EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Belarus: Offene Revolte nach der Wahlfälschung

Urte March, Neue Internationale 249, September 2020

Am Sonntag, dem 23.8.2020, erlebte Minsk einen neuen Höhepunkt der Protestwelle. Zehntausende versammelten sich zu einer nicht genehmigten Kundgebung auf dem Unabhängigkeitsplatz. Die weiß-rot-weiße Fahne des bürgerlichen Weißrusslands, das zentrale Symbol der heutigen Opposition gegen den seit 26 Jahren regierenden Präsidenten, dominierte dabei. Dieser verunglimpfte die „illegalen Demonstrationen“ als „von außen gesteuert“ und hielt sich derweil in Grodno nahe der polnischen Grenze auf, weil NATO-Truppen in Polen und Litauen entlang der Grenze ernsthaft in Bewegung seien.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sieht Anzeichen für eine „Normalisierung“ und bezeichnete den Konflikt als innere Angelegenheit der Republik Belarus. Ein gesellschaftlicher Dialog über eine belarusische Verfassungsreform sei ein „vielversprechender Vorschlag“, um ein blutiges „ukrainisches Szenario“ zu verhindern. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der die EU-Staaten neben Belarus und Russland vertreten sind, bot sich erneut als Vermittlerin an.

Der Aufstand in Belarus ist an einem entscheidenden Punkt angelangt: Anders als 2006, 2010 und 2015 verfügt diesmal Alexander Lukaschenko (Weißrussisch: Aljaksandr Lukaschenka) wahrscheinlich wirklich über keine Mehrheit und ist auch die ArbeiterInnenklasse gegen ihn auf den Plan getreten.

Die Scheinwahl war der Funke, der ein Pulverfass sozialer Unzufriedenheit in Belarus entzündete, dessen Regierung durch immer härtere arbeiterInnenfeindliche Maßnahmen in den letzten Jahren eine krisengeschüttelte Wirtschaft gestützt hat, und wo der Staat sich geweigert hat, irgendeine Verantwortung für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu übernehmen, die Lukaschenko als „Psychose“ abtat.

Ursprünge

Die Ursprünge der gegenwärtigen Krise lassen sich auf den Zerfall der UdSSR und die Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückführen. Als einziger Staat unter denen der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks hat sich Belarus bisher der neo-liberalen Schocktherapie entzogen, die die bürokratischen Planwirtschaften zerstörte und zig Millionen Menschen in bittere Armut stürzte.

Stattdessen hat sich die Kaste der ehemaligen sowjetischen BürokratInnen in nationale VerwalterInnen staatlicher kapitalistischer Unternehmen verwandelt und erfolgreich die Macht an der Spitze einer immer zu einem großen Teil staatseigenen Wirtschaft konsolidiert. Die Strategie der herrschenden Elite zur Aufrechterhaltung von Macht und sozialer Stabilität bestand darin, einen vorsichtigen Balanceakt zwischen den expansionistischen Ambitionen des westlichen und des russischen Imperialismus zu vollziehen, die Vorteile ausländischer Kredite und Subventionen zu nutzen und gleichzeitig ihrem Volk grundlegende demokratische Freiheiten zu verweigern, um die interne Opposition zu unterdrücken.

Noch immer ist der staatliche Sektor für etwas mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Belarus unterscheidet sich stark vom oligarchischen Kapitalismus der Ukraine oder Russlands, ist aber weit entfernt von einer Planwirtschaft: Seine staatliche Industrie ist in Holdings organisiert, die auf den Weltmärkten operieren, in deren Zentrum die 3 großen Staatsbanken stehen. Da die Kredite weit über das reale Wachstum stiegen und es an inländischen Kapitalquellen mangelte, ist die Auslandsverschuldung unweigerlich angestiegen und lag schon vor der Corona-Krise bei 80 Prozent des BIP. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich Belarus in einem Teufelskreis aus Schuldenrefinanzierung, Stagnation, Währungskrise und Preisstabilitätsproblemen. Es ist daher in Bezug auf Subventionen, insbesondere in Form von billigem Öl, und Exportmärkte immer mehr von Russland abhängig.

