Mannheim: Tödliche Polizeigewalt

Leo Drais, Infomail 1187, 7. Mai 2022

Am 2. Mai wird ein 47-jähriger Mann von der Polizei am Mannheimer Marktplatz kontrolliert. Er ist in einem psychisch labilen Zustand, seit zwanzig Jahren ist er wegen Angstzuständen in psychiatrischer Behandlung, hat migrantische Wurzeln. Mitarbeiter:innen einer psychiatrischen Klinik hatten die Polizei alarmiert und angegeben, dass der Patient womöglich Hilfe brauche. Die Polizei findet ihn und wendet Gewalt gegen den Mann an, schlägt ihm auf den Kopf. Er bricht zusammen und stirbt im Krankenhaus. An der Leiche des Verstorbenen wurden Spuren stumpfer Gewalt festgestellt.

Hunderte demonstrieren spontan in Solidarität mit dem Opfer. „Mord durch Polizei“ schreiben Demonstrant:innen mit Keide auf den Gehweg, wo der Mann tödlich verletzt wurde.

Während Politik und Polizei nun meinen, sie seien geschockt, weigern sie sich, von Mord oder Todschlag zu sprechen. Körperverletzung im Amt mit Todesfolge, heißt es – reine Verharmlosung! Baden-Württembergs Innenminister Strobl warnt gar vor „pauschler“ Kritik und „Hetze“ gegenüber den Tätern.

Nur die Eisbergspitze

Polizeigewalt ist kein Einzelfall und sie erfolgt täglich. Es ist eher Glück, dass durch sie nicht viel mehr Menschen in Deutschland sterben. Opfer werden besonders oft die sowieso am meisten Erniedrigten: wohnungslose Menschen, von Rassismus Betroffene wie Geflüchtete, sexistisch Unterdrückte, Arme, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke – wie, als würde ihre gesellschaftliche Schwäche ein extra hartes Zuschlagen provozieren. Die Uniform sorgt dann schon dafür, straffrei davonzukommen.

In Baden-Württemberg gab es in den letzten beiden Jahren laut SWR 1.039 Anzeigen wegen Polizeigewalt, ganze 6 führten zu Verurteilungen oder Disziplinarmaßnahmen. Womöglich wird es aufgrund des öffentlichen Drucks auch in Mannheim dazu kommen. Die Demos in Antwort auf den Mord und gegen Polizeigewalt waren zumindest ein guter Anfang, um auf den Staat Druck auszuüben.

Aber selbst wenn die Gewalttäter:innen verurteilt werden, ändert das gar nicht an der allgemeinen Polizeigewalt. Denn die hat System und ist politisch gewollt. Es gibt keinen bürgerlichen Staat, keinen Kapitalismus ohne den Knüppel, der beide verteidigt. Dass er sich dabei oft gegen die Schwächsten richtet, liegt nicht nur daran, dass sie sich meistens juristisch nicht zu wehren wissen, sondern passiert auch deshalb, weil sie die Ersten sind, die vom Kapitalismus ausgespuckt werden und in Konflikt mit ihm und seinen Gesetzen geraten.

Und schließlich zieht die Polizei auch einfach überdurchschnittlich stark Charaktere an, die gerne knüppeln, die sich unter Gehorsam wohlfühlen, Gehorsam verlangen und darin ihre eigene Größe suchen. Auch das ist eigentlich der Auswuchs einer Gesellschaft, die die tägliche, im Grunde mörderische Konkurrenz zelebriert.

Abolish the Police!

Dass die Polizei nun gegen sich selbst ermittelt, ist wie bei allen anderen Fällen von Polizeigewalt ein Joke. Wir sollten darin kein Vertrauen haben, sondern eine unabhängige Ermittlung und Verurteilung der Täter:innen fordern, nicht durch den Staat, sondern durch gewählte Vertreter:innen der Unterdrückten und der Arbeiter:innenbewegung. Nur so kann den Betroffenen und Opfern wirklich Gerechtigkeit zuteil werden.

Ihnen zu gedenken, heißt, die Ursachen von Polizeigewalt zu bekämpfen, zu zerschlagen, abzuschaffen: den kapitalistischen Staat und die Polizei, die ihn schützt.




Ihre Freiheit ist eine Lüge

ArbeiterInnenmacht-Rede zum AfD-Gegenprotest in Herrenberg, Infomail 1176, 25. Januar 2022

Hallo GenossInnen,

wie wir wissen, schießen die Infektionszahlen in diesen Tagen wieder mal in die Höhe und scheinbar geht auch einigen Leuten dabei im Kopf die Sicherung durch. Zu der Omikron-Welle kommt jetzt zu allem Unglück noch eine Spaziergangswelle von Verwirrten, die mit hohlen Freiheitsphrasen um sich schmeißen.

Für diese Leute ist die Verweigerung des Maskentragens und der Impfung der letzte Hort der Freiheit. Sie halten sich nicht an den Infektionsschutz und denken, das sei ein Widerstandsakt. Die AfD fühlt sich berufen, diesen SpinnerInnen eine Stimme zu geben.

Die AfD fordert Freiheit für das egoistische Individuum. Die ganz reale Unfreiheit – der Lohnabhängigen, von rassistisch Unterdrückten, von Frauen oder LGBTQ-Personen – verteidigt sie als Gesetz der Natur.

Wir wollen diesen reaktionären Haufen nicht mehr sehen!

Der gemeinsame Nenner der sogenannten SpaziergängerInnen ist Wissenschaftsleugnung und Ablehnung des Infektionsschutzes. Unsoziales, gemeingefährliches und egoistisches Verhalten wird zur Protestkultur einer Bewegung der vermeintlich Fitten, die denken, Corona könne ihnen nichts anhaben.

Woher kommt dieser absurde Möchtegernprotest?

Den Nährboden für diese reaktionäre Bewegung haben die Regierungen mit ihrer gescheiterten Pandemiepolitik selbst bereitet. Deren Ziel war nie der Schutz von Leben und Gesundheit, sondern, die kapitalistische Profitmaschine am Laufen zu halten. Es gilt als Erfolg, dass schwerkranke PatientInnen einen Beatmungsplatz bekommen. Dass sie an einer vermeidbaren schweren Krankheit leiden, wird als unvermeidbarer Kollateralschaden verbucht, damit die kapitalistische Wirtschaft weiterlaufen kann.

Das ist menschenverachtende Politik im Interesse des Kapitals!

