Arbeitsmigrant:innen aus Indien und Pakistan schließen sich in Berlin gegen Wolt zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1219, 5. April 2023

Habt ihr kürzlich in einem Restaurant Essen bestellt, weil ihr das kalte, regnerische Wetter in Berlin satt hattet? Dann solltet ihr wissen, dass die Leute, die euch das Essen an die Haustür gebracht haben, möglicherweise seit Monaten nicht mehr bezahlt werden.

Die Zusteller:innen von Wolt organisierten am 5. April eine Protestaktion gegen die monatelange Nichtbezahlung der Löhne. Die Aktion begann an der U-Bahn Karl-Marx-Straße, gefolgt von einer Fahrradrallye zur Wolt-Zentrale, wo die betroffenen Beschäftigten Reden hielten. Insgesamt nahmen 50 Personen teil, obwohl die Wolt-Geschäftsführung angeblich strafrechtliche Konsequenzen gegen die Teilnahme der Beschäftigten angedroht hatte.

Lage der Arbeiter:innen

Die meisten Arbeiter:innen sprachen über die Schwierigkeiten, mit denen sie als Migrant:innen konfrontiert sind, die Student:innen sind und Teilzeit in diesen prekären informellen Jobs arbeiten. Mohamed, der den Protest anführte, war mit seiner Frau anwesend. Beide stammten aus Pakistan. „Ich bin Student und die meisten Wolt-Arbeiter sind es auch“, sagte er. „Wie sollen wir Miete und Rechnungen bezahlen, wenn das Unternehmen, für das wir arbeiten, uns monatelang nicht bezahlt?“

Die Demonstration machte nicht nur auf die wirtschaftlichen Nöte aufmerksam, sondern war auch eine glänzende Demonstration der Einheit und Solidarität unter den aus Indien und Pakistan stammenden migrantischen Arbeiter:innen. Offensichtlich lassen die von den Regierungen im eigenen Land aufrechterhaltenen Animositäten schnell nach, wenn alle südasiatischen Arbeiter:innen in einem fremden Land als „braunhäutige Migrant:innen“ behandelt werden. Interessant war auch, dass die Arbeiter:innen die Manager:innen mit pakistanischem und indischem Hintergrund anprangerten, die sich weigerten, auch nur herauszukommen, um sich ihre Forderungen anzuhören, und die man dabei beobachten konnte, wie sie die Demonstrant:innen von ihren Glasfenstern aus ignorierten.

Einige Mitarbeiter:innen des Lieferdienstes Lieferando waren ebenfalls anwesend, um sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. „Ihr habt etwas Besseres verdient. Euer Kampf ist unser Kampf“, sagte ein Lieferando-Beschäftigter, der auch in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert war. Solidaritätsbekundungen gab es auch von jungen Migrant:innen aus Indien und Pakistan.

Gegen Ende der Demonstration waren die Protestierenden zu Recht verärgert über die Apathie der Wolt-Geschäftsführung, die sich weigerte, auch nur zu einem Gespräch mit den Arbeiter:innen herauszukommen. Sie versprachen, dass darauf eine härtere Aktion folgen werde. „Wenn ich bei -7° C rausgehen kann, um euer Essen auszuliefern, dann könnt ihr sicher sein, dass ich keine Skrupel haben werde, tagelang in der Kälte zu sitzen, um meinen Forderungen Gehör zu verschaffen, selbst wenn ich in einen Hungerstreik treten muss“, sagte Sami.

Subunternehmen

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützt voll und ganz die Aktion und die Forderungen der protestierenden Arbeiterinnen und Arbeiter, zu denen die Zahlung der fälligen Löhne und die Beendigung des Systems der Untervergabe gehören. Seit September letzten Jahres beschäftigt Wolt Arbeit„nehmer“:innen über Subunternehmer:innen. Einer von ihnen ist Mobile World. Durch diese Art der Beschäftigung kann Wolt keine Verantwortung für die Verletzung von Arbeitsrechten geltend machen, da das Unternehmen behauptet, es habe den/die Subunternehmer:in bezahlt. Die Arbeiter:innen bestehen jedoch zu Recht darauf, dass die Verantwortung bei Wolt liegt, da sie im Namen des Unternehmens arbeiten und Gewinne erwirtschaften, die es einstreicht. Diese verabscheuungswürdige Beschäftigungsmethode ermöglicht es den Unternehmen auch, ihren Arbeiter:innen keine Sozialleistungen zu gewähren und zuweilen nicht einmal den Mindestlohn zu zahlen. Das ist Krieg gegen die Zusteller:innen! Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten der Menschen, die diese prekären und schlecht bezahlten Jobs annehmen, Migrant:innen sind, entweder Student:innen oder Asylbewerber:innen ohne Papiere. Der/Die Auftragnehmer:in ist sich ihrer prekären Bedingungen bewusst, was es ihm/ihr ermöglicht, aus der Arbeiter:innenklasse diese informelle Unterklasse zu schaffen. Wir fordern:

  • Wolt muss alle nicht gezahlten Löhne und Gehälter jetzt direkt an die Beschäftigten auszahlen!

  • Verbot der Auslagerung des Einstellungsprozesses an Auftragnehmer.

  • Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde für jede/n Arbeiter:in!

Wir rufen auch alle Arbeiter:innen in Wolt auf, sich in der Gewerkschaft NGG und dem Klassenkampfnetzwerk VKG zu organisieren. Gemeinsam, als gewerkschaftlich organisierte Klasse, können wir uns die Arbeitsbedingungen sichern, die wir verdienen, indem wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, anstatt an die Bosse zu appellieren. Um dies zu gewährleisten, müssen wir aktiv darauf hinarbeiten, dass die Führung der Gewerkschaften gegenüber den Mitgliedern rechenschaftspflichtig und an die demokratischen Beschlüsse der Mitglieder gebunden ist, und die Führungen gewählt werden, abwählbar sind und einen Arbeiter:innenlohn erhalten. Der Aufbau einer solchen Gewerkschaft im ganzen Land ist der wichtigste Schritt zur Überwindung der Unterschiede zwischen den Bedingungen der einheimischen und der migrantischen Lohnabhängigen und zu ihrer Vereinigung zu einer revolutionären Klasse. Alle Macht den Arbeiter:innen!




Britannien: Gezielte Streiks im öffentlichen Dienst sind nicht genug

PCS-Gewerkschafter, Workers Power, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Die Public and Commercial Services Union (PCS), die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, führt im Dezember selektive Arbeitskampfmaßnahmen durch und fordert eine Lohnerhöhung von 10 %, eine Senkung der Rentenbeiträge und wehrt sich gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungsbedingungen.

Nach monatelangen Flugblattaktionen, Mitgliederversammlungen, Telefonanrufen und Direktnachrichten haben Gewerkschaftsaktivist:innen in 124 Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen die von den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 % überschritten und verfügen nun über ein gesetzliches Mandat für Arbeitskampfmaßnahmen. Über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben mit „Ja“ gestimmt.

Reaktionäres Streikrecht

Die PCS hat in über 80 Magistratsgerichten Rechtsberater:innen und Gerichtsmitarbeiter:innen ohne Rechtsberater:innenstatus gesondert an die Wahlurnen gerufen, um gegen das gescheiterte System der „gemeinsamen Plattform“ zu protestieren. Die Mitglieder werden den größten Teil des Dezembers bestreiken, und für den 24. Dezember bis 4. Januar wurden neue Termine angekündigt. Bei der letzten Urabstimmung in diesem Konflikt stimmten 97 % der Mitglieder für einen Streik und übertrafen damit die 50 %-Hürde.

Obwohl die Gesamtbeteiligung der Abstimmenden über dem Schwellenwert lag, wurde die Abstimmung getrennt durchgeführt, d. h. jede Abteilung wurde als separate Einheit befragt. Dadurch wurde verhindert, dass eine Gesamtbeteiligung von weniger als 50 % irgendjemanden am Streik hindert, aber andererseits bedeutet dies auch, dass die Abteilungen, die die Schwelle nicht erreicht haben, rechtlich nicht streiktätig werden können.

Von denjenigen, die das Ziel verfehlt haben, ist das HMRC (Finanzamt und Zoll), eine der beiden größten Dienststellen, am stärksten betroffen. Das HMRC hat 47 % erreicht und wird zusammen mit fünf anderen Dienststellen, die das Wahlquorum knapp verpasst haben, erneut zur Wahl gerufen. Die meisten dieser Abstimmungen, auch die des HMRC, enden am 27. Februar.

Der Nationale Exekutivausschuss (NEC) trat am 18. November nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zusammen, um zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen will. Er einigte sich auf ein erstes Programm für gezielte Aktionen, lehnte jedoch Anträge ab, die zu Streiks aller Mitglieder im Dezember aufriefen. Generalsekretär Mark Serwotka wandte sich in einem Schreiben an die Gewerkschaftsangehörigen:

„Der NEC wird Mitte Dezember erneut zusammentreten, um die nächste Streikwelle zu erörtern … Dazu könnten gemeinsame Streiks aller Mitglieder in den Gebieten gehören, die die 50 %-Beteiligungsschwelle überschritten haben, möglicherweise in Abstimmung mit anderen Gewerkschaften.“

Grenzen der Taktik

Damit würde der erste mögliche Termin für einen Flächenvollstreik bestenfalls auf Januar verschoben, zwei Monate, nachdem die Mitglieder für Maßnahmen gestimmt haben. Wenn die Führung wartet, bis die HRMC-Abstimmung vorliegt, könnte es Mitte März werden – eine unglaubliche Verzögerung in den Wintermonaten einer akuten Lebenskostenkrise.

Zweck der gezielten Maßnahmen ist es, die Auswirkungen des Streiks zu maximieren, indem diejenigen Beschäftigten, deren Abwesenheit die größten Störungen verursachen wird, in den Ausstand treten. Die Dienststellen, die selektive Maßnahmen ergreifen, sind die Rural Payments Agency (Behörde für Finanzierung im Bereich Umwelt, Ernährung und ländlichem Raum; 13. – 23. Dezember und 3. – 13. Januar), die Driver and Vehicle Standards Agency (Verkehrsregelungsbehörde), wo die Agentur in vier geografische Bereiche aufgeteilt wird, die zwischen dem 13. Dezember und dem 10. Januar an verschiedenen Tagen streiken werden. Auch die Beschäftigten der National Highways (Straßenmeistereien) werden an Tagen zwischen dem 16. Dezember und dem 7. Januar in geografischen Gruppen streiken.

