USA: Wie können US-Gewerkschaften das Streikverbot niederschlagen?

Dave Stockton, Infomail 1208, 22. Dezember 2022

Während die Eisenbahner:innen in Großbritannien mit den Drohungen der Tory-Regierung konfrontiert sind, ihre Streiks durch „Mindestdienst“-Gesetze unwirksam zu machen, wurde die Streikabstimmung von 115.000 US-Güterbahner:innen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen gerade vom Kongress „beiseitegeschoben“. Und zwar nicht von den rechten Republikaner:innen, sondern von „Arbeiter Joe“ Biden und den Demokrat:innen, die sich als „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ ausgeben und das Geld der Gewerkschaften und die Unterstützung der Mitglieder bei Wahlen annehmen.

Gesetz

Am 2. Dezember unterzeichnete US-Präsident Biden ein Gesetz, das die Eisenbahner:innen daran hinderte, einen landesweiten Streik für bessere Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu beginnen. Biden, der sich selbst als „arbeiter:innenfreundlichster Präsident in der amerikanischen Geschichte“ bezeichnet hat, hat den Beschäftigten, die seit drei Jahren keine Gehaltserhöhung erhalten haben, ganz einfach das Streikrecht genommen.

Sie kämpften für einen 15-tägigen bezahlten Krankenurlaub pro Jahr und für Änderungen bei der Zeit- und Personalplanung, damit die Arbeiter:innen nicht mehr gezwungen sind, zermürbende Arbeitszeiten zu leisten. Gegenwärtig erhalten die Beschäftigten keine Krankheitstage, und viele haben keine Zeit, sich mit ihrer Familie zu treffen oder sich ausreichend zu erholen.

Als im Sommer dieses Jahres eine landesweite Stilllegung der Eisenbahn möglich wurde, eilte die Regierung auf der Grundlage des arbeiter:innenfeindlichen Eisenbahnarbeitsgesetzes von 1926 … den Bossen zu Hilfe.

Biden setzte die Präsidiale Notstandsbehörde (PEB) ein, um die Verhandlungen zu verfolgen und eine Einigung zu erzielen. Die vorläufige Vereinbarung, die der Kongress nun wahrscheinlich durchsetzen wird, wurde von der Regierung Biden im September ausgehandelt.

Acht der 12 an den Verhandlungen beteiligten Gewerkschaften stimmten dem Vertrag zu, die anderen vier, die 55 Prozent der Beschäftigten vertreten, lehnten ihn jedoch ab. Da die vorgeschriebene Bedenkzeit abläuft, hätte ein Streik am 9. Dezember beginnen können. Die Gewerkschaftsführer:innen haben versucht, ihre Mitglieder von einem zwischen den Arbeit„geber“:innen und der Gewerkschaft unter direkter Vermittlung der Regierung ausgehandelten Vertrag zu überzeugen, aber eine Gruppe gewerkschaftsübergreifender Aktivist:innen, Railroad Workers United (Vereinigte Eisenbahnarbeiter:innen), hat sich für ein Nein eingesetzt.

Der Kongress hat den Arbeiter:innen nun einen Vertrag ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auferlegt, der weiterhin Wochenarbeitszeiten von bis zu 80 Stunden vorsieht. Mit der Behauptung, der aufgezwungene Vertrag enthalte „eine historische Lohnerhöhung von 24 % für die Bahnbeschäftigten“, verschwieg Bidens Büro die Tatsache, dass sich die Erhöhung über fünf Jahre erstrecken würde: weniger als 5 % pro Jahr in einer Zeit eskalierender Inflation.

Die Demokratische Partei beruft sich auf die Tatsache, dass ihre Abgeordneten und Senator:innen auch dafür gestimmt haben, dass Bahnmitarbeiter:innen sieben Tage bezahlten Krankenurlaub erhalten. Die Wahrheit wird durch Bidens eigene Aussage enthüllt, dass sie sie bekommen werden, „sobald ich die Republikaner:innen überzeugen kann, das Licht zu sehen“ – d. h. sie werden sie nicht bekommen. Das liegt daran, dass Biden und die Demokrat:innen im Kongress die sieben Tage in einen separaten Gesetzentwurf aufgenommen haben, der vom Verbot von Streiks und dem erzwungenen Vertrag getrennt ist.

Ursprünglich hatte sich das Weiße Haus gegen die Aufnahme von bezahlten Krankheitstagen in den von der Regierung auferlegten Vertrag ausgesprochen, doch der linke Flügel der Partei im Repräsentantenhaus (die so genannte Riege) und Senator Bernie Sanders hatten dagegen protestiert. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, tarnte den Verrat, indem sie getrennte Abstimmungen anberaumte: eine über den Vertragsentwurf und eine weitere über einen Vorschlag für sieben Tage bezahlten Krankenurlaub, was weniger als die Hälfte der Gewerkschaftsforderungen ausmachte.

Sie wusste genau, dass letzterer Vertrag im Senat niemals durchkommen würde. Er wurde mit acht Stimmen Mehrheit abgelehnt, während das Gesetz zur Durchsetzung des Vertrags den Senat mit 80 zu 15 Stimmen passierte. Auf diese Weise wurden die Eisenbahner:innen ihres Streikrechts beraubt, und es wurde ein für die Bosse vorteilhafter Vertrag durchgesetzt, „um einen möglicherweise lähmenden nationalen Stillstand des Schienenverkehrs abzuwenden“.

Da die wirtschaftliche Bedrohung durch einen landesweiten Bahnstreik die einzige Kraft war, die die Arbeiter:innen gegen ihre Milliardärsbosse wie Warren Buffett einsetzen konnten, hatten Biden und Pelosi sie entwaffnet. Die Partei und der Präsident, die für sich in Anspruch nehmen, „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ zu sein, hatten die Frage des berühmten Pete-Seeger-Songs „Which Side Are You On“ (Auf welcher Seite stehst Du?) fair und ehrlich beantwortet – nicht auf ihrer!

„Sozialistische“ Streikbrecher:innen

Noch aufschlussreicher ist, dass die fünf Mitglieder der linken „Riege“ – die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), Cori Bush, Ilhan Omar und Jamaal Bowman – mit einer Ausnahme die Hand für die Annahme der Resolution gehoben  haben, mit der die Vereinbarung durchgesetzt wurde, ebenso wie der „sozialistische“ Senator Bernie Sanders, obwohl sie erkannt haben, dass sie schlecht für die Arbeiter:innen ist. Natürlich haben sie auch für die Entschließung gestimmt, die sieben Krankheitstage vorsah. Aber sie wussten bereits, dass dies ein Blindgänger war.

Die einzige Gegenstimme eines Mitglieds der „Riege“  kam von der Abgeordneten Rashida Tlaib. Bush, Omar und AOC sind ebenfalls Mitglieder der Democratic Socialists of America (DSA). Die Hauszeitschrift der Partei, Jacobin, versuchte, diesen Verrat zu vertuschen. Der Redakteur Branko Marcetic behauptete, dass die Abstimmung von Bernie Sanders und der „Truppe“ für sieben Tage Krankenstand „ein weiteres Zeichen für den bescheidenen, aber bedeutenden politischen Wandel im politischen Leben der USA ist, der dank der größeren Bekanntheit von Sanders und seinen progressiven Verbündeten im Kongress stattgefunden hat“.

Die Arbeiter:innen müssen die bittere Lektion lernen, dass die Demokratische Partei für die Kapitalist:innen und nicht für die Arbeiter:innenklasse kämpft. Und zu dem von der DSA-Mehrheitsführung befürworteten „schmutzigen Bruch“ gehört auch die Abstimmung über die Verweigerung des Streikrechts für Arbeiter:innen. DSA-Mitglieder sollten fordern, dass die Organisation die Mehrheit der Stimmen dieser „Riege“ verurteilt und den Prozess der Abspaltung von der zweiten Partei des US-Imperialismus einleitet, um eine unabhängige Partei für alle US-Arbeiter:innen und die sozial und rassisch Unterdrückten zu bilden – eine, die antirassistisch, antisexistisch und antikapitalistisch ist.




USA: Zwischenwahlen zeigen Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei

Andy Yorke, Infomail 1205, 1. Dezember 2022

Die Zwischenwahlen in den USA am 8. November waren ein Schock für die Kommentator:innen, die Präsident Biden und der Demokratischen Partei eine Katastrophe voraussagten. Tatsächlich war der Umschwung gegen die etablierte Partei so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl Biden in den Meinungsumfragen rekordverdächtig unbeliebt ist.

Die von Ex-Präsident Trump vorhergesagte „rote Welle“ zugunsten der Republikanischen Partei blieb aus. In der Tat haben viele der von ihm unterstützten MAGA-Kandidat:innen (Make America Great Again) verloren oder deutlich unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Vielmehr kam es in beiden Parteien zu einer Verschiebung in Richtung „Mitte“. Biden ist sicherlich in seiner Fähigkeit geschwächt, den Großteil seiner innenpolitischen Agenda durch das Repräsentantenhaus zu bringen, aber die Zwischenwahlen waren eine weitaus schwerwiegendere Niederlage für Donald Trump und den von ihm unterstützten rechtspopulistischen Flügel.

Seine Erklärung über seine Kandidatur für 2024 war dementsprechend schwach und schlecht gelaunt. Er drohte seinem republikanischen Mitstreiter Ron DeSantis, der einen Erdrutschsieg bei der Wahl zum Gouverneur von Florida erzielte, mit Enthüllungen, die seine Chancen irreparabel beeinträchtigen würden.