Um das Öl am Fließen zu halten, hat Lukaschenko den aufeinander folgenden russischen Versuchen einer stärkeren Integration zwischen den beiden Staaten schrittweise nachgegeben, aber alle entscheidenden Privatisierungsschritte, die die Enteignung der einheimischen Eliten zugunsten der russischen OligarchInnen riskieren würden, verzögert oder sich ihnen widersetzt. Ebenso würden, wenn er seine Flirts mit der EU durchzöge, Darlehen und private Investitionen zweifellos von einer „Reform“, d. h. einer vollständigen Öffnung für die Marktkräfte, abhängig gemacht.

Stagnation

Trotz schleichender wirtschaftlicher Stagnation war Lukaschenko jahrzehntelang in der Lage, die Gewinne aus dem Verkauf russischen Öls umzuverteilen, um der Bevölkerung des Landes einen zumindest angemessenen Lebensstandard zu sichern, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, subventionierter Mieten, hoher staatlicher Renten und anderer staatlicher Wohlfahrtsprogramme. Infolgedessen war seine Regierung in der Lage, trotz ihres eisernen Griffs um die weißrussische Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Legitimität unter den ArbeiterInnen auf dem Land und in den Städten aufrechtzuerhalten.

Doch Lukaschenkos hartnäckige Weigerung, seine designierte Rolle als Putins Handlanger zu akzeptieren, hat zu wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt, was Kürzungen der russischen Ölsubventionen und Vertragsstreitigkeiten zur Folge hatte, durch die die Öllieferungen häufig unterbrochen wurden. Die immer dringendere Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung und der Wunsch, sich in der Ukraine-Krise nicht mit Russland zu verbünden, haben Lukaschenko dazu veranlasst, der Europäischen Union Angebote zu unterbreiten und einen „Dialog“ über die wirtschaftliche Liberalisierung im Gegenzug für mehr europäische Hilfe aufzunehmen. Der Prozess verlief langsam, doch ein vollwertiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurde durch den Widerstand Litauens blockiert und wird letztlich durch die Notwendigkeit des Regimes eingeschränkt, seine Interessen zwischen Ost und West zu sichern, um seine eigene Position zu wahren.

In den letzten Jahren ist dieser Balanceakt an seine Grenzen gestoßen. Während der tiefen Rezession von 2015 bis 2017 konnte der hoch verschuldete Staat nicht antizyklisch agieren, und die Realeinkommen sanken infolge von Währungsabwertung und Preissteigerungen um 13 Prozent. Angesichts des rückläufigen Wachstums und der zunehmenden Unfähigkeit oder des Unwillens, auf Moskaus Schirmherrschaft zurückzugreifen, hat sich Lukaschenko einem Angriff auf seine eigene ArbeiterInnenklasse zugewandt, um Verluste wieder hereinzuholen und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.

2015 wurde das so genannte „Parasitengesetz“ eingeführt, das jede/n, der/die keine staatlich anerkannte Beschäftigung hat, zwingt, eine Sondersteuer zu zahlen oder zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden. Der Erlass wurde 2018 zurückgezogen, aber stattdessen werden Arbeitslose gezwungen, für alle staatlichen Dienstleistungen zu zahlen. Durch eine Reihe von Änderungen des Arbeitsgesetzes im Jahr 2017 wurden 90 Prozent der Beschäftigten einseitig von unbefristeten auf befristete Verträge umgestellt.

Im Gesundheits- und Bildungswesen wurden weit reichende Kürzungen vorgenommen und das Renteneintrittsalter wurde erhöht. All dies hat in Verbindung mit dem stetig fallenden Wert des belarusischen Rubels zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der belarusischen ArbeiterInnenschaft geführt. Mit der Corona-Krise, den wirtschaftlichen Problemen seines wichtigsten Handelspartners (Russland) und der Höhe der aufgelaufenen Schulden steht Belarus nun am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Angesichts des bisherigen „Krisenmanagements“ von Lukaschenko während der Pandemie haben die ArbeiterInnenklasse und Teile der herrschenden Klasse das Vertrauen in die Fähigkeit des bestehenden Regimes verloren, die herannahende Katastrophe zu verhindern. Gleichzeitig veranlasst die anhaltende Abschaltung der Weltwirtschaft sowohl Russland als auch die EU, ihre Haushaltsprioritäten neu zu bewerten.

Protest

So hat sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in eine Massenbewegung des Volkes verwandelt, die riesige Teile der ArbeiterInnenklasse anzieht und durch Arbeitskampfmaßnahmen in allen Sektoren und in allen Teilen des Landes unterstützt wird. Das Ausmaß und die Breite der Aktionen offenbaren die Tiefe der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes und den authentischen Charakter des Aufstands; eine von den USA orchestrierte „farbige Revolution“ ist dies nicht.

