Gegen Ausverkauf des Hamburger Hafens

Bruno Tesch, Infomail 1245, 21. Februar 2024

Die Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen (ver.di) hat für den 21.2.2024 zu einer Demonstration vor dem Hauptsitz des Hamburger Hafen- und Logistikbetreibers HHLA in der Speicherstadt gegen den Verkauf von großen Anteilen an die weltgrößte Containerreederei MSC (Mediterranean Shipping Company), einen schweizerisch-italienischen Konzern, aufgerufen. MSC will die bisher an der Börse gehandelten HHLA-Aktien aufkaufen und erhält zusätzlich 19,9 % vom Hamburger Senat, was ihre Anteile auf 49,9 % hochhieven würde.

Was steht auf dem Spiel?

Die weitere Privatisierung birgt in erster Linie hohe Risiken für die Beschäftigten. Denn MSC ist bekannt für seine rigorosen Praktiken bei der „Umstrukturierung“ von Personal und Arbeitsverdichtung, die das Unternehmen bei einer solch grenzwertigen Beteiligung, einer fast überbordenden Minorität, geltend machen könnte.

Darüber hinaus wendet sich ver.di auch gegen die Gefährdung von Interessen für die „Stadtgesellschaft“, denn nicht nur die HHLA, auch der Gesamthafen mit anhängenden Betrieben wäre betroffen. Der Hamburger Hafen, lange Zeit Vorzeigeobjekt und Identifikationsmuster für die Weltgeltung der Hansestadt, hat es mit Auslastungsschwankungen zu tun. Fehlende Instandhaltung des technisches Arsenals bedingt, dass immer wieder Teile des Fahrzeug- und Containergeschirrs an den Kränen stillstehen. Die Geschäftsführung drängt auf stärkere Zentralisierung und Automatisierung der Betriebsabläufe und damit Kostendämpfung, um im Containergeschäft wieder attraktiver zu werden. Die Reedereien wiederum können durch Absprachen ihre Marktmacht spüren lassen.

Der Deal wurde bereits im Vorjahr vom Hamburger Senat eingefädelt. Der sieht darin eine strategische Partner:innenschaft, um in einem Umbau des Hafenbetriebs mit mehr Rentabiltät und Effizienz gegen den weltweit steigenden Konkurrenzdruck die Fahrrinne zu verbreitern.  Der gesamte Containerbereich soll umorganisiert werden, um Einsparungen von bis zu 150 Millionen Euro zu erreichen.

Konkret würde das v. a. bedeuten, dass mindestens 400 Arbeitsplätze, laut ver.di-Rechnung sogar 718 Vollzeitstellen, künftig entfallen. Teams in den Terminals werden aufgelöst.

Seit diese Pläne bekanntgeworden sind, haben etliche Kolleg:innen  darauf reagiert und bereits „abgemustert“, weil sie angesichts der  Ungewissheit, ob sie nicht von Umschichtungen mit Lohneinbußen und gesteigerter  Arbeitsintensität oder gar Jobverlust betroffen sein werden, keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sehen.  So menschlich verständlich diese Abwanderungen auch sein mögen, sind sie doch das völlig falsche Signal.

Gegenwehr

Als die Mine vom geplanten Verkauf hochging, löste dies am 6.11.2023 eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. Diese wurde daraufhin kurzerhand von der bürgerlichen Justiz für illegal erklärt und zog Abmahnungen gegen Streikbeteiligte nach sich. Die Unterstützung der Gewerkschaften beschränkte sich auf nachfolgende Protestveranstaltungen. Die Mehrheit der derzeit noch rund 3.600 lohnabhängig Beschäftigten bei der HHLA lehnt den schmutzigen Deal nach wie vor vehement ab. Durch ihren Druck und den hohen Aufmerksamkeitswert für die Hafenthematik sieht sich die Gewerkschaft ver.di nun bemüßigt, unter dem Motto „Wir lassen uns nicht verraMSChen“ eine Demonstration anzusetzen.

Mit großer Teilnahme ist zu rechnen, denn auch die Betriebsräte von Burchardkai und Altenwerder haben nicht nur zur Beteiligung am Protest aufgerufen, sondern schon im Vorwege durch einen täglich erscheinenden Rundbrief unter dem Titel „Kaikante“ die Mitarbeiter:innen auf das Ereignis eingestimmt.

Natürlich ist zu erwarten, dass die Bürokrat:innen aus Gewerkschaft und Betriebsrat der Schlagseite einer nationalistischen bzw. provinziellen Sichtweise zuneigen werden und es bei punktuellen Protesten belassen.  Allerdings sind sie in diesem Zusammenhang aus den „Ewig grüßt das Murmeltier“-Tarifrundenmühlen ausgeschert und haben sich in ein politisches Fahrwasser begeben.

Diese Klippe hoffen sie, durch Appelle an die Regierenden (zumeist ja ihre sozialdemokratischen Parteifreund:innen) und das Hervorkehren ihrer Qualitäten als Verhandlungsprofis zu umschiffen. Wie bereit der Senat zum Einlenken ist, hat er ja bereits im November bewiesen, als seine Vertreterin Gespräche mit den Streikenden abgelehnt hat. Seither ist er keinen Deut von seiner Deallinie mit dem Privatinvestor abgewichen.