In der Republikanischen Partei zeichnet sich nun ein wahrer Bürger:innenkrieg ab. DeSantis lehnt Trump als Person ab, nicht aber seinen Rechtspopulismus, wie seine Reden zeigen. Dies wird durch sein Eintreten für ein Anti-Woke-Gesetz (soll Gutheißen oder Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindern) untermauert. Mit dem reaktionären Vorstoß soll das Gutheißen oder die Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindert werden, so zum Beispiel das Aufgreifen von Lehren der „Critical Race Theory“. Jedes Eingeständnis der rassistischen Vergangenheit und Gegenwart Amerikas soll faktisch aus dem Unterricht verbannt werden.

Auf der anderen Seite gingen Biden und die rechte und mittlere Seite der Demokrat:innen gestärkt aus der Wahl hervor und konnten sich gegen jede ernsthafte Herausforderung von links um Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez und neben dieser den anderen 3 Mitgliedern der „Squad“ (Truppe) – Ilhan Omar, Ayanna Pressley, Rashida Tlaib – behaupten. Sicherlich spielte das Thema Abtreibung der Demokratischen Partei in die Hände und ermöglichte es ihnen, den Vorteil zu überwinden, den die Republikanische Partei in Bezug auf die sich verschlechternde Wirtschaftslage (8 – 9 % Inflation) zu besitzen glaubte.

Jacobin, die Website der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas (DSA), lobt in den höchsten Tönen den Sieg von John Fetterman in Pennsylvania als Ergebnis einer starken Wahlkampfunterstützung durch den Gewerkschaftsverband Change to Win und die Aktivist:innen der Lehrer:innengewerkschaft von Pennsylvania; ein Beweis für die immer noch aktiven Verbindungen zwischen den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei. Fetterman vertritt in der Tat relativ progressive Ansichten zu Themen wie der Legalisierung von Cannabis, Abtreibung und einem Mindestlohn von 15 US-Dollar. Aber er prangerte auch den Slogan „Defund the police“ (Keine Finanzierung der Polizei) als „absurd“ an, er erklärte, er werde „hart gegen China“ vorgehen, und er sprach sich für Fracking aus. Er ist bestenfalls ein Mitte-Links-Populist.

Zwischen den kapitalistischen Parteien

Trotz alledem bleiben die amerikanischen Arbeiter:innen, insbesondere diejenigen, die sich an der anhaltenden Streikwelle und den gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen beteiligen, in dem nicht enden wollenden Wahlzyklus zwischen den beiden kapitalistischen Parteien gefangen, mit einem weiteren zweijährigen Kampf, um Trump oder DeSantis aus dem Weißen Haus und die Konzerndemokrat:innen an der Macht zu halten. Sie können die Ausrede eines festgefahrenen republikanischen Repräsentantenhauses und rechter Demokrat:innen wie Joe Manchin im Senat nutzen, um all die eher arbeiter:innenfreundlichen Versprechen aus Bidens Manifest für 2020 über Bord zu werfen.

Sanders und der linkspopulistische/demokratische sozialistische Flügel drängten auf mehr „wirtschaftliche Botschaften“, die für die Arbeiter:innen attraktiv sein sollten, um die Wahlkampfspots zu ergänzen, die sich auf die Abtreibung konzentrierten – eine versteckte Kritik, dass Biden nicht radikal genug sei. Aber in Wirklichkeit wird die Wirtschaftspolitik der Demokratischen Partei immer die Interessen der Hochfinanz und des Großkapitals in den Vordergrund stellen. Das hat sie schon immer getan, selbst unter der stark mythologisierten Roosevelt-New-Deal-„Koalition“ mit Gewerkschaftsbürokrat:innen und Bürgerrechtsführer:innen. Nur ein unabhängiger Klassenkampf, das Gespenst der Revolution, könnten der herrschenden Klasse radikale Reformen abtrotzen, nicht das fein austarierte politische System und die Hoffnung auf kleine Fortschritte.

Doch die Mehrheit der reformistischen Linken in den USA, allen voran die DSA und die Zeitschrift Jacobin, wollen Arbeiter:innen, Frauen, ethnische Minderheiten und Jugendliche in der Tretmühle der Wahlpolitik halten, indem sie für die Demokratische Partei stimmen und in vielen Fällen auch für sie kandidieren, die zweite Partei des US-Kapitalismus, in der die Spenden der Unternehmen diejenigen der Gewerkschaften in den Schatten stellen, die nur einen weiteren Minderheitenstatus bekleiden.

Das Sanders-Experiment – das zweimal, 2016 und 2020, durchgeführt wurde – hat bewiesen, dass eine „politische Revolution gegen die Milliardär:innenklasse“ nicht durch die Demokratische Partei stattfinden kann, obwohl das Organisationsgremium, das Demokratische Nationalkomitee, die mächtigste und am besten platzierte Herausforderung für ihre Autorität seit Jahrzehnten enthält.

Ein Teil der Jakobiner:innen und einige kleine linke Fraktionen sagen, sie wollen einen „schmutzigen Bruch“ mit der Demokratischen Partei und schließlich eine Arbeiter:innenpartei aufbauen. Wahl für Wahl verzögern sie jedoch die tatsächliche Umsetzung dieser Strategie. Ihr jüngster Vorschlag besteht darin, Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez aufzurufen, diesen Bruch anzuführen, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass sie jetzt mehr denn je in der DP integriert sind.

Eine Strategie des „sauberen“ Bruchs bedeutet andererseits, alle Befürworter:innen einer wirklichen Unabhängigkeit zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu vereinen, um bei den kommenden Bundesstaats- oder Kommunalwahlen und im Jahr 2024 Arbeiter:innen- und/oder sozialistische Kandidat:innen zu unterstützen. Dies sollte innerhalb der DSA und in den Gewerkschaften verfolgt werden, aber auch die radikalen Aktivist:innen unter den Kämpfer:innen für die Rechte von Frauen, Farbigen, Klimagerechtigkeit usw. einbeziehen.

Es bedeutet, dies auf der Grundlage eines kämpferischen Aktionsprogramms zu tun, um eine unabhängige Arbeiter:innenpartei mit allen laufenden Auseinandersetzungen zu verbinden, einschließlich der Kämpfe gegen Rassismus und die populistische Rechte und ihre faschistischen Ränder. Das Ziel sollte sein, entweder einen DSA-Konvent 2023 zu gewinnen, um ein solches Programm zu verabschieden und einen sofortigen Bruch mit der Demokratischen Partei zu beschließen, oder einen Kongress all derer einzuberufen, die dazu bereit sind.




USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.




US-Außenpolitik unter Biden: Zurück in die Zukunft?

Jürgen Roth, Neue Internationale 253, Februar 2021

Joe Biden und sein Außenminister Tony Blinken treten ihr Amt in einer schweren Phase an, auf dem Hintergrund einer heftig in die Krise geratenen Volkswirtschaft.

Wirtschaftsprognosen

Im 9. Monat der Corona-Pandemie übernahm der neue Präsident neben knapp 15 Millionen Infektionsfällen und 300.000 Toten eine soziale Krise historischer Dimension. Im Juni letzten Jahres prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Rückgang des US-BIP um 8 %. Mehrere Ausgabenpakete infolge der Corona-Krise könnten das Defizit des Bundeshaushalts auf das höchste Niveau seit dem Zweiten Weltkrieg ansteigen lassen. Zusätzlich trifft dieses auf einen historisch hohen Schuldenstand: 2009 lag der Anteil der öffentlichen Schulden am BIP auf Bundesebene bei 52 %, 2019 bei 79 %; 2020 könnte dieser Wert auf 101 % hochschnellen.

Verteidigungs- und außenpolitisch spielte das jeweilige politische Umfeld stets eine größere Rolle für die Ausgaben als die wirtschaftliche Lage, zumal die USA viel größere Spielräume beim Schuldenmachen haben als andere Länder aufgrund der Stellung des US-Dollar als führendes Weltgeld. So blieben die Verteidigungsausgaben nach der globalen Finanzkrise 2008 auf hohem Niveau und stiegen unter Trump wieder deutlich an. 2018 kam eine vom Kongress eingesetzte Expertenkommission jedoch bereits zum Schluss, dass sich die USA am Rande einer „strategischen Insolvenz“ befänden, ihre militärische Dominanz also nicht länger überall dauerhaft wahren könnten.

Unter dem Schlagwort „principled realism“ (prinzipienfester Realismus) setzte sich eine einseitige, unilateralistische Tendenz in der Außenpolitik unter Trump durch: nationale Abschottungsmaßnahmen gegen Corona, Schutzzollpolitik, Infragestellung multilateraler Institutionen wie der WHO, Rückzug aus internationalen Initiativen zur Bewältigung der Krise. Um abschätzen zu können, wie weit sich die neue Außenpolitik von der unter Trump unterscheiden wird, müssen wir zunächst einen Blick auf die Vergangenheit werfen.

