus Berichten der Regulierungskommission für das Banken- und Versicherungswesen hervorgeht, und die Möglichkeit künftiger Fehler wurde dadurch beseitigt, dass der Staat „goldene Aktien“ erwarb, die eine größere Transparenz und, sagen wir, eine bessere Koordinierung mit den Prioritäten der Regierung gewährleisten werden. Oder, wie einige sagen würden, mit den Prioritäten der chinesischen Kommunistischen Partei.

Im Bereich der Außenbeziehungen wurde der Verfechter der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie, Zhao Lijian, in die Abteilung für Grenz- und Meeresangelegenheiten des Außenministeriums versetzt, d. h. degradiert, und stattdessen sahen wir Liu He, Vizepremier und ehemaliges Mitglied des Politbüros, wie er den Reichen und Einflussreichen in Davos freudig die Hand reichte und ihnen versicherte, dass Peking nichts so sehr wünsche wie herzliche gegenseitige Beziehungen.

Dass Regierungen ihre Politik ändern, manchmal sogar drastisch, ist natürlich nichts Neues. In den imperialistischen Demokratien ist es praktisch selbstverständlich, dass im Wahlkampf geäußerte Versprechen routinemäßig zurückgenommen oder ganz fallen gelassen werden, sobald man im Amt ist. In China gibt es jedoch keine Wähler:innen, die sich täuschen lassen, und so kurz nach der Präsentation des Parteikongresses passt das Fallenlassen von Null-Covid einfach nicht in das Schema einer Partei, die populäre Maßnahmen vorstellt, um die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen, und dann auf die unpopuläre Politik zurückgreift, die sie schon immer umsetzen wollte. Im Gegenteil, es war die unpopuläre Politik, die hervorgehoben wurde.

Bedeutet dies also, dass die KPCh durchaus die Absicht hatte, mit Null-Covid fortzufahren, aber einfach nicht in der Lage war, ihre gewählte Politik durchzusetzen, da die scheinbar unwiderstehliche Kraft auf ein wirklich unbewegliches Objekt traf? Wenn ja, was war dieses unverrückbare Objekt? Und wie könnte eine Partei mit 96 Millionen Mitgliedern, 1,6 Millionen Ausschüssen in Privatunternehmen und einer entscheidenden Kontrolle über riesige staatliche Unternehmen nicht wissen, dass ihr ein solches Hindernis im Weg steht? Oder, wenn die Partei wusste, dass es unmöglich sein würde, Null-Covid durchzusetzen, und sicherlich hatten viele Kommentator:innen diese Meinung vor dem Kongress geäußert, warum hat sie sich dennoch auf die denkbar öffentlichste Weise für diese Politik eingesetzt?

Es ist bezeichnend, dass viele westliche Kommentator:innen die Antworten auf diese sehr offensichtlichen Fragen in der Persönlichkeit von Xi Jinping selbst gefunden haben, aber das erklärt wirklich nichts. Zweifellos muss man härter und entschlossener sein als der Durchschnitt, um an die Spitze der KPCh zu gelangen, aber die Erklärung liegt nicht in der Psychologie oder Persönlichkeit von Xi Jinping, sondern in der politischen Pathologie der Partei, die er führt.

Eine solch gigantische Partei, deren Mitgliederzahl größer ist als die Bevölkerung eines jeden EU-Staates und die in den meisten Gemeinden und Unternehmen das Sagen hat, bringt zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen, Interessengruppen und politischer Fraktionen hervor. Um all das zusammenzuhalten, braucht die Partei als Ganze einen „starken Führer“, quasi einen Bonaparte, dem alle Fraktionen zu huldigen haben. In der Zeit vor und während der eigentlichen Tagung des Parteikongresses wurde es als absolut notwendig erachtet, in keiner Frage den Anschein zu erwecken, einer Fraktion nachzugeben, um nicht als Zeichen der Schwäche gesehen zu werden, das ausgenutzt werden könnte.

Der Charakter einer Partei, ihr grundlegendes Wesen, ist in ihrem Programm zu finden, das als die Gesamtheit ihrer Philosophie, ihrer Prinzipien, ihrer Praxis und ihrer Prioritäten und deren Entwicklung im Laufe der Zeit verstanden wird. Ein Überblick über die Geschichte der Entwicklung der KPCh findet sich in der Zeitschrift Fifth International 22 oder unter https://fifthinternational.org/content/china-centenary-chinese-communist-party, aber kurz gesagt, ist sie eine stalinistische Partei. Nicht in dem Sinne, dass Stalin selbst ihren Charakter bestimmt hätte, sondern in dem programmatischen Sinne, dass sie im Laufe der Zeit die Schlüsselelemente von Stalins Negation des revolutionären Marxismus übernommen hat:

  • in den 1920er Jahren: Klassenkollaboration, gefolgt von ultralinkem Abenteurertum;

  • in den 1930er Jahren die Volksfront und die menschewistische Theorie vom schrittweisen Aufbau des Sozialismus;

  • 1949 die Bildung einer Volksfrontregierung und die Orientierung auf eine langjährige kapitalistische Entwicklung;

  • 1953 die Ablehnung dieser Entwicklung zugunsten einer bürokratischen Planwirtschaft mit Zwangskollektivierung und beschleunigter industrieller Entwicklung, die zum Massenhunger führte;

  • in den 1960er Jahren Fraktionskriege und das Chaos der Kulturrevolution;

  • in den späten 1970er Jahren die Entscheidung, die Marktkräfte zu stimulieren, um die Wirtschaft wiederzubeleben;

  • in den 1980er Jahren die Einladung an ausländisches Kapital, in Sonderwirtschaftszonen zu investieren, und das Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dann

  • in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus.

Obwohl die chinesische KP Mitte der 1920er Jahre über eine echte Massenbasis in der Arbeiter:innenklasse verfügte, hatte sie nie ein Programm, das auf der Machtergreifung durch Arbeiter:innenräte beruhte, und bis 1928 war diese Arbeiter:innenmitgliedschaft von den ehemaligen Verbündeten der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang buchstäblich ausgelöscht worden. Diejenigen, die Chiang Kai-sheks (Tschiang Kai-scheks) Weißen Terror überlebten und der Partei treu blieben, flohen in die Berge, wo sie über mehrere verzweifelt schwierige Jahre hinweg einen Organisations- und Militärapparat aufbauten, der von der städtischen Arbeiter:innenklasse völlig abgekoppelt war, aber immer noch KP China hieß. Wie Trotzki über die Apparatschiks sagte, die den ersten Fünfjahresplan umsetzten, bestand ihr grundlegender Fehler darin, dass sie glaubten, sie seien die Revolution. Daraus folgte, dass alles, was notwendig war, um ihren Apparat zu erhalten, legitim war.

Selbst nach all den Irrungen und Wirrungen der chinesischen Geschichte seit 1927 ist dieser Apparat, diese Aneignung von Legitimität der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Merkmale, der heutigen Probleme des chinesischen politischen und wirtschaftlichen Systems. In der Tat trugen die Irrungen und Wirrungen zur Konsolidierung des Apparats bei. Jede der großen politischen Strategien der Partei war ein Irrtum und führte in eine Krise. Innerhalb der Partei bildeten sich immer wieder Fraktionen, die andere Lösungen für diese Krisen vorschlugen. In jeder Phase gewann diejenige Fraktion, die die Interessen, ja das Überleben des Apparats am besten zum Ausdruck brachte. Wie Rosa Luxemburg von den Führer:innen der sozialdemokratischen Partei vor 1914 sagte, glaubten die der KPCh zunehmend, dass die wichtigste Tugend, die innerhalb der Mitgliedschaft gelobt und belohnt werden sollte, die des Gehorsams sei. Unabhängig von der konkurrierenden Politik war das Kriterium, nach dem sie beurteilt wurden, das Überleben und vorzugsweise die Expansion des Apparats selbst. Folglich war die soziale Basis der Partei der Apparat selbst, das, was wir in Anlehnung an Trotzki die „bürokratische Kaste“ genannt haben.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Annahme, in „rückständigen Ländern“ müsse es eine Periode oder Stufe der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte geben, bevor von der Macht der Arbeiter:innenklasse und einer sozialistischen Entwicklung die Rede sein könne – die Position der Menschewiki in Russland –, damals weithin als orthodoxe marxistische Position angesehen wurde. Im Jahr 1917 galten Trotzki und Lenin als „Ketzer“, weil sie die Auffassung vertraten, dass die notwendige Entwicklung von einem Arbeiter:innenstaat mit Hilfe sozialistischer Enteignungs- und Planungstechniken durchgeführt werden könne. In China war die von Mao vor 1949 verfolgte Strategie der „Neuen Demokratie“, d. h. einer Volksfrontregierung, im Wesentlichen eine Neuformulierung der menschewistischen Perspektive.

Spätestens 1952 hatten jedoch der Koreakrieg und die Unterstützung der Gegner:innen der KPCh durch die USA und die Kuomintang den utopischen Charakter einer solchen Politik bewiesen. Als der bürokratische Apparat unter der Leitung von Planer:innen aus der Sowjetunion die Kontrolle über die Entwicklung der Wirtschaft übernahm, verfestigte sich der Charakter der KPCh als politischer Ausdruck dieses Apparats, der sich nun enorm ausweitete, noch mehr. Obwohl der Frieden und der systematische Wiederaufbau die wirtschaftliche Stabilität, wenn nicht gar den Wohlstand, wie in den Anfangsjahren der Sowjetunion recht schnell wiederherstellten, führte die Frage, wie es weitergehen sollte, welche strategischen Prioritäten zu verfolgen waren, zu heftigen Kontroversen innerhalb der Bürokratie und damit auch der Partei.

Im Grunde waren diese Auseinandersetzungen Ausdruck der Unmöglichkeit, China als autarke Wirtschaft nach dem Programm des Sozialismus in einem Land zu entwickeln. Als Parteiführer Deng Xiaoping sich 1992 für die Wiederherstellung des Kapitalismus entschied, kehrte er zum ursprünglichen, menschewistischen Programm zurück und behielt nicht nur die bürokratische Diktatur, sondern auch das programmatische Ziel des Sozialismus in einem Land bei, das von Stalin 1924 übernommen, aber ursprünglich von Georg von Vollmar, einem bayerischen Sozialdemokraten, 1894 formuliert worden war.

Die Politik der Restauration brachte eine qualitative Veränderung des Charakters des Staates und der Rolle der Bürokratie und ihrer Partei mit sich. Während die Form des Staates mit seiner nicht rechenschaftspflichtigen Regierung und dem stehenden Heer schon immer bürgerlich gewesen war, waren die Eigentumsverhältnisse, auf denen er beruhte – vergesellschaftetes Eigentum und integrierte Produktionsplanung – die eines Arbeiter:innenstaates. Die Überbrückung dieses Widerspruchs verkörperte sich in der bürokratischen und militärischen Kaste und ihrer Partei, die im Wesentlichen parasitär auf der vergesellschafteten Wirtschaft basierte und scheinbar „über“ der Gesellschaft stand, was Trotzki als „Sowjetbonapartismus“ bezeichnete.

Die Abschaffung der Planung und die Förderung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, sei es in Form staatlicher kapitalistischer Unternehmen oder in Form von Privateigentum, löste diesen Widerspruch auf: ein bürgerlicher Staatsapparat schützte und förderte nun eine bürgerliche Wirtschaft, behielt aber die politische Kontrolle der Bürokratie und ihrer Partei bei. Nichtsdestotrotz bleibt die bürokratisch-militärische Kaste mit ihren eigenen Kasteninteressen parasitär und muss ihr bonapartistisches Regime aufrechterhalten.

All dies macht deutlich, dass die KPCh zwar den Kapitalismus in China so effektiv restauriert hat, dass sie zu einer imperialistischen Macht geworden ist, aber dennoch keine Partei der Bourgeoisie im Sinne einer Verwurzelung in dieser Klasse geworden ist. Ihre gesamte Politik sorgt jedoch für das Wachstum einer neuen kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht immer mit den Prioritäten der Kaste und ihrer Partei übereinstimmen mögen. Dies erklärt die zunehmend nationalistische, sogar fremdenfeindliche Rhetorik des Regimes. Wie Xi Jinping selbst auf dem Kongress betonte, „hat sich unsere Partei dem Ziel verschrieben, dauerhafte Größe für die chinesische Nation zu erreichen“ (2).  Dies impliziert die Vorstellung, dass jedes Klasseninteresse und jede Partei, die ein Klasseninteresse vertritt, automatisch spalterisch und unpatriotisch sind. Wie wir noch sehen werden, ist dies der Grund, warum sie, selbst während sie den Kapitalismus entwickelt, es für notwendig erachten kann, Kapitalist:innen systematisch zu unterdrücken. Längerfristig ist dies jedoch auch der Grund, warum sich die Bourgeoisie gegen die KPCh wenden kann.

Xi Jinping

Die lange Geschichte der KPCh-internen Fraktionskämpfe, von denen einige äußerst gewalttätig waren, hat sich seit der Restauration des Kapitalismus fortgesetzt. In einer Einparteiendiktatur könnte es nicht anders sein. Politische Unterschiede, die ihren Ursprung in den zwangsläufig unterschiedlichen Erfahrungen nicht nur der verschiedenen Regionen, sondern auch der verschiedenen Klassen haben, können sich innerhalb der einen Partei nur in Form von Fraktionsunterschieden äußern. Es ist bekannt, dass Xi Jinping die Führung der KPCh erst nach einem langwierigen Streit mit den Anhänger:innen der früheren Führung um Jiang Zemin erlangte, der 2011 im 18. Parteitag gipfelte.

In seinem Bericht an den 20. Parteitag listete Xi Jinping die Probleme auf, mit denen sich seine Führung damals auseinandersetzen musste:

„Innerhalb der Partei gab es viele Probleme im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Parteiführung, einschließlich eines Mangels an klarem Verständnis und wirksamen Maßnahmen sowie einer Tendenz zu einer schwachen, hohlen und verwässerten Parteiführung in der Praxis. Einige Parteimitglieder und Funktionär:innen schwankten in ihrer politischen Überzeugung. Trotz wiederholter Warnungen hielten sinnlose Formalitäten, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz in einigen Orten und Abteilungen an. Das Streben nach Privilegien und Praktiken stellte ein ernstes Problem dar und es wurden einige schockierende Fälle von Korruption aufgedeckt.“ (3)

Als ob das nicht genug wäre, betonte XI Jinping  auch, dass „das traditionelle Entwicklungsmodell uns nicht länger vorwärts bringen kann“ (4).  Die Konfrontation mit und die Überwindung von solch schwerwiegenden Problemen stellt nach Xis eigenen Worten eine „neue Ära“ dar, die sich an seinem eigenen theoretischen Werk „Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära“ orientiert. Ein Merkmal davon scheint jedoch keineswegs neu zu sein: „Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas ist das bestimmende Merkmal des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen und die größte Stärke des Systems des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen, dass die Partei die höchste Kraft der politischen Führung ist und die Aufrechterhaltung der zentralisierten, einheitlichen Führung des Zentralkomitees der Partei das höchste politische Prinzip ist.“ (5)

Formelle Reden können natürlich in der Übersetzung etwas verlorengehen, aber was der Parteivorsitzende hier anspricht, ist real genug. Seine Führung musste sich mit Problemen auseinandersetzen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass China zu einer Weltmacht, einer imperialistischen Macht, geworden war, was durch die Fähigkeit des Regimes bewiesen wurde, die Finanzkrise von 2008 – 2010 nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus ihr hervorzugehen. Diese neue Realität brachte ganz andere Aufgaben und Prioritäten mit sich als die, mit denen die vorherige Führung bei der Restauration des Kapitalismus konfrontiert war. Die Spannungen und Konflikte innerhalb der Partei erklären den zunehmend bonapartistischen Charakter der Führung.

Chinas neuer Status zeigt sich auch in der Entwicklung der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 1979, als sie von ihrem viel kleineren (aber sehr erfahrenen!) vietnamesischen Nachbarn gedemütigt wurde. Heute ist sie reorganisiert, von der industriellen Produktion abgekoppelt, mit technologisch hochentwickelten Waffen ausgestattet und verfügt über Abteilungen für Weltraum- und Cyberkriegsführung. Peking hat nicht nur zum ersten Mal seit dem frühen 15. Jahrhundert eine Flotte in den Indischen Ozean entsandt, sondern auch Streitkräfte als „UN-Friedenstruppen“ im Libanon, im Kongo, im Sudan und sogar in Haiti stationiert. Während Russlands Erfahrung in der Ukraine Peking viel zu denken geben wird, besteht kaum ein Zweifel daran, dass ein zukünftiger Krieg praktisch als selbstverständlich angesehen wird. Dies machte Chinas Staatspräsident auf bedrohliche Weise deutlich, als er in seiner Kongressrede „die Missionen und Aufgaben der KPCh“ umriss, zu denen auch die Notwendigkeit gehörte, „die Ziele für den hundertsten Jahrestag der Volksbefreiungsarmee im Jahr 2027 zu erfüllen“ (6).  Eines der oft genannten Ziele bildet natürlich die Eingliederung Taiwans in die VR China.

Zu Beginn von Xis dritter Amtszeit wird bei der Betrachtung seiner ersten beiden Regierungsperioden die Interaktion zwischen der bürokratischen Kaste, deren prägende Erfahrungen in einer Planwirtschaft gesammelt wurden, in der Wirtschaftspolitik und -ziele einfach von politischen Prioritäten abgeleitet wurden, und einer aufstrebenden Klasse von Kapitalist:innen deutlich. Die Kapitalist:innen waren zwar für eine gute Ordnung und billige Arbeitskräfte auf die vom Regime durchgesetzten sozialen Kontrollen angewiesen, setzten aber im Kontext der zyklischen Dynamik des Kapitalismus und der bereits bestehenden Dominanz anderer imperialistischer Mächte zunehmend ihre eigenen Prioritäten fest. Zum Zeitpunkt des 20. Kongresses hatten diese Faktoren bereits dazu geführt, dass die Wirtschaftswachstumsraten zum ersten Mal in der Amtszeit von Xi deutlich zurückgingen.