Darüber hinaus werden vier Jobcenter zwischen dem 19. und 31. Dezember bestreikt. Die Beschäftigten der Border Force (Grenzkontrollorgane), die an den Flughäfen London Heathrow, London Gatwick und Manchester, Birmingham, Cardiff und Glasgow Passkontrollen durchführen, werden zwischen dem 23. und 31. Dezember ebenso streiken wie die Beschäftigten im Hafen von Newhaven.

Mit anderen Worten: Im Dezember, wenn die Beschäftigten der Bahn, Post und Krankenhäuser in den Arbeitskampf treten, werden nur kleine Gruppen von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an ihrer Seite stehen. Bislang wurden noch keine Streiks aller Mitglieder angekündigt, was in der Gewerkschaft die Sorge aufkommen lässt, dass der während der Urabstimmung aufgebaute Schwung verlorengehen könnte, wenn die Mehrheit der Mitglieder monatelang auf einen Streikaufruf wartet.

Einige Mitglieder des Jugendnetzwerks der PCS  brachten einen Antrag ein, in dem der NEC aufgefordert wurde, alle 124 Abteilungen zum Streik aufzurufen, doch wurde dieser Antrag auf ein Diskussionspapier verwiesen und dann abgelehnt. Zahlreiche Zweigstellen verabschiedeten einen Musterantrag mit denselben Forderungen und argumentierten, dass nicht nur der Schwung verlorenginge, sondern von denjenigen, die gezielte Aktionen durchführen, nicht erwartet werden könne, dass sie den gesamten Streik trügen.

In dem Antrag wird der NEC aufgefordert, bis spätestens Mitte Januar eine umfassende Aktion anzukündigen. Sicherlich sollte der NEC nicht bis zum 27. Februar warten, um zu sehen, ob HMRC das Quorum erreicht.

Andere Gewerkschaften ergreifen jetzt Maßnahmen, und weitere, darunter Lehrkräfte und Feuerwehrleute, sind dabei, ihre Stimme abzugeben. Aber unabhängig davon, ob andere Gewerkschaften für Januar zu Aktionen aufrufen oder nicht, muss die PCS dies tun. Koordinierung ist wirkungsvoller als ein Alleingang. Die Zeitung der Bosse, Financial Times, schätzte, dass allein ein zweitägiger Streik aller Gewerkschaften mit einem Mandat im Dezember das jährliche Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens um 0,3 % senken würde.

Aber in der Vergangenheit hat sich die Gewerkschaft dafür entschieden, nichts zu tun, anstatt allein zu streiken, eine Vorgehensweise, die garantiert … nichts bringt. Die Mitglieder, die sich an der gezielten Aktion beteiligen, sollten natürlich ihre Büros schließen und lautstarke Streikposten aufstellen. Sie sollten Delegationen zu den Streikposten anderer Abteilungen schicken und damit beginnen, Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbasis herzustellen.

Sie sollten aber auch die Gelegenheit eines ausgedehnten Streiks nutzen, um die Strategie ihrer Führung ernsthaft in Frage zu stellen: Wann werden die Streiks zu einem unbefristeten Flächenstreik ausgeweitet, mit dem die Forderungen der Gewerkschaft durchgesetzt werden können?




Warnstreik bei Lufthansa: Völlig berechtigt und längst überfällig!

Mattis Molde, Infomail 1194, 26. Juli 2022

Die Medien heulen auf: „Gerade jetzt! Trifft die falschen! Ver.di verantwortungslos!“ Und dann kommen sie nicht umhin zuzugeben, dass alleine die Lufthansa (LH) bereits 6.000 Flüge in diesem Sommer gestrichen hat. An den Flughäfen herrscht sowie schon Chaos, weil massenhaft Personal fehlt, besser gesagt entlassen worden war von der Lufthansa und den anderen tollen Unternehmen, die sich die Profite und Subventionen teilen.

Bei den rund 20.000 Beschäftigten des Bodenpersonals werden Löhne überwiegend im Niedriglohnbereich gezahlt. So gibt es Tarife, die noch unter 12 Euro liegen, also demnächst unter dem Mindestlohn. Sehr erfolgreich haben die Airportmanager:innen seit Jahren durch Ausgliederungen, Subunternehmertum und starken Druck auf die Beschäftigten in den letzten Jahren die Löhne unten gehalten und teilweise gekürzt. Im Grunde sind die 9,5 %, und mindestens 350 Euro/ Monat mehr noch zu wenig. Die Forderungen sind also völlig berechtigt, sie müssen voll durchgesetzt werden!

Es ist auch völlig richtig, den Streik dann zu führen, wenn er am wirkungsvollsten ist. Nein, es sind nicht die Gewerkschafter:innen, die „schamlos“ die Situation ausnutzen, es waren die Bosse, die hemmungslos die Pandemie ausgenutzt haben, um Tausenden die Arbeit zu streichen und Löhne zu drücken.

Ja tatsächlich, die „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ (BDA) redet von schamlos. Im Handelsblatt (https://www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-arbeitgeberverband-aeussert-scharfe-kritik-an-warnstreik-bei-lufthansa/28547404.html) springt Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter dem Konzern bei und wirft sich ebenso geschickt wie demagogisch für die Kund:innen in die Bresche: „Die Lufthansa und vor allem deren Passagiere mit Lohnforderungen mitten im Sommer zu belasten, ist absolut unverhältnismäßig. Hier wird der nachvollziehbare Urlaubswunsch der Menschen schamlos ausgenutzt, um einen Vorteil zu erlangen.“

Diesem Wortführer des Großkapitals geht es weder um „Scham“ noch um „Menschen“: Ein erfolgreicher Arbeitskampf bei der Lufthansa mit einem ordentlichen Ergebnis kann noch viele andere Tarifrunden beflügeln und generell die ganze lohnabhängige Klasse, die schwer unter den Lasten von Krise und Krieg leidet.

Deshalb springt er dem LH-Management zur Seite, will, dass es hart bleibt, auch wenn so das Chaos an den Flughäfen verstärkt wird. Bemerkenswert an dieser Stelle ist auch, wie wenig die einzelnen Unternehmen wie die LH sowie das Kapital insgesamt einen Plan haben, Verkehr und Mobilität flüssig und effizient zu gestalten – umweltgerecht und zukunftsträchtig schon gar nicht.

Für die „Menschen“ oder wie es der T-online-Kommentar präziser benennt diejenigen, „die unter denselben Bürden leiden wie die Streikenden selbst – Inflation und hoher Arbeitsbelastung“, ist dieser Streik eben keine „Belastung“, selbst wenn sie am Flughafen warten müssen, sondern ein Aufruf zur Solidarität und dazu, selbst aktiv zu werden gegen Inflation und Krisenlasten. Wir alle brauchen eine Massenbewegung gegen Inflation, Krieg und Krise.

Vor dieser haben Kampeter und der BDA, die Politiker:innen und besorgten Kommentator:innen Angst!




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



USA: ein Sieg für die Basisorganisation bei Amazon Staten Island

Dave Stockton, Infomail 1187, 10. Mai 2022

Am 1. April 2022 kam es zu einem der eindrucksvollsten Siege für die US-Arbeiter:innenschaft seit langem. Im riesigen Amazon-Lagerhaus JFK8 auf Staten Island, einem von 5 Bezirken in New York City, stimmten bei einer offiziellen, von der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde (NLRB) durchgeführten Urabstimmung über die Anerkennung der Gewerkschaft 2.654 Beschäftigte dafür und 2.131 dagegen. Nur einen Monat später erhielten die Feierlichkeiten jedoch einen Dämpfer, als am 2. Mai bekanntgegeben wurde, dass eine ähnliche Abstimmung in einem zweiten Lagerhaus auf Staten Island, dem Sortierzentrum LDJ5, in dem rund 1.500 Beschäftigte arbeiten, mit 618 Nein- und 380 Ja-Stimmen gescheitert war.

Amazon Labor Union

Die Gewerkschaft Amazon Labor Union (ALU), die den Sieg am JFK8 organisiert hat, reagierte mit einem Tweet: „Die Organisierung wird an diesem Standort und darüber hinaus fortgesetzt. Der Kampf hat gerade erst begonnen.“ In der Tat hat die Geschäftsleitung des Konzerns die Entscheidung in der größeren Anlage angefochten. Eine Anhörung wird am 23. Mai in Phoenix (Bundesstaat Arizona) stattfinden.

Wie in den meisten Amazon-Werken gibt es auch in Staten Island eine enorme Fluktuation des Personals – etwa 150 % pro Jahr, zum großen Teil wegen der schrecklichen Bedingungen, der lähmenden Arbeitsnormen, des Mangels an Pausen und der hohen Unfallrate. Dies sind wirklich die „dunklen satanischen Mühlen“ des 21. Jahrhunderts.

Der Sieg bei JFK8 wurde von einer Gewerkschaft, der ALU, errungen, die in der Fabrik selbst entstand, unabhängig von großen Verbänden wie der AFL-CIO oder Change to Win. Die Gewerkschaft erhob sich gegen Jeff Bezos, den zweitreichsten Mann Amerikas mit einem Vermögen von rund 200 Mrd. US-Dollar. Gegen den Amazon-Goliath ist die ALU selbst ein junger David. Sie wurde 2020 von Chris Smalls, einem Amazon-Beschäftigten, der entlassen wurde, weil er Proteste gegen die entsetzlichen COVID-19-Sicherheitsbedingungen des Unternehmens angeführt hatte, und einem Team von JFK8-Beschäftigten gegründet, die, wie in New York nicht anders zu erwarten, aus einer Vielzahl ethnischer Hintergründe stammen.

Diese Menschen, die der so genannten Generation-U (für Gewerkschaft) angehören, führten die Aktion an und nicht die „erfahrenen“ professionellen Gewerkschaftsorganisator:innen. Sie taten es einfach, indem sie mit ihren Arbeitskolleg:innen „gewerkschaftlich sprachen“, Telefon-Banking betrieben und soziale Medien nutzten. Es sollte aber auch erwähnt werden, dass sich Ortsverbände (Zweigstellen) der großen Gewerkschaften um die ALU geschart haben, darunter UNITE HERE Local 100, Communications Workers Local 1102, Food and Commercial Workers (UFCW) Local 342 sowie die Coalition of Black Trade Unionists. Es bleibt zu hoffen, dass der Erfolg der Basisorganisation auch auf die bürokratischeren großen Gewerkschaften übergreift und dazu beiträgt, sie zu demokratisieren und für eine militantere direkte Aktion zu gewinnen.