Letzten Sommer wurde das baldige Ende der Pandemie angekündigt und es wurden daher auch keine Vorbereitungen für die vierte Welle getroffen. Mittlerweile ist das faktische Ziel der Bundesregierung die Durchseuchung der gesamten Bevölkerung. Karl Lauterbach, unser ach so toller Gesundheitsminister, dem seit jeher ein auf Profiterwirtschaftung getrimmtes Gesundheitswesen wichtiger ist als Menschenleben und der maßgeblich die Einführung der DRGs vorangetrieben hat als „Berater“ der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, rechnet selbst mit mehreren hunderttausend Neuinfektionen pro Tag und trägt das vor, als wäre es die Wettervorhersage!

Die Regierung versucht, die Durchseuchungspolitik zu verschleiern, und stellt sie so dar, als stünde sie im Einklang mit der Wissenschaft. Das ist sie natürlich nicht. ExpertInnen warnen davor, Ungeimpfte egal welchen Alters einer Infektion mit der Omikron-Variante auszusetzen. Auch zweifach Geimpfte tragen ein Erkrankungsrisiko. Solange die Hälfte der Bevölkerung keine dritte Impfung erhalten hat und sogar 3 Millionen (!) Über-60-Jährige ungeimpft sind, ist das Laufenlassen der Pandemie zynisch. Diese Politik nimmt den Tod von Tausenden in Kauf und Long Covid für Millionen, und sie macht die Entstehung neuer Virusvarianten wahrscheinlich.

Dabei gäbe es eine Alternative: Konsequenter Infektionsschutz, der keine Rücksicht auf Profitinteressen nimmt, Aussetzung von Tätigkeiten mit hohem Infektionsrisiko, systematische Umsetzung, Kontrolle und Verbesserung der Maßnahmen in allen Betrieben, Schulen und Unis.

Einen solidarischen Umgang mit der Pandemie müssen wir erkämpfen – gegen Regierung und Kapital!

Die Politik hat die Gefahr durch Corona systematisch verharmlost und die Verantwortung für den Gesundheitsschutz dem Individuum übertragen. Die Rechten denken diese Politik konsequent zu Ende und verbinden sie mit Verschwörungstheorien und Wissenschaftsleugnung.

Diesen Verschwörungsglauben können wir nicht mit Aufklärung besiegen.

Wir müssen den Rechten die Straße nehmen!

Wir müssen ihnen aber auch eine progressive Antwort auf Pandemie und Krise entgegensetzen, damit klar wird, wie systemkonform ihr lächerlicher Protest eigentlich ist!

Das heißt, wir müssen den Kampf gegen rechts verbinden mit dem für eine solidarische Pandemievorsorge, gegen Entlassungen und Schließungen von Krankenhäusern, für mehr Personal in den Kliniken, für mehr Gehalt für alle Beschäftigten!

Außerdem ist es unerlässlich, dass wir für die Freigabe der Impfstoffpatente weltweit eintreten, damit diese global produziert und verteilt werden können. Gerade in den halbkolonialen Ländern, die formal unabhängig, aber ökonomisch von den imperialistischen Zentren wie beispielsweise Deutschland abhängig sind, ist es von enormer Bedeutung, dass die Bevölkerung Zugang zu kostenlosen Impfungen erhält, da man dadurch weitere Mutationen des Virus eindämmen kann und es nicht weiter zu fatalen Varianten kommt, deren Folgen nicht abzuschätzen sind.

Gegen den rechten Spuk hilft nur die Mobilisierung der organisierten ArbeiterInnenklasse, die für eine rationale Lösung der Pandemie kämpft – also mit antikapitalistischer Politik gegen die Auswüchse kapitalistischer Krise und Pandemiepolitik!

In diesem Sinne, lasst uns den Kampf gegen AfD und Pandemie gemeinsam führen!




„Querdenken“ stoppen – und den Kampf gegen Krise und soziale Angriffe führen!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht/Stuttgart zur Mobilisierung gegen Querdenken in Karlsruhe, Infomail 1152, 3. Juni 2021

Die „Bewältigung“ von Pandemie und Coronakrise folgt ganz der Logik das Kapitals: Im Zentrum stand von Anfang an die Maxime, die profitablen Kernsektoren der Wirtschaft unbeeinträchtigt zu lassen. Die Rekordgewinne, die Daimler, Porsche und die Deutsche Bank 2020 eingefahren haben, wurden bezahlt durch staatliche Subventionen und Lohnverzicht mittels Kurzarbeit. Weltweit ist die Kontrolle über die Produktion und Verteilung von Impfstoffen zur Waffe im Kampf um Einflusssphären der imperialistischen Mächte geworden – natürlich auch für Deutschland, das seinen politischen Führungsanspruch in Europa dadurch erneuern konnte. Für „unser Land“ am besten wäre es, die Füße stillzuhalten und „mit dem Virus zu leben“ (was bekanntlich für bislang ca. 89.000 Menschen in der BRD nicht möglich war).

Abseits aller kruden und bisweilen auch unterhaltsamen Denkunfälle in den Köpfen der „QuerdenkerInnen“ liegt das reaktionäre Ziel dieser Bewegung darin, die kapitalistische Pandemiepolitik auf eine neue Stufe zu heben – durch völlige Aufhebung aller Gesundheitsschutzmaßnahmen und Wiederherstellung der „Freiheit“ des Kapitals. Reaktionär ist diese Bewegung bereits ganz unabhängig davon, dass sie FaschistInnen in ihren Reihen duldet.

Gefährlich ist diese Bewegung auch deshalb, weil sie sich auf eine soziale Basis von KleinbürgerInnen und Mittelschichten stützt, die bereits vor 2020 in ihrer gesellschaftlichen Stellung bedroht war und dies auch in den kommenden Jahren sein wird. Sie sieht den Grund darin aber nicht in der Krise des Kapitalismus, sondern in der „Elite“ und spricht auch Lohnabhängige und andere Unterdrückte an, um sich in einer klassenübergreifenden Bewegung „Volk gegen die da oben“ zu vereinen. „Querdenken“ könnte ein Vorbote für die Zukunft sein. Was sich heute gegen „Umvolkung“ und „Coronadiktatur“ richtet, könnte bald gegen eine imaginierte „Klimadiktatur“ oder Ähnliches entstehen.

Die Rechten sind in der Lage, mit ihrer Mischung aus zum Freiheitskampf hochstilisierter Rücksichtslosigkeit, demagogischem Aufgreifen wirklicher Existenzangst, Coronaleugnung, Verschwörungstheorien und Irrationalismus Massen vor allem aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten, aber auch aus der ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. Und dieser Mobilisierungserfolg scheint die für antifaschistische Proteste der Vergangenheit gewohnten Verhältnisse auf den Kopf zu stellen.

„Demokratischer Konsens“?