In den Mittelpunkt der Forderungen muss nicht nur die Bewahrung von öffentlichem Eigentum, sondern vor allem die Frage, wer kontrolliert es, gerückt werden. Dazu braucht es gewählte und jederzeit abrufbare Organe aus der Arbeiter:innenbewegung und eine Ausweitung von Kampfmaßnahmen, die sich nicht vom bürgerlichen Apparat und seinen Gerichten abschrecken lässt.

Diese Ausweitung muss sowohl räumlich wie auch thematisch angegangen werden. Die Streiks der Hafenarbeiter:innen im Sommer 2022 – auch an anderen Standorten – sind noch nicht vergessen. Hier liegt Potenzial, auf das die Aktivist:innen unter den HHLA-Beschäftigten zur Unterstützung und Verbreiterung der Kampffront zurückgreifen könnten. Ebenso notwendig ist das Andocken an verwandte Bereiche wie das Transport- und Verkehrswesen, das im Augenblick im angrenzenden Niedersachsen sich in Streikbewegung befindet.

Ferner bedarf es eines rationalen Seeverkehrskonzepts, das anstelle der selbst im nationalen Rahmen zunehmenden unsinnigen Konkurrenz mit weitreichenden Folgen für Beschäftigte und Natur (Elbvertiefung) die Güterströme international und rational regelt. Dies kann nur unter Arbeiter:innenkontrolle aller europäischen und Überseehäfen und Hinzuziehen von Expert:innen, die das Vertrauen der Beschäftigten genießen, erfolgen. Dieser Plan richtet sich sowohl gegen privates Kapital in Gestalt der Logistikkonzerne und Reedereien wie staatliches, z. B. des Ausverkäufers Senat.




Hamburg: HHLA-Streit und Streik

Bruno Tesch, Infomail 1237, 16. November 2023

Bei der Hafenbetreiberin Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) brodelt es, und das nicht erst seit den letzten Wochen. Schon vor Jahren wurde über private bzw. fremdstaatliche Investitionsinteressen in Form von Beteiligungen oder gar Übernahmen spekuliert. Hochgekocht ist die trübe Gerüchtebrühe durch die Bekanntgabe, dass ein Kaufangebot der Mediterranean Shipping Company (MSC) über Anteile von 49,9 % an der HHLA vorliegt, über das am 20.11. entschieden werden soll. Diese Nachricht wiederum löste am 6.11. eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. MSC ist die weltweit größte Containerreederei mit Sitz in Genf und über Tochterunternehmen auch im Kreuzfahrt- und Fährgeschäft engagiert.

Hintergründe zum Hafen-Deal

Der Hafen als Image für die Weltoffenheit der Hansestadt war seit jeher von herausragender Bedeutung, vor allem aber hat der Güterumschlag das Portfolio der Handelsmetropole prall gefüllt. Seit 20 Jahren jedoch hat sich der Wind gedreht. Hamburg liegt jetzt im Lee und ist im Vergleich mit den europäischen Seeumschlagplätzen und erst recht mit Konkurrent:innen weltweit auf den 20. Rang zurückgedrängt worden.

Der große Nachteil gegenüber Rotterdam und Antwerpen, dass der Hamburger Hafen nur einen vermittelten Zugang zum Meer hat und Belgien und die Niederlande ozeanografisch leichter anzufahren sind, lässt sich auf natürlichem Wege einfach nicht ausgleichen. Da helfen auch keine Maßnahmen wie die Elbvertiefung, um größere Pötte einlaufen zu lassen.

Kürzere Fahr-, Liege- und Warenumschlagszeiten zählen heute doppelt. So ist es auch erklärlich, dass im Containerbereich die Hamburger Umsätze bereits seit einiger Zeit stagnieren, ja im ersten Halbjahr 2023 befanden sie sich sogar im beschleunigten Krebsgang von -11.7 %.

Das war vermutlich auch das Signal für den Hamburger Senat, in Verhandlungen mit einer potenten Investorin einzutreten. Man glaubte, sie in MSC gefunden zu haben. Dieser Konzern, in italienischem Privatbesitz und mit Geschäftssitz in der „Seefahrtnation“ Schweiz, kann damit repräsentieren, als mittlerweile global größte Reederei zu gelten, die gleichermaßen die Sparten maritimer Güterverkehr und die besonders einträgliche Kreuzschifffahrt bedient. Mit Hilfe der MSC, die über ein weitgespanntes und expandierendes Netz an Geschäftsverbindungen verfügt, hofft Hamburg, seine Investitionsvorleistungen wie Bau der Hafen-City mit ihren eigens angelegten Verkehrswegen und Gewerbeflächen amortisieren zu können und den Hafen wieder auf Volle-Kraft-voraus-Kurs zu bringen.

Der zu entrichtende Preis wäre jedoch eine Reduktion des stadtstaatlichen Anteils an der HHLA von 69 % auf 50,1 %. Daraus ergibt sich, dass die Hamburger Regierung einen kompakten Klotz an Aktienminorität am Bein herumschleppen müsste, der ihr nicht nur die HHLA, sondern auch infrastrukturelles Hafenumfeld betreffend, Zugeständnisse im MSC-Interesse abringen könnte.