Wie zu erwarten war, fährt Amazon fort, seine Belegschaft einzuschüchtern und zu schikanieren.

In der Zwischenzeit hat Starbucks Workers United – eine Organisation, die der Service Employees International Union (Internationale Dienstleistungsgewerkschaft SEIU) angeschlossen ist – vor kurzem eine weitere Wahl gewonnen, womit die Gewerkschaft 10 von 11 Wahlen seit ihrem ersten Erfolg in Buffalo (Bundesstaat New York) im Dezember für sich entscheiden konnte. In Buffalo haben die Starbucks-Beschäftigten jedoch erneut gestreikt, um gegen eine Ankündigung des 4 Milliarden US-Dollar schweren Konzernchefs Howard Schultz zu protestieren, wonach versprochene Gehaltserhöhungen und Leistungssteigerungen nicht für Standorte gelten würden, die bereits gewerkschaftlich organisiert sind oder eine gewerkschaftliche Organisierung planen.

Diese Entwicklungen kommen nach der Enttäuschung über eine gescheiterte Urabstimmung im Amazon-Bestellausführungszentrum in Bessemer, Alabama, durch die Retail, Wholesale and Department Store Union (Einzel-, Großhandels- und Lagerhausgewerkschaft), obwohl derzeit eine Nachzählung durch die NLRB stattfindet. Der Erfolg der ALU in Staten Island und der Misserfolg in Bessemer sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in New York bei 27 % liegt, während er in Alabama nur 6 % beträgt.

Die NLRB-Vorschriften sind stark auf die Arbeit„geber“:innen ausgerichtet und erlauben es Unternehmen wie Amazon und Starbucks, ihre Beschäftigten an Seminaren gewerkschaftsfeindlicher Berater:innen teilnehmen zu lassen, während sie Gewerkschaftsorganisator:innen den Zugang zu ihren Werksparkplätzen verwehren und das Wachpersonal Flugblätter von Beschäftigten konfiszieren lassen, die es wagen, sie mitzunehmen. Eine Studie des Economic Policy Institute (wirtschaftspolitisches Institut) aus dem Jahr 2019 ergab außerdem, dass die Unternehmensführungen in mehr als 40 % der Gewerkschaftswahlen die gesetzlichen Rechte der Arbeiter:Innen verletzten und in 20 % der Fälle gewerkschaftsfreundliche Lohnabhängige illegal entließen.

Diktatur des Kapitals

Marx wies in „Das Kapital“ darauf hin, dass im Vergleich zur Sphäre der Warenzirkulation, dem Markt, wo alles auf der Grundlage von Gleichheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu funktionieren scheint, sobald die Arbeiter:innen die Sphäre der Produktion, den Arbeitsplatz, betreten, eine regelrechte Diktatur des Kapitals herrscht.

Es ist ein äußerst ermutigendes Zeichen, dass Arbeitsplätze, die sich der gewerkschaftlichen Organisierung entziehen sollen, in denen die Unternehmensleitungen ihre Beschäftigten ausspionieren und „Störenfriede“ in fast totalitärer Weise ausmerzen, beginnen, sich zu organisieren und zu wehren. Ermutigend ist auch das Potenzial des Widerstands von Arbeiter:innen in den größeren Gewerkschaftsverbänden, wie die Streikabstimmung von 56.000 Mitgliedern der SEIU-Ortsgruppe 721 im County Los Angeles. Die Ortsgruppe besteht aus Beschäftigten im Bereich der psychischen Gesundheit, Sozialdienstleistungen und Pflege- bzw. Erziehungspersonal, die zu den am meisten ausgebeuteten Arbeiter:Innen gehören und unter den schrecklichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu leiden hatten.

Nur kämpferische Gewerkschaften, die in der Belegschaft verwurzelt sind und über eine starke lokale, nationale und internationale Unterstützung verfügen, können den im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern oder Kanada niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad überwinden, der die USA seit den 1980er Jahren kennzeichnet.

Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass fast 50 % der nicht gewerkschaftlich organisierten amerikanischen Arbeiter:innen eine gewerkschaftliche Vertretung wünschen. Dennoch erschweren die Gesetze vieler Bundesstaaten die Anerkennung und den Abschluss eines Gewerkschaftsvertrags enorm. Eine grundlegende Änderung der extrem gewerkschaftsfeindlichen Gesetze des Landes ist unabdingbar, wenn diese Beschäftigten überhaupt eine Chance auf eine gewerkschaftliche Organisierung erhalten sollen.

Es muss eine Charta der Arbeiter:innenrechte ausgearbeitet werden, die eine gewerkschaftliche Vertretung in allen Betrieben, einen Gewerkschaftsvertrag und das Streikrecht umfasst, wenn die Arbeiter:innen dafür stimmen, und alle Gewerkschaften, ob groß oder klein, müssen sich verpflichten, dafür zu kämpfen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Charta muss eine Verpflichtung zur Rassen- und Geschlechtergerechtigkeit bei der Einstellung sein.

Aber nur ein Klassenkampf, der so groß oder noch größer ist als in den 1930er Jahren, kann dies bewirken. Was die Arbeiter:innen, die versuchen, ihre gefängnisähnlichen Arbeitsplätze gewerkschaftlich zu organisieren, brauchen, ist die kämpferische Solidarität anderer Arbeiter:innen und der sie umgebenden Gemeinden, die sich national und international ausbreitet, insbesondere im Falle großer multinationaler Konzerne wie Amazon.

Aber die Arbeiter:innen in jedem Betrieb müssen auch die volle Kontrolle über ihre Organisation und über die Streiks behalten, die sie brauchen, um die Arbeitszeit zu verkürzen, die Löhne zu erhöhen und die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ein/e Arbeiter:in der Stufe 1 in Staten Island, der/die Artikel für den Versand staut, kommissioniert oder verpackt, verdient nur 18 US-Dollar pro Stunde und einen Zuschlag von 2 US-Dollar pro Stunde (!) für die Nachtarbeit von Donnerstag bis Samstag, 18:00 bis 6:45 Uhr morgens. Angesichts des rasanten Anstiegs der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise wird die Notwendigkeit eines Lohnkampfes immer dringlicher.

Es liegt auf der Hand, dass jede Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Organisierung eine Wiederbelebung der Klassenpolitik erfordert. In den großen Gewerkschaftskampagnen und Streiks der 1930er Jahre, als Millionen junger wie schwarzer Arbeiter und Arbeiterinnen in die Gewerkschaften strömten, waren es IWW (Industriearbeiter:innen der Welt), sozialistische, kommunistische und trotzkistische Aktivist:innen, die die Kämpfe anführten. Die Sozialist:innen von heute, angefangen bei den 90.000 Mitgliedern der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas, aber auch die kleineren revolutionären Gruppen, sollten sich von der Unterstützung der Kandidat:innen der Demokratischen Partei ab- und sich dem Klassenkampf in den Betrieben und Gemeinden zuwenden. Diese wiederum können zu einem riesigesn Rekrutierungsfeld für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse geraten.

Es scheint, dass selbst Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), die Abgeordnete für den 14. Kongressdistrikt von New York, sich weigerte, ins Lagerhaus auf Staten Island zu kommen, um ihre Unterstützung zu zeigen, und Senator Bernie Sanders kam erst an Bord, als die Schlacht schon gewonnen war. Wie viel weniger kann man von Joe Biden, dem „Freund der Arbeiter:innen“, erwarten? Was kann man von einer Demokratischen Partei erwarten, der Amazon 10 Millionen US-Dollar für Bidens Kampagne im Jahr 2020 gespendet hat?

Wenn Arbeiterkandidat:innen bei Wahlen antreten, sollten sie ihren Wähler:innen auf einer unabhängigen sozialistischen Plattform Rede und Antwort stehen und von ihnen abrufbar sein. Vorzugsweise sollten sie Aktivist:innen mit Erfahrung in Gewerkschaften oder kommunalen Kämpfen sein. Eine Wiederbelebung der organisierten Arbeiter:innenschaft kann dem Aufbau einer echten Arbeiter:innenpartei in Amerika enorm zugutekommen.




Unikliniken NRW im Streik

Jürgen Roth, Infomail 1187, 6. Mai 2022

2021 hatten das Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und die Arbeit„nehmer“:innenkammern Bremen und Saarland – die einzigen derartigen Institute im Bundesgebiet –, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, insgesamt 12.700 Aussteiger:innen und Teilzeitkräfte der Pflegeberufe online befragt unter dem Motto „Ich pflege wieder, wenn … “. Nach vorsichtiger Kalkulation entstünden lt. dieser Umfrage durch verbesserte Arbeitsbedingungen 300.000 zusätzliche Vollzeitkräfte.

Als stärkste Motivation für Berufsrückkehr bzw. Arbeitszeitaufstockung wurde genannt: eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Daneben werden genannt: Stärkung der Tarifbindung (nicht nur das Zurückgehen auf regionale Durchschnittswerte in der stationären Langzeitpflege als Kriterium für die Neuzulassung von Einrichtungen) sowie die Sicherung der Finanzierung. Auffällig war, dass ehemalige Beschäftigte aus der ambulanten Pflege diesen Bereich seltener als Ziel eines Wiedereinstiegs benannten. Dies wirft ein Licht auf die dortigen noch schlechteren Arbeitsverhältnisse, wo es kaum Ansätze zur Personalbemessung gibt.

Der Pflege- und sonstige Personalnotstand im Krankenhaus ließe sich also beheben, wenn v. a. die Zahl der Stellen und Arbeitsstunden aufgestockt würden. Jahrelange Auseinandersetzungen mit deutlichen Erfolgen in jüngster Zeit haben aber gezeigt: Das geht nur mit Arbeitskampf gegen Krankenhausträger, Kommunal- und Landesregierungen! Und hier liefern die Beschäftigten der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gerade ein nachahmenswertes Beispiel ab. Ihrem Kampf gebührt volle Solidarität!