Beim Protest gegen offene Nazis oder gegen die AfD stellt sich nämlich meist ein „Konsens der Vernünftigen“ gegen die rechte Minderheit ein. Mit diesem Konsens kommt es zum Schulterschluss von linken Antifas bis hin zu „aufrechten DemokratInnen“, praktisch zu einer ganz großen Koalition für Demokratie und Grundgesetz. In der Praxis setzt diese Situation – so problematisch ihr klassenübergreifender Charakter auch ist – dem Handeln der Staatsmacht gewisse Grenzen und verbannt den rechten Zoo in sein Hamburger Gittergehege. Bei Querdenken hat sich u. a. in Stuttgart gezeigt, dass sich der breite, demokratische, „antifaschistische Konsens“ im Angesicht einer derartigen kleinbürgerlichen Massenmobilisierung in Luft auflöst. Was bleibt, ist der gesellschaftliche Konsens Abstand Halten und Maske Tragen, aber der reicht nicht für eine Massenmobilisierung gegen rechts.

Trotz der öffentlichen Empörung über deren Missachtung des Infektionsschutzes hat sich der Rechtsstaat zunächst auf ihre Seite geschlagen und den QuerdenkerInnen Auftrieb gegeben. Auch das zwischenzeitlich halbherzige Eingreifen gegen die Aufmärsche wird ihnen kaum nachhaltig schaden, sondern vielmehr ihr Narrativ der Merkeldiktatur bestätigen. Es hilft an dieser Stelle auch nichts, nach einem harten Eingreifen der Polizei gegen die Rechten zu rufen. Im Gegenteil, wie die Gegenproteste in Stuttgart gezeigt haben, nutzt die Staatsmacht ebendiese Mittel vor allem gegen Linke – und das werden die Bullen auch weiter tun.

Kräfteverhältnis

Diesem Kräfteverhältnis zugrunde liegt auch ein politisches Problem der deutschen Linken. Die Rechten mobilisieren mit einer reaktionären Kritik an der Regierung. Auch wenn in dieser Bewegung zahlreiche Nazis wie ReichsbürgerInnen und andere extrem rechte Kräfte marschieren und Einfluss gewinnen, so handelt es sich bei „Querdenken“ und anderen (noch) nicht um eine faschistische, sondern um eine rechtspopulistische Bewegung. Ihre Einheit und Kraft bezieht sie daraus, dass sie sich als Volksbewegung von unten gegen die Elite ausgibt.

Da der Rechtspopulismus auch wirkliche soziale Folgen der kapitalistischen Krisen- und Pandemiepolitik aufgreift und pseudoradikale Lösungen anbietet, zieht er gesellschaftliche Verzweiflung an und formt sie zu einer reaktionären kleinbürgerlichen Bewegung, deren kleinsten realen Nenner der Ruf nach „Öffnung“ aller Wirtschaftssektoren darstellt, also eigentlich eine Politik im Interesse des Kapitals. „Querdenken“ denkt konsequent und insofern geradlinig zu Ende, was es bedeutet, wenn gesagt wird, dass wir „mit dem Virus leben müssen“.

Gegen rechts hilft nur Klassenkampf!

Blockaden und Proteste gegen die Aufmärsche von „Querdenken“ und Co. müssen zweifellos weiter einen Teil des Widerstandes gegen den Aufstieg der Rechten bilden. Aber dies wird nicht reichen. Vielmehr muss der kleinbürgerlichen Demagogie auf dem Feld des Klassenkampfes der Boden entzogen werden. Daher müssen wir den Kampf gegen rechts verbinden mit dem gegen die Krisenabwälzung, gegen die gescheiterte Pandemiebekämpfung und dafür, dass das Kapital die Kosten für die Krise selbst bezahlen muss. Dieser Kampf muss auch mit den Gewerkschaften geführt werden, die hierfür mit der sozialpartnerschaftlichen Politik und der „nationalen Einheit“ brechen müssen. Erst wenn die ArbeiterInnenbewegung als unabhängige Kraft auf die Bühne tritt, wird klar werden, dass das „Volk“, in dessen Namen die Rechten sprechen wollen, eine Fata Morgana ist.




Die Landtagswahlen und der Absturz der CDU

Robert Teller, Neue Internationale 254, April 2021

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg galten im Vorfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit als Indikatoren für die kommende Bundestagswahl. Noch vor wenigen Wochen schien es sicher, dass CDU/CSU den nächsten Kanzler stellen würden. Offen schien nur die Frage nach dem Spitzenkandidaten und der Koalition, auf die er sich stützen würde.

Das Ergebnis zeigt in beiden Ländern eine schwere Niederlage für die CDU, eine Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, die reale Möglichkeit eine Ampel-Koalition und trotz des SPD-Wahlsiegs in Rheinland-Pfalz schlechte Aussichten für diese.

Wahlergebnisse in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg sind die Grünen (wie bereits 2016) stärkste Kraft geworden, haben ihren Vorsprung vor der CDU aber auf 8,5 % ausbauen können. Vor allem Stimmen von CDU und SPD sind zu den Grünen gewandert.

Die CDU steht nicht nur im Vergleich zu den Grünen schlechter da. In absoluten Zahlen hat sie gegenüber 2016 knapp 20 % verloren, allerdings bei einer (um 6,6 %) ebenfalls gefallenen Wahlbeteiligung, sodass ihr Stimmenanteil von 27,0 % auf 24,1 % fällt. Vor einigen Monaten war nach den Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Das Wahlergebnis stellt eine schwere Niederlage für die CDU dar, die im Bundesland vor 2011 nie unter 35 % lag und sich lange Zeit gar am Erreichen absoluter Mehrheiten messen ließ. Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann konnte sich im Wahlkampf nicht gegenüber Kretschmann durchsetzen. Als Kultusministerin hat sie sich gegen Fernunterricht gestemmt und die erneute Schulöffnung bereits im Februar durchgesetzt, wofür sie viel Kritik einstecken musste. Die Grünen gewannen nicht nur in Eisenmanns Wahlkreis haushoch, sondern die CDU-Spitzenkandidatin verfehlte auch ein Zweitstimmenmandat und gehört dem Landtag nicht mehr an.

Die SPD, die bis 2011 stabil auf dem zweiten Platz nach der CDU gelegen hatte, hat ihren Negativrekord von 2016 (12,7 %) nun nochmals unterboten und liegt bei 11 % (gefolgt von FDP mit 10,5 % und AfD mit 9,7 %). SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sieht aber selbst bei diesem katastrophalen Ergebnis noch Luft nach unten und freut sich: das Ergebnis sei „immerhin deutlich besser, als man es uns prophezeit hatte“. Olaf Scholz verkündet, dass eine Regierung ohne CDU in Deutschland wieder möglich geworden ist – nur, ein Verdienst der SPD ist das nicht!