Der Deal muss von der Hamburger Bürgerschaft noch abgenickt werden. Proteste für seine Entscheidung erntete der Hamburger SPD-geführte Senat sowohl von den alteingesessenen Reedereien wie Hapag-Lloyd, die sich konkurrenzmäßig übergangen fühlten, wie auch von der CDU-Opposition, die den „grotesk niedrigen“ Übernahmepreis bemängelte und meinte, bei einer öffentlichen Ausschreibung hätte wesentlich mehr herausgeschlagen werden können.

Schwierigkeiten ganz anderer Art mit diesem Senatsdeal haben allerdings die HHLA-Beschäftigten. Der Terminalbetreiber Eurogate hat bereits vor einigen Jahren in einer internen Studie die mangelnde Automatisierung und daraus resultierend den um 25 % geringeren Containerumschlag im Hamburger Hafen moniert. Wenn denn an den natürlichen Gegebenheiten nicht gerüttelt werden kann, so ist der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft jedoch eine veränderbare Größe. Das weiß sicher auch die MSC, ohne diese Studie kennen zu müssen, und sie wird auf Verschlankung der Produktion, sprich Entlassungen, drängen. Das haben auch die Arbeiter:innen bei der HHLA als elementaren Knackpunkt erkannt und sind daraufhin am 6. November in den Ausstand getreten. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen!

Kampfperspektive

Am Nachmittag des 6. November legten 150 Hafenarbeiter am Burchardkai ihre Arbeit nieder, die Abfertigung an dem Terminal wurde eingestellt. Die nächsten vier Schichten schlossen sich dem wilden Streik an.

Der Streik wurde schnell von der „neutralen“ Justiz einkassiert und als „illegal“ kriminalisiert, weil er sich nicht an das Tarifrecht, das Politisierung untersagt, gehalten habe. Dies bot die Handhabe für etliche Abmahnungen durch die HHLA-Geschäftsführung. Die Streikenden hatten um unverzügliche Gespräche mit dem Senat über den Deal gebeten. Diese Bitte wurde ihnen jedoch von den zuständigen Vertreter:innen abschlägig beschieden, weil sie mit der Arroganz der Macht dem Streik die Legitimität absprechen wollten.

Das Vorgehen der Klassenfeind:innen in Politik, Justiz und Unternehmen hat Empörung dagegen und Solidaritätsbekundungen mit den Kolleg:innen von Seiten zumeist gewerkschaftlicher Arbeiter:innenorganisationen im In- und Ausland hervorgerufen. Die Gewerkschaft ver.di veröffentlichte Forderungen nach:

  • Kein Verkauf der HHLA an MSC oder andere private Investor:innen!

  • Keine Privatisierung öffentlichen Eigentums – insbesondere im Bereich der kritischen Infrastruktur!

Aber die dringlichste Forderung ließ sie vermissen:

  • Sofortige Rücknahme der Abmahnungen und keine weiteren Repressalien gegen die Streikbeteiligten!

Ver.di zieht sich offenbar auf eine Vermittlerposition für Gespräche mit dem Senat zurück und hat zu einer Kundgebung am Hamburger Rathaus aufgerufen. Ein Appell an die Regierenden reicht bei weitem nicht aus. Verhandlungen und Entscheidungen von solcher Tragweite – gerade in Hamburg hängen mit Infrastruktur, Zulieferbetrieben usw. schätzungsweise zehntausende Existenzen von Hafen und Umgebung ab – müssen von der Arbeiter:innenbewegung öffentlich kontrollierbar gemacht und gegebenenfalls zurückgenommen werden können. Zusätzlich muss die nationale Binnenkonkurrenz unter den deutschen Seehäfen – z. B. Tiefwasserhafen Wilhelmshaven mit weiterer Elbvertiefung –, aber auch die europaweite zugunsten eines planvollen Konzepts für eine rationale Verkehrswende im Sinne einer integrierten bundesweiten und kontinentalen öffentlichen Infrastruktur zu Land, Wasser und in der Luft unter Arbeiter:innenkontrolle und -planung aufgehoben werden. Im Zusammenspiel mit einem staatlichen Außenhandelsmonopol würden auf diese Weise der Güterverkehr auf sein rationales menschliches wie ökologisches Maß schrumpfen und die gleichmäßigere Auslastung der Häfen erreicht werden können.

Um die Fragen der Knebelung des Streikrechts und Forderung nach Arbeiter:innenkontrolle über die Entscheidungen zu öffentlichen Einrichtungen muss eine bundesweite Kampagne entfaltet werden. Ansätze bieten sich, dies in den Rahmen einer jetzt angelaufenen kämpferischen Tarifrunde der Länder zu stellen.

Nicht außer Acht gelassen werden darf außerdem, dass gerade in der jetzigen internationalen Situation Seehäfen einen neuralgischer Punkt für den Versand von Kriegsmaterial, v. a. an die israelische Armee, bilden. Solche Waffenlieferungen müssen verhindert werden, und dies ist v. a. eine Aufgabe der internationalen Arbeiter:innenbewegung.




Gräfenhausen: Solidarität mit dem Streik der LKW-Fahrer!