Von der Urabstimmung zum Vollstreik

Nachdem NRW-Landesregierung und Arbeit„geber“verband des Landes (AdL) das 100-Tage-Ultimatum am Sonntag, dem 1. Mai 2022, verstreichen lassen hatten, gab ver.di auf einer Pressekonferenz am darauffolgenden Montag bekannt, dass sich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung mit 98,31 % – einem überwältigenden Ergebnis – für Ausweitung des Streiks ausgesprochen hatten. Bisher gab es einen zweitägigen Warnstreik, der der Sammlung von 500 Aktivist:innen diente, die sich in Oberhausen trafen, darunter auch im Niederrheinstadion des Ex-Erstligisten RWO. Näheres dazu in NI 264: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/.

An der Urabstimmung hatten sich nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Beschäftigte beteiligt, was wir mit einem weinenden wie lachenden Auge betrachten sollten. Die positive Seite dieser Methode aus dem Arsenal des Social Organizing: So gewinnt das Ergebnis noch mehr Schlagkraft; die negative: Nichtmitglieder entscheiden darüber mit, ob – noch nicht wie – ver.di streiken soll. Es geht jetzt auch darum, aus diesen stimmberechtigten Unorganisierten rasch Gewerkschaftsmitglieder zu machen, denn die Gefahr von Streikbruch lastet natürlich auf dieser Gruppe objektiv schwerer.

Streik aussitzen ohne Angebot?

Ver.di Landesleiterin Gabriele Schmidt bestätigte, dass es zwar kurz vor Ablauf des Ultimatums „positive Signale aus der Politik“ gegeben habe, doch weder ein konkretes Angebot noch einen Vorschlag für einen Verhandlungstermin. Auf keinen der 7 (!) von ver.di unterbreiteten Terminvorschläge hätten die Arbeit„geber“:innen reagiert. Schmidt bekräftigte, dass ihre Gewerkschaft jetzt nicht mehr in der Situation stecke, zu Warnstreiks aufzurufen, sondern zu richtigen. Das ist die richtige und erstaunlich rasche Antwort auf deren Verweigerungshaltung, die letztlich auch von der Landesregierung gedeckt wird.

Fortschritt

Im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung sehen wir einen weiteren positiven Unterschied im raschen Übergang zu regulären Streiks direkt nach dem Ultimatum. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2022, haben sich daraufhin 1.700 Beschäftigte an den 6 Standorten in den Ausstand begeben, wie ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick am gleichen Tag mitteilte. Für Mittwochabend war ein Treffen der gewerkschaftlichen Verhandlungsführung mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) angesetzt.

Wie streiken und das Ergebnis kontrollieren?

Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Rechenschaftspflicht, Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees vor und durch Mitgliedervollversammlungen, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen).

Die Streikenden dürfen sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wie in Berlin. Dort wurde ihnen von Krankenhausträgern, Senat, aber leider auch der ver.di-Verhandlungsspitze vorgegaukelt, eine auskömmliche Finanzierung durch den Staat sei gegeben. Gar nicht weiter problematisiert wurde somit also die auf dem Fallpauschalen- oder DRG-Abrechnungssystem basierende Finanzierung der laufenden Betriebskosten. Der Senat bleibt trotz Mittelaufstockung weit unter dem nötigen Aufwand für Gebäude, Technik und sonstige Investitionen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbietet ihm das Krankenhausfinanzierungsgesetz dagegen vollständig. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs – und können wir die gewaltigen erforderlichen Mittel für deutlich mehr Personal, das für eine humane Pflege benötigt wird und unter diesen geänderten Bedingungen auch verfügbar wäre, nicht von den Reichen und ihrem Staat erzwingen, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



Tarifrunde öffentlicher Dienst der Länder: Keine Bescheidenheit!

Helga Müller, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Am 8. Oktober beginnt die erste Verhandlungsrunde für die rund 2,3 Mio. Beschäftigten der Länder im öffentlichen Dienst. Für die 1,2 Millionen BeamtInnen fordern die Gewerkschaften die Übernahme der Gehälter und Arbeitsbedingungen. Am 26. August hatte die Bundestarifkommission ihre Forderungen aufgestellt.

Die Hauptforderungen: 5 % mehr Lohn und ein monatlicher Mindestbetrag von 150 Euro. Nach dem Vorbild der letztjährigen Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen soll es zum Gesundheitsbereich einen separaten Verhandlungstisch geben. Hier fordert ver.di eine Erhöhung der Gehälter um 300 Euro und die Umsetzung der noch offenen Regelungen aus der Tarifrunde 2019 – die Erhöhung des Zeitzuschlags für Samstagsarbeit bei Wechsel- oder Schichtarbeit. In dieser Branche verhandelt ver.di für ca. 246.000 Beschäftigte. Der Bereich der Schulen und Kitas, für die hauptsächlich die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) zuständig ist, stellt die drittgrößte Gruppe mit ca. 215.000 Beschäftigten dar. Für die Hochschulbeschäftigen – mit 291.000 Personen die größte Gruppe – fordern ver.di und GEW eine Verpflichtung zur Aufnahme von Verhandlungen zu einem Tarifvertrag für studentisch Beschäftigte.

Die Gegenseite

Dass die öffentlichen Arbeit„geber“Innen nicht von einer normalen Tarifrunde ausgehen, haben sie  bereits vor Beginn der ersten Verhandlung klargemacht: Sie unternehmen jetzt einen neuen Anlauf zur Änderung des sog. Arbeitsvorgangs. Was nichts anderes bedeutet, als dass vor allem Neueingestellte zu schlechteren Bedingungen beschäftigt und ihre Arbeit abgewertet werden sollen. Hatte die unerwartet hohe Mobilisierung in der letztjährigen Tarifrunde zum TVöD diesen Angriff noch abwehren können, versucht die Arbeit„geber“Innenseite jetzt die Gunst der Zeit zu nutzen, um dies in der Ländertarifrunde durchzusetzen – wohl wissend, dass ver.di in diesem Bereich unter weniger Kampftruppen verfügt als im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen.

Das ist eine Kampfansage an ver.di, GEW und Belegschaften. Sie wollen in dieser Tarifrunde einen Einbruch in die Gehaltsstrukturen erreichen. Das ist nichts anderes, als die KollegInnen für die Kosten der Milliardenausgaben für die Pandemie zahlen zu lassen. Da reicht ein Vorrechnen von Seiten ver.dis, dass die Steuereinnahmen 2021 wieder ansteigen und mit 812 Milliarden Euro wieder die Höhe des Vorkrisenjahres 2019 (nach: www.verdi.de: Zahlen, Daten, Fakten zum öffentlichen Dienst) erreichen oder gar übertreffen könnten, nicht. Auch ein moralischer Appell, dass ein höherer Lohn zusätzlich die Binnenwirtschaft ankurbeln würde, verhallt bei den öffentlichen Arbeit„geber“Innen ungehört. Sie wollen genauso wie die private Wirtschaft – allen voran die Automobilindustrie – die KollegInnen für die Krise zahlen lassen.

Derweil ist der gesellschaftliche Reichtum vorhanden. Allein die Automobilindustrie, die am meisten von den Kurzarbeitergeldern und anderen staatlichen Millionensubventionen profitiert hat, ist weiterhin auf Gewinnkurs. Im Jahr 2020 machten die 3 größten deutschen AutobauerInnen (VW, BMW, Daimler) trotz Krise einen Gewinn von 17,9 Milliarden US-Dollar. Politische Forderungen wie eine Vermögensabgabe, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine progressive Besteuerung von Kapitalgewinnen sind jetzt nötig anstatt des ewig gleichen Rituals, dass die KollegInnen eine Gehaltserhöhung verdient hätten – was natürlich stimmt. Aber damit holt man zum einen keinen Kollegen und keine Kollegin hinterm Ofen hervor, noch beeindruckt man zum anderen die politisch Verantwortlichen in den Länderregierungen.

Mobilisierung

Notwendig ist es, die KollegInnen in den Einrichtungen, Schulen, Krankenhäusern und Betrieben darauf vorzubereiten, dass nicht wir für die Krise zu zahlen haben, sondern wir uns das holen, was uns seit Jahrzehnten genommen wurde, und die zahlen, die sie auch zu verantworten haben. Und zum anderen, dafür auch flächendeckend in den Kampf zu gehen. Ver.di sagt selber immer wieder, dass die KollegInnen im öffentlichen Dienst der Länder einen Nachholbedarf haben sowohl gegenüber denen in Bund und Kommunen als auch – und vor allem – gegenüber denen in der Privatwirtschaft: Seit dem Jahr 2000 sind die Gehälter der KollegInnen bei den Ländern um 58,1 Prozent gestiegen – in der Gesamtwirtschaft dagegen um 60,3 Prozent und in der Metallindustrie sogar über 69 Prozent (nach: www.verdi.de).

Dass es möglich ist, auch KollegInnen in Bereichen, die bisher nicht so kampfstark waren, in einen unbefristeten Durchsetzungsstreik zu führen, zeigen derzeit die Beschäftigten von Vivantes, den ausgliederten Vivantes-Tochterunternehmen und der Charité in Berlin. Dort befinden sie sich seit dem 9. September im unbefristeten Durchsetzungsstreik für mehr Personal und die Angleichung an die Gehälter und Arbeitsbedingungen des TVöD bei den Tochterunternehmen. Durch diesen vorbildhaften Kampf konnte auch der Organisationsgrad von ver.di massiv gesteigert werden. Gerade die Pflegekräfte galten ja immer als die Belegschaftsteile, die sehr schwer zu Streiks zu bewegen seien, weil sie ihre PatientInnen nicht im Stich lassen wollen.

Kontrolle

Dieses Beispiel gilt es, auch im Bereich der Länder aufzugreifen. Sicherlich wurden auch hier TarifbotschafterInnen gewählt. Diese müssen aber auch auf ihre Rolle als TrägerInnen der Mobilisierung zu Streiks und öffentlichen Aktionen und vor allem als diejenigen, die auch über die Vorgehensweise zusammen mit den KollegInnen in den Dienststellen, Einrichtungen und Betrieben diskutieren und entscheiden, vorbereitet werden. Auch hierfür sind die KollegInnen aus Berlin ein gutes Beispiel.