Ein Überblick über die Wirtschaftsleistung Chinas vor und während der ersten Amtszeit von Xi wird den Hintergrund liefern, vor dem spezifischere Themen und Probleme bewertet werden können. Es ist sehr schwierig, chinesische Wirtschaftsdaten zu interpretieren, selbst für einen Vergleich mit anderen großen kapitalistischen Volkswirtschaften, ganz zu schweigen von dem Versuch, sie in marxistische Analysekategorien zu übertragen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die Statistiken des Staates bei der Festlegung der Politik eine Rolle spielen, und die nachstehende Grafik zeigt eine wichtige Reihe, nämlich die Nettogewinne der Industrie:

Grafik 1 zu Reingewinnen von Industrieunternehmen (7)

Aus diesem Schaubild geht eindeutig hervor, dass nach einem Jahrzehnt und mehr mit ständig steigenden Gewinnen 2011, im Jahr vor Xis Amtsantritt, eine Abschwächung mit kaum einem Anstieg zu verzeichnen war, und die fünf Jahre seiner ersten Amtszeit waren die ersten mit uneinheitlichem Wachstum und sogar einer Phase des Rückgangs. Sie endeten jedoch mit einem Höhepunkt im Jahr 2017.

Eine gewisse Vorstellung von der Beziehung zwischen Investitionen und Profiten, die zumindest einen Eindruck von der „Profitrate“ nach marxistischem Verständnis vermittelt, zeigt ein Vergleich der Schlussfolgerungen vieler verschiedener Analyst:innen (8), die alle versuchen, „konventionelle“ Statistiken als „Stellvertreter“ für die marxistischen Kategorien zu verwenden.

Betrachtet man diese beiden Zahlenreihen zusammen, kann man zum Schluss kommen, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft von etwa 2004 bis zur Krise 2008 von einem recht starken Rückgang der Profitrate begleitet war, dann eine kurzzeitige Erholung durch das Konjunkturprogramm und ein recht allgemeiner Rückgang bis 2015/6 erfolgten. Insbesondere in der ersten Amtszeit von Xi gab es zwar ein Wachstum der Profitmasse, aber auch einen Rückgang der Profitrate, was auf schwierige Zeiten hindeutete.

Politisch musste sich Xi mit zwei oppositionellen Fraktionen auseinandersetzen. Die eine war der Meinung, dass die Partei mit ihrer Förderung des Privatkapitals bereits zu weit gegangen war, und war diejenige, mit der man am leichtesten fertig wurde. Korruptionsvorwürfe waren das Mittel der Wahl gegen Leute wie Bo Xilai, den Parteichef in Chongqing, der die Führung anstrebte, indem er sich den Mantel von Mao Zedong umhängte. Die andere, die im Allgemeinen mit Jiang Zemin in Verbindung gebracht wird, der in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus beaufsichtigt hatte, war sowohl in der Partei als auch im Staatsapparat viel besser verankert. Offensichtlich war sie nicht prinzipiell gegen den Kapitalismus, aber ihr Hauptanliegen scheint der Schutz dieses Apparats gewesen zu sein, den sie durch Xi Jinpings Engagement für ein schnelleres Wachstum durch ein größeres Vertrauen in die „Marktkräfte“, d. h. den privaten Sektor, bedroht sah.

Die Zeitschrift The Economist beschrieb kürzlich die ersten drei oder vier Jahre von Xis Führung als „die Blütezeit der Privatwirtschaft“, in der Technologieunternehmen wie Alibaba und Tencent zu Global Playern aufstiegen und ihre Gründer:innen als die neuen Milliardär:innen gefeiert wurden. Ihr Erfolg in China bestätigte schnell, dass das Kapital international expandieren muss. Im Jahr 2014 brachte Jack Ma Alibaba an die New Yorker Börse (NYSE) und sammelte 25 Mrd. US-Dollar ein – zum damaligen Zeitpunkt der größte Börsengang (Börseneinführung; Initial Public Offering, IPO), der Welt, der den Konzern mit 231 Mrd. US-Dollar bewertete. Seitdem sind weitere 240 chinesische Unternehmen an die Börse gegangen, deren Gesamtwert sich im Dezember 2021 auf 2 Billionen US-Dollar belief. Solche Bewertungen sind Ausdruck der wachsenden Bedeutung des Privatkapitals, d. h. der Bourgeoisie, in China, die eine potenzielle, unzuverlässige alternative Macht im Land darstellt.

Im Inland war die „Blütezeit der Privatwirtschaft“ nicht von Dauer. Im Juni 2015 brach die Börse in Shanghai, an der die Aktienbewertungen im Jahr zuvor um 150 % gestiegen waren, plötzlich um 28 % ein – das entspricht 3,5 Billionen US-Dollar. Die geplatzte Blase war durch eine gezielte Regierungspolitik mit billigen Krediten aufgeblasen worden, die „Kleinanleger:innen“, d. h. einfache Menschen, zum Kauf von Aktien ermutigte. Dies war Ausdruck der Gesamtstrategie von Xi, die Kapitalallokation auf den Markt und weg von den staatlichen Banken zu verlagern. Diese Strategie hat sich auch nicht geändert, trotz aller Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre. In seinem Bericht an den Kongress betonte Xi: „Wir werden darauf hinwirken, dass der Markt die entscheidende Rolle bei der Ressourcenallokation spielt und die Regierung ihre Rolle besser wahrnimmt.“ (9)

Während die Börsenkrise durch ein faktisches Verkaufsverbot schnell unter Kontrolle gebracht wurde, zeigten ihre Folgen einen anderen Aspekt der Kaste-gegen-Klasse-Frage. Für Millionen von Apparatschiks und Parteimitgliedern in Ministerien, Banken und Staatsbetrieben war dies der Beweis dafür, dass man dem „Markt“ tatsächlich zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Es erschien zwar nicht als klug, sich der fortgesetzten marktfreundlichen Politik der Führung offen zu widersetzen, aber das war auch nicht notwendig, um die Stabilität zu gewährleisten. Obwohl Xi weitere Reformen durchführte und beispielsweise ausländischen Banken erlaubte, in ausgewählten Regionen tätig zu werden, herrschte im größten Teil der chinesischen Wirtschaft weiterhin die alte Ordnung.

Einer der wichtigsten dieser „alten Wege“ war die Immobilienentwicklung. Diese hatte seit den 1990er Jahren eine zentrale Rolle gespielt, nach dem Motto: „Wenn du baust, werden sie kommen“. Ursprünglich bedeutete dies in den Sonderwirtschaftszonen, dass, wenn eine lokale Behörde z. B. die Grundlagen für einen Industriepark baute und Grundstücke zu niedrigen Preisen anbot, Unternehmen angelockt wurden, die dann Fabriken errichteten und in der Regel die Produktion von billigen Konsumgütern aus Hongkong verlagerten. Dies würde an sich schon eine Nachfrage nach Arbeitskräften, Lagerräumen, Geschäften, Unterkünften, Transportmöglichkeiten usw. erzeugen.

Aus diesen kleinen Anfängen entwickelte sich ein ganzes Erschließungssystem: Die Kommunalverwaltungen verkauften Grundstücke an Erschließungsunternehmen und erhielten so Einnahmen zur Finanzierung ihrer eigenen Aufgaben. Die Erschließungsunternehmen bauten, was immer die Marktbedingungen als rentabel erscheinen ließen, und die Firmen siedelten sich an, zahlten Miete an die Erschließungsunternehmen und erzielten im Allgemeinen einen guten Gewinn mit ihrer für den Export bestimmten Produktion. Die weitere Expansion brachte den Kommunen mehr Einnahmen. Neue Gebäude kurbelten die Bauindustrie und das Materialangebot an, der Zustrom neuer Arbeitskräfte schuf eine Nachfrage nach Wohnraum usw. Sowohl nach dem finanziellen Schock von 2008/09 als auch nach den Schwierigkeiten an den Börsen im Jahr 2015 bot dieses Entwicklungsmodell eine Grundlage für die Stabilisierung der nationalen Wirtschaft. Ein Aspekt dieses Modells, der Wohnungsbau, wurde im Zusammenhang mit der Verstädterung besonders wichtig, da er etwa 30 Prozent der Einnahmen der lokalen Behörden ausmachte.

Die Bedenken hinsichtlich der Politik sind natürlich nicht verschwunden. Sowohl die Kapitalist:innen als auch die Parteiführer:innen, die bereits über Obamas „Schwenk zum Pazifik“ beunruhigt waren, mussten nun mit Trumps offener Feindseligkeit und seiner Unterstützung für Beschränkungen des chinesischen Exporthandels rechnen. Darüber hinaus waren ausländische Unternehmen inzwischen so gut in China verankert, dass sie ihre eigenen Einschätzungen des Wirtschaftswachstums entwickeln konnten – und diese zeigten durchweg, dass die offiziellen Zahlen übertrieben waren, das BIP wuchs nicht mit bis zu 7 % pro Jahr, sondern eher mit etwa 5 %.

China und die Welt

Die obigen Grafiken liefern den Hintergrund für den heftigen Fraktionsstreit, der vor und auf dem 18. Parteitag 2011 ausgetragen wurde und aus dem Xi Jinping als Sieger hervorging. Chinas Fähigkeit, sich nicht nur von der Krise 2008/9 zu erholen, sondern auch viele andere Länder aus der Rezession zu ziehen, machte deutlich, dass das quantitative Wachstum seit der Restauration des Kapitalismus nun eine qualitative Veränderung des Status des Landes mit sich gebracht hatte: Es war nun eine Weltmacht, eine imperialistische Macht. Das erforderte eine Neuordnung der Beziehungen zum Rest der Welt, insbesondere zur dominierenden Macht, den USA.

Dies ist die materielle Realität, die das größere Durchsetzungsvermögen, ja sogar die Aggressivität erklärt, die auf der Weltbühne an den Tag gelegt und oft der Persönlichkeit Xi Jinpings zugeschrieben wird. Die weitere Entwicklung erforderte nun eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielten, diesen neuen Status zu konsolidieren, indem andere Mächte gezwungen wurden, Chinas Prioritäten und Anforderungen zumindest zu berücksichtigen.

Das eigentliche Kernstück von Xis Programm war daher abseits fraktionellen Disputs eine Strategie, die Chinas neuem Status entsprach: die Belt-and-Road-Initiative, BRI (Initiative See- und Straßenwege). Was genau die Führung der KPCh von Marx‘ „Das Kapital“ oder Lenins „Imperialismus“ hält, werden wir wohl nie erfahren, sie wird beides sicherlich studiert haben, aber die Notwendigkeit, Kapital zu exportieren und Macht global zu projizieren, war zu dem Zeitpunkt, als Xi die Macht übernahm, keine theoretische Frage mehr.

Grafik 2: Die Initiative See- und Straßenwege

Schon ein kurzer Blick auf die Karte der BRI-Initiativen macht ihr Ziel deutlich: die langfristige Integration der eurasischen Landmasse und der angrenzenden Regionen Afrikas unter chinesischer „Führung“ oder Kontrolle, wie manche sagen würden.

Das Projekt verbindet den Ausbau der Infrastruktur mit „sozialen Entwicklungen“ wie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, während die damit verbundene Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, deren größter Anteilseigner mit rund 26 % China ist, zweifellos ein alternatives Finanznetzwerk auf Renminbi-Basis (Yuan; chinesische Währung) bereitstellen soll. Kredit aufnehmende Länder können die Projekte selbst als Sicherheiten für die Ausleihe verwenden. Auf diese Weise wurde der neue Hafen von Hambantota in Sri Lanka zu einem chinesischen Vermögenswert, der für 99 Jahre in Mietkauf  gepachtet wurde, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten.

Die BRI bietet auch einen Absatzmarkt für die Produkte von Chinas Überinvestitionen in die – grob gesagt – „Schwerindustrie“, so dass der Kapitalexport nicht nur Finanzmittel umfasst, sondern auch das, was nach Abschluss der Projekte zu Anlagevermögen wird.

Doch so beeindruckend das Ausmaß der BRI auch sein mag, wie das Beispiel Hambantota zeigt, muss sich Chinas Fähigkeit, den Rest der Welt auszubeuten, erst noch beweisen. Das Hafenprojekt war ein finanzielles Desaster, und dasselbe gilt für mehrere Elemente des China-Pakistan Wirtschaftskorridors (CPEC), der oft als eine der Schlüsselkomponenten der gesamten BRI dargestellt wird. Andere Länder nehmen nicht nur diese Misserfolge zur Kenntnis, sondern auch die Feindseligkeit, die entsteht, wenn deutlich wird, dass die Projekte keine Investitionsmöglichkeiten für lokales Kapital bieten und nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung schaffen, da auch Arbeitskräfte aus China exportiert werden.

Dies zeigt nicht nur die chinesische Unerfahrenheit bei der Planung und dem Bau von Projekten im Ausland, sondern auch, dass es etwas ganz anderes ist, mit den etablierten Imperialist:innen auf globaler Ebene zu konkurrieren, was Bankwesen, Technologie, Planung, Produktspezifikationen und eine Unzahl von Vorschriften einschließt, als die Preise für Konsumgüter zu unterbieten.

Sowohl innenpolitisch als auch global gesehen war die erste Amtszeit von Xi Jinping also bestenfalls ein bedingter Erfolg. China konnte nun zweifellos als wichtiger globaler Akteur gelten. Viele Länder waren nun auf die chinesische Expansion angewiesen, um ihren eigenen Exporthandel aufrechtzuerhalten, aber die etablierten imperialistischen Mächte begannen, den Neuling eher als potenziellen Rivalen denn als nützliche Quelle für billige Waren zu betrachten. Im Inland hatte sich das Wachstum fortgesetzt, wenn auch nicht mit den außergewöhnlichen, manche würden sagen unglaublichen, Raten von bis zu 13 Prozent, die 2010 – 2012 verzeichnet wurden, aber der Versuch, die Investitionen von einem staatlich gelenkten auf ein marktgesteuertes Modell umzustellen, war nicht sehr erfolgreich gewesen.

Diese Angelegenheiten bildeten den Hintergrund für den 19. Parteitag im Jahr 2017, auf dem Xis Streben nach mehr Kontrolle deutlich gemacht wurde. Dies war der Kongress, der seinen Beitrag zur Philosophie und zum Programm der Partei mit dem von Mao Zedong (Mao Tse-tung) gleichsetzte. Eine solche Förderung des Großen Führers ist ein deutlicher Hinweis auf ernsthafte Fraktionsstreitigkeiten, die unterdrückt werden müssen, um das Regime als Ganzes zusammenzuhalten. Dass Xi dennoch auf die innerparteilichen Fraktionen Rücksicht nehmen musste, zeigte sich daran, dass deren Vertreter:innen wie Hu Jintao und Li Keqiang nicht nur im Politbüro, sondern auch im Ständigen Ausschuss, dem eigentlichen Entscheidungsgremium im Land, vertreten waren.

Wie genau sich Xis Pläne entwickelt haben könnten, werden wir natürlich nie erfahren, da die Covid-19-Pandemie gegen Ende des zweiten Jahres seiner zweiten Amtszeit ausbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch bereits die von Deng Xiaoping eingeführte Begrenzung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden aufgehoben, die einen reibungslosen Übergang von einem Staatsoberhaupt zum nächsten gewährleisten sollte, und es wurde offen diskutiert, ob er beabsichtigte, Staatsoberhaupt auf Lebenszeit zu werden.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie gab es Anzeichen für eine Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft. Die Exporte gingen 2019 gegenüber dem Vorjahr um 0,5 % zurück, und die offizielle Zahl für das BIP-Wachstum lag bei 6,1 % und nicht bei den angestrebten 6,5 %. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten, die in der Struktur des Regimes und der Wirtschaft begründet sind, müssen wir die Probleme berücksichtigen, die sich aus der Pandemie und der Reaktion darauf auf nationaler und internationaler Ebene ergeben haben. Auch wenn sie nicht durch dieselben Faktoren verursacht wurden, zeigen sie doch die wesentlichen Merkmale des Regimes.

Abgesehen von der Beziehung zwischen Klimawandel, Umweltveränderungen und sozialer Organisation, dem „Metanarrativ“ der Pandemie, reichten die Reaktionen und Maßnahmen des Regimes von einem anfänglichen, typisch bürokratischen Versuch, die Existenz eines Problems zu leugnen, bis hin zu einer einzigartig autoritären, aber recht wirksamen Abriegelung, die die Ausbreitung des Virus stoppte, aber auch einen Großteil der Wirtschaft zum Erliegen brachte.

Danach erholte sich die inländische Produktion schnell und erreichte innerhalb von nur sechs Wochen wieder 80 % der Produktion vor der Pandemie, doch zu diesem Zeitpunkt geriet der internationale Handel in eine Krise, die sich in Form von Lieferengpässen und Transportstörungen bemerkbar machte, was sich wiederum auf die chinesische Wirtschaft auswirkte, die natürlich in hohem Maße auf den Handel angewiesen ist. Das Regime griff auf sein übliches Rezept zur Ankurbelung der Wirtschaft zurück, indem es mehr Kredite für den Bau und die Infrastruktur bereitstellte.

Damit verschärfte es jedoch tief sitzende Probleme in der Wirtschaft, die sich bereits seit mehreren Jahren entwickelt hatten. Diese hängen mit der Rolle des Immobilienwesens zusammen, insbesondere dem Wohnungsbau, und veranschaulichen sehr gut die Funktionsweise des Gesetzes der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung, wie es China betrifft.