Stefan Katzer, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Dass sie in ihren LKWs übernachten müssen, gehört für die Fahrer, die sich seit Juli auf der Raststätte Gräfenhausen im Streik befinden, zum Alltag. Statt in ihren Kabinen übernachten sie nun allerdings auf Matratzen, die sie auf die Ladeflächen ihrer Fahrzeuge gelegt haben. Paletten wurden zu Tischen umfunktioniert, die Planen mit Sprüchen beklebt: „No money“ ist darauf zu lesen.

Die vor allem aus Georgien, Usbekistan, der Ukraine und der Türkei stammenden LKW-Fahrer, die seit Wochen auf dem Rastplatz ausharren, stellen eine zentrale Forderung: Sie verlangen von ihrer Spedition die Auszahlung ihrer Löhne. Unterstützt werden sie dabei von Edwin Atema, einem Funktionär des Niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV und der Europäischen Transportarbeitergewerkschaft. Er ist mit der Spedition und deren Auftraggeber:innen in Verhandlungen getreten, bisher allerdings ohne Erfolg.

Über eine halbe Millionen Euro schuldet die polnische Spedition Mazur den Fahrern, die unter anderem für IKEA, Audi, Red Bull, DHL, Porsche und Obi Waren quer durch Europa transportieren. Pro Arbeiter handelt es sich bei Tagessätzen von rund 80 Euro um mehrere Tausend Euro, die ihnen und ihren Angehörigen fehlen. Doch weder die Spedition noch die von ihr belieferten Unternehmen zeigen sich bisher bereit, die ausstehenden Löhne zu zahlen.

Da die Spedition auch nach Wochen des Streiks nicht auf die Forderung der Fahrer eingegangen ist, stattdessen sogar mit Anzeigen gegen sie reagiert hat, haben sich 30 von ihnen entschieden, in den Hungerstreik zu treten. Eine ganze Woche lang haben sie sich geweigert, Nahrung zu sich zu nehmen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen. Nach einer Woche haben sie den Hungerstreik auf Anraten eines Arztes allerdings wieder abgebrochen. Zu groß sei die Gefahr für ihre Gesundheit.

Überausbeutung mit System

Doch ihr Kampf um die Auszahlung ihrer Löhne geht weiter. Denn während sich ihre Mägen langsam wieder mit Essen füllen, bleibt ihr Konto trotz geleisteter Arbeit vorerst leer. Wie lange die Fahrer noch durchhalten werden, ist allerdings ungewiss. Bei einigen schwindet bereits die Hoffnung, dass sie jemals ihren Lohn erhalten werden.

Die Tatsache, dass die Arbeiter bereit waren, in den Hungerstreik zu treten, bringt ihre Verzweiflung deutlich zum Ausdruck. Es zeigt außerdem, wie kaltblütig die Kapitalist:innen sind, wenn es darum geht, möglichst viel Profit aus „ihren Arbeiter:innen“ herauszupressen. Sie halten sich nicht an Verträge, umgehen Arbeitsvorschriften und verweigern die Auszahlung von Löhnen – alles, um den eigenen Profit zu steigern.

Die Speditionen wie Mazur bedienen sich dabei eines Systems der Scheinselbstständigkeit, was den Fahrern das Einklagen ihrer Löhne weiter erschwert. Die LKWs werden von der Spedition geleast, weshalb diese auch schon versucht hat, diese mit eigenen paramilitärisch agierenden Securities zu kapern, was allerdings verhindert werden konnte. Die Kund:innen der Speditionen waschen derweil ihre Hände in Unschuld. Sie kaufen schließlich nur die Transportleistung, überweisen den Betrag dafür an die Spedition und hätten keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen.

Auch die Gesundheit „ihrer“ Mitarbeiter:innen ist den Spediteur:innen (wie auch deren Großkund:innen) letztlich egal. Das ist auch der Grund, weshalb ein Hungerstreik nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Streik, der das bedroht, was den Kapitalist:innen wirklich am Herzen liegt: ihren Profit.

Welche Perspektive?

Die Gewerkschaften und Unterstützer:innen der Fahrer:innen konzentrieren sich bisher vor allem darauf, die Spedition und die Großunternehmen, die sie beliefern, durch öffentlichen Druck zum Einlenken zu zwingen. Im April war dies nach einem ersten Kampf gegen die Nichtauszahlung der Löhne erfolgreich. Damals besuchten Europaabgeordnete den Parkplatz in Gräfenhausen, die Kund:innen von Mazur übten wegen der schlechten Publicity Druck auf die Spedition aus.

Doch diese Methode wirkt offenbar nicht dauerhaft, weil dieses Geschäftsmodell längst zur Norm in wichtigen Teilen der Logistikbranche geworden ist. Daher werden Medienarbeit, Unterstützung bei Verhandlungen sowie materielle Unterstützung durch Gewerkschafter:innen vor Ort nicht ausreichen.

Zuerst wäre eine Verbindung mit ähnlichen Streiks in Europa nötig. So legten in diesem Jahr auch schon Beschäftigte von Mazur in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz die Arbeit nieder.

Die Ausweitung des Streiks mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen für alle im Transportsektor Beschäftigten zu verbessern, eine massive Erhöhung der Löhne und Inflationsausgleich durchzusetzen, ist dabei ein entscheidender Schritt. Er müsste aber auch verbunden werden mit dem Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Unternehmen, die sich weigern, die Löhne ihrer Mitarbeiter:innen auszuzahlen – und das sind faktisch alle in der Branche.