Weltordnung

Jahrzehntelang war die US-Außenpolitik von einem parteiübergreifenden Konsens geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich beide großen bürgerlichen Lager einig, dass die USA offensive Weltpolitik betreiben müssten, um den „Kommunismus“ zu besiegen. Damit wurde das vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten starke isolationalistische Lager („America First!“) marginalisiert. Dieser Konsens überdauerte zunächst das Ende des Kalten Krieges. Das Geflecht professioneller AußenpolitikerInnen – von einem Berater Obamas Blob genannt -, die ständig zwischen Regierung, Denkfabriken und Rüstungsfirmen hin- und herwechseln, war sich bewusst, dass die USA politisch und militärisch globale Führungsmacht bleiben, die internationale liberale Ordnung verteidigen und ausweiten, ihre GegnerInnen wie die „Schurkenstaaten“ Iran und Nordkorea oder „revisionistische“ Mächte wie Russland bekämpfen müssten. Diese „liberale Hegemoniestrategie“ des außenpolitischen Establishments sah also eine Stärkung internationaler Organisationen (NATO, WTO) vor und definierte das Nationalinteresse der USA in der Etablierung einer Weltordnung nach amerikanischen Vorstellungen, in deren Institutionen die USA als wirtschaftlich und militärisch stärkstes Land als Bestandteil einer solch „offenen“ Ordnung automatisch an der Spitze ständen.

Diese Sichtweise wird nach dem Scheitern des „Kriegs gegen den Terror” (Irak, Afghanistan) und dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht zunehmend angezweifelt. Erst unter Trump erlangte die isolationistische Strömung innerhalb der Republikanischen Partei, die in den 1990er Jahren wieder sichtbar wurde (Patrick Buchanan), die Oberhand. Er brach tatsächlich mit diesem langjährigen außenpolitischen Konsens. Nationale Alleingänge, Abkehr von WTO und NATO sollten das Aufgeben der Führungsrolle der USA im Einklang mit anderen Großmächten flankieren. Trump geriet deshalb nicht zum Kriegsgegner. Seine isolationistischen Instinkte fanden ihre Grenze am Staatsapparat, an der Tatsache, dass ihre Macht immer noch auf globalem Freihandel, Dollar-Dominanz und militärischer Stärke basierte. An den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten störte ihn vor allem, dass sie verloren wurden. Trump trat damit in gewisser Weise in Obamas Fußstapfen. Dieser mahnte bereits einen langfristigen Rückzug aus o. a. Region an zugunsten einer Konzentration auf eine bewusstere Steuerung der Globalisierung, um die industriell-technologische Vormachtstellung gegen China zu verteidigen. Letzteres ist inzwischen parteiübergreifend akzeptiert.

Handel als Waffe

Seit die globale Dominanz des Westens erschüttert ist, werden Freihandelsabkommen als das gesehen, was sie immer auch schon waren: nicht bloß Instrumente des Wirtschaftswachstums, sondern Mittel zur Festigung politischer Macht. Als ein solches betrachten die Westmächte auch die Freihandelszone RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership; Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft) in Asien, die 15 Staaten, 30 % der Wirtschaftsleistung und ein Drittel der Weltbevölkerung unter Chinas Einfluss bringt. Doch auch Marshallplan und Truman-Doktrin waren zwei Seiten derselben Medaille. Bis Mitte der 1990er Jahre deckte das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) 80 % des Welthandels ab. Seine Nachfolgerin, die Welthandelsorganisation WTO, erwies sich als weniger erfolgreich: eine weitergehende Handelsliberalisierung scheiterte daran, dass die Interessen des Clubs, der 50 Jahre die Geschicke der Weltwirtschaft mitbestimmt hatte, im Zuge des Aufkommens neuer Rivalen (China, Russland) nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Die ab 2010 von den USA inszenierten Abkommen TTP und TTIP zielten bereits weniger auf globale Regeln als auf eine Ordnung, die sich um konkurrierende Wirtschaftsblöcke gruppierte, um insbesondere Normen für neue Technologien im Interesse von EU und v. a. USA durchzusetzen.

Handels- und Militärpolitik in Asien

TTIP sollte als „Wirtschafts-NATO“ dienen (Hillary Clinton), TTP verfolgte mit der Schaffung eines großen Wirtschaftsraums die Schwächung des chinesischen Einflusses in der Pazifikarena. Beide „Freihandels“abkommen waren nach dem Muster gestrickt: EBC (Everyone But China; alle außer China)!

Ihr Scheitern war in geringerem Maße auf breite Massenproteste zurückzuführen als auf die neue US-Regierung. Trump stieg aus den Verhandlungen zugunsten bilateraler mit einzelnen Staaten aus. Es bleibt unklar, inwieweit Biden unter dem Eindruck der RCEP-Gründung einem nachverhandelten TTP beitreten wird. Er dürfte in Verhandlungen mit Chinas Anrainern (Taiwan, Japan, Vietnam), aber auch traditionellen Verbündeten wie Australien ein Einfallstor in diese Region suchen.

Dabei wird er sicherlich mit Garantien für den Kriegsfall durch die weltgrößte Militärmacht wuchern können und damit auf neuer Stufenleiter beweisen, dass Welthandel im Zeitalter des Imperialismus keine friedliche internationale Arbeitsteilung bedeutet, sondern eine Frage von Macht und Krieg bleibt.

Schutzzoll gegen China

Dieser hat weder der US-Wirtschaft genutzt noch der VR China ernsthaft geschadet. Die 10 Länder der ASEAN-Gruppe (Association of Southeast Asian Nations; Verband Südostasiatischer Nationen) haben mittlerweile die USA als größte Handelspartnerinnen der Volksrepublik abgelöst. China erzielte im Dezember 2020 ein Rekordhoch beim Exportüberschuss. Das 2016 gegebene Versprechen Trumps, das Handelsdefizit mit China drastisch zu senken, führte im Jahr 2020 zu einem Rückgang um 310 Mrd. US-Dollar im Vergleich zu 2019. Es liegt aber immer noch höher als zu Beginn seiner Amtszeit.

Die Importzölle haben auch nicht zu einer Abkehr der US-Industrie von China geführt, zu ihrer Rückkehr in „Gottes eigenes Land“. Auch die Hoffnung auf den Ersatz von Importwaren durch eigene Erzeugnisse hat sich zerschlagen. An die Stelle chinesischer Einfuhren traten viel eher solche aus Mexiko und Vietnam. Das weltweite Handelsdefizit der USA kletterte 2020 auf ein Rekordhoch von 900 Mrd. US-Dollar.

Bidens Mannschaft zieht folgende Lehren aus dem Scheitern der Strategie seines Vorgängers: China ist bereits zu groß, als dass man es einfach aus dem Weltmarkt herausdrängen könnte. Zudem brauchen die USA die Volksrepublik als zukünftigen Absatzmarkt und Produktionsstandort. Statt auf Zölle und unilaterale Handels-Deals wird die US-Regierung auf einen neuen Anlauf setzen, um die multinationale Handelsordnung mit einem Viertel der globalen Wirtschaftsleistung weiterhin zu dominieren.

Dies ist ein Angebot an die EU, aber auch andere Länder (Australien, Japan, Kanada usw.). Es enthält aber auch die Forderung, die US-Führung zu akzeptieren und Alleingänge zu unterlassen (Pipeline Nord Stream 2, Investitionsabkommen zwischen EU und VR China Ende 2020). Gleichzeitig enthält es aber auch ein Eingeständnis: dass die USA nicht mehr stark genug sind, um das „Reich der Mitte“ in die Knie zu zwingen! Was ihn von seinem Vorgänger unterscheidet, ist also nicht das Ziel, sondern sind die Mittel, um es zu erreichen.

Europa und Amerika

Auf der EU-Außenministerkonferenz am 7.12.2020 griff Heiko Maas diese Vorstellung von einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft wider China wohlwollend auf. Der Hohe Beauftragte der EU, Joseph Borrell, bekräftigte, man müsse den Wunsch der Vereinigten Staaten erfüllen und mehr „Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten“ übernehmen.

Während Maas betonte, den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO stärken zu müssen, was für die BRD die Anhebung ihrer Verteidigungsaufgaben bis 2024 auf 1,5 % des BIP bedeute, um dem vom transatlantischen Militärbündnis geforderten Ziel von 2 % näherzurücken, setzte Borrell mehr auf eine strategisch-konstruktive eigenständige EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Diese sei Voraussetzung für ein wiederbelebtes enges transatlantisches Verhältnis, das mehr denn je die gewachsene Rolle Chinas als Hauptwidersacher der USA berücksichtigen müsse.

Dieses Bündnis hält der handelspolitische Sprecher der Linkspartei im Europäischen Parlament, Helmut Scholz, für überholt. Eine glaubhafte Handelspolitik gegenüber den USA müsse auf einer regelbasierten multilateralen und fairen Welthandelspolitik im Rahmen und durch die Veränderung der WTO setzen. Träumt Joseph Borrell davon, mit den großen Mächten geostrategisch auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können, erweist sich der Sprecher der Linkspartei als sozialchauvinistischer Gesundbeter der EU. Weder WTO noch EU lassen sich in Pilgerstätten sozialer Gerechtigkeit umdeuten, noch hat es der europäische Staatenverbund auf dem Feld gemeinsamer Rüstungs-, Militär- und Außenpolitik bislang zu mehr als kümmerlichen Ansätzen gebracht.

Joe Biden, ein glühender Verfechter der Irakkriege, wird auch andere Gegenspieler der USA wie Russland, Iran oder Nordkorea aufs Korn nehmen und sich nicht von ihren verteidigungspolitischen Bündnissen in Europa und Asien distanzieren. Die multiple Krise wird allerdings Konflikte mit Bündnispartnern – nicht zuletzt Deutschland – weiterhin offen und teilweise heftiger austragen lassen, wenn es um Lastenteilung geht!