Dass sich der Kapitalismus sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen ungleichmäßig entwickelt, war schon immer ein offensichtliches Merkmal, aber insbesondere Trotzki erweiterte dieses Gesetz mit seiner Feststellung, dass in der imperialistischen Epoche das Vordringen des Kapitals in weniger entwickelte Regionen der Welt nicht einfach zu einer Wiederholung des Entwicklungsprozesses führte, der in den ersten kapitalistischen Gesellschaften stattgefunden hatte. Die sich entwickelnden kapitalistischen Unternehmen und Institutionen mussten sich zwangsläufig an die bestehenden sozialen Strukturen und Klassen anpassen, oder, wie er es ausdrückte: „ … es gibt eine Kombination der einzelnen Schritte, eine Verschmelzung archaischer mit moderneren Formen.“ (10)

Diese Einsicht, die Trotzkis Strategie der Permanenten Revolution untermauerte, lässt sich in der Tat an jedem beliebigen Land demonstrieren. In Großbritannien beispielsweise gibt es noch immer eine Erbmonarchie, ein Relikt des Feudalismus, das sich vor Jahrhunderten mit der aufstrebenden Bourgeoisie arrangiert hat. Im Falle des heutigen China haben wir es jedoch mit einer ganz anderen Kombination von Faktoren zu tun, da sich der Kapitalismus im Kontext eines bereits bestehenden degenerierten Arbeiter:innenstaates entwickelt hat. Vor allem aber hat sich eine kapitalistische Klasse neben einem bereits bestehenden Staatsapparat herausgebildet, der auf den Eigentumsverhältnissen einer bürokratischen Planwirtschaft gründete.

Wir haben bereits festgestellt, wie die wirtschaftlichen Ziele des Staates erreicht werden konnten, indem er durch lokale Planungsentscheidungen Anreize für kapitalistische Investitionen stiftete. Zwanzig Jahre, nachdem diese Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem Privatkapital erstmals das industrielle Wachstum angekurbelt hatte, war sie zu einem festen Bestandteil der gesamten Volkswirtschaft geworden.

Im Rahmen der bürokratischen Planung waren die wirtschaftlichen Ziele im Wesentlichen der praktische Ausdruck der politischen Prioritäten, d. h. der Parteipolitik. Da weder die Arbeitskraft noch die Produkte Waren waren, gab es kein objektives Kriterium für das Wertmaß und die Preise waren in Wirklichkeit nur Buchhaltungsinstrumente zur Überwachung der Produktion und des Austausches innerhalb der geschlossenen Wirtschaft.

Mit der Restauration des Kapitalismus und der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware gab es nun eine Grundlage für die Wertberechnung, die jedoch selbst in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften nicht automatisch oder transparent vor sich geht. In China reichte es sicherlich nicht aus, das Verhältnis zwischen politischen Zielen und wirtschaftlichen Entscheidungen sofort zu verändern. Das Ergebnis war im Laufe der Zeit eben eine Praxis, die einige Aspekte der Planung mit anderen Momenten der kapitalistischen Wirtschaft verband.

Im Wesentlichen wird die Wirtschaftspolitik nach wie vor von politischen Zielen bestimmt: Die Ministerien entscheiden, welche Wachstumsrate erforderlich ist, und dieses Ziel wird an die Regional- und Stadtregierungen weitergegeben, die dann die Projekte genehmigen, die diese Wachstumsrate erzeugen sollen. Beispiel Wohnungsbau: Die lokale Regierung bewilligt den Verkauf von Grundstücken (oft aus Enteignung von bäuerlichem Besitz!), lokale Zweigstellen der staatlichen Banken bieten Bauträgern Kredite an, Bauträger bauen die gewünschten Wohnblöcke und verkaufen sie, oft „außerplanmäßig“, d. h., bevor sie tatsächlich gebaut werden. Hauskäufer:innen nehmen Hypotheken auf und beginnen mit der Abzahlung, noch bevor ihr zukünftiges Heim gebaut ist – allerdings in der Gewissheit, dass der Wert ihres zukünftigen Heims ohnehin steigen wird.

Nach dem Verkauf der Wohnungen kann der Bauträger sowohl die erforderlichen Materialien und Arbeitskräfte einkaufen als auch das Darlehen der staatlichen Bank rechtzeitig zurückzahlen. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Die Kommunalverwaltung erfüllt ihre Ziele, die Bank wird mit Zinsen belohnt, der Bauträger macht einen ordentlichen Gewinn, die Hauskäufer:innen ziehen in ihre neuen Wohnungen ein, verschiedene Wirtschaftszweige wie das Baugewerbe, die Haushaltsgeräteindustrie, der Straßenbau usw. haben reichlich Arbeit und die Regierung erreicht ihr politisches Ziel.

Dieser glückliche Ausgang hängt jedoch letztlich davon ab, ob das ursprüngliche Wachstumsziel selbst rational war, und zwar nicht nur für eine bestimmte, sondern für alle Kommunalverwaltungen. Als der Immobiliensektor vollständig etabliert war, machte er etwa 25 Prozent des BIP aus und finanzierte 30 Prozent der Aktivitäten der lokalen Gebietskörperschaften. Vieles hing davon ab, dass diese ursprünglichen Ziele auf genauen Bewertungen und Prognosen des Bedarfs und der Ressourcen beruhten.

Die Wirtschaftspolitik des Regimes ist in hohem Maße dem Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates geschuldet, als die Planung auf dem Ausgleich der materiellen Inputs und Outputs verschiedener Sektoren basierte, um politische Prioritäten zu erreichen. Diese Denkweise, bei der die Wirtschaftspolitik zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird, prägt auch heute noch die Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen des Staatsapparats.

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist es unmöglich, das Gesamtwachstum zu planen, weil die Zusammensetzung des Kapitals zwischen und innerhalb der verschiedenen Sektoren so stark variiert. Die Existenz riesiger Industriemonopole sowie kleiner lokaler Dienstleister:innen und alle möglichen Variationen zwischen ihnen sorgen dafür, dass die Wachstumsraten nicht einheitlich sein können. Selbst wenn es möglich wäre, einen ausgewogenen Austausch von Werten in der gesamten Wirtschaft zu berechnen, würde dies die Beobachtung von Marx ignorieren, dass eine Wirtschaft, um im Gleichgewicht zu bleiben, nicht nur eine Wertäquivalenz beim Austausch von Waren zwischen den Sektoren aufweisen muss, sondern dass diese Waren auch die von der Gesellschaft benötigten Gebrauchswerte liefern müssen.

Die Geschichten über unbewohnte Städte mögen übertrieben sein, aber der Zusammenbruch des Immobiliensektors oder die immer noch wachsende Bewegung der Verweigerung der Rückzahlung von Hypothekendarlehen für unbewohnte Wohnungen waren nicht fiktiv. Der Bausektor veranschaulicht somit die Wechselwirkung zwischen dem „planerischen“ Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates und der Dynamik eines restaurierten Kapitalismus.

Nimmt man zu der zwangsläufig unausgewogenen Wirtschaft noch die Folgen der Beteiligung des Privatkapitals an ihr hinzu, wird sofort klar, wie es zu einer Krise im Immobiliensektor kommen konnte. Die Spekulant:innen, die untereinander und mit anderen kapitalistischen Sektoren um Finanzmittel konkurrieren, haben ihre Kosten gesenkt und ihre Umsätze beschleunigt, indem sie die Nachfrage antizipiert haben, immer noch nach der Philosophie „Wenn du es baust, werden sie kommen“. Die lokalen Behörden, die davon ausgingen, dass der Staat immer einspringen würde, um die Bilanzen auszugleichen, förderten die kontinuierliche Expansion des Sektors, unabhängig von der „effektiven Nachfrage“ oder gar dem Gleichgewicht der Wirtschaft. Die Schuldenspirale wurde noch dadurch verstärkt, dass die größten Bauträger Gelder auf den globalen Anleihemärkten aufnahmen und ihr Ansehen in China als Sicherheit für Kredite nutzten.

Die Fähigkeit des Immobiliensektors, eine zentrale Rolle bei den Bemühungen um die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft nach dem anfänglichen Stillstand im Frühjahr 2020 zu spielen, war daher wirklich sehr begrenzt. Mitte 2021 war die Zentralregierung so besorgt über das Ausmaß der Verschuldung des Sektors, dass sie strenge Grenzwerte für das Verhältnis von Schulden zu verschiedenen Formen von Vermögenswerten festlegte, die so genannten „drei roten Linien“. Damit geriet ein Element der Entwicklungsstrategie der Kaste, nämlich das Vertrauen auf die Marktkräfte oder auf gierige Kapitalist:innen, wie sie manchmal genannt werden, in Konflikt mit einer anderen Priorität, der politischen Stabilität. Der Effekt war fast unmittelbar: Die Finanzierung der Immobilienentwicklung trocknete aus und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit der großen Unternehmen, ihre bestehenden Schulden zu bedienen. Im Oktober erklärte der größte Schuldner von allen, Evergrande, dass er nicht in der Lage sei, die Zinsen, geschweige denn das Kapital für internationale Anleihen in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar zurückzuzahlen.

Die Krise von Evergrande warf ein Schlaglicht auf den gesamten Immobiliensektor, deckte die enorme Verschuldung auf und führte zu einem Baustopp in Städten im ganzen Land. Dies ließ sofort Zweifel an den vielen Unternehmen, ja an den vielen Sektoren der gesamten Wirtschaft aufkommen, die von der Immobilien- und Bauträgerbranche abhängig geworden waren. Sie alle sahen sich nicht nur mit einem Rückgang der Nachfrage konfrontiert, sondern auch mit der Nichtbezahlung von Schulden für von ihnen bereits gelieferte Waren.

Darüber hinaus wurde die Finanzierung der Provinz- und Stadtregierungen, die zuvor auf die Einnahmen aus Grundstücksverkäufen angewiesen waren, in Frage gestellt. Diese wirtschaftliche Sackgasse in der heimischen Wirtschaft stand zwangsläufig in Wechselwirkung mit dem Abschwung im internationalen Handel und darüber hinaus mit den Auswirkungen der Sanktionen, die insbesondere von den USA gegen verschiedene chinesische Waren und Unternehmen verhängt wurden.

Die Situation wurde durch das Eintreffen von Varianten des Covidvirus aus dem Ausland noch verschärft, da andere Regierungen außerhalb Asiens keine „Null-Covid“-Strategie verfolgt hatten. Die Entscheidung Pekings, die gleichen „Null-Covid“-Großquarantänemaßnahmen, die „Abriegelungen“, durchzuführen, wie sie nach dem ersten Ausbruch in Wuhan angewandt wurden, hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern rief auch im eigenen Land Proteste und Widerstand in einem Ausmaß hervor, das selbst die von der Partei kontrollierten Medien nicht verbergen konnten.

Es war diese Kombination aus systemischen Widersprüchen und den konjunkturellen Auswirkungen der Pandemie, die zu dem dramatischen Wachstumsrückgang im letzten Jahr führte: Berichten zufolge im Quartal April – Juni auf 0,4 % pro Jahr.

Alles in allem wurde Xis Gesamtstrategie angesichts des bevorstehenden 20. Parteitags im Oktober 2022 in Frage gestellt, was den Widerstand innerhalb der Partei anheizen könnte, insbesondere seitens der „Jungen Kommunistischen Liga“, die mit den Anhänger:innen von Jiang Zemin, Li Keqiang und Hu Jintao identifiziert wurde. Xi reagierte auf diese Bedrohung mit einem offensichtlichen Linksruck, einer stärkeren Betonung der staatlichen Kontrolle und einer Politik zur Erreichung des „gemeinsamen Wohlstands“.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Eindruck verstärkte, dass die KPCh eine feindseligere Haltung gegenüber einer Kapitalist:innenklasse einnimmt, die zu selbstbewusst und unabhängig geworden ist, war eine Welle von Maßnahmen gegen einige der bekanntesten kapitalistischen Geschäftsleute. Dies begann im November 2020, als Jack Ma, den wir bereits kennengelernt haben, als er sein „Plattformunternehmen“ Alibaba an die New Yorker Börse brachte, daran gehindert wurde, den Finanzzweig seines Unternehmens, ANT, an die Hongkonger Börse zu bringen, angeblich auf ausdrücklichen Befehl von Xi selbst. Kommentator:innen sahen darin eine Bestrafung für die Notierung in New York, die in Peking als „unpatriotisch“ gilt. Aber es geschah auch kurz, nachdem Ma die staatlichen Kontrollen der Investitionsentscheidungen von Unternehmen kritisiert hatte.

Dies markierte den Beginn einer Kampagne gegen mehrere große chinesische Technologieunternehmen, darunter „Pony Mas“ (Ma Huatengs) Tencent, eines der reichsten Unternehmen nicht nur in China, sondern der ganzen Welt, und Didi Chuxing, ursprünglich ein Mietwagenunternehmen, das in die Bereiche Fahrzeugvermietung, Lieferungen und andere verbrauchernahe Apps expandierte. Die ganze Episode wurde anschließend als Teil der Strategie des „gemeinsamen Wohlstands“ der chinesischen KP dargestellt. Im Vorfeld des 20. Parteitags schien dies ein Zeichen für eine „antikapitalistische“ Politik zu sein. Es gibt jedoch viele sehr reiche Kapitalist:innen in China, Berichten zufolge 400 US-Dollar-Milliardär:innen, und die große Mehrheit von ihnen geriet nicht ins Visier. Der reichste von ihnen, Zhong Shanshan, Vorsitzender von Nongfu Spring, einem Getränkeunternehmen, das laut Forbes 62,3 Milliarden US-Dollar wert ist, hat offenbar nichts zu befürchten. (11)

Die weniger radikale, aber realistischere Erklärung für die Parteipolitik liegt in dem gemeinsamen Merkmal der Unternehmen, die ins Visier genommen wurden: der Kontrolle über riesige Mengen an Verbraucher:innendaten und Kapital. Diejenigen, die versuchen, den kapitalistischen Charakter Chinas zu leugnen, weisen oft darauf hin, dass viele der größten Unternehmen und Banken in China in „Staatsbesitz“ sind. Dies hat dazu geführt, dass sich einige der dynamischsten und innovativsten Privatkapitalist:innen auf die neuen Branchen und Technologien gestürzt haben, um ihr Geld zu verdienen. Ein Großteil ihres Erfolgs hängt mit der Verarbeitung riesiger Datenmengen über die Verbraucher:innen zusammen.

Wie ihre Gegenspieler:innen im Westen sind die „Plattform“-Unternehmen in der Lage, Informationen wie Kaufgewohnheiten, Kreditwürdigkeit, Freizeitaktivitäten, E-Mail-Verbindungen, Internetnutzung, Vorlieben und Abneigungen in sozialen Medien, Beschäftigungsdaten, kurzum alles über ihre Hunderte von Millionen Kund:innen zu integrieren. So können sie gezielt Werbung schalten, Finanzdienstleistungen maßschneidern und gute und schlechte Kreditrisiken erkennen.

Die Datenauswertung in diesem Umfang bringt sie jedoch in das Gebiet des staatlichen Überwachungssystems und könnte sogar einige Aspekte dieses Systems gefährden. Darüber hinaus können die von diesen Unternehmen kontrollierten Kapitalmengen und ihre Aktivitäten auf den Weltmärkten die finanziellen und wirtschaftlichen Prioritäten des Staates in Frage stellen. Ein Beispiel hierfür sind die an der New Yorker Börse notierten Unternehmen. Börsennotierte Unternehmen sind verpflichtet, ihre Bücher nach den Standards der NYSE prüfen zu lassen. Dies würde jedoch höchstwahrscheinlich Informationen über die chinesische Binnenwirtschaft und das tatsächliche Ausmaß des staatlichen Einflusses offenbaren, die Peking den US-Behörden nicht bekanntgeben möchte. Im Grunde ist dies also ein Aspekt des Kampfes zwischen bürokratischer Kaste und Kapitalist:innenklasse.

Die Art und Weise, wie diese sehr realen Interessenkonflikte gelöst wurden, ist sehr aufschlussreich. Am 16. Januar 2023 wurde berichtet, dass Guo Shuqing, der Vorsitzende der Regulierungskommission für das Bank- und Versicherungswesen, sagte, dass die Kommission ihre Arbeit praktisch abgeschlossen habe, während die Bemühungen zur „Bereinigung der Finanzgeschäfte von 14 Plattformunternehmen“ weitergingen. (12)  Die Internet-Regulierungsbehörde ist nun dazu übergegangen, kleine Kapitalbeteiligungen an vielen der größten Unternehmen zu erkaufen, und setzt Regierungsbeamt:innen als Vorstandsmitglieder ein, um deren Geschäftstätigkeit zu überwachen. Mit anderen Worten: Diese gigantischen kapitalistischen Unternehmen werden weiterhin im Geschäft bleiben, aber der Staat wird Zugang zu den Entscheidungsprozessen erhalten.

Am selben Tag erhielt Didi Chuxing die Erlaubnis, neue Kund:innen zu werben, und ist damit wieder im Geschäft, nachdem es im letzten Juli eine Strafe von 1,18 Mrd. US-Dollar bezahlt hatte. Am 18. Januar 2023 stieg der Börsenwert von Tencent und Alibaba um 350 Mrd. US-Dollar gegenüber dem Tiefstand vom Oktober 2022.

Was die Bauträger anbelangt, so stellte die Regierung Ende Dezember 16 Unterstützungsmaßnahmen für den Immobiliensektor vor. Danach sagten die staatlichen Banken dem Sektor den Gegenwert von etwa 256 Mrd. US-Dollar an potenziellen Krediten zu, allerdings nur für bestimmte Bauträger. (13) Damit haben die Finanzbehörden festgestellt, welche Unternehmen potenziell lebensfähig sind und welche keine Zukunft haben. Es wird erwartet, dass die umfangreichen Mittel für Fusionen und Übernahmen sowie für den Aufkauf von Vermögenswerten der in Konkurs gegangenen Unternehmen verwendet werden. Das Verfahren ähnelt stark dem, das in den USA zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008 – 2009 angewandt wurde: Rationalisierung des Sektors und Übertragung der Schulden auf den Staat. Auch hier führten die angeblich antikapitalistischen Prioritäten der Kaste in Wirklichkeit zu einem Deal mit den größten Kapitalist:innen.