In den ersten Tagen der Proteste beschränkten sich die offiziellen Forderungen der Bewegung auf Aufrufe zu Neuwahlen, die von internationalen BeobachterInnen überwacht werden sollen, und auf die Freilassung inhaftierter AktivistInnen, doch am 9.8. forderten Massenproteste den sofortigen Rücktritt Lukaschenkos.

Wenn die Proteste anhalten und, was entscheidend ist, wenn die Streikbewegung wächst, um größere Teile der Wirtschaft zu lähmen, steht Lukaschenko vor der Wahl zwischen einem blutigen Durchgreifen und dem Verzicht auf die Macht. Vorerst kontrolliert das Regime immer noch Polizei und Militär, obwohl es Berichte gibt, dass sich einige Angehörige von Polizei und Armee an Demonstrationen beteiligen und DemonstrantInnen gefilmt wurden, die an SoldatInnen appellieren, sich dem Aufstand anzuschließen.

Die Demokratiebewegung ist entschlossen und genießt die Unterstützung der Massen. Ihre Unterdrückung würde wahrscheinlich anhaltende Gewalt mit sich bringen und ein Überlaufen aus dem Militär riskieren. Putin hat Lukaschenko gemäß dem Militärpakt der beiden Länder militärische Unterstützung versprochen, hat es aber bis jetzt nicht wahrgemacht, jenen zu unterstützen, den er als einen völlig unzuverlässigen Verbündeten betrachtet. Auf jeden Fall wäre die russische Hilfeleistung mit einem hohen Preis verbunden. Lukaschenko wäre sicherlich gezwungen, seine Politik der konstruktiven Zweideutigkeit gegenüber Russland aufzugeben und eine Zukunft als Treuhänder eines russischen Protektorats zu akzeptieren.

Eine Art „gelenkter Übergang“ könnte eine bevorzugte Alternative für Teile der Bürokratie werden, die hoffen, die Demokratiebewegung zu besänftigen, aber Teile des Regierungsapparates zu erhalten und die Profite aus den bevorstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben zu ernten.

Die Demokratiebewegung verfügt bisher nur über eine wenig organisierte politische Führung, die die Form eines spontanen Aufflammens der Unzufriedenheit der Bevölkerung annimmt. Viele FührerInnen der liberalen Opposition, die für die wirtschaftliche Liberalisierung und die volle Integration in die Weltmärkte eintreten, befinden sich im Gefängnis oder im Ausland.

Swetlana Tichanowskaja (Weißrussisch: Swjatlana Zichanouskaja), die Kandidatin der Opposition bei den Wahlen in der vergangenen Woche, hat erklärt, dass sie bereit sei, die Präsidentschaft zu übernehmen, und die Schaffung eines nationalen „Koordinierungsrates“ aus ihrem selbstgewählten Exil in Litauen angekündigt.

Viele fordern nun die internationale Anerkennung von Tichanowskajas Anspruch auf die Präsidentschaft und die EU auf, Verhandlungen zwischen den FührerInnen der Zivilgesellschaft im Exil und der amtierenden Regierung zu vermitteln. Aber es wäre ein katastrophaler Fehler, wenn die Bewegung ihr Vertrauen in die durch und durch kapitalistischen selbsternannten FührerInnen der Opposition oder ihre „FreundInnen“ in der EU setzte. Ebenso wenig sollte sie einen „Koordinierungsrat“ selbst  mit bürokratischen GewerkschaftsvertreterInnen anerkennen. Es sind die Massenkräfte der ArbeiterInnenklasse, die die Bewegung so weit gebracht haben, und sie sollten nicht zulassen, dass die VertreterInnen des liberalen BürgerInnentums die Früchte ihrer Aktionen ernten.

Auch „freie Wahlen“ allein werden das durch die Widersprüche der weißrussischen Wirtschaft verursachte Leid nicht lindern. Wenn es der Massenbewegung nicht gelingt, sich um ein alternatives politisches Programm zu organisieren und sich darauf vorzubereiten, den Übergang selbst zu verwalten, wird Lukaschenkos Weggang höchstwahrscheinlich ein neoliberales Privatisierungsprogramm einläuten, das die Wirtschaft weiter destabilisieren und Belarus in eine von der EU und Deutschland abhängige Halbkolonie verwandeln wird.