Dazu ist es aber auch notwendig, dass die Gewerkschaften mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen. Zweitens braucht es eine europaweite Kooperation mit einem gemeinsamen Kampfplan aller Branchengewerkschaften. Um das zu ändern, müssen die Gewerkschaften selbst umgekrempelt und unter die Kontrolle ihrer Mitglieder gebracht werden. Sie müssen wieder zu Waffen der Lohnabhängigen werden, mit denen sie Kämpfe auch tatsächlich gewinnen können. Symbolische Aktionen reichen nicht aus. Nicht diejenigen sollten hungern, die keine Löhne erhalten, sondern diejenigen, die keine Löhne auszahlen.

Lasst uns den Kampf der Fahrer nach allen Kräften unterstützen! Spenden und Solidaritätsadressen können dazu beitragen, den Kampfeswillen der Streikenden aufrechtzuerhalten.




Nein zur Kündigung von Inés: Gewerkschaftlich gegen Union Busting organisieren!

REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf https://onesolutionrevolution.de, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Inés ist Sozialarbeiterin an einer Berliner Schule und aktives Mitglied der GEW und jungen GEW. Am 10.07.2023 wurde sie seitens ihres Trägers Technische Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) außerordentlich und fristlos gekündigt. Grund dafür war die Tatsache, dass sie ihre Kolleg:innen über eine Kundgebung gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Neuköllner Sozialetat informiert hat.

Mit der rechtlich absolut haltlosen Kündigung versucht der Träger gewerkschaftliches und politisches Engagement im Betrieb zu verhindern und an Inés ein Exempel zu statuieren. Kolleg:innen sollen eingeschüchtert werden. Der Träger will uns zeigen, was uns droht, wenn wir den Mund aufmachen. Getroffen hat es Inés, aber gemeint sind wir alle, die sich unseren Betrieben, Schulen und Unis für bessere Arbeitsbedingungen und gegen sozialen Kahlschlag einsetzen. #WirsindInés

Umso wichtiger ist es nun, dass diese Gewerkschaftsfeinde nicht mit ihrer miesen Nummer durchkommen. Wir solidarisieren uns mit Inés und fordern die Rücknahme der Kündigung seitens der Geschäftsführung und Geschäftsführer Thomas Hänsgen!

Die junge GEW Berlin hat eine Petition zur Unterstützung ihrer Kollegin gestartet. Wir rufen euch dazu auf, diese zu unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLScZFsRwzEuusmSerFPma0t876gnrCjKP48nChprnrmO3C7T4Q/viewform

Die Petition hat bereits etliche Unterschriften bekommen und setzt den Träger vermutlich bereits stark unter Druck. Dennoch braucht es weitere Schritte. Wenn die GEW tatsächlich die Interessen der Angestellten gegenüber den Bossen vertreten will, muss sie sich als Ganzes mit Inés solidarisieren und öffentlichkeitswirksam hinter ihre Kollegin stellen. Es braucht Solidaritätsaktionen in unseren Schulen – und insbesondere in der Schule von Inés – zu der die GEW Berlin mit voller Stärker mobilisiert.

Auch in den kommenden Streiks für den Tarifvertrag Gesundheit und den Tarifvertrag der Länder muss sich gegen das gewerkschaftsfeindliche Handeln des Trägers ausgesprochen werden. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass der tjfbg mit seinem hinterhältigen Union Busting nicht durchkommt. Gemeinsam können wir die Erfahrung machen, dass unsere Solidarität stärker ist, als die Kündigungsversuche der Bosse. Gemeinsam können wir damit noch viel mehr Kolleg:innen ermutigen, sich für bessere Lern- und Lehrbedingungen in unseren Schulen einzusetzen!




Mahle Neustadt/Donau: Geht der Kahlschlag bei den Autozulieferern weiter?

Mattis Molde, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Der Personalabbau in der Autoindustrie ist voll im Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind noch 760.000 im Jahr 2022 übrig gewesen, also fast 100.000 weniger. Diese Entwicklung spielt sich vor allem in der Zulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen wie GKN, Dura und BCS wurden verkauft oder schlossen Standorte, größere Unternehmen wie Opel, Ford, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Größenordnungen von tausenden abgebaut und Standorte geschlossen.

Das ist keine Überraschung. Der Verband der Automobilindustrie, VDA, hatte dies schon im Juni 2021 angekündigt: „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze.“

Auf die Presseerklärung des VDA erfolgte damals keine Reaktion der IG Metall. Jetzt titelt die Juli-Ausgabe der Gewerkschaftszeitung METALL: „Volle Kraft für die Transformation“. Die volle Kraft besteht unter anderem in „Zukunftstarifverträgen“, die die IG Metall für Bosch und Mahle fordert und bei ZF schon abgeschlossen hat: „An allen Standorten sollen Zielbilder entstehen, mit neuen Produkten, Geschäftsmodellen und der nötigen Qualifizierung. Die Beschäftigten sollen die Zielbilder mitgestalten.“

Der Artikel – und der entspricht völlig dem, was auch auf Konferenzen und Versammlungen derzeit von der Führungsebene der IG Metall verbreitet wird – tut so, als ob der Verlust von tausenden Arbeitsplätzen an fehlenden Zielbildern und nicht vorhandenen Zukunftstarifverträgen (ZTV) gelegen habe.