Die FDP ist bei einem für sie guten Ergebnis gelandet (+2,2 % gegenüber 2016) und sieht sich deutlich gestärkt. Gewonnen hat sie Stimmen v. a. von früheren CDU- und AfD-WählerInnen. Sie hat einerseits mit „vernünftigen“ (d. h. nicht offen wissenschaftsleugnenden) lockdown-kritischen Positionen KleinbürgerInnen eingefangen, die sich von der Krise bedroht fühlen, was der AfD nicht gelungen ist. Andererseits liegt ihre Bedeutungszunahme nicht nur in ihrem Stimmenzuwachs begründet, sondern mehr noch in der Schwäche der CDU. Nach der Bundestagswahl bräuchten Grüne und SPD die Liberalen zur Bildung einer Ampelkoalition. Ihr Spitzenkandidat bringt sich daher schon in Stellung für Koalitionsverhandlungen – und treibt den Preis für eine liberale Regierungsbeteiligung nach oben.

Die AfD verliert 5,4 %, außerdem die beiden Direktmandate, die sie 2016 in Pforzheim und Mannheim geholt hatte. In diesem Ergebnis drückt sich ihre innere Zerrissenheit aus, einerseits die neue „CDU der 1950er Jahre“ zu sein und gleichzeitig rechtspopulistische „Bewegungspartei“ mit faschistischer Flanke. Die Flügel in der AfD haben sich im vergangenen Jahr verfestigt, ohne dass eine Lösung absehbar ist. In der Lockdown-Politik hat sie eine Position eingenommen, dass sie in der ersten Phase die Regierungslinie, natürlich mit dem üblichen extrem rassistischen Genörgel, vertreten hat, dann, als die QuerdenkerInnen in Erscheinung traten, schwenkte sie fix um und leugnet nun die Gefahr der Pandemie weitgehend, was von breiten klassisch bürgerlichen WählerInnenschichten abgelehnt wird. In den Querdenken-Protesten hat die AfD aber trotz ihrer inhaltlichen Bezugnahme keine tonangebende Rolle erobern können. Ein Teil ihrer Verluste mag zu den rechtspopulistischen Neugründungen „Die Basis“ und „W2020“ abgewandert sein, die beide auf die „Querdenken“-Bewegung zurückgehen und bei ihren jeweiligen AnhängerInnen nun als die „echte“ Alternative gelten, wohingegen die AfD in deren Augen bei den „Systemparteien“ angekommen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die AfD trotz ihrer Verluste über eine verlässliche WählerInnenbasis im rechten Spektrum neben CDU und FDP verfügt und bis zu den Bundestagswahlen eine größere Sogwirkung als rassistische, rechte Massenpartei entfalten kann.

Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz

Die Ergebnisse in Rheinland Pfalz weisen in dieselbe Richtung wie in Baden-Württemberg, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden. In diesem Bundesland konnte die SPD mit 35,7 % ihr letztes Ergebnis mit geringen Verlusten halten. Die CDU verliert ähnlich wie in BW und kommt auf 27,7 % (-4,1 %), wovon die Grünen profitieren, die auf 9,3 % (+4,0 %) kommen. Die AfD verliert in ähnlicher Größenordnung wie in Baden-Württemberg und erreicht 8,3 % (-4,3 %). Die FDP verliert leicht, dafür gewinnen die „Freien Wähler“ und ziehen in den Landtag ein.

Im Wesentlichen findet also auch in Rheinland-Pfalz eine Verschiebung innerhalb des offen bürgerlichen Lagers statt. SPD und Linkspartei verzeichnen zwar Wählerwanderungen, ihr Ergebnis verändert sich aber wenig. Von der Krise der CDU profitieren in beiden Ländern vor allem die Grünen. Das Gewicht der FDP erhöht sich, obwohl sie in Rheinland-Pfalz eigentlich zu den Verliererinnen der Wahl gehört. Für die AfD gilt im Grunde dasselbe wie in Baden-Württemberg.

Linkspartei

DIE LINKE hat in beiden Bundesländern ein gegenüber 2016 fast unverändertes Ergebnis erreicht: In Baden-Württemberg steigt sie von 2,9 % auf 3,6 %, in Rheinland-Pfalz verlor sie gar 0,3 % und liegt nun bei 2,5 %. In beiden Bundesländern scheitert sie an der 5 %-Hürde, die zweifellos ein großes Hindernis für den Wahlkampf kleinerer Parteien darstellt. Zum anderen zeigt dies für beide Länder, dass die Linkspartei trotz der katastrophalen Regierungspolitik, trotz der kapitalistischen Krise und trotz der Erosion der Sozialdemokratie keine bedeutende Anziehungskraft auf die ArbeiterInnenklasse ausübt. Sicherlich hatte die Linkspartei in beiden Bundesländern ähnlich wie in Bayern immer schon schwierigere Ausgangsbedingungen. Das erklärt aber nicht die Stagnation über Jahre.

Diese liegt vielmehr darin begründet, dass sie sich in keiner Phase der Krise und der Pandemie als glaubwürdige und radikale Alternative zur Regierung und als Opposition zum Kapital präsentieren konnte.

Bis zum Herbst 2020 wurde der Kurs der Regierung Merkel im Wesentlichen mitgetragen. Dann wurden zwar Forderungen nach Besteuerung der Reichen erhoben, aber das blieb ein v. a. parlamentarischer Vorschlag der Partei.

Hinzu kommt, dass sich ihre Politik in den Landesregierungen (Berlin, Thüringen, Bremen) faktisch nicht von anderen unterschied. Auch sie ordneten den Gesundheitsschutz den Kapitalinteressen v. a. im industriellen und Finanzsektor unter. Ein Teil der Partei sympathisiert zwar mit #ZeroCovid und einer entschiedenen Bekämpfung der Pandemie im Interesse der ArbeiterInnenklasse. Ein dritter Teil wiederum hält eine linke, entschlossene Bekämpfung der Pandemie für unmöglich und hofft, dass wir uns nach überstandener Gesundheitsgefahr wieder den „eigentlichen“ sozialen Fragen widmen könnten.

Um die Einheit der Partei zu wahren, werden einerseits Formelkompromisse in die Welt gesetzt, andererseits machen die RegierungssozialistInnen in den Kabinetten weiter wie bisher. Dass die Linkspartei mit einer solchen Konzeption keine Zugkraft entwickelt, sollte niemanden wundern.