Jede/r ArbeiterIn sollte wissen: Eine neue „Schocktherapie“ unter den Bedingungen der angehäuften Schulden und unter den Umständen der globalen Pandemie wäre eine soziale Katastrophe in Belarus. Um ein solches „Experiment“ der liberalen Opposition und ihrer „WirtschaftsexpertInnen“ zu vermeiden, muss die ArbeiterInnenklasse über ihre eigene Organisation und ihr eigenes Programm verfügen, um diese Krise zu überleben.

Programm

Die erste Aufgabe besteht darin, eine Führung der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, die in der Lage ist, den Streik auszuweiten und die Kontrolle über die Revolution von den liberalen ExilantInnen und ihren UnterstützerInnen des Großkapitals an sich zu reißen. Um wirklich demokratisch zu sein und auf die Bedürfnisse der Bewegung einzugehen, sollte sich diese Führung aus gewählten und abrufbaren DelegiertInnen in ArbeiterInnenräten zusammensetzen, die auf den großen Fabriken, Kolchosen und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse fußen und regional und national vernetzt sind. Um diese Führung zu verteidigen, ist es von entscheidender Bedeutung, die einfachen SoldatInnen zu gewinnen und die Polizei zu entwaffnen und sie durch eine ArbeiterInnenmiliz zu ersetzen, die auf den Fabriken und großen landwirtschaftlichen Betrieben basiert.

Die WeißrussInnen brauchen freie Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die unter der Aufsicht der ArbeiterInnenräte durchgeführt wird. Alle Institutionen der herrschenden Klasse und des bürokratischen Staates sollten aufgelöst und durch gewählte Organe ersetzt werden, und diese sollten die Grundlage einer ArbeiterInnenregierung bilden.

Diese Regierung sollte die Tatsache, dass die Wirtschaft immer noch stark konzentriert ist, nutzen, um sie zu übernehmen, indem sie die ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion in den Großunternehmen einführt, die Schulden streicht und die Kontrolle der staatlichen Banken durch einen demokratischen Notfallplan ersetzt.

Ebenso müssen alle sozialen Dienste gegen Privatisierung oder die Einführung von Marktkräften verteidigt und von den ArbeiterInnen, die sie betreiben, umgestaltet werden. Kurz gesagt, die Antwort liegt weder in dem neoliberalen Alptraum der EU noch in Putins oligarchischen KapitalistInnen, sondern in einem Programm des Übergangs zum Sozialismus.

Natürlich kann der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden, vor allem nicht in einem kleinen Land wie Belarus, aber das Beispiel der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen würde die ArbeiterInnen Osteuropas, in den baltischen Staaten, Polen, Russland und der Ukraine, inspirieren, insbesondere da die Welt in eine weitere riesige kapitalistische Rezession stürzt.

Diese ganze Strategie, von der heutigen brennenden Aufgabe, Lukaschenko zu stürzen, bis zur Verhinderung der Unterordnung und Ausbeutung des Landes durch westliche oder russische ImperialistInnen, erfordert eine Partei der ArbeiterInnenklasse, die in der Lage ist, der Massenbewegung eine Führung zu geben.

Die SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen sich aktiv solidarisch mit der Revolution in Belarus zeigen und sich einer Intervention Russlands oder der EU und der USA widersetzen.




Belarus: Von der Wahlfälschung zur Revolte

Urte March, Infomail 1114, 19. August 2020

Der Aufstand in Belarus ist an einem entscheidenden Punkt angelangt, wie Präsident Alexander Lukaschenko (Weißrussisch: Aljaksandr Lukaschenka) gegenüber ArbeiterInnen, die seinen Rücktritt und demokratische Wahlen forderten, erklärte: „Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine weiteren Wahlen geben“.

Eine Welle von Protesten und Streiks der Bevölkerung hat das Land erfasst, seit Lukaschenko am 9. August in einer dreist manipulierten Wahl einen erdrutschartigen Sieg für sich reklamiert hat. Friedliche Proteste, die zu freien und fairen Wahlen aufriefen, trafen zunächst auf brutale Unterdrückung durch die Polizei, wobei Tausende verhaftet und mindestens zwei Menschen getötet wurden. Berichte über Schläge und Folter in staatlichen Gefängnissen sind weit verbreitet. Fotos von erlittenen Verletzungen verbreiteten sich und entflammten noch mehr Menschen zu aktivem Widerstand.