Die gab es jedoch, sie hießen nur anders. Erst nannte man sie Standortsicherungsvereinbarungen, dann wurden die Namen vielfältiger, oft z. B. Zukunftsvereinbarung. Übereinkünfte wurden erzielt bei Restgrößen von Belegschaften, Lohnverzicht oder unbezahlter Arbeitszeitverlängerung, gerne im Namen von Qualifizierung. Zunehmend wurden in diesen Betriebsvereinbarungen auch betriebliche Gesprächskreise für neue Produkte vereinbart. Unterschrieben wurden sie von den (Gesamt)-Betriebsräten und – wenn sie in Tarifverträge eingriffen – auch von der IG Metall. Jetzt sollen die ZTV von der Gewerkschaft verhandelt werden und von dazu gebildeten Tarifkommissionen, in denen wieder die Betriebsratsspitzen sitzen.

Der einzige formale Unterschied wäre: Für Tarifverträge dürfte gestreikt werden – falls die Gerichte das als tariffähig anerkennen. Aber bislang ist in der IG Metall von Streik keine Rede, ja laut METALL sind „Zukunftstarifverträge nicht erzwingbar“. Auch die letzten Tarifrunden wurden nirgends genutzt, um mit Streiks Druck auf für den Erhalt von Arbeitsplätzen aufzubauen.

Aus den neuen Produkten, die unter der Leitung von Werksleitungen und Betriebsräten gesucht wurden, ist selten was geworden. Die Konzerne behielten sich immer die Entscheidung vor, was und wo produziert wird. Es kam vor, dass die gefundenen Produktideen einfach anderswo platziert wurden und das Werk, wo sie entwickelt worden waren, haben sie dichtgemacht.

Die METALL-Zeitung führt zum x-ten Male das Beispiel Bosch in Homburg/Saar an. Dort wurde eine Wasserstoff-Brennstoffzellen-Produktion aufgebaut. „200 Beschäftigte arbeiten bereits daran.“ Als Ersatz für abgebaute 1.000 Arbeitsplätze.

Mahle Neustadt

Betriebsräte und Belegschaft  treffen dort eine etwas realistischere Einschätzung als die Artikel in der METALL. Sie haben erkannt, dass mit schönen Worten nichts von einer Geschäftsführung zu holen ist, die es noch nicht mal für nötig hält, mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Zweimal innerhalb weniger Wochen ging die Belegschaft vors Tor, was der METALL, die auch über Mahle berichtet, keine Erwähnung wert ist.

Erstmal geht es um gut 50 der 420 Arbeitsplätze. Sie sind in Gefahr, weil die Bosse Produktion verlagern. Aber zu Recht sehen die Kolleg:innen, dass das Problem größer ist. Nach dem Auslaufen der jetzigen Aufträge sind noch keine weiteren platziert worden. Es droht, dass die Produktion schlicht ausgetrocknet wird.

Auf der Kundgebung am 23.6. haben sich mehrere hundert Beschäftigte beteiligt, unterstützt von Solidaritätsdelegationen aus anderen Mahle-Werken. Auch Vertreter:innen von SPD und CSU waren anwesend. Es fielen warme Worte. Aber damit kann kein Kampf gegen eine so entschlossene Gegnerin wie die Mahle-Geschäftsführung gewonnen werden.

Die überbetriebliche Mahle-Betriebsgruppe MAHLE-SOLI verteilte einen Flyer, der reißenden Absatz fand. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Flugblatt. Der Widerstand bei Mahle Neustadt braucht die Solidarität aller Lohnabhängigen, vor allem aber von kämpferischen Gewerkschafter:innen in der IG Metall und der VKG. Denn die Erfahrung zeigt: Nur ein entschlossener Abwehrkampf, der sich auf die gesamte Belegschaft stützt, nur Streiks, Mobilisierungen und die Besetzung des Betriebes können letztlich den Druck erzeugen, der nötig ist, Personalabbau und Schließungen zu verhindern. Dazu können wir uns aber nicht auf den IG Metall-Apparat verlassen, dazu müssen die Beschäftigen selbst, ihren Kampf in die Hand nehmen, indem sie auf regelmäßigen Vollversammlungen ein Aktionskomitee zur Leitung zur Koordinierung des Widerstandes wählen, das ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

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Anhang: Auszüge aus Mahle Soli

Die IG Metall muss endlich aufhören, die Angriffe der Autokonzerne als Probleme der einzelnen Belegschaften und Betriebsräte zu behandeln!

Wenn die Tarifrunden der IG Metall, in denen Streiks möglich waren, auch genutzt worden wären, um andere Zugeständnisse zu erzwingen, wenn die IG Metall endlich alle bedrohten Belegschaften der Auto- und besonders der Zulieferindustrie zusammenbringen würde, um ein gemeinsames, verbindliches Kampfprogramm zu vereinbaren, anstatt auf Konferenzen „soziale und ökologische Transformation“ zu fordern, während die Konzerne das Gegenteil tun – dann kommen wir alle als Metaller und Metallerinnen wieder auf die Siegerstraße!