Auf internationaler Ebene war die Gefahr eines Ausschlusses chinesischer Unternehmen von der NYSE das potenziell größte Hindernis für die wirtschaftliche Stabilität. Die Wurzel des Problems lag darin, dass Chinas Wertpapiergesetz von 2019 Prüfungsunterlagen als Staatsgeheimnis einstuft, so dass sie das Land nicht verlassen und von den US-Behörden nicht eingesehen werden können. Der Holding Foreign Companies Accountable Act (HCFAA) der Vereinigten Staaten, der im Dezember 2020 verabschiedet wurde, schreibt jedoch vor, dass in den USA notierte ausländische Unternehmen die Vorschriften des Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) (Aufsichtsbehörde über die Firmenbilanzen) für die Prüfung von Abschlüssen einhalten müssen, andernfalls droht ihnen nach drei aufeinanderfolgenden Jahren der Nichteinhaltung die Streichung von der Liste.

Die Pattsituation wurde im August 2022 beendet, als Peking zustimmte, den PCAOB-Inspektor:innen in Hongkong Zugang zu den erforderlichen Unterlagen zu gewähren – um das Gesicht zu wahren, durften die Unterlagen China nicht verlassen. Im Dezember bestätigte die PCAOB-Vorsitzende Erica Williams, dass die Inspektionen abgeschlossen seien. Das bedeutet nicht, dass sie die Prüfungsberichte vollständig akzeptiert haben, sondern nur, dass sie vollen Zugang zu ihnen hatten.

Aussichten

Nachdem Xi Jinping seine eigene Position gesichert und die führenden Parteigremien von parteiinternen Gegner:innen gesäubert hatte, musste er sich nun allgemeineren politischen Anliegen zuwenden. Die neue Parteiführung musste von den unechten „repräsentativen“ Institutionen des Nationalen Volkskongresses und der Nationalen Konsultativkonferenz des Volkes auf der so genannten „Doppeltagung“ im März in neue Regierungspositionen und Minister:innen umgesetzt werden. Das war eine rein formale Überlegung. Wichtiger sind die neuen politischen Prioritäten, die sich nicht nur aus dem politischen Manövrieren für den Kongress ergeben, sondern auch aus dem chaotischen Ende des „Null-Covid“ und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im In- und Ausland.

Die bereits unternommenen Schritte in Bezug auf den Immobiliensektor, die Hightechunternehmen und die Börsennotierungen an der NYSE deuten darauf hin, dass Xi wieder auf Wachstum im Privatsektor setzen wird, allerdings mit einer stärkeren Kontrolle durch die Partei. Die Abkehr von der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie und die vorgeschlagenen Treffen mit Antony Blinken und später mit Joe Biden selbst deuten auf eine Neubewertung der Außenpolitik hin. Die Choreographie dafür wurde durch die bizarre Saga des „Spionageballons“ unterbrochen, aber die Kombination aus globalen Wirtschaftstrends und den Auswirkungen des Ukrainekriegs lässt vermuten, dass der Tanz im Laufe der Zeit wieder aufgenommen werden wird.

Im Inland haben viele Kommentator:innen eine Rückkehr zu höheren Wachstumsraten vorausgesagt, die auf einen steilen Anstieg der Verbraucher:innenausgaben zurückzuführen ist. Han Wenxiu, ein führender Beamter der einflussreichen Zentralen Kommission für Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, sagte im Dezember 2022, dass das erste Quartal 2023 noch von den Störungen nach der Schließung betroffen sein, aber für das zweite Quartal mit einer beschleunigten wirtschaftlichen Verbesserung gerechnet werde.

Die Ankurbelung dieser Ausgaben war auch ein Thema auf der zentralen Wirtschaftskonferenz Mitte Dezember 2022 . Die Konferenz findet jährlich statt, aber dieses Treffen wurde als besonders wichtig angesehen, weil es direkt nach dem Kongress erfolgte und daher als eine Absichtserklärung für Xi Jinpings neue Regierung angesehen werden konnte.

Grundlage für diesen Optimismus ist das riesige Reservoir an erzwungenen Ersparnissen, das die breite Bevölkerung aufgrund der Lockdowns besitzt. Diese werden seit Anfang 2020 auf 4,8 Billionen US-Dollar geschätzt (14). Das ist mehr als das britische Bruttoinlandsprodukt und würde, wenn es ausgegeben würde, eindeutig einen beträchtlichen Anreiz darstellen. Das ist jedoch ein großes „Wenn“, denn die Lebenserfahrung der riesigen chinesischen Arbeiter:innenklasse zeigt, dass Sparen eine hohe Priorität hat, um sich gegen Krankheit und die Realität einer alternden Bevölkerung zu schützen, die weitgehend nicht durch staatliche Sozialausgaben abgesichert ist.

Welche offensichtlichen Zugeständnisse an das Privatkapital und den „Markt“ die neue Führungsriege von Xi Jinping auch immer machen mag, ob im Inland oder im Ausland, ihr Ziel wird es sein, eine schwer angeschlagene Wirtschaft wieder zu stabilisieren und damit ihr eigenes Regime zu stärken. Ihr Programm, eine kapitalistische Wirtschaft unter ihrer eigenen rigiden politischen Kontrolle zu entwickeln, die von ihren eigenen politischen Prioritäten geleitet wird, bleibt utopisch. Sie verfügt zwar über ein außerordentliches Maß an Kontrolle und Überwachung, aber die Entwicklung des Kapitalismus selbst wird sich als stärker erweisen.

Nachdem wir die Aufmerksamkeit auf das „kombinierte“ Element des chinesischen Kapitalismus, das Erbe des degenerierten Arbeiterstaates, gelenkt haben, müssen wir auch den „ungleichen“ Charakter aller Kapitalismen berücksichtigen. Es ist zwangsläufig so, dass sich verschiedene Kapitalblöcke unterschiedlich schnell entwickeln. Unterschiede im Umfang der Anlageinvestitionen, im Verhältnis zwischen diesen und den Investitionen in die Arbeitskraft, in der Umschlagdauer der verschiedenen Wirtschaftssektoren, in der Proportionalität oder dem Mangel an Proportionalität zwischen den verschiedenen Sektoren und Unternehmen und in den Auswirkungen der globalen Märkte und Investitionsentscheidungen sind nur einige der Faktoren, die eine ungleiche Entwicklung gewährleisten.

Entsprechend dieser Ungleichheit werden auch die Prioritäten und Pläne derjenigen, die die verschiedenen Kapitalblöcke kontrollieren, unterschiedlich sein und möglicherweise nicht nur untereinander, sondern auch mit denen der herrschenden Kaste in Konflikt geraten. Angesichts des Grades der personellen Durchdringung zwischen der Kapitalist:innenklasse und der bürokratischen Kaste werden sich diese Unterschiede auf den Regimeapparat übertragen. Dies wird sich zunehmend in der Bildung von Fraktionen ausdrücken, de facto oder de jure. Ihre Existenz wird eine ständige Tendenz zu einer strengeren internen Disziplinierung innerhalb der Kaste durch den Mechanismus, der alles zusammenhält, die Partei, erfordern.

Zur Veranschaulichung dieses Prozesses genügt es, die Auswirkungen der Krise im Immobiliensektor zu betrachten. Sowohl die Kapitalist:Innen selbst als auch die Bürokrat:innen, die mit ihnen zu tun haben, wissen, dass es die Parteipolitik und die Parteifunktionär:innen waren, die sein übermäßiges Wachstum und schließlich Bankrott gefördert haben. Buchstäblich Tausende von Kapitalist:innen und Manager:innen in allen damit verbundenen Branchen wissen das auch. Die Aushöhlung der Autorität und Legitimität der Partei ist praktisch garantiert, und deshalb werden Unzufriedenheit und der Druck auf Veränderungen wachsen. Und das sind nur die Spannungen zwischen der Bourgeoisie und der bürokratischen Kaste. Millionen und Abermillionen von Arbeiter:innen wissen auch, wo die Schuld für ihre unfertigen Häuser, den Verlust ihrer Arbeit, ihre Hypotheken und ihren sinkenden Lebensstandard liegt.

Weder verärgerte Geschäftsleute noch wütende Arbeiter:innen sind an sich eine große Bedrohung für die KP China und ihr Regime. Die Anwesenheit von Parteimitgliedern in praktisch allen Gemeinden und an den meisten Arbeitsplätzen sowie die durch die pandemischen Abriegelungen erheblich verbesserten Überwachungsmöglichkeiten sind mächtige Instrumente zur Unterdrückung der Opposition. Dennoch macht das schiere Ausmaß der Parteikontrolle angesichts der unvermeidlichen Reibungen des wirtschaftlichen Wandels und der Auswirkungen globaler Ereignisse die Partei zur offensichtlichen Zielscheibe von Unzufriedenheit, und das schafft ein Umfeld, in dem unter den richtigen Bedingungen die Feindseligkeit gegenüber dem Regime wachsen kann.

Die Geschwindigkeit, mit der die vom „Mann auf der Brücke“ kurz vor dem Parteitag vorgetragenen Slogans über die sozialen Medien aufgegriffen wurden, macht deutlich, wie weit verbreitet diese Unzufriedenheit bereits ist. Sie lauteten: „Wir wollen keine Diktator:innen, wir wollen Wahlen“, „Rettet China mit einer Person, einer Stimme, um den/die Präsident:in zu wählen“ und „Streikt in der Schule und am Arbeitsplatz, setzt den Diktator und Landesverräter Xi Jinping ab!“

Es sollte niemanden überraschen, dass demokratische Forderungen sofort auf große Resonanz stoßen, wann immer sie erhoben werden können. Die Gefahr für Sozialist:innen besteht darin, dass sie zwar an sich fortschrittliche und daher unterstützenswerte Forderungen sind, ihre Herkunft aus der bürgerlich-demokratischen Bewegung aber bedeutet, dass sie auch von bürgerlichen Gegner:innen der bürokratischen Diktatur unterstützt werden können. Das hat sich sowohl beim Zusammenbruch der Sowjetunion als auch bei den verschiedenen „Farbenrevolutionen“ in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts sehr deutlich gezeigt.

Die Aufgabe der Sozialist:innen besteht darin, solche populären und unterstützenswerten Forderungen mit einer Strategie zu verbinden, die nicht nur das Regime stürzen kann, sondern dabei auch Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufbaut, die sicherstellen können, dass ein Sieg in diesem Kampf nicht einfach die Tür für eine Machtergreifung durch kapitalistische Kräfte mit einem Programm für eine effizientere Ausbeutung sowohl im Inland als auch in Übersee öffnet. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Sturz der bürokratischen Kaste in China wird die Strategie und Taktik der Permanenten Revolution erfordern.

Aus den Erfahrungen der demokratischen Bewegungen des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts können wir die Hauptmerkmale dieser Strategie erkennen. Das zentrale Ziel, das alle anderen Elemente der Strategie miteinander verbindet, ist der Aufbau unabhängiger, demokratisch rechenschaftspflichtiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse wie Betriebsräte, Gewerkschaften, Gemeindeorganisationen, Frauenorganisationen, Jugendorganisationen und andere Organisationen unterdrückter Schichten wie Immigrant:innen und LGBTQ+. Sobald es zu einem bestimmten Zeitpunkt praktisch möglich ist, müssen diese Organisationen die Grundlage sein, von der aus abrufbare Delegierte in Organisationen auf höherer Ebene, auf Stadt-, Landes- oder Bundesebene, entsandt werden. Die genauen Formen und Organisationsstrukturen, die die Klassenorganisation am besten voranbringen, können nicht vorhergesagt werden, aber aus den Erfahrungen der Protestbewegungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten häufig entstanden sind, können Lehren gezogen werden.

Politisch gesehen besteht die größte Gefahr für jede Arbeiter:innenbewegung in der Unterordnung unter bürgerliche Kräfte, die ihre eigenen Gründe haben, sich der Bürokratie entgegenzustellen. Die Erfahrungen mit den farbigen Revolutionen in Osteuropa unterstreichen diese Gefahr sehr deutlich. Unabhängig davon, ob diese vom Ausland unterstützt werden oder nicht, müssen die Organisationen der Arbeiter:innenklasse eine vollständige Unabhängigkeit von ihnen gewährleisten.

Das Vorhandensein von proletarischen Organisationen ist zwar eine Voraussetzung für einen fortschreitenden Sturz der Bürokratie, doch reicht dies nicht aus. Wie die Welt zu oft gesehen hat, z. B. beim Arabischen Frühling oder der griechischen Finanzkrise, stehen und fallen diese Organisationen mit ihren politischen Führungen. Um das tragische Schicksal dieser großen Massenbewegungen zu vermeiden, müssen revolutionäre Marxist:innen in jeder Phase der Entwicklung eingreifen. Dazu müssen die Revolutionär:innen selbst organisiert werden, das heißt, sie müssen eine Partei aufbauen, die auf der Strategie der Permanenten Revolution basiert, auf die chinesischen Verhältnisse angewandt.

Daraus folgt, dass die erste Aufgabe der Revolutionär:innen hier und jetzt darin besteht, diese Strategie zu entwickeln, ein Programm für den revolutionären Sturz der Bürokratie und die Bildung eines Arbeiter:innenstaates auf der Grundlage demokratisch verantwortlicher Arbeiter:innenräte auszuarbeiten. Den Kern einer solchen Partei werden diejenigen bilden, die bereits erkannt haben, dass dies ihre Hauptziele sind, und die sich der Entwicklung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele widmen. Dies wird sowohl Studium als auch praktisches Engagement erfordern, um die Führer:innen der chinesischen Arbeiter:innenschaft und der unterdrückten Schichten Chinas für dieses Programm zu gewinnen. An diese Genossinnen und Genossen ist dieser Artikel gerichtet.

Endnoten

(1) https://english.news.cn/20221025/8eb6f5239f984f01a2bc45b5b5db0c51/c.html

(2) ibid

(3) ibid

(4) ibid

(5) ibid

(6) ibid

(7) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability/

(8) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability

(9) op.cit.

(10) L D Trotsky, History of the Russian Revolution, Haymarket 2008, p. 5

(11) https://www.forbes.com/profile/zhong-shanshan/?sh=40cb72c849ae

(12) Financial Times, London, January 16, 2023

(13) Financial Times, London, December 28, 2022

(14) Financial Times, London, January 10, 2023




Tragödie und Farce – der „Wagner“-Putsch

Martin Suchanek, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Fast so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch vorbei. Am 23. Juni verkündete der Chef und Eigentümer der paramilitärischen russischen Gruppe Wagner, Prigoschin, einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau an. Auch wenn es hieß, dass sich nicht direkt gegen Putin, sondern „nur“ gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow richte, stand ein Putsch im Raum.

Bis zu 25.000 Soldaten mobilisierte die Wagner-Gruppe. Innerhalb weniger Stunden besetzte sie die militärischen Kommandostellen in Rostow/Don, dem Kommandozentrum der Armee im Ukrainekrieg, und rückte auf Moskau vor.

Putin erklärte die Wagner-Truppe zu „Verrätern“ und drohte mit allen erdenklichen Mitteln, um sie zu stoppen und bestrafen. Prigoschin seinerseits kündigte an, alle zu vernichten, die sich einen Söldern in den Weg stellten.

Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt endete der Vormarsch so überraschend, wie er begonnen hatte – mit dem Rückzug der Wagner-Truppen. Vermittelt hatte dieses Ende der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka. Eine große bewaffnete Konfrontation blieb aus. Die Anklage gegen Prigoschin wurde fallengelassen, die „Aufständischen“ pardoniert. Schließlich hätten sie ja in der Ukraine, in Syrien, Mali und bei sonstigen Schlächtereien „Großes“ für Russland geleistet.

Konflikt im Regime

Der ebenso überraschende wie überraschend abgeblasene Putsch erwischte nicht nur Putin auf dem falschen Fuß. Die gesamte Weltöffentlichkeit spekulierte, immer neue „Nachrichten“, Verlautbarungen, Insider(des)informationen und widerstreitende „Expert:innen“ warten mit ihren Einschätzungen auf. Der amerikanische Geheimdienst sollte schon vorab informiert gewesen sein, heißt es. Andere meinen, auch der russische hätte etwas gewusst. Die einen sprachen von einem Putschversuch, andere meinten, es wäre eher eine inszenierte Auseinandersetzung gewesen. Und wie der Beginn, so gab und gibt auch das Ende des „Marsches für Gerechtigkeit“ Raum zur Spekulation.

Fakt ist, dass die Episode den bisherigen Zenit eines Konfliktes zwischen zwei Flügeln des russischen imperialistischen Militärapparates und Regimes darstellt. Schon seit Monaten hatte Prigoschin den Spitzen der Armee vorgeworfen, in der Ukraine zu versagen, die Lage zu beschönigen, nicht brutal genug vorzugehen und seinen Kämpfern Nachschub vorzuenthalten. Außerdem hätte die Armee die Abzugsrouten von Wagner-Soldaten aus Bachmut vermint. Am 23. Juni beschuldigte Prigoschin das Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Truppen gestartet zu haben.

Zweifellos zeigt der gesamte Konflikt eine innere Schwäche des russischen Regimes. Der Aufmarsch, die Passivität von Teilen der Armee, der, wenn auch nur zeitweilige, Kontrollverlust über Teile des Landes sind natürlich ein Zeichen der Schwäche für jedes Regime, zumal für ein bonapartistisches, das so sehr auf die „Allmacht“ eines Mannes zugeschnitten ist.

Dazu bedarf es keiner sonderlichen Kenntnisse. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Konflikt nicht gelöst, sondern nur befriedet wurde. Er dürfte zwischen der Armeeführung und der Wagner-Gruppe also weitergehen.

Und auch wenn Putin angeblich schon vor Monaten versucht hatte, ihn durch Vermittlung beizulegen, so darf man nicht vergessen, dass er in mehrfacher Hinsicht selbst eine Ausgeburt des Systems Putin darstellt.