Widersprüche

Die USA sind immer weniger interessiert daran, traditionelle Verbündete privilegiert zu behandeln. Die verzweifelte Suche der EU nach „strategischer Autonomie“, nach eigenständigeren Machtmitteln ist in Zeiten verschärfter Konflikte um die Neuaufteilung der Welt objektiv geboten, will sie sich nicht aus diesem Wettrennen verabschieden. Realistischer ist folglich nicht eine Stärkung, sondern Schwächung der Europäischen Union – auch unter einem Präsidenten Biden. Diese Spaltung entlang der Kraftlinien der beiden Weltmagnete wird in der unmittelbar vor uns liegenden Periode verschärft zutage treten. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erteilte so jüngst – der Maas’schen Position ähnlich – in einer Grundsatzrede den „Illusionen über eine strategische Autonomie“ eine drastische Abfuhr. Militärisch sei Europa weiter auf die USA angewiesen. Man müsse eine „gemeinsame Agenda“ im Umgang mit der VR China finden. Sie fügte allerdings hinzu, dort, „wo es unseren Interessen dient“. Zugleich ist China neben den USA Deutschlands wichtigster Handelspartner. Das weiß auch ein beträchtlicher Teil der hiesigen Großkonzerne.

Diese inneren Widersprüche machen die Rückkehr zu einem geschlossenen westlichen Bündnis unter amerikanischer Führung, ähnlich jenem der ersten 5 Nachkriegsjahrzehnte, objektiv unmöglich. Während mit China der gemeinsame Hauptrivale feststeht, wird die beschworene Widerherstellung der PartnerInnen schaft USA-EU selbst konflikthaft bleiben. Im Moment haben aufgrund der Rivalität zu China wie auch aufgrund ihrer eigenen inneren Probleme sowohl die europäischen Führungsmächte als auch die USA ein Interesse, ihr Verhältnis kooperativer zu gestalten, gegenüber der Trump-Zeit zu „normalisieren“. Dies ändert freilich nichts an den Rissen und Gegensätzen. Wie diese ausgetragen werden, ist offen – doch ausgetragen werden sie.




Joe Biden: Was können wir von dem neuen US-Präsident erwarten?

Ronja Keller, REVOLUTION, Infomail 1136, 23. Januar 2021

Trotz des Sturms aufs Capitol wurde am 20. Januar Joe Biden in das Amt des Präsidenten eingeführt. Endlich können wir mal einen Artikel über US-Politik schreiben, in dem es nicht primär um Trump geht! Aber wird es mit Biden denn so viel besser? Was hat der neue Präsident bisher so gemacht? Was hat er versprochen und wie wird sein Kabinett aussehen? Im folgenden Artikel wollen wir uns einen Überblick darüber verschaffen und feststellen, ob die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen wohl auf eine Verbesserung ihrer Lage durch Biden hoffen können.

Joes bisherige Laufbahn

Der neue Präsident hat eine lange Geschichte in der US-Politik, denn bis zur Präsidentschaft Obamas war er 36 Jahre lang Mitglied des Senats und während Obamas achtjähriger Amtsperiode Vizepräsident. Dabei hat er eine seine politische Agenda mehrmals klargemacht:

Biden ist vor allem durch seinen Standpunkt in der Außenpolitik aufgefallen. Bei vielen Brennpunkten sprach er sich für eine US-amerikanische Intervention aus. Während des Balkankriegs war er für eine aktive und gewaltsame Einmischung der USA, für Lufteinsätze der NATO. Er unterstützte mehr Bodentruppen im Afghanistankrieg und damit die Linie des damaligen republikanischen Präsidenten George W. Bush. Auch den syrischen Bürgerkrieg sollte die US-Army weiter anfachen. Bei dem Thema Finanzen stimmte Biden meist für einen ausgeglichenen Haushalt („Schwarze Null“), womit er unter anderem den Abbau der Sozialsysteme unterstützt hat. Außerdem hat er eine Gesetzesänderung durchgeboxt, durch die es unmöglich geworden ist, bei zu hohen Studien- oder Kreditkartenschulden Privatinsolvenz anzumelden, sodass viele ArbeiterInnen für immer mit dieser Last leben müssen. Er stand somit immer hinter dem kapitalistischen System und dem US-Imperialismus. Dies wird er auch weiter tun. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit schon mehrfach von übergriffigem Verhalten berichtet wurde inklusive sexueller Nötigung einer ehemaligen Angestellten.

Was können wir von seinen Versprechen erwarten?

Der Wall Street hat Biden versprochen, dass alles beim Alten bleibe und er keine größeren Veränderungen vornehmen werde. Dies wird sich auch für die Ausbeutung der Menschen ähnlich verhalten. Er hat keine Lösungen für die Probleme wie steigende Armut oder (Jugend-) Arbeitslosigkeit.

Biden möchte einen besseren Neuaufbau nach dem „Build Back Better“-Konzept, kurz: BBB. Das heißt: staatliche Finanzierungen für einen „grüneren“ und „gerechteren“ Kapitalismus. Dies beinhaltet auch Elemente des Green New Deals. Konkret sollen 7 Billionen US-Dollar für grünen Verkehr und Maßnahmen, um den US-Kapitalismus aufzubauen und damit die Hoffnung auf gut bezahlbare Arbeitsplätze, ausgegeben werden. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Biden dieses Versprechen hält, und selbst wenn, ist die Rettung der sozialen Lage von unzähligen Menschen ohne ein bewusstes Eingreifen in die Produktionsverhältnisse nicht zu machen. Ohne Enteignung und Kontrolle der Betriebe durch die Beschäftigten ist es eher wahrscheinlich, dass die Förderungen bloß wieder in den Taschen der KapitalistInnen landen. Da die demokratische Mehrheit im Senat hauchdünn ist, sind bloß faule Kompromisse zu erwarten, die keinen annähernden Ausgleich für die Auswirkungen der Krise bringen, die die ausgebeuteten und unterdrückten Massen erlitten haben und noch werden, da der Senat die Vorschläge des Präsidenten blockieren kann.

Bei der #Black-Lives-Matter-Bewegung gegen rassistischen Polizeiterror ist Biden auf Versöhnung aus. Er stellt sich nicht konkret auf eine Seite, da er weder die AktivistInnen vergraulen will noch seine eher konservative Basis. Es ist natürlich eine Illusion zu glauben, dass dadurch eine Versöhnung möglich ist und es Gerechtigkeit für rassistisch Unterdrückte in diesem System geben kann. Dazu kommt noch, dass Biden schon in der Vergangenheit immer ein Verfechter von Recht und Ordnung war und damit die Rechte der Polizei eher stärken als schwächen wird. Als Lösung für die anhaltende Polizeigewalt sagte er, dass Polizist_Innen „ins Bein statt ins Herz schießen sollten“. Auch das Gesundheitssystem, welches momentan sehr profitorientiert ist und dringend verbessert werden müsste, wird wohl nicht grundlegend geändert, obwohl es eine zentrale Forderung des linken Flügels ist, dass es eine allgemeine Krankenversicherung geben soll.

Immerhin können wir damit rechnen, dass seine Corona-Politik nicht so katastrophal ist wie die Trumps, auch wenn es schwierig werden dürfte, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.

Wer ist in seiner Regierung?

Keines der Mitglieder seines Kabinetts, die bisher feststehen, gehört dem linken Flügel der Demokrat_Innen an. Weder Bernie Sanders noch Elizabeth Warren als wichtige linke Vertreter_Innen stehen auf der Liste. Biden selbst hat gesagt: „Das ist ein Team, das die Tatsache widerspiegelt, dass Amerika zurück ist. Bereit, die Welt anzuführen und sich nicht von ihr zurückzuziehen.“ Dass er für die Vorherrschaft des US-Imperialismus kämpfen wird, gibt er damit offen zu. Doch schauen wir uns mal einige Mitglieder an:

Bereits im Wahlkampf stand fest, dass Kamala Harris Vizepräsidentin werden wird. Dass sie als „Woman of Colour“ in diesem Amt ist, stellt für viele bereits eine Errungenschaft dar, jedoch zeigt ihr Lebenslauf, dass sie wenig mit den Kämpfen der meisten schwarzen Frauen in Amerika zu tun hatte. Außerdem trat sie in der Vergangenheit, wie auch Biden, für das Polizeiwesen, Sicherheit und Ordnung ein. Ihre harte Linie zeigt sie beispielsweise darin, dass sie die Kriminalisierung von Eltern unterstützt hat, deren Kinder die Schule schwänzen. Weiter hat sie auch einmal Ermittlungen gegen Polizisten, die einen Schwarzen erschossen haben, abgelehnt. Als „Woman of Colour“ erwarten viele von ihr einen Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung, doch auf die Frage, wie sie diesen Kampf unterstützen will, spricht sie bloß darüber, wer sie ist, aber nicht, was sie vorhat. Sie bedient damit die identitätspolitische Linie der DemokratInnen.

Außenminister wird Antony Blinken. Mit ihm kommt jemand auf den Posten, der für eine kriegerische Politik steht und sich für traditionelle Bündnisse, wie die NATO, einsetzen wird. Blinken wird auch eine Verbindung zur Rüstungsindustrie nachgesagt. In seiner Funktion als Nationaler Sicherheitsberater für Vizepräsident Biden unter Obama befürwortete er unter anderem die Unterstützung der USA für die saudische Intervention im Jemen, welche bis heute furchtbare humanitäre Folgen zeitigt.