Auch Mahle ist groß darin, Arbeitsplätze dorthin zu verlagern, wo die Arbeitskraft billiger ist und der Umweltschutz weniger umgesetzt wird. „Sich seit einigen Jahren verschärfende Umweltauflagen“ hatte z. B. die GF als Gründe für die Verlagerung der Gießerei in Zell angegeben. Diese „Transformation auf Kapitalistenart“ geht auf Kosten der Arbeitenden und der Umwelt, sie ist unsozial und unökologisch.

Kämpfen statt betteln!

Die Autokonzerne haben bisher nichts dazu beigetragen, dass der Verkehr klimagerechter wird. Im Gegenteil, der CO2-Ausstoß beim Verkehr steigt. Sie haben beim Abgasmessen betrogen und ihre Werbung auf „grün“ getrimmt. Dafür haben sie noch Milliarden erhalten. Zurecht empören sich Millionen, vor allem junge Menschen, darüber. Warum kämpfen wir Metaller:innen nicht mit ihnen für eine ökologische Umstellung der Produktion auf klimagerechte Verkehrssysteme? Die Autokonzerne werden mit Milliarden subventioniert (für Forschung, Transformation, Kurzarbeit, nicht eingeforderte Strafen für Abgasbetrug, Verlagerung in andere EU-Länder …). Das Geld wäre besser aufgehoben für die Entwicklung und Produktion klimagerechter Produkte!

Verkehrswende und Arbeitsplatzwende

Die IG Metall-Spitze ist immer noch nur auf eine Antriebswende orientiert. E-Autos sollen die Weltmarktposition der großen deutschen Konzerne sichern, und damit verspricht man sich auch die Sicherung von Arbeitsplätzen in den Konzernen. Die Belegschaften der Zulieferer schauen dabei in die Röhre: E-Autos brauchen weniger Teile und die verbliebenen Teile für Verbrenner verlagern die Konzerne ins Ausland.

Eine Verkehrswende bringt andere Produkte in Spiel: mehr Straßenbahnen, Busse und Eisenbahnen. Die Verkehrswende bringt auch mögliche neue Verbündete ins Spiel. Auch wenn die Klimabewegung bisher ähnlich erfolglos bei den Regierungen war wie die IG Metall beim Durchsetzen ihrer Forderungen gegen die Konzerne, gemeinsam könnte sich eine Kraft entwickeln, die über Appelle an die eine oder andere Seite hinausgeht, die statt Kreuzungen zu blockieren, und gelegentlicher Proteste vorm Werkstor die Betriebe besetzt und die Produktion umgestaltet.




Arbeiter:innen „RE-WOLT“ gegen Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

English translation: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/workers-re-wolt-against-wolt/

Berlin: Fünfzig Wolt-Beschäftigte und Sympathisant:innen versammelten sich am Montag, den 19. Juni 2023, auf dem Platz vor dem Zentrum Kreuzberg am U Kottbusser Tor, um gegen die Nichtzahlung von Löhnen, den Entzug der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere arbeitsrechtliche Bestimmungen zu protestieren. Auf ihrem Transparent stand „Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, gefolgt von dem Logo der Protestkampagne „ReWolt“ – eine Anspielung auf den Namen des Unternehmens und das Wort „Revolte“.

Kampagne

Der Protest wurde vom Wolt Workers Collective organisiert, einem Netzwerk von Wolt-Beschäftigten in Berlin, die bereits am 13. April dieses Jahres einen Protest organisiert hatten. Der Protest am Montag war die Fortsetzung einer Reihe von Protesten, die die Arbeit„nehmer“:innen organisieren wollen, bis sie ihre Grundrechte erhalten. Die jüngste Protestbewegung in Berlin begann, als einer Flotte von 120 eingewanderten Arbeiter:innen über mehrere Monate hinweg die Bezahlung verweigert wurde, was sich auf mehrere Tausend Euro an unbezahlten Löhnen belief. Sie waren von Wolt über einen Subunternehmer angeheuert worden, der auf den Namen Ali hört und in Neukölln in der Karl-Marx-Straße ein Geschäft für Handyzubehör namens Mobile World betreibt. Bei der letzten Protestaktion fuhren die Arbeiter:innen mit dem Fahrrad vom U Karl-Marx-Straße zur Wolt-Zentrale in Friedrichshain, wo sie der Wolt-Geschäftsführung eine schriftliche Charta mit ihren Forderungen für die nicht gezahlten Löhne übergeben wollten. Mitglieder der Gruppe Arbeiterinnenmacht waren dort anwesend, und wir wurden Zeu:ginnen, wie die Geschäftsführung sich weigerte, auch nur aus ihren Büros zu kommen, um die Charta mit den Forderungen entgegenzunehmen. Als Muhammad, der Anführer des Protests, versuchte, die Charta in den Briefkasten des Unternehmens zu werfen, wurde ihm gesagt, dass Wolt keinen habe.

Was als Kampagne unbezahlter Arbeiter:innen begann, denen unter dem Vorwand der Ausrede eines Subunternehmers der Lohn verweigert wurde, hat sich nun zu einem kollektiven Kampf entwickelt, an dem auch direkt bei Wolt Angestellte beteiligt sind. Gemeinsam fordern sie die ihnen zustehenden Löhne, Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Entschädigung, ein Ende des ausbeuterischen und illegalen Systems der Untervergabe von Aufträgen sowie bezahlten Urlaub im Krankheitsfall und andere Rechte. Um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, organisierten sie am Montag eine Protestveranstaltung, bei der eine Reihe von Arbeit¡nehmer“:innen sowie ihre Freund:innen und Sympathisant:innen gegen die Ungerechtigkeiten sprachen, denen sie ausgesetzt sind.