Ursprung und Veränderung der Gruppe Wagner

Der russische Imperialismus hat über Jahre private, paramilitärische, eng mit dem Regime verbundene „Sicherheitskräfte“ aufgebaut. Die Wagner-Gruppe ist sicherlich die bekannteste, aber keineswegs die einzige. Für die Außerpolitik Russlands erfüllten sie über Jahre wichtige Funktionen, erledigten die besonders barbarische Drecksarbeit „privat“, so dass Putin und die Armee für diese „Exzesse“ keine Verantwortung übernehmen, ja sich zur Not sogar davon distanzieren konnten.

Über Jahre agierte u. a. die Wagner-Gruppe am Rande der russischen Legalität. Ironischer Weise war ihr heutiger Intimfeind Gerassimow einer der Inspiratoren ihrer Gründung. Prigoschin selbst bestritt noch bis 2019 irgendwelche Verbindungen zu dieser Organisation.

Die Gruppe Wagner selbst rekrutierte und rekrutiert sich bis heute vornehmlich aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der russischen Armee. Auch wenn sie keine offizielle Ideologie hat, so war sie von Beginn an von völkisch-nationalistischen Kräften bis hin zu offenen Faschisten geprägt. Der Name Gruppe Wagner geht auf den ehemaligen Oberstleutnant Dmitri Uktin zurück, der selbst eine Teileinheit der privaten Söldnergruppe Slawisches Korps befehligte und dort den Kampfnamen Wagner führte. Uktin selbst war nicht nur ein Bewunderer des deutschen Komponisten, sondern auch von Adolf Hitler und des Dritten Reiches. Auch wenn die Wagner-Gruppe in ihre Gesamtheit keine faschistische Organisation darstellt, so tummeln sich seit ihrer Gründung russische Rechte darin.

Im Zuge des Ukrainekrieges veränderte sich aber die Größe und Rolle der Söldnertruppe. Es wurden zunehmend auch schlechter ausgebildete Soldaten wie auch Kriminelle in großer Zahl aufgenommen, die oft selbst als Kanonenfutter in der „Truppe“ fungieren. Insgesamt wir die Zahl der Kämpfer im Ukrainekrieg nach unterschiedlichen Quellen auf 30.000 bis 50.000 Mann geschätzt.

Putin als Geburtshelfer

Mit dem rasanten Wachstum veränderte sich zugleich auch die Stellung im System Putin und es steigerte sich auch die Konkurrenz mit dem Militärapparat, der ursprünglich deren Gründung angeregt hatte. Die Verluste im Ukrainekrieg verschärften diese Gegensätze.

Es wäre jedoch verkürzt, diese inneren Widersprüche unter den bewaffneten Kräften des russischen Imperialismus nur als Konflikte zwischen einzelnen Personen oder Institutionen zu betrachten. Das bonapartische Herrschaftssystem Putin hat lange selbst Konflikte und  Konkurrenz unter seinen Gefolgsleuten befeuert. Das funktioniert auch solange, als diese über ein gewisses Maß nicht hinausgehen. Putin kann dann als der „neutrale“, „vernünftige“ Schlichter auftreten und sich so als unersetzlicher Garant für Stabilität nicht nur für seine Gefolgsleute, sondern auch für die Bevölkerung beweisen.

Doch diese Konflikte haben im Ukrainekrieg eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die am 23. Juni für einige aus dem Ruder gelaufen ist und – letztlich entgegen der Intention aller Beteiligten – auch das Herrschaftssystem des russischen Imperialismus als schwach erscheinen ließ.

Dass der Putschversuch unblutig endete, gibt ihm nicht nur einen unfreiwillig komödiantischen Touch. Der Ausgang verdeutlicht auch, dass letztlich alle Beteiligten das System Putin nicht ersetzen, sondern nur ihre Position darin behaupten wollen. Beschädigt wurde es jedoch.

Die Unternehmung der Gruppe Wagner verdeutlicht, dass Teile des bewaffneten Apparates wie auch der wirtschaftlichen Elite auch über Alternativen zu Putin nachzudenken beginnen – inklusive solcher, die einen womöglich noch barbarischeren Kurs verfolgen. Zweitens verweist sie auf eine tief sitzende Unzufriedenheit unter Soldaten an der Front, was für jedes Regime eine Gefahr darstellt. Für den Krieg in der Ukraine bedeutet das keineswegs eine Entspannung von russischer Seite. Kurzfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kriegsanstrengungen des russischen Imperialismus eher noch verstärkt werden, um die eigenen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu halten. Davon hängt heute das Regime Putin noch mehr ab als vor dem „Wagner“-Putsch.




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Dilara Lorin, Neue Internationale 274, Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Interview zur Lage in Kurdistan

Interview mit Gulistan, Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Morgen, am 28. Mai, findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Das folgende Interview wurde bereits vor der ersten Runde gemacht. Es kann daher nicht auf den Ausgang des ersten Wahlgangs eingehen, wirft aber ein deutliches Licht auf das Erdogan-Regime, seine Verbindungen zum westlichen Imperialismus und die Lage in Kurdistan. Auch wenn wir nicht alle Positionen der Interviewten teilen, so halten wir es für notwendig, authentische Berichte auch auf dieser Seite zu verbreiten.

Wir haben Gulistan von YJK-E (Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland) zu einem Gespräch getroffen. Sie ist in München geboren, aber ihre Wurzeln liegen in den von der Türkei besetzen Gebieten in Nordkurdistan.

Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte.

arbeiter:innenmacht: Was ist es für eine Struktur, in der du aktiv bist? Welchen Austausch gibt es mit Kurd:innen international?

Gulistan: Unser vollständiger Name lautet „Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland e. V.“. Wir kurdischen Frauen sind bundesweit mit lokalen Vereinen in jeder größeren Stadt als YJK-E vertreten. International gehören wir der Dachorganisation „Kurdische Frauenbewegung in Europa“ an. Als Verein sind wir außerdem Teil der TJK-E.

Unsere Frauenstrukturen sind zwar größtenteils kurdisch, aber auch offen für Frauen türkischer Herkunft und alle, die sich einbringen möchten.

In München haben wir etwa 20 aktive Mitglieder, die kurdische Community ist jedoch wesentlich größer. Unser Verein ist hier gut vernetzt und beteiligt sich u. a. an Bündnissen zum 8. März oder 25. November (Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen), aber auch an weiteren Aktionen mit Bezug zu frauenpolitischen Themen.

Einmal im Jahr treffen sich unsere lokalen bzw. nationalen Verbände zu einer internationalen Konferenz. Dieses Jahr fand sie in Hamburg statt und fast die ganze Welt war zugegen, was uns wegen der teils schwierigen Lage vor Ort besonders freut.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet unsere Öffentlichkeitsarbeit mit Fokus auf Kurdistan und hier insbesondere Rojava.

arbeiter:innenmacht: Rojava ist vielen Aktivist:innen in Deutschland ein Begriff. Bitte schildere uns aus deiner Sicht, durch was es sich auszeichnet!

Gulistan: In Rojava, bestehend aus den 3 Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê, wird Basisdemokratie gelebt!

Die Schriften Abdullah Öcalans bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit. Die von ihm formulierten Thesen zu (Basis-)Demokratie und Alternativen zum Kapitalismus, Frauenbefreiung und Ökologie bilden auch die 3 Säulen, die beim Aufbau und im Kampf um Rojava eine zentrale Rolle einnehmen.

Trotz des anhaltenden Krieges der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ gegen den IS und den türkischen Staat ist eine autonome Region entstanden, die als eine Art Räterepublik konzipiert und nach dem Prinzip des demokratischen Konföderalismus aufgebaut ist. Das bedeutet, dass jede/r stimmberechtigt ist, um die jeweilige Kommune nach seinen/ihren Bedürfnissen aufzubauen, frei von jeder Machtherrschaft. Die Menschen stimmen z. B. über Wasserversorgung oder Weizenanbau ab, was in dieser Region (über)lebenswichtigen Entscheidungen gleichkommt.

Im täglichen Leben der Menschen vor Ort zeigt sich dabei auch die Verbindung politischer und ökologischer Fragestellungen. Efrîn z. B. verfügt über mediterranes Klima und ist daher besonders für den Anbau von Oliven geeignet. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dort Kooperativen zu gründen. Die vorhandenen Ressourcen werden mit Rücksicht auf die Natur genutzt, nach den Bedürfnissen der Menschen anstatt wie in der kapitalistischen Verwertungslogik durch Ausbeutung von Mensch und Natur unter Profitzwang.

In Sachen Frauenbefreiung hat unsere Revolution schon früh begonnen. Bereits in den 1980er Jahren, kurz nach Gründung der PKK, haben sich Mädchen, die nicht wie vorgesehen verheiratet werden wollten, dem Kampf angeschlossen. Es entstand eine Bewegung, die wiederum eine eigene Dynamik entwickelt und Frauen dazu gebracht hat, Forderungen nach Selbstbestimmung zu formulieren. Schon Öcalan hat dazu formuliert und aufgerufen, dass Frauen sich eigenständig organisieren. Zusätzlich zu den eigenen Strukturen haben wir kurdischen Frauen uns auch in Seminaren ideologisch gebildet und führen nun seit mehr als 40 Jahren den Kampf weiter, den unsere Schwestern begonnen haben.

Uns ist es wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen und zu verdeutlichen, warum dieser Kampf Menschen und besonders Frauen weltweit betrifft und deshalb interessieren sollte.

Im Kampf der Frauen in Iran wird deutlich, was auch Öcalan bereits formuliert hat: „Jin – Jiyan – Azadi“ ist für uns nicht nur ein Slogan, sondern eine Lebensweise, Lebenseinstellung, eine grundsätzliche Haltung.

Der Befreiungskampf in und um Rojava steht für uns deshalb stellvertretend für alle emanzipatorischen Bewegungen und soll ein Exempel statuieren, indem er Aufmerksamkeit für die gesamte Weltregion erzeugt.

arbeiter:innenmacht: Welche Auswirkungen hatte das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien? Es gab eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, auch aus Deutschland.

Gulistan: ANF (kurdischer Nachrichtendienst) Deutsch berichtet von 250.000 Toten, die türkische Regierung hingegen gibt offizielle Zahlen um die 50.000 heraus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der nicht geretteten und gestorbenen Menschen weiterhin unter Trümmern begraben liegen und bisher keine Bergung stattgefunden hat.

Es gab zusätzlich viele Tote durch Erfrierungen. Sofern sie konnten, sind die Menschen zu Verwandten in andere Metropolen oder Nachbarstädte geflohen.

Als Sofortmaßnahmen sind zwar Zeltstädte entstanden, diese sind aber keine Dauerlösung, da es dort keinen stabilen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrung gibt.

Von der AFAD (türkische Katastrophenschutzbehörde) als zuständiger und dem Innenministerium beigeordneter Organisation kam nicht die erforderliche Hilfeleistung.

Stattdessen hat die Zivilbevölkerung Nothilfe geleistet. Auch viele Menschen aus Deutschland mit Familie oder Verbindungen vor Ort haben hier Menschen bei sich aufgenommen und eine enorme Solidarität gezeigt.

Dies ist umso wichtiger, da das AKP-Regime Konvois daran gehindert hat zu passieren und Hilfsgüter beschlagnahmt hat. Um diesen Kontrollen zu entgehen, haben einige Konvois die türkische Fahne angebracht, um auf diese Weise getarnt durchgewunken zu werden.

Mehr als eine Woche lang kam keine Hilfe an, was nur zum Teil der korrupten AKP-Regierung geschuldet ist. Seit dem letzten schweren Beben 1999 wird zwar speziell für solche Fälle eine Steuer erhoben, die Kassen sind aber leer und es wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Es gibt auch viel zu wenig Personal, welches schlecht geschult ist. Die Gelder sind versickert und vermutlich zu einem großen Teil in die türkische Kriegsmaschinerie sowie die Unterstützung des IS geflossen.

Aus diesem Grund hat die kurdische Community gezielte Spendenaufrufe für Medico International, Ärzte ohne Grenzen und den Kurdischen Roten Halbmond gestartet. Letzterer wurde 1993 als kurdische Nichtregierungsorganisation bewusst unabhängig vom türkischen Staat gegründet. Bisher sind weltweit allein dort rund 2 Millionen Euro an Spenden eingegangen.

Das Ausmaß an Korruption und die zynische Skrupellosigkeit der türkischen Regierung zeigen sich auch daran, dass Spenden an DITIB-Moscheen und andere türkische Institutionen bei Erdogan gelandet sind anstatt bei den Menschen, die dringend Hilfe benötigen (DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.).

Das Erdbeben am 6. Februar 2023 war eine Naturkatastrophe, aber eine korrupte Regierung ist keine Naturkatastrophe. Man kann und muss etwas gegen sie unternehmen.

arbeiter:innenmacht: Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die türkischen Präsidentschaftswahlen?

Gulistan: Für mich ist klar, dass diese Wahlen weder demokratisch noch frei sind.

Interessant im Vergleich zu früheren Wahlen ist aber, dass durch das schwere Erdbeben viele Menschen die Verlogenheit und Korruption des Regimes erkannt haben. Sie haben die oben beschriebene Selektion bei der Vergabe von Hilfen bemerkt, wodurch die Spaltung zwischen Kurd:innen und Türk:innen sichtbarer denn je wurde. Die Menschen selbst waren untereinander solidarischer als die Politik, die selektiert und in großen Teilen versagt hat.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Parteiverbot der HDP (Demokratische Partei der Völker; linksgerichtete Partei in der Türkei, die sich für Minderheitenrechte insbesondere der Kurd:innen einsetzt). Dies ist raffiniert, weil ein Vorgespräch bei Gericht und die Verhandlung erst nach den Wahlen angesetzt sind. Wegen anhaltender Repression wurde schon vor einigen Jahren die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei; YSP) als Alternative zur HDP gegründet. Diese grüne Linkspartei ist zur Wahl zugelassen und konnte antreten, unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die HDP. Es gab daher den Aufruf an alle Kurd:innen, diese Partei zu wählen.

Aus den genannten Gründen wird dieses Mal ein knapper Wahlausgang prognostiziert. Erdogan wird aber sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um durch Manipulationen das Ergebnis zu seinen Gunsten zu drehen. Er wird seinen Posten nicht einfach räumen.

Erwähnenswert ist noch, dass die YSP international um unabhängige Wahlbeobachter:innen gebeten hatte, dies aber vom EU-Parlament abgelehnt wurde. Leider zeigt sich auch hier der Einfluss des Erdogan-Regimes und seine Verflechtungen auf internationaler Ebene. Die Türkei wollte dies schlicht nicht. Doch auch ohne unabhängige Wahlkommission sind solidarische Menschen als Delegation ins Land gereist und haben diese Aufgabe übernommen.

arbeiter:innenmacht: Die kurdische Geschichte ist stark von Krieg und Vertreibung geprägt. Inwiefern sind auch Deutschland, die EU und die NATO daran beteiligt?

Gulistan: Man darf die Interessen der einzelnen Länder untereinander nicht vergessen. Noch im Osmanischen Reich, schon vor dem Genozid an den Armenier:innen, gab es enge Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. An der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird dies am deutlichsten: Rund 7.000 deutsche Unternehmen profitieren von Steuervorteilen in der Türkei.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zugeständnisse der Vergangenheit durch die EU als Ganzes sowie einzelne europäische Staaten Erdogan erst dazu verhalfen, der Autokrat und Diktator zu werden, der er heute ist.

Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei sowie der Krieg gegen kurdische Gebiete, den die Türkei mit ihren NATO-Verbündeten führt, zeigen deutlich, dass es nicht Erdogan alleine ist, der Politik gegen uns Kurd:innen und andere Gruppen oder Minderheiten betreibt. Er ist vielmehr Mittel zum Zweck: Erdogan und seine AKP sind gewissermaßen die Türsteher:innen des Nahen Ostens. Erdogan hat eine Schlüsselfunktion darin, was er zulässt und was nicht.

Daher wird der völkerrechtswidrige Krieg von Erdogan gegen kurdische Gebiete nicht von Deutschland kritisiert. Vielmehr lässt man ihn gewähren.

Wir Kurd:innen in der Diaspora merken das sehr: Angela Merkel oder Olaf Scholz z. B. können sich ja schlecht hinstellen und sagen, dass sie Blut an ihren Händen kleben haben. Trotz vermeintlichen Stopps von Waffenlieferungen gab und gibt es diese weiterhin. Dies wurde nicht zuletzt durch die Recherchearbeit kurdischer Aktivist:innen und Politiker:innen aufgedeckt.

Allgemein kommen kurdische Anliegen sehr wenig in deutschen Medienberichten vor, hauptsächlich dann, wenn es wirklich schwerwiegende Angriffe in der Region gibt. Es müsste ein wesentlich größeres Politikum sein, wenn Menschen in Iran und auch im Nordirak bei Drohnenangriffen getötet werden.

Im Schatten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen hat Erdogans korruptes und faschistisches Regime das Gebiet um Rojava unter Beschuss genommen. Dabei kommen nachweislich auch Chemiewaffen zum Einsatz, die teilweise von Deutschland bzw. deutschen Rüstungsfirmen geliefert wurden.

Unser Anliegen ist daher auch, gezielte Kriegsgewalt gegen Zivilist:innen überall auf der Welt sichtbar zu machen und zu versuchen, sowohl Femizide als auch Ekozide, also Verbrechen an Natur und Umwelt, zu stoppen.

arbeiter:innenmacht: Wie beurteilst du die Bedingungen für eure politische Arbeit?

Gulistan: Bundesweit erleben wir Kurd:innen allgemein und wir Aktivist:innen im Besonderen eine Verstärkung von Repression. Dies ist aber nur die Fortsetzung einer anhaltend strikten Vorgehensweise gegen uns Kurd:innen.

In München gab es Probleme mit der Präsidentschaftswahl, da das türkische Konsulat uns Kurd:innen vielfach als nicht wahlberechtigt anerkannt hat. Wahllokale wurden nicht geöffnet und Menschen, die als Aktivist:innen bekannt sind, wurden aktiv am Wählen gehindert.