Finanzministerin wird Janet Yellen, die während der Obama-Administration Präsidentin des Federal Reserve Board, also des Vorstands der Notenbank, war. Sie war maßgeblich an der staatlichen Rettung von Banken und Unternehmen während der Krise 2009 beteiligt. Mit ihr werden wohl großzügige Konjunkturpakete für Unternehmen zu erwarten sein.

All diese Punkte belegen den Klassencharakter des neuen Präsidenten und der Demokratischen Partei. Genauso wie Trump liegen seine Interessen ganz klar darin, das System zu retten und die USA an erster Stelle in der Welt zu halten, jedoch mit einer anderen Taktik. Auch die Kriegsgefahr kann zunehmen, gerade mit Hinblick auf Russland, China oder Iran, wenn es darum geht, die Größe der USA zu verteidigen. Für die Arbeiter_Innenklasse und unterdrückten Menschen wird sich wohl nicht viel ändern. Migrant_Innen werden weiterhin inhaftiert, „People of Colour“ durch Polizeiterror getötet, Sparmaßnahmen gefordert, Angriffe auf Rechte und Leistungen für Arbeiter_Innen fortgesetzt. Eine Erholung für die Arbeiter_Innenklasse wird es nicht geben.

Welche Perspektive gibt es?

Sicher ist Biden dazu bereit, noch weiter nach rechts zu rücken – mit Hinblick auf die wirtschaftliche Krise und den wachsenden Druck von rechts in Politik und auf der Straße, gerade nach dem Sturm aufs Capitol. Dadurch wird es wohl viele Kompromisse geben. Das kann auch dazu führen, dass der rechte Flügel der Demokrat_Innen weiter wächst und mit ihm die Angriffe auf die Unterdrückten und Ausgebeuteten.

Weder wird die Demokratische Partei die ArbeiterInnenklasse verteidigen, noch wird sie die Angriffe auf ihre Rechte abwehren. Sowohl die demokratische als auch die republikanische Partei sind Parteien des Kapitals und der Wall Street. Sie haben nicht die Absicht, das System grundlegend zu ändern, sondern würden vielmehr alles dafür tun, genau dieses System aufrechtzuerhalten. Umso wichtiger ist es, soziale Bewegungen wie BLM oder die Gewerkschaftsbewegung weiter aufzubauen und mit dem Ziel zu einen, eine ArbeiterInnenpartei in den USA zu etablieren. Eine Verbesserung der Lage schafft kein Präsident, sondern das kann nur der Druck auf die Regierung, der von den Ausgebeuteten und Unterdrückten kommen muss.




USA: Was können wir von „Bidenomics“ erwarten?

Marcus Otono, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Es ist verlockend, einen Blick auf die 50-jährige Karriere des designierten Präsidenten der USA, Joseph Robinette Biden, Jr., in der Politik zu werfen. 48 Jahre agierte er bisher auf nationaler Ebene im Senat und als Vizepräsident. Diese langjährige Bilanz kann uns bei einer aktuellen Einschätzung seiner Wirtschaftspolitik helfen. Und es wäre richtig, wenn man versuchen würde zu beurteilen, wo seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung liegt. Wenn uns das Jahr 2020 jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann, dass eine rein historische Bewertung, sei es von Parteien oder PolitikerInnen, unter den erdrückenden Bedingungen der anhaltenden und mehrfachen Krisen der Nation nicht ausreicht.

Wie jemand unter den Bedingungen kapitalistischer Stabilität regieren und reagieren wird, im Vergleich z. B. mit der Zeit vor der Großen Rezession von 2008, gilt vielleicht nicht unter dem dreifachen Schlag von COVID-19, einem schweren wirtschaftlichen Abschwung im Zusammenhang mit der Pandemie und einer scharfen Krise der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Polizeiterror gegen Minderheiten, insbesondere Schwarze, ausgelöst wurde.

Es ist auch nützlich, sich daran zu erinnern, dass vor der Reihe tiefer wirtschaftlicher Krisen in den 1970er Jahren, die den langen Boom beendeten, als der Neokeynesianismus die vorherrschende Wirtschaftsideologie war, die Vorväter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, als ideologische Außenseiter, wenn nicht gar als Sonderlinge angesehen wurden. Nach der „neoliberalen Revolution“ von Reagan-Thatcher waren es die KeynesianerInnen, die wie die Dinosaurier behandelt wurden. Dies sollte uns daran erinnern, dass tiefe kapitalistische Krisen, in denen alte Methoden einfach nicht funktionieren, zu einem umfassenden Umdenken der IdeologInnen führen, und nicht umgekehrt.

Neoliberalismus

Unter den DemokratInnen war Biden ein früher bekehrter Anhänger des Neoliberalismus. Er wurde ein starker Befürworter ausgeglichener Haushalte und unterstützte Steuersenkungen, die die Sozialausgaben einschränkten. Diese endeten in der Ära, die von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Großer Gesellschaft dauerte. Biden stimmte zusammen mit 36 DemokratInnen für den ersten Haushalt von Ronald Reagan. Wie ein kürzlich erschienenes Buch über Biden zeigt, hatte dies schlimme Folgen für die Menschen, die die Demokratische Partei wählten.

„Die Kürzungen haben unzählige Menschenleben ins Chaos gestürzt: 270.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst verloren ihren Arbeitsplatz, mehr als 400.000 Familien wurden von der Sozialhilfeliste gestrichen und mehr als 1 Million Beschäftigte hatten keinen Anspruch auf erweiterte Arbeitslosenunterstützung.“ (Baranko Marcetik, Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden, Verso, New York 2020, S. 49)

Es ist also keine Übertreibung zu behaupten, dass Biden ein entschiedener Anhänger des kapitalistischen Systems und der MilliardärInnenelite ist, die dieses System kontrolliert. Es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Biden kein Problem damit hat, die Ziele des US-Imperialismus in der Welt mit offener und verdeckter militärischer Macht zu unterstützen, was ihn, politisch gesehen, in den USA zu einem Neokonservativen machen würde.

„Ich habe dafür gestimmt, in den Irak zu gehen, und ich würde dafür stimmen, es wieder zu tun“, sagte Biden im August 2003. Er unterstützte auch den Krieg gegen Afghanistan und trat auch für die Invasion Großbritanniens auf den Malvinas ein. (In: Baranko Marcetik, Joe Biden the hawk, Jacobin Magazine, 08.02.2018)

Alle diese Beobachtungen über Joe Biden sind wahr, aber daraus zu schließen, dass sie die Wirtschaftspolitik unter einer Biden-Präsidentschaft kurz- bis mittelfristig, d. h. bei der Bekämpfung des COVID-19-Virus, der Rezession und während des Aufschwungs, bestimmen werden, wäre eine zu voreilige Schlussfolgerung.

Der Grund dafür, dass die politischen Instinkte von Präsident Biden in seinen ersten Jahren abgestumpft oder relativiert werden könnten, lässt sich auf eine Sache reduzieren. Wenn ein Land vor einer größeren Krise steht, ist die erste Pflicht des bürgerlichen Staates – unabhängig von der aktuellen Doktrin – die Rettung des Systems. Die USA taumeln durch eine von einer Pandemie angeheizte Rezession, die schlimmer ist als die, die uns 2008 getroffen hat. Das bedeutet, dass Biden wie ein Getriebener Ausgaben tätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, das System zu retten, das am Rande des Abgrunds eines möglichen Zusammenbruchs steht.

Bidens politische Karriere hat indessen trotz aller Ideologien, denen er zeitweise anhängt, eines gezeigt: dass er ein politischer Pragmatiker ist. Pragmatisch gesprochen: Wenn Biden Erfolg haben will, darf er nicht an eine Agenda von Sparmaßnahmen und niedrigen Steuern gebunden sein, in der Hoffnung, dass sie fruchtbar wird, denn das war nie der Fall und wird es auch nicht sein.

Natürlich wird der Erfolg von Konjunkturprogrammen nicht allein von Biden und der Demokratischen Partei abhängen. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die RepublikanerInnen in keiner Weise aus dem Regierungsrahmen herausfallen. Sie scheinen tatsächlich Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen zu haben, obwohl die DemokratInnen dort immer noch über eine knappe Mehrheit verfügen. Und Biden hat die Präsidentschaft gewonnen, obwohl der Wahlverlierer Trump noch nicht formell nachgegeben hat und mit unseriösen Klagen und regelrechten Raubaktionen versucht, die Ergebnisse zu kippen, und mit Verzögerungstaktiken kämpft. Trump wird wahrscheinlich keinen Erfolg haben, aber da er und die Republikanische Partei die Bundesgerichte mit ihrem Gefolge vollgepackt haben, können sie nicht völlig ausgezählt werden, bis das Wahlkollegium zusammenkommt und den Biden-Sieg offiziell macht.

Dann gibt es da noch den Senat, die antidemokratische Institution, die während ihrer gesamten Existenz ein Fluch für progressive Initiativen war. Seit mindestens 2010, als der republikanische Senator Mitch McConnell Mehrheitsführer dieser Kammer wurde, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jegliche Gesetzgebung oder Initiativen der Demokratischen Partei in der Exekutive oder Legislative zu behindern, selbst solche, die als „mitte-rechts“ gelten würden. McConnells Obstruktionspolitik diente nur dazu, „Siege“ der Legislative unter den DemokratInnen zu verhindern, und in dieser Eigenschaft kann von ihm erwartet werden, dass er alles einschränkt, was Biden vorbringt, nur weil Biden ein „D“ (Demokrat) hinter seinem Namen trägt.