Das Durchsetzen eines entschlossenen Arbeitskampfes erfordert, dass dieser selbst unter Kontrolle der Mitglieder gestellt wird, Aktions- und Streikkomitees auf Vollversammlungen gewählt und von diesen abwählbar sind, die Tarifverhandlungen öffentlich geführt werden und die Tarifkommission von der Basis gewählt und dieser rechenschaftspflichtig ist. Ferner sollte die Mitgliedschaft über jedes Ergebnis abstimmen dürfen – auch ohne vorherige Urabstimmung und Streiks.




Bilanz der GDL-Streiks: Claus & Klaus und die Deutsche Bahn

Leo Drais, Infomail 1163, 21. September 2021

Nach einer Monate dauernden Tarifrunde und drei Streiks haben sich die Deutsche Bahn AG (DB) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Mitglied im Beamtenbund dbb) auf einen Tarifabschluss geeinigt. Die roten und weißen Züge fahren wieder artig unpünktlich durch das Land, alles wieder wie gewohnt auf den Gleisen.

Hinter den Kulissen ist derweil noch keine Ruhe eingekehrt. Die DGB-Konkurrenz der GDL – die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) – hat angekündigt, den Abschluss der GDL zu prüfen. Sie will alle jene Vorzüge gegenüber dem eigenen Tarifvertrag in selbigen übertragen haben.

Ebenfalls noch nicht ausgemacht ist, wo der GDL-Abschluss gilt. Die DB will das Tarifeinheitsgesetz (TEG) anwenden, sprich je Betrieb gilt nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten  Gewerkschaft. Eben das gilt es unter Umständen noch herauszufinden: In welchen der über 300 DB-Unternehmen verfügt die GDL über die Mehrheit und in welchen die EVG; im Zweifel entscheiden NotarIn und Gericht. Offen ist dabei auch, nach welchen Kriterien entschieden werden soll, wer die stärkste Gewerkschaft im einzelnen Betrieb darstellt, ob dazu die Zahl der Mitglieder oder jene der Betriebsräte hergezogen werden soll.

Ein Sieg – oder nicht?

Verschiedene bürgerliche Medien bescheinigten der GDL einen Sieg auf ganzer Linie: Mitgliederzuwachs, ein Tarifabschluss nach Wünschen der Gewerkschaft, Ausbau der Position gegenüber der EVG. Schauen wir auf die harten Fakten. 38.000 Mitglieder hat die GDL nun insgesamt, ein Plus von 4.000 gegenüber dem Januar, das sich sehen lassen kann. Etwa die Hälfte ihrer Mitglieder ist bei der DB beschäftigt.

Das sind zwar immer noch weit weniger Mitglieder, als die EVG hat, die in vielen Unternehmen wie im Infrastrukturbereich DB Netze sicher nach wie vor dominiert. Aber angesichts des hohen Durchschnittsalters ihrer Mitgliedschaft (in der Mitgliederzeitung werden als Termine überwiegend SeniorInnentreffen beworben) und des hohen Organisationsgrads der GDL insbesondere unter dem Zugpersonal (TriebfahrzeugführerInnen, Zugbegleitdienst) relativiert sich das Ganze. Aber vor allem ist die GDL die Gewerkschaft, die man kennt, die als Organisation wahrgenommen wird, die das mit dem Streiken und dem Arbeitskampf noch ernst nimmt – und deren Streiks naturgemäß auffallen und wehtun und in diesem Sinne konnte sie sicher ihren Einfluss ausweiten. Sie hat nicht nur diesen Ruf zweifellos ausgebaut, sondern mit dem Streik auch das Selbstvertrauen der Beschäftigten massiv gesteigert.

Dazu trug sicher auch bei, dass sie sich selbst durch einstweilige Verfügungen seitens des Staatskonzerns nicht zurückdrängen ließ. Zwei arbeitsgerichtliche Instanzen bewerteten den dritten Streik als rechtens im Sinne des Grundgesetzes. Nicht angewandt, aber seitens der DB auch nicht juristisch ausgetestet, wurde die Verwendung des TEG gegen den Arbeitskampf. Zumindest in den GDL-Minderheitsbetrieben (die ja wie gesagt nicht sicher festgestellt sind) wäre es vorstellbar gewesen, dass die DB diesen Zug versucht. Dass das TEG in diesem Sinne nicht angewandt wurde, stellt einen gewissen politischen Teilsieg der GDL dar, auch wenn diese den gar nicht beabsichtigte – sie erkennt genauso wie die EVG das TEG als geltendes Recht an und wurde nicht müde, das zu betonen.

Bemerkenswert ist im Vergleich zu früheren Streikmaßnahmen der GDL auch, dass das Medienecho weniger stark gegen sie gerichtet war. Natürlich hetzte die BILD auch diesmal, von ihr ist anderes nicht zu erwarten. Auffallend war aber beispielsweise ein Tagesschauartikel, der das wiederholte Anprangern der Bonuszahlungen für das DB-Management durch die GDL untersuchte – und mehr oder minder feststellte, dass die GDL hier wohl zu Recht Kritik am Vorsitzenden Richard Lutz und den übrigen Vorstandsmitgliedern übt.

Dafür ist der eigentliche Tarifabschluss wiederum ein doch eher bittersüßes Bonbon. Hier das Ergebnis im Einzelnen: Es wurden zwei Coronaprämien (Dezember 2021 600 Euro / 400 Euro je nach Einkommensgruppe, März 2022 400 Euro) sowie eine zweistufige Gehaltserhöhung vereinbart. Ab Dezember 2021 sollten die Einkommen um 1,5 % steigen, womit lediglich formal für 2021 eine Nullrunde abgewandt wurde. Im März 2023 soll eine weitere Erhöhung um 1,8 % folgen. Die Laufzeit des Vertrages beträgt insgesamt 32 Monate, die Betriebsrente ist gesichert – für die EisenbahnerInnen der Gegenwart, die sie dann auch mit in den Ruhestand nehmen werden. Der Nachwuchs wird freundlich auf den Rentenfonds der DEVK-Versicherung verwiesen, für ihn wurde die Altersvorsorge faktisch aufgeweicht.

Im Vergleich mit den Ursprungsforderungen dieser Tarifrunde ist von den + 4,8 %, rückwirkendem Inkrafttreten und den 1300 Euro Coronaprämie 2021 also einiges gefallen. Das erste Mal wurde bereits vor jedem Streik zurückgesteckt, ab Frühsommer wurde nunmehr der Abschluss des öffentlichen Dienstes gefordert. Nach dem dritten Streik und einigen Tagen Geheimdiplomatie kam dann das oben Beschriebene heraus, mit einer Laufzeit bis 31. Oktober 2023.

Insgesamt handelt es sich also um ein widersprüchliches Resultat. Das Ergebnis übertrifft jenes der EVG, was vor allem auf die Coronaprämie zurückzuführen ist. Einen Inflationsausgleich – das eigentlich absolute Minimalmaß aus reiner Entgeltsicht – bewirkt dieser Abschluss nicht, es bleibt ein Reallohnverlust trotz dreier Streiks.

Dennoch stellt es für die GDL und ihre Mitglieder einen Teilerfolg dar, weil letztere erstens ihre Gewerkschaft im Kampf um die Existenz behaupten und stärken und konnten und zweitens zeigten, dass ein Arbeitskampf in Kernsektoren der deutschen Wirtschaft durchgehalten werden kann, ja durchaus auf Sympathie anderer Lohnabhängiger stößt.

EVG-Reaktion

So weit dazu. Und die EVG? Sie meldete sich in den vergangenen Tagen und protzte: „Diesen Tarifkonflikt beenden wir!“ Mit letzterem Kommentar bezog sie sich auf eine Klausel in ihrem Tarifvertrag, der es ihr erlaubt nachzuverhandeln, wenn eine andere Gewerkschaft mehr rausholt. DB-Personalvorstand Seiler versprach angesichts dessen ein schnelles „Nachsteuern“ – sprich: wo die EVG weniger rausgeholt hat, wird wohl zur GDL angeglichen.

2020 hatte sich die EVG kampflos der DB gebeugt und eine Nullrunde unterschrieben – zugunsten eines fragwürdigen Kündigungsschutzes, denn der Fahrplan wurde fast nicht ausgedünnt weiter befolgt und mitten in der Pandemie wurde weiter eingestellt, was angesichts der Überalterung der EisenbahnerInnen immer noch in unzureichendem Maß passiert. Nun behauptet die EVG, dass mit dem von ihr ausgehandelten Kündigungsschutz überhaupt erst die Grundlage für den Kampf der GDL geschaffen worden wäre, was natürlich an jeder Realität vorbeigeht.

Die EVG präsentierte nun einen Chart, wo sie darstellt, dass sie die besseren Tarifverträge mache. Sie verwies darauf, dass innerhalb der Laufzeit des EVG-Vertrages (bis Februar 2023) dieselbe Entgelterhöhung von 1,5 % anstehe und die zweite Stufe der GDL (+ 1,8 %) mit einer längeren Laufzeit verknüpft sei. Frohen Mutes wird verkündet: Während die GDL noch Friedenspflicht hat, werde die EVG neue Themen vorbringen und mehr herausholen – ergo: Die EVG verspricht, mehr rauszuholen, die GDL hat bereits sicher 1,8 % mehr. Dass die EVG 2023 mehr ereichen will, hören wir gern. Allein, uns fehlt der Glaube, darauf noch zu vertrauen. Zur Zeit sind diese Versprechen, für die es natürlich keine Sicherheit gibt, nur schöne Worte, eine stoische Selbstbeschönigung, die den katastrophalen Abschluss von 2020 überdecken soll. In dem Chart ist auch eine Coronaprämie vermerkt, von der EVGlerInnen bisher nichts wussten. Es liegt nahe, dass die EVG bereits damit rechnet, ebenfalls die Prämie der GDL zu bekommen, immerhin sind die Termine identisch mit denen der GDL-Coronaprämie.

Wir halten fest, dass die EVG 2020 ohne Kampf, ja ohne überhaupt ihre Mitglieder einzubeziehen, einen Abschluss getätigt hat, der eine Nullrunde 2020/21 ohne weiteres hinnahm und auch keine Coronaprämie enthielt. Jetzt, da die GDL nachgelegt hat, ruft die EVG „Auch haben wollen!“ Ja, warum hast du es dann nicht gleich gefordert oder den Kampf der GDL unterstützt, anstatt Stimmung gegen sie zu machen, werter EVG-Vorstand?