Wenn kurdische Personen z. B. die Versammlungsleitung bei Demonstrationen übernehmen, kommt es immer wieder vor, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung oder der Pass nicht verlängert wird. Dadurch werden wir Kurd:innen in Deutschland illegalisiert. Das türkische Regime setzt die deutsche Regierung über seine Konsulate stark unter Druck.

Auslieferungen eben auch politischer Gefangener zwischen Deutschland und der Türkei finden regelmäßig statt. Die Zusammenarbeit deutscher mit türkischen Geheimdiensten ermöglicht erst die bundesweite Repression gegen Kurd:innen.

Menschen, die mutig sind und sich zeigen, setzen sich der Gefahr aus, dass neben dem türkischen Staat auch die Bundesrepublik mit Ablehnung und, schlimmer, Repressalien reagiert.

Dies dient eindeutig der Einschüchterung der kurdischen Bewegung als Ganzer und soll unseren Widerstand klein halten oder gar brechen.

arbeiter:innenmacht: Was sind angesichts der vielen Brandherde in der Welt eure aktuellen Schwerpunkte? Was hoffst du persönlich, mit deinem politischen Engagement zu bewirken? Was ist dein wichtigster Appell?

Gulistan: Aktuell liegt unser Fokus auf unseren gemeinsamen Kämpfen mit „Women Defend Rojava“. Wir sind außerdem Teil der Initiative „Defend Kurdistan“. Vor kurzem begann im Rahmen unserer internationalen Konferenz auch unsere Kampagne „1.000 Gründe, den Diktator anzuklagen“. Anlässlich der Wahlen in der Türkei haben wir u. a. nochmals kritisiert, dass Erdogan verfügt hat, aus der internationalen Istanbulkonvention für Frauenrechte auszutreten.

Unser Anliegen ist, die Vernetzung sowohl kurdischer Frauen untereinander als auch den gemeinsamen Kampf für unsere Ziele mit anderen Organisationen voranzutreiben. Für uns als Internationalist:innen bedeutet das, weltweit unsere Forderungen zu vertreten und ein Bewusstsein für unsere Themen zu schaffen. Ein wichtiger Schritt für uns Kurd:innen ist dabei, an politischem Einfluss zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich persönlich wünsche mir für alle Menschen ein würdevolles Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und eine Welt ohne Kriege.

Wir haben eine einzige Welt, machen wir das Beste daraus!

arbeiter:innenmacht: Wir danken dir für das Gespräch und freuen uns über die weitere solidarische Zusammenarbeit.




Pakistan: Auf dem Weg in eine Verfassungskrise?

Minerwa Tahir, Infomail 1222, 12. Mai 2023

Die Verhaftung und anschließende Freilassung von Imran Khan, dem ehemaligen Premierminister und Vorsitzenden der Partei Pakistan Tehreek Insaf (PTI), verdeutlicht die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen des Landes. Khan, der seit Monaten mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, wurde nicht von der Polizei, sondern von den paramilitärischen Punjab Rangers festgenommen.

In vielen Städten brachen sofort Proteste aus. In Peshawar wurden acht Menschen getötet und mehr als 2.000 weitere verhaftet. Andere Parteiführer:innen wie Asad Umar, Shah Mehmood Qureshi, Fawad Chaudhry, Jamshed Iqbal Cheema, Falaknaz Chitrali, Musarrat Jamshed Cheema und Maleeka Bokhari wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen. Ungewöhnlich ist, dass Demonstrant:innen in vielen Bezirken Einrichtungen der Armee angriffen.

Worum geht es?

Bewaffnete Kräfte wurden in Punjab, Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und Islamabad eingesetzt. In Sindh erließen die Behörden eine Anordnung nach Section 144, die bis auf Weiteres alle Versammlungen von mehr als vier Personen sowie alle Proteste, Demonstrationen, Kundgebungen und Sitzstreiks in der Provinz verbietet. Die Medienabteilung der Armee (ISPR) gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie davor warnte, dass jeder weitere Angriff auf die Armee, die Strafverfolgungsbehörden, militärische oder staatliche Einrichtungen und Besitztümer schwere Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde.

Seit seiner Absetzung als Premierminister im vergangenen Jahr durch ein Misstrauensvotum des Parlaments, das nach weit verbreiteter Ansicht von der Armee inszeniert worden war, hat Khan das Land bereist und sich im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen eine starke Unterstützung in der Bevölkerung erworben. Obwohl er offiziell wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde, liegt es auf der Hand, dass der Grund dafür politischer Natur war. Sowohl die Regierung von Shehbaz Sharif als auch zumindest Teile des Militärs und des Staatsapparats wollen ihn als potenziellen Herausforderer ihrer Herrschaft vollständig beseitigen.

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs, ihn freizulassen, weil seine Verhaftung an sich rechtswidrig war, wird wahrscheinlich nicht das letzte Kapitel in dieser Geschichte bleiben. Tatsächlich bedeutete dies nicht einmal, dass Khan seine Freiheit wiedererlangte, da das Gericht ihn aufforderte, „zu seiner eigenen Sicherheit“ in dem Gebäude zu bleiben, das als vorläufiger Gerichtssaal diente. Eine erneute Verhaftung unter Anwendung korrekter rechtlicher Verfahren ist nach wie vor möglich, und selbst ein hartes Durchgreifen gegen die PTI als Ganzes und ein Verbot der Partei sind nicht ausgeschlossen. Premierminister Sharif hat die Proteste der Partei bereits als terroristische Akte gebrandmarkt. Das Ziel seiner Gegner:innen ist nach wie vor, Khan als Kandidaten auszuschalten, und eine Verurteilung wegen eines der Korruptionsvorwürfe würde dies sicherstellen.

Selbst dann könnten die Krise der pakistanischen Gesellschaft, die verzweifelte Lage der Millionen Menschen, die bei den Überschwemmungen des letzten Jahres alles verloren haben, die Auswirkungen der Auflagen des Internationalen Währungsfonds für die finanzielle Unterstützung sowie die Wut der Anhänger:innen Khans die sehr fragilen demokratischen Institutionen des Landes erschüttern. Die derzeitige Regierung der Pakistan Muslim League (Nawaz), die nach der Absetzung Khans eingesetzt wurde, stellte immer nur eine Übergangslösung dar. Zweifellos existieren in der Armee bereits Elemente, die in einem Militärputsch den einzigen Weg zur „Wiederherstellung der Ordnung“ sehen.

Wenn Khan seine Freiheit wiedererlangt, wird er natürlich wieder in den Wahlkampf ziehen und seine Anhänger:innen angesichts der unrechtmäßigen Art und Weise seiner Verhaftung aufstacheln. Die PTI stützt sich weitgehend auf die „Mittelschicht“, hat aber, was für eine populistische Partei nicht überrascht, auch an die verarmten Massen appelliert. Die aktuellen Umstände werden diese Wendung noch verstärken, da Khan die mangelnde Unterstützung für Obdach- und Arbeitslose anprangert und die Verbrechen der Reichen und die Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte angreift. Dies ist jedoch alles Demagogie. Seine Differenzen mit anderen Fraktionen der herrschenden Klasse und des Staatsapparats haben eher mit der Außenpolitik Pakistans zu tun, die sich an China und Russland anlehnen oder zu den USA und „dem Westen“ zurückkehren soll.

Krise

Angesichts einer sich entwickelnden Verfassungskrise muss man feststellen, dass die Arbeiter:innenklasse Pakistans schlecht darauf vorbereitet ist, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen. Obwohl Imran Khan keine politische Unterstützung gewährt werden sollte, gab es allen Grund, gegen das barbarische Verhalten der Sicherheitskräfte, die ihn verhaftet haben, zu protestieren.

Darüber hinaus sind sich alle Fraktionen der herrschenden Klasse einig, dass die brutalen Bedingungen des IWF-Abkommens umgesetzt werden müssen und allen Versuchen, die Löhne gegen die Inflation und die Arbeitsplätze gegen Kürzungen und Privatisierungen zu verteidigen, widerstanden werden muss.

In dieser Situation ist es umso notwendiger, dass die Kräfte der pakistanischen Linken, die Frauenbewegung und die Bewegungen der nationalen Minderheiten mobilisieren und eine aktive Alternative bieten. Wir rufen die Labour-Qaumi-Bewegung (LQM), andere Gewerkschaften, linke, feministische, Jugend- und andere fortschrittliche Organisationen sowie die unterdrückten Nationalitäten und anderer sozialer Gruppen auf, sich gegen die zunehmende autoritäre Herrschaft und die steigende Inflation zusammenzuschließen. Die wichtigsten Themen und Forderungen sollten sein:

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Lohnabhängigen ausreicht. Die Löhne sollten an die Preisinflation für lebenswichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Alle privatisierten Konzerne sollten unter Arbeiter:innenkontrolle wieder verstaatlicht werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollte die Arbeitszeit ohne Lohneinbußen verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung der Bildungs- und Gesundheitsbudgets durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft.

  • Abschaffung aller Privilegien und Steuervergünstigungen für Großgrundbesitz und Kapital.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bäuer:innen und Landarbeiter:nnen übergeben werden.

  • Die Mittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse und die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Verstaatlichung der Stromerzeugungsunternehmen unter demokratischer Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse.

  • Ablehnung des IWF-Programms. Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen.

Der Kampf für solche Forderungen erfordert Organisation. Wo es Gewerkschaften gibt, sollten sie diese Forderungen aufstellen, aber wo dies nicht der Fall ist, muss die Priorität auf dem Aufbau demokratischer Betriebsorganisationen liegen, in erster Linie, um den Ausbeuter:innen entgegenzutreten, aber auch als Schritt zum Aufbau dauerhafter Industriegewerkschaften. In den proletarischen Bezirken sollten sich Sozialist:innen für die Bildung lokaler Räte einsetzen, die sich aus Delegiert:innen dieser betrieblichen Organisationen und Gewerkschaften zusammensetzen, um die Organisation zu verbreiten, Solidarität zu organisieren und eine Politik zu formulieren, die der Entwicklung der Ereignisse entspricht.

Sollte das Oberkommando der Armee beschließen, die gegenwärtige politische Krise durch einen Militärputsch selbst zu lösen, wie es das in der Vergangenheit getan hat, sollten Sozialist:innen zu einem Generalstreik aufrufen, für den von den bestehenden Gewerkschaften und betrieblichen Organisationen mobilisiert wird. Anders als die Massendemonstrationen der letzten Tage beinhaltet ein Generalstreik das Potenzial, das Land zum Stillstand zu bringen und die Frage aufzuwerfen, wer regieren soll, das Volk oder die Militärspitze?

Auch ohne Putsch ist es immer wahrscheinlicher, dass sich das Land auf eine Verfassungskrise zubewegt, die die gleiche Frage aufwirft. Unsere Antwort darauf sollte der Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung sein, einem demokratischen Forum, in dem genau das entschieden werden soll: Wer soll regieren? Eine solche Versammlung kann ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie von den bestehenden Eliten und ihren Parteien kontrolliert und einberufen wird. Ihre Wahl und Einberufung muss von Komitees der Arbeiter:innen, Bäuer:innen sowie Armen kontrolliert werden.

In einer verfassunggebenden Versammlung werden Sozialist:innen nicht nur das volle demokratische Programm gleicher Rechte für alle Bürger:innen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts nationaler Minderheiten fordern, sondern auch die zentralen Forderungen der Arbeiter:innenklasse, die notwendig sind, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen: die Enteignung des Großkapitals, die Vergesellschaftung des Bodens und der natürlichen Ressourcen, die Beschlagnahmung des imperialistischen Vermögens, die Ablehnung von Schulden bei imperialistischen Institutionen und die Einführung von Planung.

Ein solches Programm kann nur durch Massenkämpfe verwirklicht werden, an deren Ende eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung steht, eine Regierung, die sich auf ihre eigenen Organisationen stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen. Alle, die sich einer solchen Strategie verschreiben, sollten sich zu einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse zusammenschließen.




Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.




Chinas zwei Seiten: Diktatur und Widerstand

Peter Main, Infomail 1217, 15. März 2023

Die letzte Woche hat zwei Seiten des heutigen Chinas gezeigt: die falsche parlamentarische Fassade der Diktatur der KPCh und die wortgewaltige Auflehnung der Hongkonger Demokratieaktivistin Chow Hang-tung gegen diese Diktatur in ihrer Rede auf der Anklagebank nach der Verurteilung, die wir im Folgenden wiedergeben.

KP-Tagung

In Peking ist die jährliche „Zwei-Sitzungen“-Tagung zu Ende gegangen, an der 2.900 „Delegierte“ teilnahmen, die alle von der Kommunistischen Partei handverlesen wurden, um den Mythos einer demokratischen Verfassung aufrechtzuerhalten. Die Zwei Tagungen, die so genannt werden, weil sie den Nationalen Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zusammenbringen, sind verfassungsmäßig das höchste gesetzgebende Organ Chinas. Je komplizierter der Name, desto nichtssagender das eigentliche Gremium, so scheint es, denn die Aufgabe der Tagung besteht lediglich darin, die bereits von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) getroffenen Entscheidungen zu bestätigen.

Dieses Jahr war insofern etwas anders, als die KPCh im vergangenen Oktober ihren alle fünf Jahre stattfindenden Kongress abhielt und Xi Jinping zum dritten Mal zu ihrem Generalsekretär berief. Gleichzeitig wurden neue Mitglieder des Politbüros und des Ständigen Ausschusses ernannt, die alle als Unterstützer:innen von Xis Fraktion innerhalb der KPCh anerkannt waren. Infolgedessen musste die Versammlung in der vergangenen Woche die gleichen Personen in die Gremien, die das Land formell regieren, wie den Staatsrat, berufen. Alle 2.900 Delegierten stimmten daher pflichtbewusst für Xi als Präsident – nicht, dass es irgendwelche alternativen Kandidat:innen gegeben hätte.

So vorhersehbar all diese Ernennungen auch waren, sehen professionelle China-Beobachter:innen, das heutige Äquivalent zu den „Kremlastrolog:innen“ des ersten Kalten Krieges, eine gewisse Bedeutung in der Beibehaltung von Yi Gang als Gouverneur der Zentralbank. Dies wird als ein beruhigendes Bekenntnis zur Stabilität für die Interessen des Großkapitals gedeutet, das durch das Gerede über größere wirtschaftliche „Reformen“, die die staatliche Kontrolle verstärken werden, beunruhigt ist. Die Ernennung von He Lifeng, dem Vorsitzenden der staatlichen Planungsabteilung (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform), zum Vizepremier, deutet jedoch darauf hin, dass tatsächlich Veränderungen auf der Tagesordnung stehen.

Der Aufstieg von Li Qiang, Xis Nummer zwei in der KPCh und nun zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt, veranschaulicht drei wesentliche Merkmale der KPCh-Politik: die anhaltende Unterstützung des Großkapitals, die unanfechtbare Macht der Partei und die völlige Unterordnung unter Xi Jinping. Li war der Shanghaier Parteichef, der Elon Musk dazu überredete, seine Mega-Tesla-Fabrik in der Stadt zu bauen, aber auch die umfassendste und oft tödliche Abriegelung von Chinas Wirtschaftsmetropole auf Anweisung von Xi durchsetzte.

Währenddessen wurde in Hongkong die wahre Bedeutung von „Ein Land, zwei Systeme“, auch bekannt als „Hongkong regiert, Peking herrscht“, vor den Gerichten und auf der Straße demonstriert. 47 Mitglieder von Oppositionsparteien, viele von ihnen ehemalige Mitglieder des Legislativrats der Stadt, stehen vor Gericht, weil sie die Frechheit besaßen, „Vorwahlen“ abzuhalten, um ihre Kandidat:innen für eine Wahl im September 2020 auszuwählen, die dann verschoben wurde.

Anklagen

Wie die Staatsanwaltschaft erklärte, hatten die Angeklagten geplant, ihre Wahlbeteiligung zu maximieren und so ihre Chancen zu erhöhen, genügend Sitze zu gewinnen, um von der Regierung unterstützte Gesetze zu blockieren. Dies stellte eine Verschwörung im Sinne des am 20. Juni 2020 erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit dar!

Am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, wurde Mitgliedern der Liga der Sozialdemokrat:innen der Stadt mit Verhaftung gedroht, falls sie an einem Marsch für die Rechte der Frauen teilnähmen – und die Demonstration wurde abrupt abgesagt. Am selben Tag wurde Elizabeth Tang, die frühere Vorsitzende einer Hausangestelltengewerkschaft und Ehefrau von Lee Cheuk-yan, einem der 47 vormaligen Mitglieder des Legislativrats, wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit mit dem Ausland“ verhaftet.

Am Samstag, den 11. März, wurden drei Anführer:innen der Hongkong-Allianz, die die große Demonstration zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker 2019 organisiert hatte, zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie es versäumt hatten, auf ein Ersuchen der Nationalen Sicherheitspolizei um Daten zu antworten. Die Bedeutung des Prozesses liegt nicht so sehr in der Verurteilung, sondern in seiner möglichen Verwendung als Vorbereitung für eine weitere Strafverfolgung wegen Subversion und Handelns als Agent:innen „einer ausländischen Macht“ – bei der der Schuldspruch zweifellos als „Beweis“ vorgelegt werden wird.

Rede von Chow Hang-tung

Eine der drei, Chow Hang-tung, weigerte sich, vom vorsitzenden Richter zum Schweigen gebracht zu werden, und bestand darauf, ihre Handlungen in einer letzten Rede von der Anklagebank aus zu rechtfertigen. Wir geben diese Rede wieder, sowohl als Geste der Solidarität als auch als Anerkennung für ihren Mut:

„Euer Ehren, wir wissen ganz genau, dass wir keine ausländischen Agent:innen sind, und in dieser einjährigen Prozedur hat sich nichts ergeben, was das Gegenteil beweist. Uns unter solchen Umständen zu verurteilen, bedeutet, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie die Wahrheit verteidigen.