Reaktionen und Bedeutung bundesweit

Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg mit 8,5 % Vorsprung vor der CDU ist für letztere eine Demütigung. Dabei ist es einerlei, ob Kretschmann nun die grün-schwarze Koalition mit einer eindeutig klaren Führungsrolle fortsetzen oder gar eine Ampelkoalition ohne CDU bilden wird. In beiden Fällen wird die Erkenntnis der Wahl sein, dass auf Bundesebene für die CDU an den Grünen kaum ein Weg vorbeiführt – und das auch in dem Sinne, dass sich Kretschmanns Grüne gewissermaßen als die bessere CDU von heute zu präsentieren vermögen: eine „wirtschaftsfreundliche“ Staatspartei für das Kapital, aber ohne unproduktive, schädliche Debattenschauplätze wie auf dem rechten Flügel der CDU. Für die Grünen stellt sich nun die Frage, ob sie durch Fortsetzung von Grün-Schwarz auch den Weg für Schwarz-Grün auf Bundesebene freimachen oder mit der Ampelkoalition die FDP aufwerten wollen.

Die Wahlergebnisse mögen auch mit der Popularität von Kretschmann und Dreyer erklärt werden bzw. mit der Schwäche ihrer HerausforderInnen. Das mag die Niederlage für die CDU etwas relativieren, nicht aber deren Bedeutung für die Bundestagswahl, wo der CDU/CSU noch ein Flügelkampf um die Kanzlerkandidatur bevorsteht. Der „Amtsbonus“ mag vor allem Kretschmann zugutekommen, der nicht nur an die CDU-Tradition eines von politischen Sprüchen befreiten Personenwahlkampfs anknüpft, sondern sich auch quasi als Merkels verlässlichster Verbündeter beim Krisenmanagement erwiesen hat.

Der CDU hingegen hat bei beiden Wahlen nicht geholfen, dass sie auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt, und auch die bundesweiten Umfrageergebnisse zeigen für sie einen steten Abwärtstrend. Merkel scheint mit ihrem Abtritt ein Machtvakuum zu hinterlassen, das kein bekannter Bewerber um die Nachfolge füllen kann. Die Annahme fetter „Provisionen“ durch CDU-Abgeordnete für die Vermittlung von Masken wurde bereits vor der Wahl bekannt, aber in ihrem aktuellen Ergebnis ist die Maskenaffäre noch nicht einmal vollständig eingepreist, da mehr als zwei Drittel der WählerInnen in Baden-Württemberg und auch ein großer Teil in Rheinland-Pfalz ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl abgegeben hatten.

Die Landtagswahlen sollten für die CDU der Meilenstein vor den Bundestagswahlen sein, nach dem über die Kanzlerkandidatur entschieden wird. Die wesentliche Erkenntnis der Landtagswahlen ist nun, dass ein CDU-Kanzler nicht gesichert und eine Ampelkoalition als Möglichkeit auf Bundesebene eine reale Option geworden ist. Dies könnte den Grünen weiterhin Auftrieb verleihen. Zugleich könnte die Wahlniederlage der CDU in der Diskussion über die Kanzlerkandidatur Söder ermutigen, sich stärker gegen Laschet in Stellung zu bringen.

Obwohl die FDP gestärkt ist, reagiert sie auf Bundesebene zurückhaltend zur Frage der Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg. Aber wenn Lindner nicht über Ampeln, sondern über Inhalte sprechen will, ist das alles andere als ein Dementi. Die FDP wird sich im Zweifelsfall einer Ampelkoalition kaum verweigern können, nachdem ihr Platzenlassen der Jamaika-Koalition 2017 zu schweren internen Auseinandersetzungen geführt hatte. Auf Bundesebene ist eine Ampelkoalition aus heutiger Sicht die realistische Regierungsoption für die FDP. Das ist wiederum ein Problem für die CDU und könnte ihre Flügelkämpfe verschärfen – zwischen dem rechten Flügel, der einen Lagerwahlkampf gegen einen befürchteten „Linksruck“ in der BRD führen, und dem um Merkel/Laschet, der sich alle Optionen offenhalten möchte. Dennoch möchte die FDP sich nicht auf die Perspektive der Ampelkoalition festlegen, um nicht vermeidbar als Erfüllungsgehilfin einer rot/grünen Regierungsbeteiligung zu gelten.

Wie auch immer die taktischen Wendungen der WahlstrategInnen aller Parteien und ihre Raffinessen aussehen: Die starken Verluste der beiden Volksparteien vor allem den aktuellen Umständen, wie dem Masken-„Provisionen“-Skandal in der CDU/CSU, dem schlechten Corona-Krisen-Management der GroKo oder dem inkompetenten Personal der Führungsriegen der Parteien anzulasten, greift zu kurz.

Schon seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass die soziale Bindungskraft der sog. Volksparteien nachlässt, um nicht zu sagen zerbröselt, weil Kompromisse, die für alle was übrig lassen, immer schwerer zu finden sind. Nach dem Krieg nahmen SPD und Union für sich in Anspruch, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten: vom Wirtschafts- über den Mittelstands- bis zum Arbeit„nehmer“Innenflügel. Natürlich war das immer eine Ideologie. Beide Volksparteien stützen sich geschichtlich, sozial und organisch auf unterschiedliche Klassen der Gesellschaft. Die SPD monopolisierte als bürgerliche ArbeiterInnenpartei über Jahrzehnte faktisch die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse. CDU/CSU bildeten die Vertretung des deutschen Kapitals, auch wenn sie als christliche Massenparteien das KleinbürgerInnentum und auch v. a. katholische ArbeiterInnenschichten an sich banden. Die SPD wiederum präsentierte sich als reformistische, d. h. ihrem Wesen nach bürgerliche Partei immer auch als bessere Sachwalterin der Gesamtinteressen des Kapitals.

Entscheidend ist, dass dieses System für einige Jahrzehnte funktionierte, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend erodiert. Seit dem Ende von Rot/Grün und mit der Agenda-Politik unter Schröder hat sich dieser Prozess bescheunigt und vertieft, was zuerst vor allem die SPD traf. Die zunehmende Unfähigkeit der Volksparteien, ihre Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen, hat seine Ursachen in der zunehmenden Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus, die schon seit Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist.

Sinkende Kapitalrenditen führten zu einem verschärften Konkurrenzkampf. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration des Kapitals: Die großen Kapitale fressen die kleinen. Die kleinen sind der ach so umsorgte Mittelstand, die Bauern/Bäuerinnen und im verstärken Maße die bessergestellten Schichten abhängig Beschäftigter. Der verstärkte Zwang, Kosten zu sparen, um konkurrenzfähig zu bleiben, befeuert Rationalisierungen wie die sog. Digitalisierung, Deregulierung und Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit gleichzeitig die Verarmung immer größerer Schichten der Lohnabhängigen.