Dazu gehörten ArbeiterInnen, die das staatliche Minsker Automobilwerk (MAZ), das Minsker Traktorenwerk (MTZ; auch: MTW) sowie das riesige BElaz-Automobilwerk in Zhodino in der Nähe der Hauptstadt verließen. In den folgenden Tagen organisierten die Beschäftigten in fast allen großen Industriezweigen Streiks aus Solidarität mit den DemonstrantInnen und forderten Neuwahlen und Freiheit für alle inhaftierten Protestierenden und Oppositionellen. Am Sonntag beteiligten sich über einhunderttausend Menschen an der bisher größten Demonstration in der Geschichte des Landes.

Die Scheinwahl war der Funke, der ein Pulverfass sozialer Unzufriedenheit in Belarus entzündete, dessen Regierung durch immer härtere arbeiterInnenfeindliche Maßnahmen in den letzten Jahren eine krisengeschüttelte Wirtschaft gestützt hat, und wo der Staat sich geweigert hat, irgendeine Verantwortung für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu übernehmen, die Lukaschenko im Gefolge anderer „starker Männer“ wie Trump und Bolsonaro als „Psychose“ abtat.

Ursprünge

Die Ursprünge der gegenwärtigen Krise lassen sich auf den Zerfall der UdSSR und die Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückführen. Als einziger Staat unter denen der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks hat sich Belarus bisher der neo-liberalen Schocktherapie entzogen, die die bürokratischen Planwirtschaften zerstörte und zig Millionen Menschen in bittere Armut stürzte.

Stattdessen hat sich die Kaste der ehemaligen sowjetischen BürokratInnen – Lukaschenko selbst ist ehemaliger Leiter einer Kolchose – in nationale VerwalterInnen staatlicher kapitalistischer Unternehmen verwandelt und erfolgreich die Macht an der Spitze einer immer zu einem großen Teil staatseigenen Wirtschaft konsolidiert. Die Strategie der herrschenden Elite zur Aufrechterhaltung von Macht und sozialer Stabilität bestand darin, einen vorsichtigen Balanceakt zwischen den expansionistischen Ambitionen des westlichen und des russischen Imperialismus zu vollziehen, die Vorteile ausländischer Kredite und Subventionen zu nutzen und gleichzeitig ihrem Volk grundlegende demokratische Freiheiten zu verweigern, um die interne Opposition zu unterdrücken.

Die staatseigene und bürokratisch geführte Wirtschaft, die innerhalb der Grenzen eines internationalen kapitalistischen Marktes existiert, war nicht in der Lage, genügend ausländische Investitionen anzuziehen oder die Produktivität seiner Schwerindustrie zu entwickeln. Außerdem ist sie extrem stark von russischen Ölsubventionen und Exportmärkten abhängig.

Noch immer ist der staatliche Sektor für etwas mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Belarus unterscheidet sich stark vom oligarchischen Kapitalismus der Ukraine oder Russlands, ist aber weit entfernt von einer Planwirtschaft: Seine staatliche Industrie ist in Holdings organisiert, die auf den Weltmärkten operieren, in deren Zentrum die 3 großen Staatsbanken stehen. Da die Kredite weit über das realen Wachstum stiegen und es an inländischen Kapitalquellen mangelte, ist die Auslandsverschuldung unweigerlich angestiegen und lag schon vor der Corona-Krise bei 80 Prozent des BIP. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich Belarus in einem Teufelskreis aus Schuldenrefinanzierung, Stagnation, Währungskrise und Preisstabilitätsproblemen. Es ist daher in Bezug auf Subventionen, insbesondere in Form von billigem Öl, und Exportmärkte immer mehr von Russland abhängig.

Um das Öl am Fließen zu halten, hat Lukaschenko den aufeinander folgenden russischen Versuchen einer stärkeren Integration zwischen den beiden Staaten schrittweise nachgegeben, aber alle entscheidenden Privatisierungsschritte, die die Enteignung der einheimischen Eliten zugunsten der russischen OligarchInnen gefährden würden, verzögert oder sich ihnen widersetzt. Ebenso würden, wenn er seine Flirts mit der EU durchzöge, Darlehen und private Investitionen zweifellos von einer „Reform“, d. h. einer vollständigen Öffnung für die Marktkräfte, abhängig gemacht.