Dann stellt sich also die Frage, ob die Republikanische Partei den Senat behalten wird. Diesem Ziel ist sie nach den Wahlen nahe. Sollten sie auch nur eine der Stichwahlen zum Senat in Georgia gewinnen, wird McConnell ein Vetorecht über Bidens Wirtschaftsinitiativen und sogar über die Auswahl seines Kabinetts haben. Mit einer Wende zu Gunsten der Demokratischen Partei bei den Wahlen in Georgia wird Biden jedoch eine effektive Mehrheit haben, eine Stimmengleichheit im Senat mit Vizepräsidentin Kamala Harris als ausschlaggebender Stimme.

Damit die Rechnung von McConnell aufgeht, darf freilich kein/e RepublikanerIn, die Disziplin zu brechen und mit der Demokratischen Partei abzustimmen. McConnell hat während seiner Jahre als Mehrheitsführer die republikanische Disziplin bemerkenswert gut eingehalten, aber es gab gelegentlich Ausreißer, vor allem Mitt Romney, Lisa Murkowski und Susan Collins. Mit republikanischen Siegen in Georgia wird McConnell zumindest die Gelegenheit haben, alles, was Biden zu tun versucht, zu bremsen und möglicherweise zu blockieren.

Besserer Neuaufbau

Was wird Präsident Biden zu tun versuchen, und wie stehen die Chancen, dass es ihm gelingen wird, das als Gesetz in Kraft zu setzen? Nun, es heißt „Build Back Better“ (Besserer Neuaufbau; BBB). Das Konzept basiert, grob gesagt, auf der Katastrophenhilfsstrategie der Vereinten Nationen, die 2015 in Sendai, Japan, für die Planung des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen entworfen wurde. Diese Strategie ist gewissermaßen das Gegenteil dessen, was von Naomi Klein als „Katastrophenkapitalismus“ betitelt wurde. Während der Katastrophenkapitalismus natürliche, politische und wirtschaftliche Schocks nutzte, um ein reines und unregulierte „Überleben des Stärkeren“ des Kapitalismus zu durchzusetzen, was als Neoliberalismus bekannt wurde, nutzt das BBB-Konzept die Wiederaufbaubemühungen nach Katastrophen, um auf eine zentralere Planung zu drängen, mit staatlicher Finanzierung, die eine Wirtschaft auf grünere, gerechtere und allgemein eher „linkspopulistische“ Weise wiederaufbaut. Kurz gesagt, bedeutet dies eher eine Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, wie sie von den New-Deal-DemokratInnen in den USA und den sozialdemokratischen und Labour-Regierungen in Europa verfolgt wird. Hinzu kommen Elemente der Modern Money Theory (Moderne Geldtheorie; MMT). In Bidens ursprünglichen Vorschlägen ist die Rede davon, über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 7 Billionen US-Dollar für die Modernisierung der Infrastruktur, „grüne“ Verkehrsinitiativen und andere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auszugeben, aber mit zusätzlichen Maßnahmen, um auch die interne Gewerbebasis des US-Kapitalismus wieder aufzubauen. Dies würde im Idealfall für gut bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der USA sorgen.

Ironischerweise greift dieser Wiederaufbau der US-Produktionsbasis auch auf unheimliche Weise Donald Trumps Ideen über die Notwendigkeit deren Wiederaufbaus auf, auch wenn sich das „Wie“ dessen, der Protektionismus bis hin zu Handelskriegen, von Trump unterscheidet. Die Bezahlung für diese ehrgeizigen Programme würde durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden erfolgen, zusammen mit einer gewissen geldpolitischen Lockerung im MMT-Stil durch die US-Notenbank und natürlich durch „Wachstum“. Das ist immer der Rückgriff auf einen buchhalterischen Trick im Kapitalismus, um Haushaltsdefizite zu verniedlichen. „Wachstum“ soll immer Defizite abdecken, auch wenn niemand weiß, ob es eintritt oder das auch tut.

Die Inspiration mag der Sendai-Plan sein, aber er leiht sich auch viel von Roosevelts ursprünglichem New Deal in seinem Bestreben, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern und die Infrastruktur wieder aufzubauen, was mit Roosevelts Kriegsanstrengungen in den 1940er Jahren und mit Trumans Kaltem Krieg erst richtig in Gang kam. Diese Fakten sollten uns daran erinnern, dass die nationale Einheit zwischen den Parteien und mit der organisierten ArbeiterInnenklasse nur unter Kriegs- und Halbkriegsbedingungen möglich war. Und sie wurde durch den massiven Anstieg der Profitrate unterstützt, der durch die Zerstörung, Abnutzung und Erneuerung veralteten US-Kapitals verursacht wurde. Ohne dies hätten die Staatsausgaben allein nicht den langen Boom erzeugt. Als sie Ende der sechziger Jahre zurückging, vervielfachten sich die Krisen mit Stagnation und Inflation, und die Ära des New Deal und der Großen Gesellschaft endete. Der junge New Dealer Biden „reifte“ zu einem Fiskalkonservativen heran. Wird er sich nun wieder zu einem New Dealer zurückentwickeln?

Biden gab den Startschuss für diese Lobbyarbeit zum Wiederaufbau der US-Infrastruktur am Montag, den 16. November, durch ein Treffen mit UnternehmenschefInnen, darunter die Vorstandsvorsitzenden von GM, Microsoft, Target, Gap Inc. und den GewerkschaftsführerInnen, allen voran Richard Trumka von der AFL-CIO, aber auch mit den Vorsitzenden von AutomobilarbeiterInnen-, Dienstleistungs-, Nahrungsmittel- und HandelsarbeiterInnen sowie Staats- und Kommunalbedienstetengewerkschaften. Nach diesem Online-Treffen war er von den Aussichten auf eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden grundsätzlich konkurrierenden Interessengruppen positiv überrascht.

Die obersten GewerkschaftsbürokrateInnn werden sich freuen, im Weißen Haus willkommen geheißen und von Biden als LeiterInnen gewichtiger Institutionen anerkannt zu werden, aber die Ergebnisse für ihre Mitglieder dürften dürftig ausfallen. Die Gegenleistung wird darin bestehen, dass diese FührerInnen ihre Macht nutzen werden, um Biden das Regieren zu erleichtern und jeden wirklichen Kampf zurückzuhalten, wenn er darum geht, die Kosten der COVID-Pandemie und der Rezession auf die Massen abzuwälzen, die für ihn gestimmt haben.

COVID besiegen

Die Katastrophe, die den Versuch, das BBB in Kraft zu setzen, ausgelöst hat, ist die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schocks, die sie hinterlassen hat. Die Bewältigung eines Winters mit zunehmenden COVID-19-Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen wird die erste Aufgabe von Joe Biden sein, wenn er im Januar 2021 sein Amt antritt.

Die wahlberechtigte Öffentlichkeit erwartet dies und insbesondere diejenigen, die die Demokratische Partei gewählt haben. Eine jüngste Umfrage von Morning Consult/Politico ergab, dass 69 % der Befragten forderten, die Kontrolle der Ausbreitung des COVID müsse die oberste Priorität der Biden-Regierung darstellen, wobei 66 % die wirtschaftliche Entlastung von der Pandemie und ihren Folgen und 64 % einen allgemeineren wirtschaftlichen Impuls forderten. Hier wird sich die Kontrolle durch den Senat als entscheidend für jeden neuen Wirtschaftsstimulus erweisen.

Aber sie werden auf Widerstand und Sabotage seitens der Mehrheit der RepublikanerInnen im Kongress und in den von ihnen regierten Staaten stoßen. Mitch McConnell hat bereits angedeutet, dass die Republikanische Partei ein weiteres Coronavirus-Konjunkturprogramm nicht für notwendig hält, da sie der Meinung ist, dass sich die Wirtschaft auf dem Weg zurück zur Gesundung befindet. Dies zeigt die Tatsache, dass das 2,2 Billionen Dollar schwere HEROES-Gesetz (Gesetz zu Erholung von Gesundheitswesen und Wirtschaft), das eine Folgemaßnahme zum CARES-Gesetz (Coronahilfs- und Wirtschaftssicherheitsgesetz) darstellt, vor sechs Monaten vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, aber noch nicht einmal eine Anhörung im Senat erlebte, geschweige denn eine Abstimmung. Dies sagt uns, dass jedes neue Konjunkturpaket, das von einem republikanisch dominierten Senat gebilligt werden soll, wahrscheinlich weniger umfangreich sein wird als das bereits bestehende Paket des Kongresses.