Dem nach 1945 etablierten politischen System und dessen Hauptparteien wird somit die Geschäftsgrundlage entzogen. „Weimarer Verhältnisse“, denen die Volksparteien laut ihrer Ideologie vorbeugen sollten, werden zwangsweise wieder zu erwarten sein. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Herrschaftsmechanismus werden zur Zeit nicht durch ihre FeindInnen unterminiert, sondern durch die heiligen Marktgesetze des Kapitalismus. Daran kann keine Regierung der Welt und kein Parlament etwas ändern.

Welche Perspektive?

Wohl aber erhebt sich die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft eine Antwort auf diese Krise zu geben vermag. Auch wenn die AfD bei den Landtagswahlen Niederlagen einfahren musste, so bilden die Bewegung der Corona-LeugnerInnen, die Krise und damit die Entwurzelung des KleinbürgerInnentums einen Nährboden für wachsenden Irrationalismus und Rechtspopulismus. Diese Bewegung steht bereit, wenn die „normale“ bürgerliche Politik keine Lösung für die Krise des Kapitalismus zu bieten vermag.

Zweifellos bildet die aktuelle, katastrophale und inkompetente Regierungspolitik eine unmittelbare Ursache der Wahlniederlagen der CDU. Aber das Problem der Unionsparteien besteht auch darin, dass unter der Oberfläche der Regierung Merkel verschiedene Kräfte um die politische Ausrichtung kämpfen. Wie auch der knappe Sieg von Laschet gegen Merz im Kampf um den Parteivorsitz zeigte, ist der Richtungsstreit in der Union keineswegs gelöst. Er droht vielmehr, an kritischen Punkten immer wieder aufzubrechen. Die Grünen vertreten im Gegensatz dazu eine bestimmte Kapitalstrategie, den Green New Deal. Die Regierung Kretschmann hat in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Standorte des deutschen Exportkapitals, über mehrere Legislaturperioden bewiesen, dass sich die herrschende Klasse davor nicht zu fürchten braucht, sondern dass die Grünen ihre Interessen recht konsequent, aber ohne wertkonservativen Plunder vertreten.

Die Ergebnisse von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben jedenfalls dazu geführt, dass mit den Bundestagswahlen zwei Regierungskoalitionen möglich erscheinen: Schwarz-Grün oder die Ampel. Nachdem die SPD jahrelang ihre eigene Partei in der Großen Koalition verschlissen hat, bewirbt sich Olaf Scholz nun als Vizekanzler unter Grün-Rot-Gelb. Die ArbeiterInnenklasse hat von einer solchen „Linkswende“ allerdings nichts zu erwarten.

Während vor den Landtagswahlen noch in der Linkspartei und linken SPD-Kreisen von einer möglichen grün-rot-roten Koalition die Rede war, so ist es um diese neoreformistische Phantasie still geworden. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie wollten von dieser Träumerei ohnedies nie etwas wissen. Die „linke“ SPD-Führung setzt natürlich auch auf eine grün-rot-gelbe Regierung ohne Unionsparteien. Hatte die SPD im Verbund mit den Gewerkschaftsspitzen die ArbeiterInnenklasse über Jahre durch die Große Koalition ans deutsche Kapital gebunden, so soll die  Klassenzusammenarbeit neu gefärbt werden. Bleibt nur noch die Linkspartei und die Frage, ob sie sich von den Illusionen in eine Regierungsbeteiligung verabschiedet oder weiter darauf hofft.

Um das gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern und um die ArbeiterInnenklasse aus der doppelten Umklammerung an SozialpartnerInnenschaft und Großer Koalition zu lösen, führt kein Weg an einer unabhängigen Klassenpolitik vorbei – am Kampf für eine Aktionskonferenz und ein Aktionsbündnis gegen die kapitalistische Krise und Pandemie einerseits und am Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus andererseits.




WS Real Estate KG und Co. enteignen! Bezahlbarer Wohnraum für alle!

Flugblatt von ArbeiterInnenmacht/Stuttgart, Infomail 1049, 2. April 2019

Die
aktuelle Misere auf dem deutschen Wohnungsmarkt mit rasant steigenden Mieten
ist das Resultat des stetigen Abbaus sozialer Förderprogramme bei
gleichzeitiger Privatisierung. Bundesweit wurde 1990 die
Wohnungsgemeinnützigkeit ersatzlos abgeschafft, die Wohnungsbauförderung 2001
faktisch beendet und 2006 die Zuständigkeit dafür an die Bundesländer
delegiert.

Allein
zwischen 1995 und 2010 wurden mehr als 1 Million öffentlicher Wohnungen privatisiert.
Auch heute noch fallen jedes Jahr durchschnittlich 130.000 günstige
Mietwohnungen weg.

Die
ImmobilienspekulantInnen wie „WS Real Estate KG“, welche die EigentümerInnen
des vor kurzem geräumten Hauses in der Forststraße 140 sind, oder auch die Vonovia
SE aus Bochum, einer der bundesweit größten Immobilienkonzerne, machen
Rekordgewinne – auf unsere Kosten.

Die
Zahl der Wohnungslosen hat sich innerhalb der letzten 10 Jahre von 200.000 auf
1,2 Millionen versechsfacht. Der Grund hierfür sind die in den letzten Jahren
extrem gestiegenen Mieten. So 
haben sie sich z. B. in München die Mieten um 50 % erhöht. Im
Schnitt kostet der Quadratmeter 17 Euro! Für Stuttgart kann man von ähnlichen
Zahlen ausgehen, so kostet hier der Quadratmeter im Schnitt etwa 12,69 Euro
(Stand: Ende März 2019).

Das
bedeutet eine Verdrängung von Gering- und NormalverdienerInnen in die
Vorstädte, ein allmähliches Absterben der städtischen Vielfalt und Kultur. Die
Filetgrundstücke luxussanierter Wohnungen teilen InvestorInnen, Hedgefonds und
Immobilienverwaltungen untereinander auf, um sie einer kleinen,
finanzkräftigeren Klientel als den bisherigen BewohnerInnen anzubieten.

Bürgerliche
Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative
Auswüchse“, also nicht gegen das private Grundeigentum. Unions-Parteien, FDP
und AfD springen den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere bei und fordern noch
mehr Privatisierung und einen noch „freieren“ Markt. Die SPD „bremst“ mit
leeren Worten und halbherzigen Maßnahmen, die wie die sog. Mietpreisbremse noch
zusätzlich verwässert werden.