Trotz schleichender wirtschaftlicher Stagnation war Lukaschenko jahrzehntelang in der Lage, die Gewinne aus dem Verkauf russischen Öls umzuverteilen, um der Bevölkerung des Landes einen zumindest angemessenen Lebensstandard zu sichern, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, subventionierter Mieten, hoher staatlicher Renten und anderer staatlicher Wohlfahrtsprogramme. Infolgedessen war seine Regierung in der Lage, trotz ihres eisernen Griffs um die weißrussische Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Legitimität unter den ArbeiterInnen auf dem Land und in den Städten aufrechtzuerhalten. Regelmäßige Äußerungen pro-demokratischer Gefühle haben keine breitere Unterstützung gefunden und wurden leicht unterdrückt.

Stagnation

Doch Lukaschenkos hartnäckige Weigerung, seine designierte Rolle als Putins Handlanger zu akzeptieren, hat zu wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt, was Kürzungen der russischen Ölsubventionen und Vertragsstreitigkeiten zur Folge hatte, durch die die Öllieferungen häufig unterbrochen wurden. Die immer dringendere Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung und der Wunsch, sich in der Ukraine-Krise nicht mit Russland zu verbünden, haben Lukaschenko dazu veranlasst, der Europäischen Union Angebote zu unterbreiten und einen „Dialog“ über die wirtschaftliche Liberalisierung im Gegenzug für mehr europäische Hilfe aufzunehmen. Der Prozess verlief langsam, doch ein vollwertiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurde durch den Widerstand Litauens blockiert und wird letztlich durch die Notwendigkeit des Regimes eingeschränkt, seine Interessen zwischen Ost und West zu sichern, um seine eigene Position zu wahren.

In den letzten Jahren ist dieser Balanceakt an seine Grenzen gestoßen. Während der tiefen Rezession von 2015 bis 2017 konnte der hoch verschuldete Staat nicht antizyklisch agieren, und die Realeinkommen sanken infolge von Währungsabwertung und Preissteigerungen um 13 Prozent. Angesichts des rückläufigen Wachstums und der zunehmenden Unfähigkeit oder des Unwillens, auf Moskaus Schirmherrschaft zurückzugreifen, hat sich Lukaschenko einem Angriff auf seine eigene ArbeiterInnenklasse zugewandt, um Verluste wieder hereinzuholen und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.

2015 wurde das so genannte „Parasitengesetz“ eingeführt, das jede/n, der/die keine staatlich anerkannte Beschäftigung hat, zwingt, eine Sondersteuer zu zahlen oder zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden. Der Erlass wurde 2018 zurückgezogen, aber stattdessen werden Arbeitslose gezwungen, für alle staatlichen Dienstleistungen zu zahlen. Durch eine Reihe von Änderungen des Arbeitsgesetzes im Jahr 2017 wurden 90 Prozent der Beschäftigten einseitig von unbefristeten auf befristete Verträge umgestellt.

Im Gesundheits- und Bildungswesen wurden weit reichende Kürzungen vorgenommen und das Renteneintrittsalter wurde erhöht. All dies hat in Verbindung mit dem stetig fallenden Wert des belarussischen Rubels zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der belarussischen ArbeiterInnenschaft geführt. Mit der Corona-Krise, den wirtschaftlichen Problemen seines wichtigsten Handelspartners (Russland) und der Höhe der aufgelaufenen Schulden steht Belarus nun am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Angesichts des bisherigen „Krisenmanagements“ von Lukaschenko während der Pandemie haben die ArbeiterInnenklasse und Teile der herrschenden Klasse das Vertrauen in die Fähigkeit des bestehenden Regimes verloren, die herannahende Katastrophe zu verhindern. Gleichzeitig veranlasst die anhaltende Abschaltung der Weltwirtschaft sowohl Russland als auch die EU, ihre Haushaltsprioritäten neu zu bewerten.

Protest

So hat sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in eine Massenbewegung des Volkes verwandelt, die riesige Teile der ArbeiterInnenklasse anzieht und durch Arbeitskampfmaßnahmen in allen Sektoren und in allen Teilen des Landes unterstützt wird. Das Ausmaß und die Breite der Aktionen offenbaren die Tiefe der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes und den authentischen Charakter des Aufstands; eine von den USA orchestrierte „farbige Revolution“ ist dies nicht.

In den ersten Tagen der Proteste beschränkten sich die offiziellen Forderungen der Bewegung auf Aufrufe zu Neuwahlen, die von internationalen BeobachterInnen überwacht werden sollen, und auf die Freilassung inhaftierter AktivistInnen, doch am Sonntag forderten Massenproteste den sofortigen Rücktritt Lukaschenkos. Die Bewegung hat eine Eigendynamik entwickelt, die die Legitimität des Regimes rasch untergräbt.