Die Wahrheit ist, dass die nationale Sicherheit als hohler Vorwand benutzt wird, um einen totalen Krieg gegen die Zivilgesellschaft zu führen. Die Wahrheit ist, dass unsere Bewegung für Menschenrechte und Demokratie im eigenen Land gewachsen ist und nicht von einem finsteren ausländischen Implantat stammt. Die Wahrheit ist, dass die Menschen hier eine eigene Stimme haben, die nicht zum Schweigen gebracht werden wird.

Dem Bündnis sind die Kosten nicht fremd, die entstehen, wenn man der Macht die Wahrheit sagt. Wir sollten es wissen, da wir seit über 30 Jahren die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker bewahren und uns für viele derjenigen eingesetzt haben, die inhaftiert, schikaniert und gedemütigt wurden, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Wir sind seit langem bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Mit den Bekanntmachungen und der erniedrigenden Einstufung als ausländische Agent:innen wollte die Regierung uns sagen: Geht in die Knie, verratet eure Freund:innen, verratet eure Sache, akzeptiert die absolute Autorität des Staates, der alles weiß und alles entscheidet, und ihr werdet Frieden haben!

Was wir mit unserer Aktion sagen, ist ein einziges Wort: NIE. Ein ungerechter Frieden ist überhaupt keiner. Niemals werden wir unsere Unabhängigkeit vom Staat aufgeben. Niemals werden wir dazu beitragen, unsere eigene Bewegung zu delegitimieren, indem wir das falsche Narrativ der Regierung gutheißen. Niemals werden wir uns selbst und unsere Freund:innen als potenzielle Kriminelle behandeln, nur weil die Regierung uns das vorwirft.

Stattdessen werden wir das tun, was wir schon immer getan haben, nämlich Falschheit mit Wahrheit, Demütigung mit Würde, Geheimhaltung mit Offenheit, Wahnsinn mit Vernunft und Spaltung mit Solidarität bekämpfen. Wir werden gegen diese Ungerechtigkeiten angehen, wo immer wir müssen, sei es auf der Straße, im Gerichtssaal oder in der Gefängniszelle. Dieser Einsatz, einschließlich dessen, was wir in diesem Fall getan haben, ist ein Kampf, den wir hier, in dieser Stadt, die wir unser Zuhause nennen, führen müssen. Denn unsere Freiheit, wir selbst zu sein, steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Stadt und sogar um die der ganzen Welt.

Euer Ehren, die heutige Anhörung findet zu einem ironischen Zeitpunkt statt. Während die falschen Volksvertreter:innen in Peking ihre große Versammlung abhalten und damit beschäftigt sind, die Wünsche eines Mannes als die der Nation anzuerkennen, wird den echten Stimmen des Volkes diese Anerkennung in diesem Gerichtssaal verweigert. Wenn die Interessen der Nation von einer Partei oder gar einer Person definiert werden, wird die so genannte ‚nationale Sicherheit’ unweigerlich zu einer Bedrohung für die Rechte und die Sicherheit des Volkes, und zwar auf nationaler und sogar auf globaler Ebene, wie die Beispiele Tiananmen, Xinjiang, die Ukraine und sogar Hongkong zeigen.

Im Vergleich zu diesen eingebildeten Agent:innen nicht identifizierbarer ausländischer Körperschaften ist die konkrete, aber nicht rechenschaftspflichtige Staatsmacht sicherlich die gefährlichere Bestie. Die Regierung betont stets die Priorität ‚Ein Land, zwei Systeme’, aber das bedeutet nicht, dass wir als Bürger:innen dieses Landes die Hauptverantwortung dafür tragen, diese Bestie, die die Welt bedroht, zu zügeln. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben, und deshalb dürfen wir niemals aufgeben.

Herr Vorsitzender, verurteilen Sie uns für unseren Ungehorsam, wenn Sie müssen, aber wenn die Ausübung der Macht auf Lügen beruht, ist Ungehorsam die einzige Möglichkeit, menschlich zu sein. Dies ist meine Unterwerfung.“




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1214, 24. Februar 2023

Auf den 23. und 24. Februar fällt der erste Jahrestag des Ukrainekrieges von Wladimir Putin. In dieser Nacht starteten 190.000 russische Streitkräfte einen massiven Angriff auf das Land. Ihr Ziel war es, die Hauptstadt zu besetzen, die Regierung zu stürzen und das Volk zu überwältigen. Staatspräsident Putin nannte es eine „militärische Spezialoperation“. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Angriffskrieg, der seinen Namen nicht auszusprechen wagte, zumindest nicht gegenüber den russischen Bürger:innen.

Er behauptete, das Ziel sei die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ und die „Sicherung ihres neutralen Status’“. In Wirklichkeit glaubte niemand außer Putinapologet:innen und verrückten Verschwörungsjunkies, dass das Land von Nazis regiert wurde. Er war weit entfernt von einer neutralen Ukraine und wollte das Land in eine Kolonie Russlands verwandeln. Zu diesem Zweck hatte er mehrere Aufsätze verfasst und Reden gehalten, in denen er bestritt, dass die Ukraine jemals eine „echte Staatlichkeit“ besessen habe und dass sie ein integraler Bestandteil von Russlands „eigener Geschichte, Kultur und geistigem Raum“ sei.

Doch innerhalb eines Monats scheiterte der Versuch, Kiew einzukesseln und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu töten oder gefangen zu nehmen, unter großen Verlusten an Menschenleben und militärischer Ausrüstung. Offensichtlich hatten die Ausrüstungslieferungen und Ausbildung seitens der NATO seit 2014 die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte erhöht – insbesondere im Vergleich zu ihren Leistungen bei den Kämpfen im Osten in den Jahren 2014 – 2015. Der Faktor „Moral“ ist in einem Krieg von enormer Bedeutung, und der Umstand, dass die Ukrainer:innen ihr eigenes Land verteidigten, spielte eine äußerst wichtige Rolle.

Putin hat keines seiner Hauptziele erreicht. Er hat keinen Regimewechsel in der Ukraine herbeigeführt und weder Kiew noch die zweitgrößte Stadt, Charkiw, die für russische Angriffe sehr anfällig ist, erobert. Er hat auch nicht die Expansion der NATO gestoppt, ganz im Gegenteil: Sie expandiert in die baltischen Staaten, in historisch neutrale Länder: Schweden und Finnland. Im September begann das ukrainische Militär mit Gegenoffensiven und konnte bis Ende 2022 mehr als die Hälfte des im letzten Jahr an Russland verlorenen Gebiets zurückerobern.

Der Gegenstoß des Westens gegen Putin war viel stärker, als er sich vorgestellt hat. Weit davon entfernt, sich von der Flut ukrainischer Flüchtlinge abschrecken zu lassen, haben Deutschland eine Million und Polen anderthalb Millionen aufgenommen, während Großbritannien magere 85.000 aufgenommen hat. Die Regierung Biden und der US-Kongress haben der Ukraine fast 50 Milliarden US-Dollar an Unterstützung zukommen lassen, davon 50 % militärisch, 30 % finanziell und 20 % humanitär. Die EU hat 32 Milliarden Euro zu den Finanzen der Ukraine beigetragen.

Massive militärische Unterstützung wurde in erstaunlicher Geschwindigkeit bereitgestellt. Es wurden Sanktionen verhängt und eine Abkehr von der russischen Energieversorgung eingeleitet. Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat Putin kaum mehr als rhetorische Unterstützung angeboten, und auch das nicht ausdrücklich für seinen Krieg. Er hat Russland keine Waffen geliefert und es vermieden, die globale Sanktionsverhängung zu verletzen.

Dennoch hat der Krieg enormen Schaden angerichtet. Am 23. Januar 2023 veröffentlichte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR) Zahlen von 7.068 registrierten zivilen Toten und 18.483 Verletzten, warnte aber, dass die tatsächliche Zahl noch wesentlich höher liegen würde. Zwischen 10.000 und 13.000 ukrainische Soldat:innen wurden getötet und eine weitaus höhere Zahl an Russ:innen; offizielle Zahlen wurden von russischer Seite jedoch nicht vorgelegt.

Nach Angaben des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sind bis zum 16. Januar 2023 7.977.980 Menschen aus der Ukraine in europäische Länder geflohen. Dies entspricht etwa 19 % der ukrainischen Bevölkerung. Darüber hinaus sind schätzungsweise 8 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben worden.

Neben dem menschlichen Leid wurden auch große Teile der Infrastruktur des Landes, Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen, Fabriken, Eisenbahnen und Brücken mutwillig zerstört. Etwa 135.800 Wohngebäude waren von Beschädigungen  betroffen oder sind nicht mehr zu reparieren, darunter 119.900 Einzelhäuser und 15.600 Mehrfamilienhäuser, mindestens 7 % des gesamten Wohnungsbestands. Mitte Dezember meldeten die Vereinten Nationen, dass die Hälfte der Energieinfrastruktur des Landes lahmgelegt worden war. Die Zerstörung eines neunstöckigen Wohnblocks in Dnipro (füher: Dnipropetrowsk), der durch eine Rakete in zwei Hälften gesprengt wurde und 29 Tote, 73 Verletzte und weitere unter den Trümmern Eingeschlossene hinterließ, verkörpert nur die jüngste Grausamkeit.

Ein Kampf der „Imperien“

Obwohl Russland unter seinem autokratischen Führer Wladimir Putin eindeutig der Aggressor ist und die Ukrainer:innen, die sich in großer Zahl zur Verteidigung ihres Landes versammelt haben, jedes Recht haben, zurückzuschlagen und den Eindringling aus ihrem Land zu vertreiben, liegt die Schuld an diesem tragischen Krieg nicht bei einem einzigen Mann oder Land.

Hinter dem Konflikt steht auf beiden Seiten die Konfrontation zwischen den wichtigsten Großmächten auf europäischen Boden mit ihren Industrien, die in der Lage sind, immer mehr Tötungsmaschinen zu produzieren. Dies ermöglicht einen Krieg von sehr langer Dauer und in der Tat eine zunehmende Eskalation, was die Art der Waffen betrifft, bis hin zu so genannten (taktischen) „Schlachtfeld“atomwaffen.

Dieser Konflikt ist nicht aus „alten nationalen Antagonismen“ oder einem Kampf der Kulturen entstanden, sondern aus einer Krise des imperialistischen Weltsystems. Seit der Großen Rezession von 2008 hat die globalisierte kapitalistische Wirtschaft insgesamt an Dynamik eingebüßt. Gleichzeitig hat China eine stärkere Position gegenüber den USA eingenommen, die nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch die Konkurrenz zurückdrängen.

Lenin nannte es einen Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten. Der ist wieder im Gange und wird den Charakter der gesamten kommenden Periode bestimmen. Unabhängig davon, ob der Ukrainekrieg kurzfristig mit einer Verschärfung des Taiwankonflikts einhergeht oder nicht, sind wir in eine neue Periode verstärkter militärischer Konfrontation eingetreten, die die bisherige wirtschaftliche Konkurrenz der Globalisierung auf eine neue Ebene hebt.

Trotz seiner rücksichtslosen Unterdrückung der Opposition im eigenen Land und seines skrupellosen Vorgehens in der Ukraine und davor in Tschetschenien, Syrien usw. kann das Putinregime im marxistischen Sinne nicht als faschistisch gelten. Es ist ein bonapartistisches Regime, das sich über das parlamentarische System erhebt, die Wahlen zu einem reinen Beliebtheitsplebiszit für den großen Führer macht und die verschiedenen Wellen von Straßenprotesten unterdrückt, die es gegeben hat.

Im Dezember 2011 kam es in Dutzenden von Städten zu Massenprotesten gegen die offenkundig gefälschten Wahlen zur Duma. Es folgten weitere Proteste im Jahr 2017, ausgelöst durch den Vergiftungsversuch und die anschließende Inhaftierung von Alexei Nawalny. Die farbigen Revolutionen der ersten Jahre dieses Jahrhunderts und die Umwälzungen in der Ukraine und Belarus (Weißrussland) sind die Albträume, mit denen Putin lebt. Seine Antwort darauf ist die Ermordung seiner Gegner:innen und ein zunehmend totalitäres Polizeiregime.

Dieses Regime ist ein Kind der neoliberalen Schocktherapie, die nach dem Sturz der stalinistischen kommunistischen Partei und dem Zerfall der Sowjetunion aus dem Westen importiert wurde. Dadurch wurden etwa 50 % der russischen Produktionskapazitäten vernichtet, was zu größerem und längerem Leid führte als die Große Depression in den USA, die 1929 begann. Die Privatisierung brachte die so genannten Oligarch:innen hervor: Männer wie Wladimir Gusinsky, Boris Beresowski und Michail Chodorkowski, die sagenhaft reich wurden.

Sie dachten, sie könnten Russland bis in alle Ewigkeit regieren, aber als der gealterte und unfähige Jelzin einen ehemaligen KGB-Agenten, Wladimir Putin, zu seinem Nachfolger ernannte, trafen sie endlich auf ihren Meister. Putins Lebenswerk bestand darin, die politische Macht des Staates in Russland und seinen internationalen Status als „Großmacht“ wiederherzustellen, und zwar nicht nur in den Regionen, die formell zur UdSSR gehörten, sondern auch in den Ländern auf der ganzen Welt, die während des Kalten Krieges auf den Schutz Russlands gesetzt hatten.

Putin verdrängte die alten Oligarchen und brachte neue ins Spiel, Männer, die durch staatliche Aufträge aus den wieder verstaatlichten Rohstoffindustrien reich geworden sind: Yukos, Lukoil, Rosneft und Norilsk Nickel. Sein engster Kreis besteht aus Mitgliedern des KGB-Nachfolgers FSB (Föderaler Sicherheitsdienst der Russischen Föderation), die als „Silowiki“ bekannt sind, was im übertragenen Sinn „Männer der Macht“ bedeutet. Einer der engsten Vertrauten Putins ist Igor Setschin, Vorsitzender und Geschäftsführer des staatlich kontrollierten Ölkonzerns Rosneft, des größten Unternehmens Russlands, das rund 6 % des weltweiten Ölvorkommens fördert und 300.000 Menschen beschäftigt.

Die enormen Gewinne aus den russischen Öl- und Gaslieferungen, die Konzentration in riesigen Kapitalblöcken sowie das Erbe der Sowjetunion mit einer riesigen Armee und Rüstungsindustrie, Atomwaffen und einem Sitz im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht ermöglichten es Russland, in den Club der imperialistischen Mächte aufgenommen zu werden.

Aber jeder Imperialismus muss expansiv sein, wenn er sich wirtschaftlich und geostrategisch gegen seine Rival:innen behaupten will. Für eine kurze Zeit hoffte Putin, wie die glücklosen Amtsvorgänger Gorbatschow und Jelzin, dass die Rückkehr Russlands in die Rolle einer Großmacht mit Hilfe von Paris und Berlin mit Washington ausgehandelt werden könnte.

Die USA machten jedoch schon bald durch die Ausweitung der NATO und der EU nach Osteuropa und die Invasion in Afghanistan, Irak usw. deutlich, dass sie nicht zulassen würden, dass Moskau die dominierende Macht wird, auch nicht im „Hinterhof“. Hinzu kam die Einmischung der USA in die so genannten farbigen Revolutionen und die Befürchtung, dass diese Taktik auch auf Putin angewendet werden könnte. Also machte dieser sich auf den Weg, um auf seinen Einzug in den Club der Großmächte zu drängen.

Die USA nutzen den Vorteil

Joe Biden führt den Konflikt des Westens gegen Putin an und „macht Amerika wieder groß“, viel effektiver, als Trump es je getan hat. Die massive Unterstützung des westlichen Imperialismus für die Ukraine ist nicht durch die Verteidigung demokratischer Werte oder die Bildung eines „Lagers“ gegen die Autokratie motiviert. Es gibt zu viele Autokraten in Bidens Lager (die Herrscher von Saudi-Arabien, Ägypten usw.), um diese Behauptung glaubhaft zu machen, außer für diejenigen, die sich täuschen lassen wollen.

Der Westen nutzt die Ukraine als eine Art Stellvertreterkrieg gegen Putin und sendet so an Xi Jinping und China eine ernste Warnung. Aus gutem Grund, nicht zuletzt weil Russland die zweitstärkste Atommacht der Welt ist, erfolgt keine direkte Beteiligung von NATO-Truppen.

Dennoch sind der Wirtschaftskrieg gegen Russland und das Ausmaß der wirtschaftlichen, logistischen und waffentechnischen Unterstützung für die Ukraine von beispiellosem Ausmaß für einen solchen Konflikt.

Die Aufrüstungsprogramme aller NATO-Staaten, auch des einst zögerlichen Deutschlands, werden verstärkt. In Verbindung mit den Wirtschaftssanktionen kann man mit Fug und Recht davon sprechen, dass der westliche Imperialismus den ukrainischen Verteidigungskrieg nutzt, um seinen russischen Rivalen entscheidend zu schwächen. Er wurde auch als günstige Gelegenheit ergriffen, die führenden imperialistischen Mächte der EU, Deutschland, Frankreich und Italien, in diese Konfrontation hineinzuziehen.

Deshalb müssen wir in den westlichen imperialistischen Staaten dagegen kämpfen, das Recht aus Selbstverteidigung der Ukraine als Vorwand zu missbrauchen, dass auf ukrainischem Boden ein zwischenimperialistischer Stellvertreterkrieg geführt wird. Wir müssen auch gegen die eskalierenden Waffenlieferungen für die an Russland angrenzenden NATO-Staaten Stellung beziehen. Selbst die Waffenlieferungen an die Ukraine, die zumindest in einem tatsächlichen Krieg benötigt werden, sind von denen, die sie schicken, darauf ausgelegt, Russland unterzuordnen, nicht die Ukraine zu befreien.