Wer kämpft hier eigentlich gegen wen?

Zwei Figuren des Kampfes haben wir bisher noch nicht namentlich erwähnt, wir widmen ihnen den folgenden Abschnitt. Sie heißen Klaus-Dieter Hommel (EVG) und Claus Weselsky (GDL) und sind nicht mit dem trauten Schlagerpaar Klaus und Klaus vom plattdeutschen Strand zu verwechseln.

Auf den ersten Blick scheint es, als könnten die beiden Gewerkschaftsvorsitzenden in ihrer Rollenausübung kaum verschiedener sein.

Der eine, der Weselsky-Claus, haut auf den Putz, ist rhetorisch gewandt, bezeichnet das DB-Management als „Nieten in Nadelstreifen“ und hat eine Gewerkschaftsbasis, die hinter ihm steht, die bei seinen Reden lautstark applaudiert. Er ist ein Eisenbahner und einer von ihnen geblieben, einer, der sicher ist im Umgang mit dem Werkzeugkasten des Populismus für „den kleinen Mann“, den er immer wieder hervorhebt, dem der DB-Vorstand in die Tasche greift (was ja auch stimmt). Man kann sicher davon ausgehen, dass er seit spätestens 2014 einer der bekanntesten Gewerkschaftsführer Deutschlands ist, was angesichts der DGB-Schnarchnasen-Konkurrenz auch keine wirkliche Herausforderung darstellt.

Zu letzterer gehört der Hommel-Klaus. Er lebt seine intime Sozialpartnerschaft mit dem DB-Konzern offen aus, sein Interview beim Journalisten und Podcaster Tilo Jung, Gründer und Moderator des Interview-Formats Jung & Naiv, hörte sich fast wie eine Bewerbung um den Vorstand an. Seiner Meinung nach trage die Gewerkschaft dafür Verantwortung, dass es dem Unternehmen gut geht, daher die Nullrunde 2021. Auch er beherrscht sein Handwerk, ist biegsam. Er hatte kein Problem damit, gegen den Streik der GDL zu polemisieren und hinterher die Errungenschaften für sich einzufordern und so zu tun, als hätte die EVG sie erkämpft. Da kann man natürlich verstehen, warum Claus auf Klaus sauer ist und kommentiert, dass die GDL Millionen für den Streik ausgebe und dann die EVG das Ergebnis nachgetragen bekomme.

Das passierte bereits in der Vergangenheit so und nicht von ungefähr. Der Deutschen Bahn ist die sanft kriecherische EVG-Führung natürlich lieber als „Gegnerin“ als die lautstark streikende GDL. Also bekommt die EVG die Abschlussvorteile der GDL, um letztere möglichst kleiner zu halten als die EVG. Das TEG grüßt auch hier aus dem Hintergrund, aber auch schon vor jenem gewerkschaftsfeindlichen Gesetz galt diese Logik.

Und doch haben Claus und Klaus mehr gemeinsam, als ihnen wahrscheinlich lieb ist, und das entspringt eben ihrer gemeinsamen Stellung als Vorsitzende ihrer Gewerkschaft. Beide begreifen Gewerkschaften grundsätzlich als Sozialpartnerinnen des Kapitals, trotz aller Unterschiede im konkreten Umgang. Die GDL kritisiert zwar das Tarifeinheitsgesetz, aber letztlich beugt auch sie sich diesem und sämtlichen Gesetzen, die Arbeitskämpfe reglementieren und sanktionieren.

Und, am wichtigsten, beide sind in ihrer sozialen Stellung Teil der ArbeiterInnenbürokratie. In ihrer Position kontrollieren sie die EisenbahnarbeiterInnen. Sie können zu mehr oder weniger dampfablassenden Streiks aufrufen und sie von oben herab auch wieder beenden. Sie führen vermittelt über Tarifkommissionen Geheimverhandlungen mit dem Konzern und präsentieren hinterher freimütig das Ergebnis. Sie sind in ihrer Position, in ihrer sozialen Stellung abhängig von der Stärke ihrer Gewerkschaft. Die Spaltung der EisenbahnerInnen in zwei Organisationen ist nicht nur Grundlage ihrer Konkurrenz, sondern auch ihres jeweiligen eigenen Apparates. Daher hegen beide kein Interesse an der Überwindung der für die EisenbahnerInnen insgesamt schädlichen Spaltung, sondern sie erneuern diese täglich.

Auch wenn sich der Ton unterscheidet: Inhaltlich ist die Kritik am jeweils anderen sehr nah beieinander. Beispiel – wer hat‘s gesagt: „Man muss sehen, in welchem Zustand sich der Bahn-Konzern aktuell befindet. […] In einer solchen Phase zu streiken, halte ich für schwierig.“ So der Kommentar von Claus Weselsky zum dreistündigen Witz-EVG-Streik 2018. Hätte auch umgekehrt sein können.

Politisch stehen sowohl Claus Weselsky (CDU) als auch Klaus-Dieter Hommel (SPD) für einen Kurs, der nicht dazu führen wird, in Deutschland ein funktionierendes Eisenbahnsystem zu entwickeln, das den Erfordernissen einer wirklichen Verkehrswende gerecht werden kann. Während Weselsky für mehr Konkurrenz und die Trennung von Infrastruktur und Zugleistungen wirbt (wovon die GDL mit Schwerpunkt auf Eisenbahnverkehrsunternehmen bei Anwendung des TEG profitieren würde), spricht sich Hommel richtigerweise dagegen aus, aber er deckt damit zugleich den Staatskonzern, der Tausende Kilometer Gleise hat abbauen lassen.

Auf ewig gespalten?

Für die breite Mehrheit der EisenbahnerInnen stellt sich die Sache mit den beiden Claus/Klaus-Gewerkschaften so dar, dass die Wahl besteht zwischen einer GDL mit vergleichsweise kleinem Apparat und kämpferischen Streiks und einem anziehenden Führer, die aber mitunter keine Mehrheit in meinem Betrieb hat, oder einer EVG, die ein träge aufgeblähter Riesenapparat und enger mit dem DB-Vorstand verbandelt ist, aber in vielen Betrieben und insbesondere in der Infrastruktur deutlich größer ist. Daneben gibt es die große Anzahl derer, die unorganisiert sind.

Die Existenz zweier Gewerkschaften und die damit verbundene Spaltung werden von wenigen KollegInnen wirklich kritisiert, geschweige denn zu überwinden versucht. Claus und Klaus wollen das aufgrund besagter privilegierter Stellung wie gesagt sowieso nicht.

Dabei wäre das Ziel nicht nur einer Eisenbahn-, sondern einer Transportgewerkschaft nicht nur ein wünschenswertes oder ein schöner Traum, sondern auch nötig und sinnvoll für kommende Kämpfe.

Das betrifft allein schon die Tarifrunden. Auch wenn der GDL-Abschluss besser als jener der EVG ist, so bleiben beide unter der Inflationsrate. Warum hätte sich bei einem gemeinsamen Vorgehen nicht mehr rausholen lassen? Dass die Verbesserungen der GDL nun auf die EVG übertragen werden sollen und wohl auch recht problemlos werden, resultiert natürlich aus deren Vorstandsnähe. Man kann auch verstehen, dass der Weselsky-Claus und auch viele GDL-Streikende drüber wütend sind, dass sie wochenlang kämpfen mussten, während die EVGlerInnen nun die von ihnen rausgeholten Verbesserungen einfach mitnehmen.

Dennoch ist es eine falsche, ja objektiv die Spaltung vertiefende Reaktion, sich darüber zu mokieren, dass alle Beschäftigten diese Verbesserungen erhalten.

Erst recht abstrus sind die großsprecherischen Worte von Hommel-Klaus, dass die EVG 2023 – also in eineinhalb Jahren (!) – endlich ernst machen würde mit einem harten Tarifkampf und diesen, gewissermaßen aus der Poleposition anzetteln würde, während die GDL noch in der Friedenspflicht verharrt.

Beide Beispiele zeigen, dass Claus und Klaus überhaupt keine Überlegung in Richtung auf gemeinsame, koordinierte Tarifkämpfe und Aktionen gegen den Bahnvorstand und die drohenden Umstrukturierungen verschwenden. Die Mitglieder beider Gewerkschaften sollten dieses Spiel nicht mitmachen, das für Tarifkämpfe wenig bis nichts taugt, bei verkehrspolitischen Auseinandersetzungen aber fatal zu werden droht. Vordergründig scheint es für Tarifkämpfe besser zu sein, wenigstens eine Gewerkschaft zu haben, die kämpfen will. Aber durch die Spaltung kann nie die volle Kampfkraft entfaltet werden. Bei verkehrspolitischen Auseinandersetzungen droht diese aber fatal zu werden.

Daher sollten klassenkämpferische GewerkschafterInnen für gemeinsame Tarifrunden, eine gemeinsame Festlegung der Forderungen, gemeinsame, von der Basis gewählte Tarifkommissionen und Streikleitungen eintreten, um so die EisenbahnerInnen praktisch, von unten zusammenzuführen.

Politische Angriffe und klassenkämpferische Einheit

Eine solche klassenkämpferische Einheit wird nicht nur für weitere Tarifrunden nötig. Allein schon wegen der Umstrukturierungen im Verkehrswesen, die auf die eine oder andere Weise  kommen werden: In Berlin steht die Zerschlagung der S-Bahn an, die nächste Regierung zerlegt möglicherweise die DB, das heutige Flugzeug-, PkW- und LkW-Aufkommen ist angesichts der Klimakrise für die Menschheit nicht zukunftsfähig. Dies wird zuvorderst auf dem Rücken der Beschäftigten passieren und mit dem Ausspielen der Beschäftigten unterschiedlicher Verkehrsunternehmen gegeneinander einhergehen. Es bräuchte also eigentlich eine Gewerkschaft, die den gesamten Bereich abdeckt und über ein politisches Programm zum Umbau des Sektors im Interesse der Beschäftigten und der gesamten Gesellschaft verfügt.