Wenn die Proteste anhalten und, was entscheidend ist, wenn die Streikbewegung wächst, um größere Teile der Wirtschaft zu lähmen, steht Lukaschenko vor der Wahl zwischen einem blutigen Durchgreifen und dem Verzicht auf die Macht. Vorerst kontrolliert das Regime immer noch Polizei und Militär, obwohl es Berichte gibt, dass sich einige Angehörige von Polizei und Armee an Demonstrationen beteiligen und DemonstrantInnen gefilmt wurden, die an SoldatInnen appellieren, sich dem Aufstand anzuschließen.

Die Demokratiebewegung ist entschlossen und genießt die Unterstützung der Massen. Ihre Unterdrückung würde wahrscheinlich anhaltende Gewalt mit sich bringen und ein Überlaufen aus dem Militär riskieren. Putin hat Lukaschenko gemäß dem Militärpakt der beiden Länder militärische Unterstützung versprochen, hat es aber bis jetzt nicht wahrgemacht, jenen zu unterstützen, den er als einen völlig unzuverlässigen Verbündeten betrachtet. Auf jeden Fall wäre die russische Hilfeleistung mit einem hohen Preis verbunden. Lukaschenko wäre sicherlich gezwungen, seine Politik der konstruktiven Zweideutigkeit gegenüber Russland aufzugeben und eine Zukunft als Treuhänder eines russischen Protektorats zu akzeptieren.

Eine Art „gelenkter Übergang“ könnte eine bevorzugte Alternative für Teile der Bürokratie werden, die hoffen, die Demokratiebewegung zu besänftigen, aber Teile des Regierungsapparates zu erhalten und die Profite aus den bevorstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben zu ernten. Die Demokratiebewegung verfügt bisher nur über eine wenig organisierte politische Führung, die die Form eines spontanen Aufflammens der Unzufriedenheit der Bevölkerung annimmt. Viele FührerInnen der liberalen Opposition, die für die wirtschaftliche Liberalisierung und die volle Integration in die Weltmärkte eintreten, befinden sich im Gefängnis oder im Ausland. Die Bewegung steht an einer kritischen Schwelle. Was als Nächstes kommt, wird davon abhängen, welche Art von politischer Führung sich herausbildet, um die Unzufriedenheit zu kanalisieren.

Swetlana Tichanowskaja (Weißrussisch: Swjatlana Zichanouskaja), die Kandidatin der Opposition bei den Wahlen in der vergangenen Woche, hat erklärt, dass sie bereit sei, die Präsidentschaft zu übernehmen, und die Schaffung eines nationalen „Koordinierungsrates“ aus ihrem selbstgewählten Exil in Litauen angekündigt. Sie erklärte:

„Ich bitte Sie, sich im Koordinationsrat zu vereinen. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe und Erfahrung. Wir brauchen Ihre Verbindungen, Kontakte, Ihren fachlichen Rat und Ihre Unterstützung. Diesem Koordinierungsrat sollten alle beitreten, die an Dialog und friedlicher Machtübergabe interessiert sind – Arbeitsgruppen, Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen der Zivilgesellschaft.“

Viele fordern nun die internationale Anerkennung von Tichanowskajas Anspruch auf die Präsidentschaft und die EU auf, Verhandlungen zwischen den FührerInnen der Zivilgesellschaft im Exil und der amtierenden Regierung zu vermitteln. Aber es wäre ein katastrophaler Fehler, wenn die Bewegung ihr Vertrauen in die durch und durch kapitalistischen selbsternannten FührerInnen der Opposition oder ihre „FreundInnen“ in der EU setzte. Ebenso wenig sollte sie einen „Koordinierungsrat“ selbst  mit bürokratischen GewerkschaftsvertreterInnen anerkennen. Es sind die Massenkräfte der ArbeiterInnenklasse, die die Bewegung so weit gebracht haben, und sie sollten nicht zulassen, dass die VertreterInnen des liberalen BürgerInnentums die Früchte ihrer Aktionen ernten.

Auch „freie Wahlen“ allein werden das durch die Widersprüche der weißrussischen Wirtschaft verursachte Leid nicht lindern. Wenn es der Massenbewegung nicht gelingt, sich um ein alternatives politisches Programm zu organisieren und sich darauf vorzubereiten, den Übergang selbst zu verwalten, wird Lukaschenkos Weggang höchstwahrscheinlich ein neoliberales Privatisierungsprogramm einläuten, das die Wirtschaft weiter destabilisieren und Belarus in eine von der EU und Deutschland abhängige Halbkolonie verwandeln wird.