Die UnterstützerInnen des Kapitals, sowohl bei der Demokratischen wie bei der Republikanischen Partei, haben immer die Entwicklung der Wohlhabenden in der Gesellschaft als Indikator für den Zustand der allgemeinen Wirtschaft betrachtet, und in Zeiten kapitalistischer Stabilität kann dies für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung sein. In Zeiten extremer wirtschaftlicher Krise, wenn der Populismus rechts und links aufsteigt, ist die Bourgeoisie jedoch auch gespalten. Die Sektion der besitzenden Klasse, die Biden vertritt, sieht die Notwendigkeit einer Ablenkung, die die steigende antikapitalistische Stimmung eindämmt, eine Stimmung, die mit Sicherheit wachsen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, dass während der Pandemie bereits die 11 Millionen Dauerarbeitsplätze verloren gegangen sind, und gegen die Möglichkeit einer massiven Räumungswelle, nachdem der Schutz der MieterInnen durch das CARES-Gesetz am Ende des Jahres ausläuft. Nichts entlarvt den Kapitalismus so sehr wie eine massive Zahl von arbeitslosen Lohnabhängigen und ihren Familien, die ohne Wohnung auf der Straße leben.

Da ist auch die Frage der Zulassung und Verteilung eines Impfstoffs gegen Coronavirus und COVID, wo nach dem klassischen Szenario „gute und schlechte Nachrichten“ verfahren wird. Die gute Nachricht ist natürlich, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Impfstoffe gibt, die in Vorversuchen das Versprechen eines Schutzes gegen das Coronavirus mit einer 95 %igen Effizienzrate gezeigt haben. Die Vorstellung, dass das Ende dieses langen Albtraums von Todesfällen, Krankheiten und wirtschaftlichen Verwerfungen in Sicht ist, ist für die Gesellschaft als Ganzes ungeheuer ermutigend, aber der Prozess und die Infrastruktur für die Verteilung dieses Impfstoffs an die breite Öffentlichkeit ist entmutigend und erfordert eine monatelange Vorlaufzeit. Es ist auch eine Vorlaufzeit, die mit jedem Tag dringlicher, verkürzt wird, an dem Trump und seine UnterstützerInnen, zu denen die gesamte gewählte Republikanische Partei und die Mehrheit ihrer WählerInnen gehören, den Übergang zu einer Biden-Regierung hartnäckig hinausschieben.

Die Entscheidung, welcher Impfstoff verwendet werden soll, die Massenproduktion des gewählten Impfstoffs, die Festlegung der Prioritäten, wer die frühesten Impfungen erhält, die Nachverfolgung der Impfungen, falls mehr als eine erforderlich ist, die Kosten und, wer diese trägt, sowie eine Unzahl anderer Entscheidungen – all dies muss von demjenigen entschieden werden, der 2021 den Amtseid als Präsident ablegt. Angesichts der Tatsache, dass in den USA jeden Tag Tausende von Menschen am SARS-CoV-2-Virus sterben und jede Minute eine neue Infektion auftritt, dass die Krankenhäuser überfordert sind oder kurz davor stehen, überfordert zu werden, tötet jeder Tag der Verzögerung durch politische Spielerei Menschen.

„Bidenomics“ – die fortschrittlichste Wirtschaftspolitik seit dem New Deal?

Einige Medien, insbesondere Newsweek und Fox News, haben behauptet, dass eine Biden-Administration mit Build Back Better die fortschrittlichste Agenda seit Franklin Roosevelts New Deal während der Großen Depression aufgetischt hätte. Kein geringerer reformistischer Schlagzeilenlieferant als Bernie Sanders selbst schloss sich dieser Ansicht über die Politik Bidens an, nachdem die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Einheit der Demokratischen Partei im Juli veröffentlicht worden waren.

Je nach verwendetem Taktmaß könnte es die erste Verbesserung nach den 40 Jahren Wirtschaftspolitik markieren, die unter Reagan eingeführt und unter Bill Clinton als „Washingtoner Konsens“ gefestigt wurde. Sie reicht jedoch bei weitem nicht an das heran, worauf die „demokratischen SozialistInnen“ wie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez gedrängt haben. Es gibt keine Betragszahlung für alle für Medicare for All (Gesundheitsversorgung für alle), aber es gibt einen Einstiegsplan, der als „öffentliche Option“ bezeichnet wird, eine Entscheidung, die im Affordable Care Act (erschwingliche Versorgung) von 2010 bewusst nicht getroffen wurde. Es gibt keinen einheitlichen Green New Deal, aber viele der Elemente, die den GND ausmachen, sind in Bidens BBB enthalten. Und es ist eine beträchtliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde geplant, obwohl dies in Etappen und nicht in einem Rutsch geschehen soll.

Wenn Biden diese linkspopulistische Wunschliste umsetzen könnte, würde er sicherlich den Anspruch erheben, eine transformative Figur in der kapitalistischen Politik zu sein, wie Roosevelt auf der linken oder Reagan auf der rechten Seite. Wie wir oben sagten, ist der BBB das Gegenteil des Katastrophenkapitalismus und wird von der Rechten zweifellos jederzeit als „Katastrophensozialismus“ bezeichnet werden. Doch auch wenn es sich nicht um Sozialismus handelt, wäre die Umsetzung dieser Programme immer noch beinahe ein Wunder unter den gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Verfalls und der sinkenden Profitrate eine reine Spekulation. Vor allem die Steuererhöhungen sind schon bei ihrem Beginn tot, wenn die RepublikanerInnen in der Senatsmehrheit bleiben, und das könnte auch dann der Fall sein, wenn die DemokratInnen das ausschlaggebende Mandat gewinnen. Da sie eine kapitalistische politische Partei sind, sind viele demokratische SenatorInnen sehr abgeneigt, Steuern zu erhöhen, selbst bei denen, die sich höhere Steuern am meisten leisten können, den Reichen und den multinationalen Konzernen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft immer noch versucht, sich von der CoVid-Krise zu erholen, und die Aussichten selbst einer bescheidenen Steuererhöhung für Unternehmen bestenfalls zweifelhaft sind.

Nach anfänglichen Versuchen, einige dieser Vorschläge einzubringen, können wir in Anbetracht von Bidens Geschichte berechnen, wo diese „fortschrittlichste Agenda seit dem New Deal“ enden wird. Trägheit ist eine handfeste Angelegenheit, nicht nur physisch, sondern auch in der Politik. Die Trägheit ist auf der Seite der 40 Jahre „Reaganomics“. Wir können einige Maßnahmen gegen die Pandemiekrise erwarten, selbst von McConnell und der Republikanischen Partei. Aber diese würde nicht annähernd das ausgleichen, was die ArbeiterInnenklasse infolge von den wirtschaftlichen Schocks durch das Virus bereits durchlitten hat und was ihr noch in Kürze bevorstehen würde. Die Arbeit an dem Verteilungsprozess des/der Impfstoffe/s wird vorangehen, zumal damit eine Menge Geld zu verdienen ist, und je schneller er verfügbar ist, desto eher werden alle Entschuldigungen für das Herunterfahren der Wirtschaft beseitigt und die Geschäfte können wie vordem weitergehen. Aber was kommt dann?

Wenn es ernsthafte Reformen mit wirklichen Verbesserungen im Gesundheitswesen, im Lohnniveau, gesellschaftlich aufgewerteter Arbeit für die Arbeitslosen und für jene in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen geben soll, kann dies nicht durch das Warten auf Bidens Instinkte, „die Hand zur anderen Seite auszustrecken“, geschehen. Wie Rosa Luxemburg sagt, sind selbst ernsthafte Reformen nur ein Nebenprodukt der Revolution oder der Furcht vor ebendieser. In den 1930er und 1960er Jahren haben Revolutionen außerhalb der USA und massenhafte Gewerkschafts- und Bürgerrechtskämpfe unsere HerrscherInnen davon „überzeugt“, die Bedrohung durch Sozialausgaben und Arbeitsrechte und -beschaffungsmaßnahmen abzuwenden. Wenn der Druck jedoch nachlässt, versucht die herrschende Klasse, alles zurückzuholen.

Die einzige Hoffnung, einen Kongress und einen Präsidenten mit konservativen Instinkten zu überwinden, liegt darin, ihnen Furcht vor massenhaften und militanten Straßen- und Betriebsaktionen einzuflößen. Eine weitere Waffe stellt das Vorantreiben zum Aufbau einer sozialistischen und ArbeiterInnenpartei, die unabhängig von den DemokratInnen auftritt, dar. Ihre erste Aufgabe wäre die Führung und Organisierung von Kämpfen in den Kommunen und Betrieben. Diese sollten nicht nur gegen wirtschaftliche Entbehrungen, sondern auch gegen Rassismus, Polizeigewalt, Rechte von Frauen, LBGTIAQ-Meschen und der indigenen Bevölkerung geführt werden und die Beendigung der Verfolgung von „illegalen“ MigrantInnen einschließen. Außerdem hat sich in den Wahlen 2020 durch Trump der Welt der undemokratische Charakter des Verfassungs- und Wahlsystems offenbart. All diese Punkte müssen sich in einem Aktionsprogramm für eine neue ArbeiterInnenpartei niederschlagen. Wahlen sind wichtig, um die Ideen des echten Sozialismus zu verbreiten und unseren Fortschritt zu dokumentieren. Aber die Orientierung auf Wahlen darf nicht Sinn und Zweck einer solchen Partei sein.

Selbstredend werden die PolitikerInnen der Demokratischen Partei und die falschen FührerInnen in der ArbeiterInnenbewegung darum betteln aufzuhören und wollen uns belehren, dass wir der Sache schaden würden, wenn wir eine solche Offensive ins Leben rufen. Aber dies muss geschehen, wenn wir irgendetwas Substantielles erreichen wollen. So muss Politik für die Linke gemacht werden. Legislaturperioden und Gesetze erfolgen nur auf den Druck der Straße und bestätigen Errungenschaften. Sie gehen ihnen nicht voraus.