Aber auch aus der einfachen Sicht tariflicher Kämpfe stellt sich nach dem GDL-Streik doch mindestens die Frage: Hätten alle EisenbahnerInnen zusammen nicht mehr erreichen, nicht wenigstens die Inflation ausgleichen können? Und warum bestimmt stets die Gewerkschaftsführung, wann und wie viel gestreikt wird? Warum führt sie danach Geheimverhandlungen mit der DB so ganz ohne direkte Kontrolle derer, die den Streik verwirklichen? Und allgemein gesprochen: Warum werden Kämpfe nicht verbunden? Dass in Berlin GDL-KollegInnen beim Krankenhausstreik vorbeischauten, ging ja von der Basis aus, nicht von der Führung.

Gewerkschaften sind heute so, weil sie den Eigeninteressen und Positionen ihrer Führung mehr oder weniger direkt untergeordnet sind. Das zu ändern, das zumindest anzufangen zu diskutieren, sollten alle kämpferischen KollegInnen tun.

Es sollte die Frage von alternativen Betriebsgruppen bis hin zu gewerkschaftlicher Opposition diskutiert werden. Sie sollten in Kämpfen die Forderung nach direkter, demokratischer Kontrolle der Streikmaßnahmen (viele GDLerInnen wollten einen unbefristeten Streik), Verhandlungen und Abschlüsse aufwerfen. Eine solche Basisopposition sollte von Beginn an gewerkschaftsübergreifend organisiert sein, aus  GDLlerInnen und EVGlerInnen bestehen. Letztlich sollte eine demokratische, klassenkämpferische Reorganisation der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungskette angestrebt werden, wozu auch die KollegInnen von Flughäfen, U-Bahnen, Taxi-, Busunternehmen und LkW-Speditionen einbezogen werden.

Wer kontrolliert?

Abschließend: Es gibt weit mehr Themen als die Klassiker Lohn und Arbeitszeit, auch wenn sie immer mitschwingen, die die Arbeitsqualität beeinflussen und Unzufriedenheit erzeugen, die aber von Gewerkschaften wie Betriebsräten kaum und höchstens allgemein verklausuliert angesprochen werden. Vor allem die Qualität der Arbeit ist ein tägliches Ärgernis. EisenbahnerInnen wollen sicher und pünktlich fahren, ganz deckungsgleich mit dem Interesse der Fahrgäste, aber die Art und Weise, wie Bund, DB und andere private Schienenkonzerne die Eisenbahn – letztlich unter Einbeziehung von GDL und EVG – missgestalten, sabotiert unser tägliches Bemühen. Es sorgt für längere Fahrzeiten auf der Lok oder stressige Schichten auf Stellwerken, auf den Gleisen und in den Werkstätten.

Umgekehrt heißt das: Die Art und Weise, wie Verkehr, wie Bahnbetrieb stattfinden muss, sollte weder Politik, noch Konzernen und Gewerkschaftsbürokratien überlassen werden. Es sollte von den KollegInnen, die Verkehr machen, die das ganze Zugfahren ermöglichen, nicht nur diskutiert, sondern auch demokratisch geplant und kontrolliert werden. Immerhin machen wir Eisenbahn, und nicht die Teppichetagen, wie der Weselsky-Claus sagen würde. Tja, Eisenbahn machst du, werter Claus, aber auch schon lange nicht mehr und der häufige Verkehr mit der Teppichetage hat unverkennbar auch dich geprägt. Dahingehend seid ihr am Ende des Tages Brüder im Geiste, Claus und Klaus – ebenso wie das Schlagerduo von der Nordseeküste.




Österreich: LINKS-Kampagne „Mach ma 30“ – Arbeitszeitverkürzung muss erkämpft werden!

Michael Märzen, Neue International3 258, September 2021

Die neue Wiener Partei LINKS ruft zur Arbeitszeitverkürzung auf. In einer zentralen Kampagne soll für die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche mobilisiert und über eine Petition an den Gemeinderat die Arbeitszeitverkürzung zunächst von der Stadt Wien für die eigenen Beschäftigten verwirklicht werden. Wir als Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt sind am Aufbau von LINKS beteiligt und unterstützen die Kampagne. Wir rufen daher an dieser Stelle dazu auf, die Petition zu unterzeichnen. Wir wollen aber auch über die Ausrichtung, Strategie und praktische Umsetzung der Kampagne diskutieren.

Die Petition findet sich unter https://www.wien.gv.at/petition/online/ mit dem dem Titel „Stufenweise Verkürzung der Normalarbeitszeit für Bedienstete der Stadt Wien auf 30-Stunden-Woche“.

Ungleiche Verteilung von Arbeit im Kapitalismus

Eine der grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten im Kapitalismus ist die ungleiche und ungerechte Verteilung von Arbeit. Und dabei sprechen wir noch nicht einmal von der ungerecht verteilten unbezahlten Reproduktionsarbeit in Form von Pflege, Sorgeleistung, Erziehung und Hausarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird! In der „gewöhnlichen“ Lohnarbeit sehen wir, wie auf der einen Seite versucht wird, aus den beschäftigten Arbeitskräften das Möglichste herauszupressen, während ein großer Anteil der Gesellschaft keine Beschäftigung findet. Für die einzelnen Unternehmen ist es effektiver und somit billiger, möglichst wenige ArbeiterInnen anzustellen, diese aber so lange arbeiten zu lassen, wie es das Gesetz hergibt. Die Erhaltungskosten für die Beschäftigungslosen werden auf den Rest der Gesellschaft abgewälzt, das heißt vor allem wieder auf die ArbeiterInnen. Dem Kapital insgesamt dient die Masse an Arbeitslosen aber auch dazu, einen ökonomischen Druck auf die lohnarbeitende Klasse auszuüben. Wer befürchten muss, ersetzt zu werden, ist eher bereit, schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen.

Forderungen der Petition

Die LINKS-Petition spricht das Problem der Überarbeitung bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit an und fordert korrekterweise die Arbeitszeitverkürzung als wichtigen Bestandteil zur Lösung dieses Problems. Die Arbeitszeit der 65.000 Bediensteten der Stadt Wien würde schrittweise reduziert werden, womit 20.000 neue Stellen frei würden. Das betreffe zu 60 % Frauen, wovon 2/3 im Pflege-, Gesundheits- und elementarpädagogischen Bereich arbeiten. Die Petition beinhaltet allerdings auch eine allgemeinere Ausrichtung. Die Stadt würde sich mit ihrer Annahme nämlich auch hinter die Forderungen der Gewerkschaften stellen, eine Arbeitszeitverkürzung in den Kollektivverträgen durchzusetzen und als langfristiges Ziel die 30-Stunden-Woche im Arbeitsrecht zu fordern.

Worin besteht die Strategie?

Eine Petition erhält ihre Schlagkraft selbstverständlich dadurch, dass sie von vielen Menschen unterstützt wird. Somit wird es darauf ankommen, ob LINKS auch noch nach den Wien-Wahlen in der Lage ist zu mobilisieren. Bisher ist die Kampagne noch nicht wirklich angelaufen. Aber auch die stärksten Petitionen werden nicht einfach umgesetzt. Das hat zuletzt das Frauenvolksbegehren 2.0 bewiesen, welches von 481.959 Menschen unterzeichnet und von der Regierung de facto ignoriert wurde. In einer Frage, wo es einen eindeutigen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit gibt, ist es ohne ordentlichen ökonomischen und politischen Druck fast schon ausgeschlossen, dass eine bürgerliche Regierung einer radikalen Arbeitszeitverkürzung zustimmt. Zu stark wiegen die Interessen der KapitalistInnen in der Gesellschaft. Das klassische Mittel, um Forderungen der Arbeitenden gegen das Kapital durchzusetzen, wäre hingegen ein Streik. In einer allgemeinen politischen Angelegenheit kann das nur in Form eines politischen Massenstreiks geschehen. LINKS ist allerdings weit davon entfernt, einen solchen Kampf organisieren zu können. Die einzige Kraft, die dazu heute, wenn überhaupt, in der Lage wäre, ist der Österreichische Gewerkschaftsbund. Dieser reformistische, bürokratische Apparat macht aber lieber strategische Kompromisse mit den Interessenverbänden der KapitalistInnen, als die Arbeitenden für einen ernsthaften Kampf zu mobilisieren, was im Falle einer 30-Stunden-Woche ja eine heftige Konfrontation zwischen den Klassen bedeuten würde. Der Kampf für eine Arbeitszeitverkürzung ist strategisch betrachtet also auch einer um die Gewerkschaften und die Herzen und Hirne ihrer Mitglieder. Auch hier kann LINKS maximal Ansätze schaffen. Die „Mach ma 30“-Losung taugt somit vor allem als Einleitung zu einer Profilierungs-, Propaganda- und Organisierungskampagne.

Worum es gehen muss

„Mach ma 30“ wäre also ein gutes Mittel, um die 30-Stunden-Woche in die öffentliche Auseinandersetzung zu bringen und mittel- bis langfristig Kräfte zu gewinnen, die organisations- und parteiübergreifend für die Forderung aktiv werben. Dazu braucht es kämpferische Aktionen, die öffentliches Aufsehen erregen, sowie Aktivitäten und Strukturen, in denen sich ArbeiterInnen, Arbeitslose und GewerkschafterInnen als Teil eines breiteren AktivistInnennetzwerks organisieren können. Wenn das ansatzweise gelingt, können wir es auch schaffen, die Unterstützung von einzelnen BetriebsrätInnen und Gewerkschaftsgruppen zu gewinnen und die großen reformistischen Apparate der sozialdemokratischen Partei und des Gewerkschaftsbundes mit unserer Forderung zu konfrontieren.




Streik! Die einzige Sprache, die Vivantes und Charité verstehen!

Jürgen Roth, Infomail 1159, 22. August 2021

8.397 Unterschriften hatten Beschäftigte der Berliner städtischen Kliniken Vivantes sowie von deren Tochterunternehmen und der landeseigenen Uniklinik Charité am 12. Mai vor dem Roten Rathaus überreicht. Sie forderten, in ernsthafte Verhandlungen über einen Tarifvertrag (TV) Entlastung und einen für die Vivantes-Töchter einzutreten, nach dem deren Beschäftigte zukünftig auf TVöD-Niveau bezahlt werden sollen. Nachdem 100 Tage ohne ernsthaftes Angebot verstrichen sind, folgt nun die Antwort: Streik!