Ebenso ist die Selenskyjregierung trotz des berechtigten Widerstands gegen eine russische Annexion der gesamten Ukraine oder von Teilen davon aufgrund ihrer enormen Abhängigkeit von Waffenlieferungen der NATO sowie von Ausbildung und Geheimdienstinformationen der CIA und des Pentagons ihren Hinterleuten und deren Kriegszielen ausgeliefert. Aus diesem Grund müssen sich revolutionäre Sozialist:innen dem Kriegstreiben ihrer Regierungen in den NATO-Ländern entgegenstellen.

Auch in der Ukraine müssen sich Revolutionär:innen den Plänen ihrer Regierung widersetzen, der NATO oder der EU formell beizutreten. Sie sollten das nationalistische Regime verurteilen, das seit der „Revolution“ auf dem Maidanplatz versucht hat, Sprachgesetze durchzusetzen, die das Ukrainische bevorzugen und zumindest potenziell die russisch- und ungarischsprachigen Minderheiten unterdrücken. Ebenso müssen wir die strengen gewerkschaftsfeindlichen Gesetze und das Verbot von Parteien verurteilen.

Wir müssen uns auch gegen die Sanktionen gegen Russland aussprechen, da sie nicht von dem globalen Konflikt, der gerade geführt wird, getrennt werden können. Nicht zuletzt birgt dieser Krieg das Potenzial, bei einer Niederlage der einen oder anderen Seite zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der NATO, d. h. zu einem offenen Weltkrieg, zu eskalieren.

Aus all diesen Gründen müssen wir die ukrainischen Arbeiter:innen warnen, dass die „großzügige“ Hilfe des Westens nicht ohne Kosten für sie kommen wird. Vom Imperialismus unterstützte Kriege enden mit einem von ihm aufgezwungenen „Frieden“, wie die Verträge von Versailles und Potsdam gezeigt haben. Sie enden mit Teilungen und Annexionen, die den Boden für künftige Kriege bereiten.

Die Arbeiter:innen der Ukraine und Russlands müssen dafür kämpfen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Erstere müssen die Verteidigung ihres Landes übernehmen und sich dagegen wehren, dass es als Stellvertreter für die NATO benutzt wird, Letztere Putin stürzen. In den NATO-Ländern müssen ihre Klassengenoss:innen sich allen Aspekten des neuen Kalten Krieges, seinen heißen Kriegen und der Aufrüstung ihrer Länder widersetzen.

Das Ziel der arbeitenden Bevölkerung Europas und der Welt muss darin liegen, die Kriegstreiber :innen zu entwaffnen und zu entthronen und durch eine internationale sozialistische Revolution die einzige sichere Grundlage für den Weltfrieden zu schaffen.




Nicht nur Chinas Coronastrategie steht auf dem Spiel: Heiße Nächte in chinesischen Großstädten

Resa Ludivien, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In weiten Teilen Chinas herrscht mal wieder ein strenger Lockdown. Ein Brand in einem Haus in Xinjiang hat das Fass zum Überlaufen gebracht. In der Viermillionenstadt Urumtschi mussten Anwohner:innen dabei zusehen, wie es in einem Mehrfamilienhaus brannte. Grund dafür war, dass wegen der im Zuge der Coronamaßnahmen errichteten Straßensperrungen für die Feuerwehr kein Durchkommen war. Auch an dem Haus angekommen, war eine reguläre Intervention „schwierig“. Bedenkt man, dass in vielen chinesischen Großstädten in jedem Viertel so viele Menschen wie in ganzen europäischen Großstädte leben, ist es kein Wunder, dass diese Bilder auch jene in Angst und Panik versetzt haben, die sich sonst wenig mit dem abgelegenen Westen des Landes beschäftigen. Noch wahnwitziger ist, dass die Ausgangssperre die Menschen am Verlassen des brennenden Hauses gehindert hat. Resultat: 10 Tote, die wahrscheinlich noch leben würden, wenn die Staatsdoktrin nicht so unflexibel wäre.

Doch der tragische Tod dieser Menschen führte auch dazu, dass sich die lange angesammelte Wut und Verzweiflung der Menschen Bahn brachen.

Seit dem 27. November gibt es landesweit Proteste. Sogar Rufe nach Xis Rücktritt sind zu vernehmen. So weit haben es die Forderungen in den letzten Jahrzehnten selten getrieben. Der Staat reagierte mit einer gestiegenen Polizeipräsenz und der undurchsichtigen Aussage: „Wir passen die Strategie an“. Nur wie und ob, steht im luftleeren Raum.

Bereits im Frühjahr hatten die Maßnahmen zu Protesten geführt (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/20/china-vor-dem-scheitern-des-nationalen-projektes-0-covid/), doch die  Proteste der letzten Woche stellen wohl die größten öffentlichen politischen Proteste seit Jahrzehnten dar. Auch wenn sie massiv unterdrückt und infolgedessen auch kleiner wurden, so verweisen sie auf die tiefe soziale und politische Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen China unter KP-Diktat. In Urumtschi (Xinjiang), Changsha (Hunan), Chengdu (Tschengdu; Sichuan), Zhengzhou (Tschengtschau Schi; Henan), Wuhan (Hubei; Zentralchina), Guangzhou (Kanton; Guangdong; Südchina), Shanghai (Schanghai; Ostchina), Beijing (Peking; Nordchina) sowie weiteren Städten gingen und gehen die Menschen auf die Straße.

Ausgangspunkt: Xinjiang

Urumtschi, der Ausgangspunkt der Proteste, ist die Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang. Gerade durch Großereignisse wie die Olympischen Spiele wurde die Unterdrückung regelmäßig noch einmal verstärkt, um „Störungen“ zu vermeiden. Das trifft vor allem die autonomen Regionen. So ist es in diesen Zeiten noch viel schwieriger, nach Xinjiang oder Tibet zu reisen, als ohnehin schon. Auch wenn die Coronamaßnahmen das ganze Land treffen, ist es in Krisenzeiten zusätzlich einfacher, bereits unterdrückte nationale Minderheiten mit noch mehr Repressalien zu schikanieren.

Laut Staatsdoktrin gibt es 55 anerkannte ethnische Minderheiten in China. Doch spielen sie in der öffentlichen Darstellung nur in zwei Fällen eine Rolle: Wenn sie „stören“ und man sie kommerziell vermarkten kann. An einem Tag werden dann Tourist:innen durch singende und tanzende Menschen in Tracht geführt und am nächsten sind alle von der Han-Mehrheit abweichenden Traditionen, Sprachen und Kultur der Führung ein Dorn im Auge.

Dass aus dieser von Repressalien gequälten Region eine Bewegung ausgehen könnte, hätte wohl niemand gedacht. Zu abgeschottet, zu überwacht und zu weit weg von dem Gedächtnis der Han-chinesischen Mehrheit, die sonst nur wenig zur chinesischen Umerziehungspolitik verlauten lässt. Doch nun könnte Xinjiang insofern ein Zünglein an der Waage sein, als vor allem die dort lebende muslimische Minderheit nichts mehr zu verlieren hat. Was könnte schlimmer sein als Verfolgung, Personen, die verschwinden und in „Umerziehungslager“ gesteckt werden?

Bisher nehmen die unwillkürlichen Festnahmen im Land weiter zu. Dies trifft nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ an Aktivist:innen oder Menschen, die sich ohne gültigen Aufenthaltsstatus (Hukuo) in Großstädten aufhalten. Sogar westliche Journalist:innen sind betroffen, wie ein Video zeigt, auf dem ein BBC-Vertreter festgenommen wird. Das Einzige, was er den Umherstehenden noch zurufen kann, war: „Informiert das Konsulat!“  Eine Exit-Strategie, die Chines:innen nicht haben. Kein Wunder also, dass gerade in dieser Zeit mehr und mehr sich nach einem politischen Umschwung sehnen.

Der Ruf nach Demokratie

Der Ruf nach Demokratie und Menschenrechten stellt nicht zufällig eine immer wiederkehrende Forderung von Protestbewegungen in China dar. Die Herrschaft der KP und die scheinbare Allmacht des obersten Führers, Xi Jinping, bedeuten auch, dass sich der Kampf um obige Forderungen direkt gegen diese Herrschaft richtet – und damit auch enorme Sprengkraft besitzt. Die Möglichkeiten chinesischer Bürger:innen und insbesondere von nationalen und ethnischen Minderheiten, aber auch der Arbeiter:innenklasse außerhalb der Großstädte, sind so begrenzt, dass unter der Oberfläche ein Vulkan brodelt. Es ist zugleich auch ein tiefer sozialer Widerspruch, denn schließlich profitierten der chinesische Kapitalismus, aber auch europäische und US-amerikanische Unternehmen von der Ausbeutung entrechteter Arbeitskraft.

Bewegungsfreiheit, ja selbst die Freiheit, sein Haus zu verlassen, gibt es in der chinesischen Variante des Lockdowns nicht. Die Straßen werden durch Polizei und Militär kontrolliert. Quarantäne bedeutet, in seinem Haus eingesperrt zu sein. Ganz zu schweigen von der dauerhaft fehlenden Versammlungs- und Pressefreiheit sowie Wahlen, bei denen nicht nur klar ist, dass sich nichts ändert, sondern auch welche immer gleichen Männer die Macht in ihren Händen halten werden.

Da wird schon ein weißes Blatt zum Politikum. Eben solch ein Blatt ist nun ein Zeichen des Protests, weswegen einige von der „white paper revolution“ sprechen. Es soll darauf aufmerksam machen, was alles nicht gesagt werden darf. Ob es tatsächlich eine Revolution wird, bleibt abzuwarten. Aber die von den Aktionen in Hongkong inspirierte kreative Protestform verdeutlicht, dass die Aktiven in verschiedenen Regionen voneinander lernen und verweisen auf entstehende, wenn auch noch schwache Verbindungen zwischen den Städten. Während der Proteste bleibt es nicht bei den unbeschriebenen Blättern. Wenn die Demonstrierenden diese in die Luft halten, skandieren sie: „Wir brauchen keine Diktatur, wir wollen Wahlen“.

Repression

Die Polizei reagiert mit Gewaltausbrüchen und Festnahmen. Insgesamt ist die Gewaltbereitschaft gestiegen, auch bei der Nichteinhaltung von Coronamaßnahmen. So gab es in Hongkong Angriffe der Polizei bei Maskenverweigerung. Allerdings sollte man nicht aus westlicher Arroganz heraus die chinesischen Proteste mit den reaktionären in Deutschland oder Österreich vermischen. Und auch das Nichttragen einer Maske in Zeiten eine Pandemie macht eine/n noch nicht zum/r Held:in.

Die Auswirkungen der Maßnahmen hierzulande sind auch nicht zu vergleichen mit denen in China. Denn trotz der immer mehr verarmenden Arbeiter:innenklasse in Europa gibt es zumindest in Ländern wie Deutschland formal einen Sozialstaat mit „Hilfsgeldern“ und Gewerkschaften als Interessenvertretung, die, auch wenn sie schlechte Abschlüsse in Tarifverhandlungen erzielen, zumindest einige Zugeständnisse erreichen können. Eben genau das, was es in China nicht gibt. Die soziale Lage ist untrennbar mit der wirtschaftlichen verbunden. Hier nur ein paar Beispiele:

Es wird auch in weiten Teilen Chinas langsam Winter. Wer kein Geld besitzt oder viel weniger als der Durchschnitt verdient, weil er oder sie nicht zur Arbeit kann, sondern zuhause eingesperrt ist, bekommt schlimmstenfalls gar nichts. Besonders diejenigen, die im großen Schattensektor der Großstädte ohne Arbeitserlaubnis arbeiten, betrifft dies. Kein Geld, kein Essen, keine Heizung.

Covid als Gefahr für die Wirtschaft

Chinas Nutzen aus der Pandemie ist nicht mehr so stark wie zu Beginn, als sich seine Politik als die überlegene zeigte. Mittlerweile ist die westliche Welt durchgeimpft, zumindest alle, die es wollten, und immer mehr halbkoloniale Länder erhalten Zugang. China hingegen setzt auf Sinovac und Sinopharm, deren Wirksamkeit bei um die 50 % der modernen Impfstoffe liegt. 69 % der älteren Bevölkerung erhielten bisher eine vollständige Impfung. Die Infektionszahlen steigen dennoch oder gerade deswegen und die Regierung versucht, sie in den Griff zu bekommen. Vergebens. Eine großangelegte Impfkampagne oder die Zulassung der M-RNA-Impfstoffe sind nicht in Sicht.

Die ständigen Lockdowns zeitigen mittlerweile Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Produktivität sinkt, die jährliche Wachstumsrate auch. Letztere wird 2022 nur noch ungefähr 3,9 % betragen. Schon jetzt zeigt sich, dass Chinas Aufschwung und somit auch seiner Durchsetzungskraft im imperialistischen Konkurrenzkampf die Lockdowns im Weg stehen. Bereits jetzt machen sich aber auch die Proteste an den Börsen bemerkbar.

Ein weiteres Problem für Staatsführer Xi. Über kurz oder lang wird die Führung von der Null-Covid-Strategie in einem Land abrücken müssen. Denn es sind derzeit vor allem Investor:innen, die fernbleiben. Aber irgendwann setzt China auch die eigene Versorgung aufs Spiel. Wenn weite Teile regelmäßig nicht arbeiten können, hat das auch Konsequenzen für die Nahrungsmittel- oder Energieversorgung. Inwiefern in diesem Fall auch einfache Mitglieder des Militärs genug vom Eingesperrtsein, Trennung von der Familie und wirtschaftlicher Schwäche des Landes haben oder gar selbst die Gefahr von Versorgungsengpässen sehen und nicht mehr bedingungslos hinter der Führung stehen, bleibt abzuwarten. Schaden würde es nicht.

Arbeiter:innenrevolte

Besondere, längerfristige Bedeutung spielt die Rolle der Lohnabhängigen in der aktuellen Protestwelle. In Zhengzhou wurden Arbeiter:innen von Foxconn sogar an ihrem Arbeitsplatz zu Tausenden in Quarantäne gepfercht, nachdem es ein paar positive Tests gab. Einziger Vorteil daran, mit den positiv getesteten Kolleg:innen eingesperrt zu sein: Zum Organisieren weiterer Aktionen sind schon mal alle an Ort und Stelle. Auch hier kam es zu Protesten. Bisher scheinen sich aber noch keine Führungspersonen über lokale Aktionen hinaus herauskristallisiert zu haben.

Die Proteste sprießen mehr wie Pilze aus dem Boden, als sie koordiniert sind. Sie umfassen Jugendliche, Arbeiter:innen, aber auch die sog. „Mittelschicht“, die es vor allem in den Großstädten gibt. Oft spielen Studierende eine zentrale Rolle. Das spricht dafür, dass trotz der starken Überwachung der sozialen Medien nicht alles eingedämmt werden kann, birgt aber auch die Gefahr, dass diese Schwäche ausgenutzt wird. Eine Bewegung entsteht zwar dynamisch und „spontan“, eine richtungsweisende, fortschrittliche Führung und somit eine Strategie und Programmatik aber nicht.

Dieser besondere Moment muss genutzt werden. Wenn die Proteste so weiter gehen wie bisher, ist es wahrscheinlich, dass sie trotz ihres Elans und ihres Heroismus unterdrückt werden von einem zentralisierten Staatsapparat. Aber schon die Tatsache, dass die Regierung Versprechen zu Veränderungen ihrer Politik abgeben muss, verdeutlicht, dass sie diese Bewegung nicht bloß zerschlagen kann, weil ihr sehr bewusst ist, dass Tausende Demonstrierende nur die Spitze eines viel größeren Eisbergs an Opposition zum herrschenden Regime darstellen.

Zugeständnisse durch die Regierung, eine Modifikation ihrer Coronapolitik wären schon ein Teilerfolg, der zeigt, dass auch in China Widerstand nicht zwecklos ist. Schafft es der scheinbar allmächtige Xi in dieser Krise nicht, das Land wieder zu befrieden und die Wirtschaft anzukurbeln, könnte sich auch seine eigene Partei gegen ihn wenden. Aber die Menschen brauchen mehr als eine etwaige Reform von oben oder den Austausch von Führer:innen.

Wie auch immer die Bewegung weiter verlaufen wird, so wird sie einen prägenden Einfluss auf viele Aktivist:innen ausüben, weil sie grundlegende Fragen von Strategie und Taktik, Programm und Organisierung unter den Bedingungen des chinesischen Kapitalismus aufwirft. Dabei gilt es, den Kampf um demokratische Rechte mit dem der Lohnabhängigen zu verbinden, die Frage nach Meinungs- und Organisationsfreiheit mit der zu verbinden, welche Klasse das zukünftige China lenken soll.

Dabei wird die Verbindung der fortschrittlichen Teile der Studierenden mit der Arbeiter:innenklasse von entscheidender Bedeutung sein, denn letztlich kann nur sie die notwendigen Veränderungen erzwingen und durchsetzen. Dafür braucht es koordinierte Aktionen, Streikkomitees in Betrieben sowie in Stadtteilen und eine landesweite Vernetzung. Die aktuellen Proteste zeigen, dass wahrscheinlich demokratische Forderungen am Beginn der nächsten Welle von Aktionen stehen und größere politische Bewegungen rasch mit der Frage des Regimes konfrontiert werden. Außerdem dürfen all die mutigen Demonstrierenden im Osten des Landes, die mehr in der medialen Berichterstattung erscheinen, die Minderheiten im Westen sowie die Landarbeiter:innen nicht vergessen lassen. Die gezielte Spaltungspolitik der letzten Jahre muss überwunden werden. Dazu zählen die Abschaffung der Lager für Muslim:innen sowie des Hukuos, der Klassenzugehörigkeit qua Geburt aufrechterhält und zusätzlich die Arbeiter:innen auch geografisch spaltet.

Es braucht also einen gezielten Aufbau und eine Vernetzung der Kampfstrukturen auch über die großen Städte hinaus auf dem Land. Da rein legale Arbeit in China so gut wie unmöglich ist, muss ihr Aufbau, vor allem aber der einer revolutionären Partei auch mit illegaler Untergrundtätigkeit verknüpft werden.