Symptome oder Ursachen bekämpfen?

Der
Wohnungssektor ist Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Der Kampf der MieterInnen
muss daher als Klassenkampf geführt werden. Hausbesetzungen, welche den
Leerstand aufzeigen, können dabei ein Mittel gegen Wohnungs- und
Mietspekulation sein. Allerdings stoßen sie rasch an ihre Grenzen, wenn diese
Kämpfe isoliert von der Klasse stattfinden.

Daher ist es wichtig, die Gewerkschaften und andere Organisationen, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen, in diesen Kampf einzubinden. Wir können uns nicht mit der Besetzung und Beschlagnahme vorhandenen Wohnraums sowie einer Mietpreisbremse begnügen, sondern schlagen auch ein Programm öffentlicher Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen vor, wo die Beschäftigten zu Tariflöhnen bezahlt und die aus Unternehmerprofiten finanziert werden:

  • Der Staat soll selbst sozialen Wohnungsbau betreiben, nicht das private Wohnungskapital subventionieren! Die Immobilienwirtschaft und WohnungsbauspekulantInnen müssen entschädigungslos enteignet werden
  • Kommunalisierung des Grund und Bodens! Baubetrieb in kommunale Hand für Neubau und Altbausanierung!
  • Bezahlung des Wohnbaus und von Sanierungen im Interesse der MieterInnen durch das beschlagnahmte Vermögen des Wohnungs- und Baukapitals und eine progressive Besteuerung der Profite!
  • Kontrolle der Wohnungsbaugesellschaften, Verwaltungen und der Mietpreise durch die MieterInnen, deren VertreterInnen und MieterInnengemeinschaften, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen!



Besetztes Haus in Stuttgart geräumt – Bürgermeister Kuhn spielt den Ahnungslosen

Martin Eickhoff, Infomail 1049, 2. April 2019

Das seit dem 10. März besetzte Haus in der Stuttgarter
Forststraße 140 wurde am frühen Morgen des 28. März durch eine Hundertschaft
der Stuttgarter Polizei geräumt. Auch wenn dieser Einsatz weitgehend friedlich
verlief, wurden fünf AktivistInnen von den BullInnen verhaftet und wegen
Hausfriedensbruchs angezeigt.

Interessanterweise erfolgte die Räumung nicht aufgrund einer
Klage der betroffenen EigentümerInnen. Vielmehr hatte die Stadt eine
Allgemeinverfügung erlassen, der zufolge die Besetzung eine Störung der
öffentlichen Ruhe und Ordnung darstelle.

Diese geht auf den Ordnungsbürgermeister Schairer (CDU)
zurück, der noch zwei Tage zuvor Verhandlungen zwischen BesetzerInnen und
EigentümerInnen inszenieren wollte. Diese „Vermittlung“ entpuppte sich schon
vor der Räumung als Farce, als Nebelkerze, um die BesetzerInnen als „unwillig“
hinzustellen. In Wirklichkeit bestand vonseiten der Stadt und der WS Real
Estate KG von vornherein kein Interesse daran, zu einer Einigung zu kommen.
Stattdessen wurde die Räumung vorbereitet. Schairer, die CDU, die bürgerlichen
Medien, aber auch die Stadtverwaltung unter dem grünen Oberbürgermeister Kuhn
hatten die Besetzung ohnedies immer schon als quasi-kriminellen Akt hinstellen
wollen. Die Verfügung des städtischen Ordnungsamts, welches die Besetzung als
Gefahr für die sogenannte öffentliche Ordnung betrachtet, ist nur das Mittel
zum Zweck.

Der Ordnungsamtsabteilungsleiter Stefan Praegert war bei der
Räumung persönlich anwesend und erläuterte stolz, dass Hausfriedensbruch und
eine Eigentumsstörung vorliegen würden: „Das dauerhafte Tolerieren einer
Straftat führt zu der Gefahr, dass sich der Zustand verfestigt und schließlich
schwieriger beseitigen lässt.” Auf Nachfragen betonte Praegert, dass es sich
hierbei weder um eine Entscheidung von Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne)
noch von Ordnungsbürgermeister Martin Schairer (CDU) handle: „Die Hausspitze
des Ordnungsamts hat das intern beraten und ist dann eigenständig zu dieser
Einschätzung gelangt.”

Der Bürgerreferent der Stuttgarter Polizeibehörde, Stefan Keilbach,
erwähnte vor Ort gegenüber PressevertreterInnen gebetsmühlenhaft mehrfach, dass
die BullInnen bei diesem Einsatz nur für den Vollzug zuständig seien. „Die
Einschätzung, dass eine Gefährdung vorliegt, stammt vom Ordnungsamt.“

Es ist bezeichnend, dass Kuhn und Schairer dem Ordnungsamt
den „Schwarzen Peter“ zuschieben. Schließlich stehen in wenigen Wochen
Kommunalwahlen in Stuttgart an. Der grüne Oberbürgermeister will sich bei einer
solch brisanten Aktion gegen eine Besetzung offenkundig nicht direkt die Finger
schmutzig machen. Schließlich gehört die Wohnungsfrage zu den akutesten
sozialen Problemen der Stadt. Die Aussage, dass er (oder Schairer) über die
entscheidenden Schritte nicht informiert gewesen wären, ist nicht nur total
unglaubwürdig. Sie offenbart auch, dass der grüne Realo Kuhn im Ernstfall
hinter den Immobilienhaien steht. Die grünen Versprechen für eine „soziale Stadt“
entpuppen sich als heiße Luft.

Am Nachmittag des 28. März erfolgte eine erste kreative
Protestaktion gegen die Räumung im Rathaus, da an diesem Tag eine Gemeinderatssitzung
stattfand. Bürgermeister Kuhn weigerte sich, eine Debatte über den Einsatz der OrdnungshüterInnen
zu führen und auf die Tagesordnung zu setzen. So flogen nach seiner Rede aus
Reihen der Zuschauertribüne mehrere hundert Flugblätter runter, so dass die
Gemeinderatssitzung kurzzeitig unterbrochen wurde. Der konservativen Presse war
diese Aktion jedoch keine Berichterstattung wert.

Danach zog eine Spontandemo mit fast 200 TeilnehmerInnen vom
geräumten Mehrfamilienhaus quer durch den Stuttgarter Westen bis zum Berliner
Platz. In dessen Nähe wurde der Sitz der Schwäbischen Bauwerk GmbH mit Klebezetteln
markiert. Das Unternehmen war in den letzten drei Wochen in die Schlagzeilen
geraten, weil es bei zumindest zwei Häusern im Westen die Mieten um bis zu 300
Prozent erhöhen will.