Gut daran ist dreierlei: Erstmals ziehen die Beschäftigten der Unikliniken aller 3 Standorte und der kommunalen Krankenhäuser an einem Strang. Schon 2017 waren die Vivantes-Beschäftigten drauf und dran, sich denen der Charité anzuschließen. Zum Zweiten wird diesmal wie in den beiden Unikliniken Düsseldorf und Essen das Personal der Vivantes-Tochtergesellschaften einbezogen. Drittens setzen die Beschäftigten ein Signal des Widerstandes für alle Lohnabhängigen.

Krankenhausbeschäftigte: Hausaufgaben erfolgreich bewerkstelligt

Von Montag, den 23., bis Mittwoch, den 25.8.2021, soll nun gestreikt werden. Der TV Entlastung sieht als Kernelement eine feste Quotierung bei der PatientInnenversorgung vor. Möglich wurde der Streik durch die Gewinnung zahlreicher neuer ver.di-Mitglieder. Auf einigen Stationen stieg der Organisationsgrad von 10 % auf 70 %! Man entwickelte einen Streiknotplan, der die Streikwilligkeit der KollegInnen konstruktiv mit der Versorgung der Stationen in Übereinkunft bringen soll. Wie schon 2015 (TarifberaterInnen) wurde in Gestalt der Teamdelegierten eine mobilisierungsfähige Basisstruktur geschaffen, die für die Initiierung und Kontrolle des Streiks, aber auch der Umsetzung evtl. erzielter Ergebnisse eine Schlüsselfunktion innehat bzw. -haben kann.

All dies zeigt die hohe Mobilisierung und den Druck der Belegschaften, dem sich auch die ver.di-FunktionärInnenriege nicht entziehen konnte. Weitere günstige Faktoren für einen erfolgreichen Kampf kommen hinzu: Im September stehen in Berlin zwei Wahlen und ein Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne an. Darüber hinaus folgt im Herbst die Tarifrunde für die 2,2 Millionen Länderbeschäftigten im öffentlichen Dienst. Schließlich haben Volksentscheidskampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) und das Netzwerk „Gesundheit statt Profite“ dem Anliegen des Klinikpersonals ihre Unterstützung zugesagt. Und schließlich hat für den Zeitraum der ersten Streikwelle die LokführerInnengewerkschaft GDL die Durchführung ihrer zweiten beschlossen.

Klinikvorstände und Senat: Durchgefallen!

Acht Verhandlungstermine für die Vivantes-Töchter sind ergebnislos verlaufen, ebenso die zwei für den TV Entlastung. Senat und Klinikleitungen haben die 100-Tage-Frist am 20. August verstreichen lassen. Die kurzfristige Gesprächsbereitschaft des Charité-Vorstands erbrachte keine Vorschläge außer zu noch mehr Flexibilisierung der Beschäftigten und „effektiverer“ Personalsteuerung. Schließlich mündete die Umsetzung der Forderungen darin, dass weniger PatientInnen versorgt werden könnten, so ließ der Vorstand anklingen. Er prognostizierte für diesen Fall einen Abbau von 360 – 750 Betten und 870 – 1.360 Stellen, kalkulierte das zusätzliche Defizit auf 25 – 45, das für die Vivantes-Tochterbetriebe auf 35 Millionen Euro.

Die Vivantes Geschäftsführung ist zudem am letzten Freitag mit Ablauf der Frist in letzter Sekunde gegen den Streik bei den Vivantes-Töchtern rechtlich vorgegangen und wollte ihn per einstweiliger Verfügung verbieten lassen. Das Vorgehen von Vivantes und die Entscheidung des Gerichts sind ungewöhnlich und ein Skandal! Ver.di wurde von dem Richter nicht einmal angehört. Vivantes hat den Antrag kurzfristig eingereicht und auch gefordert, dass es wegen der Kurzfristigkeit keine Verhandlung dazu gibt. Und das, obwohl der Streik seit mehreren Tagen bekannt war!

Auftakt

Völlig zu Recht betrachtet das die Berliner Krankenhausbewegung als Angriff aufs Streikrecht und braucht die Unterstützung aller GewerkschafterInnen und der Linken. Ein erster Schritt ist die Unterstützung der Kundgebung am Montag, den 23.8.2021, um 10:30 Uhr vor der Vivantes-Zentrale (Aroser Allee), ein zweiter akut ein konsequent gegen die Medienhetze durchgeführter Streik für die vollständige Durchsetzung der GDL-Forderungen.

Ab dann gilt auch die Regelung, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes haben zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Vertrauen in die ver.di-Führung ist gut – Kontrolle ist besser!

Die Streikenden sind jedoch gut beraten, der ver.di-Spitze nicht blind Vertrauen zu schenken: mit der Bürokratie, wo möglich, gegen sie, wo nötig! Sie fordert ja nicht, dass die Kliniktochtergesellschaften allesamt wieder unters Dach ihrer Mütter kommen, sondern lediglich die Anwendung des TVöD auf diese, was zweifellos schon ein Fortschritt wäre. Ein sich lange hinziehender Arbeitskampf ihrer KollegInnen von der Charité-Tochter CFM mit insgesamt 85 Streiktagen führte schließlich zu einem Kompromiss, der weder die Übernahme noch vollständige Angleichung an den TVöD zeitigte. Die Rückführung in den Schoß der Kliniken war zudem ein Versprechen des rot-rot-grünen Senats. Auch gegenüber ihm müssen die Streikenden also skeptisch bleiben. Ein Vertreter der Gesundheitssenatorin hatte zudem vorletzten Donnerstag auf einer Kundgebung von Auszubildenden in der Krankenpflege darauf verwiesen, dass ein Abschluss mit einem Rauswurf der Kliniken aus dem Kommunalen Arbeit„geber“Innenverband (KAV) gekontert werden könnte. Hier rächt sich, dass ver.di die Anliegen der Pflege (Entlastung) und der ausgelagerten Bereiche (Angleichung an den TVöD) nicht zum Bestandteil der Tarifrunde im Frühjahr gemacht und auf einen „Ausweg“ in Form des Kampfs einzelner Häuser wie jetzt in Berlin verwiesen hatte.

Nicht gelöst und durch einen TV Entlastung auch schwer zu lösen ist das Problem seiner Umsetzung bei Unterschreitung der vereinbarten Personaluntergrenzen. Statt der schwerfälligen Interventionskaskade, die außerdem trotz sozialpartnerschaftlicher Gremien letztlich in der Hand der Klinikleitung liegt, brauchen wir eine wirksame Kontrolle mit Bettensperrungen bzw. Stationsschließungen, wenn’s kritisch wird. Jena zeigt hier den Weg.

Womit beginnen?

Im Streikfall müssen die Streikkomitees demokratisch aufgebaut werden und funktionieren und jederzeit durch die Basis absetz- und erneuerbar sein. Die TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen/Teamdelegierten, die eine wichtige Funktion in der Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder und als MultiplikatorInnen der Kampagne für den Arbeitskampf hatten, dürfen sich von den SpitzenfunktionärInnen weder im noch nach einem Streik aufs Abstellgleis schicken lassen, wenn sie in deren Augen ihre Schuldigkeit getan haben. Sie können einen mächtigen Hebel für die Revitalisierung des Gewerkschaftslebens im Krankenhaus abgeben, Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper ins Leben rufen oder aus dem Dornröschenschlaf erwecken.

Ihre zweite wichtige Aufgabe bestünde darin, das dynamische Element für die auszuübende Kontrolle der Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen abzugeben, bei der Organisierung echter ArbeiterInnenkontrolle (Betriebskontrollkomitees) initiativ zu werden und die Solidarität mit den anderen DGB-Gewerkschaften für einen politischen Streik für ein Personalbemessungsgesetz im Gesundheitswesen herzustellen, der schließlich auch die ganze Frage der Rekommunalisierung der privatisierten Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen und der vollen Refinanzierung der aufkommenden Kosten im Gesundheitsbereich aufwerfen muss. Schließlich sollten sie auch ihr Augenmerk auf den Aufbau von Solidaritätskomitees besonders mit den proletarischen Teilen der Bevölkerung richten, v. a. PatientInnenverbänden, aber auch UnterstützerInnen wie DWE und „Gesundheit statt Profite“.

Darüber hinaus müssen die Betriebs- bzw. Personalräte und ver.di die Initiative ergreifen, die in Berlin gestartete Kampagne aufs ganze Bundesgebiet auszudehnen, vorzugsweise in Gestalt einer Bundeskrankenhauskonferenz mit von unten gewählten Delegierten.

Forderungen und Perspektiven

  • Schluss mit den Privatisierungen im Gesundheitswesen!
  • Entschädigungslose Rückverstaatlichung der bereits privatisierten Krankenhäuser; die ausgelagerten Bereiche müssen wieder dort integriert werden!
  • Fortführung dieser unter Kontrolle von Beschäftigten, Gewerkschaften und VertreterInnen aller weiteren Lohnabhängigen!
  • Weg mit dem System der Fallpauschalen – die real entstehenden Kosten einer Behandlung müssen refinanziert werden!
  • Volle Übernahme der notwendigen Investitionskosten durch den Staat!
  • Offenlegung aller Bilanzen!
  • Für eine ihrem verantwortungsvollen Beruf angemessene, also massiv erhöhte und tarifgebundene Bezahlung der Beschäftigten im Pflegebereich!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für flächendeckende Vollstreiks wie z. B. während Gehaltstarifrunden, die alle Beschäftigten einbeziehen! Kontrolle über Streik und Umsetzung des Ergebnisses durch die Basis (ArbeiterInnen- statt Managementkontrolle)! Einbeziehung aller Berufsgruppen! Wiedereingliederung der ausgegliederten Bereiche zu vollen TVöD-Ansprüchen!
  • Für einen politischen Massenstreik gegen Pflegenotstand, ausgerufen durch den DGB!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und PatientInnen unter Hinzuziehung von ExpertInnen ihres Vertrauens!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!

Diese Forderungen können einen Schritt darstellen zur Sozialisierung der gesamten Care- und Reproduktionsarbeit einschließlich der unbezahlten in Privathaushalten. Das kann auch die prekär Beschäftigten auf unterster Stufenleiter unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, ferner alle Azubis mitnehmen und die Tür aufmachen zu einem vernünftigen Gesellschaftssystem, das den arbeitenden Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Produktionszwecke stellt: Sozialismus statt Kapitalismus!