Wenn wir selbst Zugeständnisse gegen alle Widrigkeiten und dank eigener Kraft durchfechten, dann kann ein echter Sozialismus für Millionen wieder erstrebenswert sein, wie dies schon einmal in der Zeit den Industrial Workers of the World (IndustriearbeiterInnen der Welt; IWW) mit dem Präsidentschaftskandidaten Eugene V. Debs und den ursprünglichen sozialistischen und frühen kommunistischen Parteien der Fall war.




Politische Krise in den USA: ArbeiterInnenklasse braucht eigene Partei

Susanne Kühn, Neue Internationale 251, November 2020

Der Sieger steht noch nicht fest, eine veritable politische Krise schon. Zum Zeitpunkt der Drucklegung (am Morgen des 5. November) sieht es zwar nach einem knappen Wahlsieg Bidens aus, doch die Auszählung der Stimmen läuft noch in entscheidenden Bundesstaaten. Trump und sein Wahlkampfteam verlangen eine Nachzählung der Stimmen in zahlreichen „Swing States“, in anderen versuchen sie, die Auszählung der Stimmen zu stoppen und sich zum Wahlsieger erklären zu lassen.

Die endgültige Auszählung kann sich also noch über Tage ziehen, das juristische und politische Tauziehen wird wohl über Wochen gehen. Einen Wahlsieg Bidens wird Trump sicher nicht einfach anerkennen. Die Vereinigten Staaten treten also in eine veritable politische Krise ein.

Wie weit rechtsradikale AnhängerInnen Trumps dabei gehen werden, um mit reaktionären Mobilisierungen ihren Präsidenten durchsetzen zu wollen, ob Trump die Gerichte auf seine Seite ziehen kann, bleibt abzuwarten. Die ersten rechten Demonstrationen formierten sich bereits für den angeblichen Wahlsieger.

US-„Demokratie“

Wahrscheinlich ist es jedenfalls nicht, dass sich Trump durchsetzt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass Biden schließlich als Präsident angelobt wird. Erstens ist die WählerInnenschaft Trumps insgesamt keine Straßenkampfbewegung, auch wenn solche deren rechten Rand bevölkern. Zweitens ist es unwahrscheinlich, dass selbst republikanisch dominierte Gerichte Trumps Ruf nach Verzicht auf Auszählung aller Stimmen und faktischem Ignorieren eines Stimmenergebnisses folgen würden.

Das liegt freilich nicht an den tollen Institutionen der amerikanischen Demokratie, in die westliche PolitikerInnen so viel Vertrauen setzen, sondern daran, dass die herrschende Klasse keine lange, die Handlungsfähigkeit des Präsidenten und damit auch des US-Imperialismus beeinträchtigende andauernde Verfassungskrise zusätzlich zur Wirtschaftskrise und zur Pandemie brauchen kann.

Im Gegenteil, die ganze Scharade zeigt, dass die US-Demokratie und deren Verfassung in vieler Hinsicht einen Hohn auf die Demokratie darstellen. Ginge es nur um die Stimmen der WählerInnen, stünde der Wahlsieg Bidens, der mehrere Millionen Stimmen mehr erringt als Trump, außer Frage. Hinzu zeigt Trumps Vorgehen auch, welche bonapartistischen Sonderbefugnisse das Amt mit sich bringt. Millionen Menschen, vor allem Schwarze und People of Color, sind ohnedies vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die US-Demokratie ist vor allem die Demokratie einer kapitalistischen Oligarchie, von reinen Kapitalparteien, eine Demokratie, deren Verfassung bis heute ihr Ursprung in einer Gesellschaft eingeschrieben ist, in der die weißen SklavenhalterInnen den Kern des Kapitals bildeten.

Der normale Ablauf dieser Demokratie wurde von Trump und seiner rechtspopulistischen Bewegung dadurch gestört, dass innerhalb des Kapitals ein Konflikt über die weitere Strategie zur Verteidigung der US-Hegemonie entbrannt ist. Nicht „America First“ steht zur Diskussion, sondern wie es durchgesetzt werden soll. Trump gibt sich dabei als Vorkämpfer gegen die Elite, um „das Volk“ vor seinen Karren zu spannen und eine andere Ausrichtung eben der Elite zu erzwingen. Biden und seine Partei stehen hingegen für die Verfolgung der US-Kapitalinteressen mit „traditionelleren“ Mitteln.

Wenn Biden im Januar inauguriert werden sollte, so wird er als Präsident der vereinigten Elite fungieren, ja fungieren müssen. Die Republikanische Partei sicherte sich schließlich bei den Wahlen weiter eine Mehrheit im Senat, also im Oberhaus, und konnte auch bei den Wahlen zum Kongress etwas zulegen, auch wenn dort die DemokratInnen die Mehrheit behalten.

Keine Illusionen in Biden!

Für die ArbeiterInnenklasse, für die rassistisch Unterdrückten, für Frauen in den USA wird sich rasch herausstellen, dass der Gegensatz von Biden/Harris und Trump/Pence so groß nicht ist. Die ohnedies zaghaften Wahlversprechen eines Joe Biden hinsichtlich Gesundheitsversorgung und Pandemie-Bekämpfung werden vom Senat kassiert oder zumindest verwässert werden. Gleichzeit droht eine Vertiefung der Wirtschaftskrise. Millionen haben bereits ihre Jobs verloren – Millionen droht dies. Gerechtigkeit für Schwarze und People of Color wird es auch unter einem rechten demokratischen Präsidenten nicht geben. Im Gegenteil, auch dieser wird rassistische Cops und die Nationalgarde gegen Protestbewegungen und Widerstand aufmarschieren lassen.

Den Grenzzaun zu Mexiko, die rassistische Selektion mag Biden zwar modifizieren, was z. B. die Lager an den Grenzen betrifft, abschaffen oder schleifen wird er diese wohl nicht. Was das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und Selbstbestimmung betrifft, wird er sich weder mit den republikanischen Bundesstaaten noch mit dem rechten Obersten Gericht anlegen.

Aktiv wird er nur sein, wenn es um die Verfolgung der Interessen seiner Klasse, des US-Kapitals, und deren Weltmachtstellung geht. Gerade bei letzterer liegen die Vorstellungen von Demokratischer und Republikanischer Partei nicht so weit auseinander. Die Wendung zum Pazifik und die Konkurrenz mit China stehen auch in deren Fokus. Die geostrategischen und ökonomischen Widersprüche der imperialistischen Weltordnung, der verschärfte Kampf um eine Neuaufteilung der Welt stellen schließlich keine Erfindung von Trump dar, sondern objektive Interessengegensätze, die sich weiter verschärfen werden. Das bringen, nebenbei bemerkt, auch die Kommentare der deutschen PolitikerInnen zum Ausdruck. Ihre Schlussfolgerungen: Deutschland und die EU müssen „selbstständiger“ werden, mehr „Verantwortung“ übernehmen – diplomatisch, ökonomisch, militärisch, um international mit den USA, China, Russland auf „Augenhöhe“ konkurrieren zu können, quasi als demokratisch verbrämter Imperialismus.

Für die ArbeiterInnenklasse, für Schwarze und People of Color, für die Frauenbewegung und die „radikale“ Linke kann die Schlussfolgerung nur darin bestehen, den Kampf auf der Straße, in den Betrieben, in den Stadtteilen aufzunehmen. Das bedeutet aber auch, nicht nur gegen die antidemokratischen Zumutungen eines Trump und seiner AnhängerInnen zu mobilisieren. Es bedeutet auch, für den finalen Bruch mit der Demokratischen Partei einzutreten. Die Kapitalpartei eines Biden, von vielen als „kleineres Übel“ gewählt, wird sich rasch als nicht allzu viel anderes Übel erweisen.

Die US-ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten dürfen sich nicht weiter an die Demokratische Partei binden lassen, sie müssen unabhängig von beiden Fraktionen des US-Kapitals agieren.

Einheitsfront und ArbeiterInnenpartei

Das bedeutet zum einen die Unterstützung der Massenaktionen der antirassistischen und der Frauenbewegung. Es bedeutet, den Kampf gegen die Krise und Entlassungen und für den Aufbau einer Basisbewegung in den US-amerikanischen Gewerkschaften gegen Klassenkollaboration und die politische Unterordnung unter die Demokratische Partei aufzunehmen.

Der Aufbau einer Massenbewegung, einer Einheitsfront im Kampf gegen die Krise, gegen Rassismus und Sexismus, einschließlich von Selbstverteidigungsorganen gegen rechte und polizeiliche Provokationen, stellt eine Schlüsselaufgabe dar.

Die andere besteht im Kampf für die Bildung einer eigenen politischen Kraft der Lohnabhängigen, für eine ArbeiterInnenpartei, die kämpferische Gewerkschaften, migrantische ArbeiterInnen, die AktivistInnen von Black Lives Matter, proletarische Frauen in ihren kämpferischen Reihen vereint. Für diese Perspektive müssen RevolutionärInnen in der Klasse, in den Bewegungen und in der DSA (Democratic Socialists of America) eintreten.

Dabei gilt es von Beginn an, für eine proletarisch-revolutionäre, kommunistische Ausrichtung zu kämpfen, für eine Partei, die für die Macht der ArbeiterInnenklasse kämpft und sich nicht mit Reformen im Rahmen des US-Kapitalismus begnügt.