Auch wenn die Besetzung geräumt wurde – der Kampf geht
weiter!




Kretschmann und die Saubermänner

Frederik Haber, Infomail 1042, 15. Februar 2019

Stuttgart ist die deutsche Stadt mit den höchsten NOx-Werten dank seiner Lage, die der
Heimatdichter einst so besang: „Da liegst du nun im Sonnenglanz / schön wie ich
je dich sah / in deiner Berge grünem Kranz / mein Stuttgart, wieder da“.  Dieser grüne Kranz ist die verdammte
Kessellage, die insbesondere bei Sonnenschein dafür sorgt, dass kein Wind die
versmogte Luft austauscht. Also dürfen Diesel unterhalb der Norm 4 nicht mehr
in der Stadt fahren.

Dieselfahrverbote sind eine heikle Sache. Sie bringen die
braven BürgerInnen in Aufruhr: diejenigen, die sich gerne als unpolitisch
bezeichnen und das für eine Ehre halten – oder die den Begriff als Maske für
rechte Umtriebe benutzen. So finden jetzt regelmäßig Demos gegen die Verbote
statt, wobei diejenigen, zu denen die AfD aufruft, regelmäßig Mühe haben, in
den zweistelligen Bereich zu kommen.

Sie bringen auch Zwietracht in die grün-schwarze Koalition.
Die CDU musste sich nach der letzten Wahl die Augen reiben und feststellen,
dass die Abwahl des letzten Ministerpräsidenten der CDU, Mappus, kein
Ausrutscher gewesen war. Die Grünen wurden wieder stärkste Kraft. Erstere
musste nach drei Jahren als Juniorpartnerin der Grünen feststellen, dass das
eine schlechte Rolle ist: Die führende Regierungspartei sammelt die Pluspunkte
und die eigene Klientel ist sauer – ein Gefühl, das sonst vor allem Sozis umschleicht.

Jetzt also versucht sich die CDU, gegen Grün dadurch zu
profilieren, dass sie sich an der Dieselsäule hochzieht. Aus ihrem Dunstkreis
kommen dann so nette Forderungen, wie den Verkehrsminister Winfried Hermann ins
Gefängnis zu stecken. Was Trump für Clinton fordert, soll auch die
Provinz-PopulistInnen retten.

Aber Kretschmann hat der CDU nicht nur die WählerInnen geklaut,
er klaut ihr auch die eigenen Politikmuster. In Merkel‘scher Manier hat er ein
„Bündnis für Luftreinhaltung“ gegründet und verkündet. So wie Merkel  vor zwei Jahren zum „Diesel-Gipfel“
ausgerechnet die Automobilkonzerne eingeladen hatte, die nicht nur die
dreckigen Motoren profitbringend gebaut, sondern auch systematisch den
KäuferInnen und der Öffentlichkeit manipulierte Messungen vorgelegt hatten, so
lud Kretschmann jetzt die VertreterInnen der örtlichen Auto-Industrie ein:
Daimler, Porsche, Bosch, Mahle…

Merkels Strategie bestand darin, mit dem Diesel-Gipfel und
seinen Nachfolge-Veranstaltungen Aktivität vorzutäuschen und zu verhindern,
dass die Auto-Firmen dazu verpflichtet 
werden, die  Motoren nachzurüsten.
Kretschmann versucht genauso, die Öffentlichkeit zu täuschen. Das Ziel des
„Bündnisses für Luftreinhaltung“ ist es, Fahrverbote für Diesel der Norm 5 zu
verhindern. Die Maßnahmen: Die Firmen versprechen, Tickets für den öffentlichen
Verkehr zu fördern und mehr Homeoffice einzuführen.

Zu Recht macht sich Katharina Thoms vom SWR darüber lustig:

„Wie das dann aussieht? Na, die Firmen wollen mehr
Homeoffice anbieten – für ihre Mitarbeitenden. Und Jobtickets – für Bus und
Bahn. Oder die Mitarbeitenden sollen öfter mit dem Rad zu Arbeit fahren – dafür
soll es dann auch Abstellplätze für Fahrräder geben – beim Daimler. Oder
Ladesäulen – für E-Bikes und E-Autos bei Porsche. Oder beim Bosch. Jahaa! Und
das ist noch nicht alles aus der langen Liste der, im Schönsprech
vorgetragenen,  ,ehrgeizigen Maßnahmen‘.

Aber glauben Sie mir: Es wird nicht aufregender. (…) Aber: Ernsthaft? So sieht es aus, wenn Politik und Wirtschaft  ,alle Register ziehen‘?“

Die politische Verkommenheit des Ministerpräsidenten
Kretschmann und des grünen Verkehrsministers Hermann, der als ehemaliger
S21-Gegner länger an seiner Meinung festhielt als viele Sozis, wenn sie in
Regierungen einrücken, bevor er dann doch umfiel und zum Speichellecker der
Autoindustrie wurde, gipfelt in der Erklärung Kretschmanns:

„Wir haben alle Schadstoffprobleme gelöst, die mir jemals
bekannt waren: vom Blei im Benzin über Dioxin, FCKWs und was sonst noch alles
in der Atmosphäre rumturnte“, so der Ministerpräsident. „Wir werden auch dieses
Schadstoffproblem lösen.“

So kann man die Welt nur betrachten, wenn wie die Luftmassen
in Stuttgart auch der Blick aus der Staatskanzlei nicht über „deiner Berge
grünen Kranz“ hinausgeht. Dann sind die UmweltpolitikerInnen der Grünen
zufrieden, wenn das Kraftwerk Altbach im Neckartal – auf dem Weg von
Kretschmanns Heimat Nürtingen zu seiner Residenz im Neuen Schloss gelegen –
dank seiner hohen Schornsteine den Dreck so hoch pustet, dass er erst 100 km
weiter runterkommt.

Oder wenn man glaubt, dass mit Euro-Norm 6 nur noch reiner
Sauerstoff aus dem Auspuff kommt. Wenn man ignoriert, welche Schadstoffe die
Stuttgarter Industrie-Saubermänner (Tatsache: Keine Frau dabei) in anderen
Ländern in die Luft blasen zur Herstellung von Teilen nicht nur für Verbrennungsmotoren,
sondern gerade auch für Elektromobilität. Wenn man ignoriert, wie Strom erzeugt
wird und dass nicht nur die Luft, sondern auch der Boden und das Wasser
verpestet sind.

„Wir haben alle Schadstoffprobleme gelöst.“ Weder
Kretschmann noch die Auto-Bosse haben irgendwas gelöst. Das Problem sind sie
und ihr verkommenes kapitalistisches System.