Die Erfahrungen Polens und der baltischen Staaten in den 1990er Jahren zeigen, dass dies zu noch größeren Angriffen auf die ArbeiterInnen, zu Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen und Inflation führen wird, die den verbleibenden Schutz der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen rasch untergraben werden. Jede/r ArbeiterIn sollte es wissen: Eine neue „Schocktherapie“ unter den Bedingungen der angehäuften Schulden und unter den Umständen der globalen Pandemie wäre eine soziale Katastrophe in Belarus. Um ein solches „Experiment“ der liberalen Opposition und ihrer „WirtschaftsexpertInnen“ zu vermeiden, muss die ArbeiterInnenklasse über ihre eigene Organisation und ihr eigenes Programm verfügen, um diese Krise zu überleben.

Programm

Dies bedeutet für die Bewegung jedoch keinesfalls, ihre Risiken abzustecken und auf einen „weniger riskanten“ Moment zu warten, um ihre Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Vielmehr  muss sie, müssen insbesondere die ArbeiterInnen in den Fabriken, die  absolut unerlässliche Perspektive eines umfassenden Generalstreik entfalten, um den Tyrannen auszuschalten. Nur wenn Lukaschenko zweifelsfrei erkennt, dass seine SoldatInnen seine Diktatur nicht wiederherstellen werden, wenn er verhaftet wird oder aus dem Land flieht, wird die Revolution sicher sein.

Die erste Aufgabe besteht darin, eine Führung der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, die in der Lage ist, den Streik auszuweiten und die Kontrolle über die Revolution von den liberalen ExilantInnen und ihren UnterstützerInnen des Großkapitals an sich zu reißen. Um wirklich demokratisch zu sein und auf die Bedürfnisse der Bewegung einzugehen, sollte sich diese Führung aus gewählten und abrufbaren DelegiertInnen in ArbeiterInnenräten zusammensetzen, die auf den großen Fabriken, Kolchosen und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse fußen und regional und national vernetzt sind. Um diese Führung zu verteidigen, ist es von entscheidender Bedeutung, die einfachen SoldatInnen zu gewinnen und die Polizei zu entwaffnen und sie durch eine ArbeiterInnenmiliz zu ersetzen, die auf den Fabriken und großen landwirtschaftlichen Betrieben basiert.

Die WeißrussInnen brauchen freie Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die unter der Aufsicht der ArbeiterInnenräte durchgeführt wird. Alle Institutionen der herrschenden Klasse und des bürokratischen Staates sollten aufgelöst und durch gewählte Organe ersetzt werden, und diese sollten die Grundlage einer ArbeiterInnenregierung bilden.

Diese Regierung sollte die Tatsache, dass die Wirtschaft immer noch stark konzentriert ist, nutzen, um sie zu übernehmen, indem sie die ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion in den Großunternehmen einführt, die Schulden streicht und die Kontrolle der staatlichen Banken durch einen demokratischen Notfallplan ersetzt.

Ebenso müssen alle sozialen Dienste gegen Privatisierung oder die Einführung von Marktkräften verteidigt und von den ArbeiterInnen, die sie betreiben, umgestaltet werden. Kurz gesagt, die Antwort liegt weder in dem neoliberalen Alptraum der EU noch in Putins oligarchischen KapitalistInnen, sondern in einem Programm des Übergangs zum Sozialismus.

Natürlich kann der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden, vor allem nicht in einem kleinen Land wie Belarus, aber das Beispiel der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen würde die ArbeiterInnen Osteuropas, in den baltischen Staaten, Polen, Russland und der Ukraine, inspirieren, insbesondere da die Welt in eine weitere riesige kapitalistische Rezession stürzt.

Diese ganze Strategie, von der heutigen brennenden Aufgabe, Lukaschenko zu stürzen, bis zur Verhinderung der Unterordnung und Ausbeutung des Landes durch westliche oder russische ImperialistInnen, erfordert eine Partei der ArbeiterInnenklasse, die in der Lage ist, der Massenbewegung eine Führung zu geben.

Die SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen sich aktiv solidarisch mit der Revolution in Belarus zeigen und sich einer Intervention Russlands oder der EU und der USA widersetzen.