Arbeiter:innen klagen an

„Ich bin ein Student mit Migrationshintergrund und kämpfe darum, hier in Deutschland mit meiner Familie leben zu können“, sagte Muhammad, der Anführer des Protests. „Meine Frau und ich arbeiten in Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen. Wolt hat mir drei Monate meines Lohns gestohlen. Und ich bin nicht allein. Wir sind viele Student:innen mit Migrationshintergrund, die sich in der gleichen Situation befinden und von diesem Unternehmen ausgebeutet werden. Weil wir Migrant:innen sind, haben viele Studierende sogar Angst zu protestieren. Ich war achtmal persönlich in der Wolt-Filiale, um meinen Lohn einzufordern. Der Geschäftsführer, den alle nur als Ali von der Mobile World GmbH kennen, weigerte sich jedoch immer wieder und sagte schließlich, dass er von Wolt nicht dafür bezahlt wurde, unseren Lohn zu zahlen. Wenn wir Aufträge pünktlich und mit ehrlichem Einsatz ausgeliefert haben, ist das Mindeste, was wir verdienen, dass wir bezahlt werden! Jede Arbeit hat ihre Würde. Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhne erhalten.“

Seine Kollegin Shiwani Sharma, die ebenfalls ihren Lohn nicht erhalten hat, sprach über die Härten, denen diese Arbeiter:innen infolge des Lohndiebstahls ausgesetzt sind. „Ich bin Studentin an einer privaten Universität in Berlin und es ist schon sehr schwierig, mit den Herausforderungen der hohen Miete und Studiengebühren fertigzuwerden“, sagte sie. „Ich bin im Dezember bei Wolt als Fahrerin eingestiegen. Es war eiskalt, aber wir gingen von Tür zu Tür, um die Kund:innen mit Essen zu versorgen. An manchen Tagen hatten wir starke Schmerzen in den Händen, weil das Wetter so kalt war. Die ganze Zeit über saß die Geschäftsführung von Wolt in ihren gut geheizten Büros. Dank unserer harten Arbeit bekommen sie das Geld, um ihre Büros zu heizen, aber dann nehmen sie uns auch noch unseren mageren Lohn ab. Wir verdienen es, bezahlt zu werden! Und wir verdienen zumindest einen Mindestlohn pro Stunde statt der Bezahlung pro Auftrag. Dieses System der auftragsbezogenen Bezahlung muss abgeschafft werden!“

Ein anderer Fahrer indischer Herkunft, Abhay, beschrieb seine Erfahrungen mit Wolt als Achterbahnfahrt. Ihm zufolge arbeiteten diese Arbeiter:innen in den eisigen Monaten Dezember und Januar acht bis zehn Stunden, weil sie dachten, sie würden bezahlt, um ihre Universitätsgebühren und andere Ausgaben bestreiten zu können. „Was bekomme ich nach dieser Arbeit? Wolt hat sich geweigert, mich zu bezahlen. Ich dachte, sie würden mich im nächsten Monat bezahlen. Aber ich habe für November, Dezember und Januar kein Geld bekommen. Die Personalabteilung von Wolt hat sogar schon geleugnet, dass wir ihre Beschäftigten sind. Wir haben alles, um zu beweisen, dass wir für Wolt gearbeitet haben. Wir wollen bezahlt werden.“

Janno, ein Freund der Arbeiter:innen von der Kampagne Welcome United, sagte, dass illegale Geschäftspraktiken wie Lohndiebstahl gestoppt werden müssen. „Viele der Lieferdienste verletzen täglich grundlegende Rechte und Gesetze auf dem Rücken ihrer Fahrer:innen“, sagte er. „Das ist kein Zufall, kein Ausrutscher. Es ist ihr Geschäftsmodell.“

Lieferfahrer:innen von Gorillas, Lieferando und anderen Unternehmen dieser Art waren ebenfalls anwesend, um ihre Argumente gegen prekäre Arbeit vorzubringen. Joey vom Workers Centre, der auch ein Gorillas-Fahrer ist, sprach über die Notlage von Arbeitsmigrant:innen in der deutschen Gig-Economy und stellte sie in den größeren europäischen Kontext des strukturellen Rassismus. Sie verurteilten die Untätigkeit der griechischen Behörden und die europäische Gleichgültigkeit im Allgemeinen gegenüber den pakistanischen, syrischen und anderen Opfern des jüngsten Ertrinkens der Insass:innen eines überfüllten Bootes im Mittelmeer.

Zum Abschluss führte das Theater X einen theatralischen Sketch über die Notlage der betroffenen Zusteller:innen auf.

Kapitalismus und Überausbeutung

Die Krise der Lebenshaltungskosten in Deutschland wird schon jetzt von Tag zu Tag unerträglicher. Schon jetzt ist es für uns Beschäftigte so schwer, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen. Den Beschäftigten im prekären Sektor wird nun sogar dieser Lohn vorenthalten. Es ist absolut beschämend, dass diese Praxis des Lohndiebstahls in einem so genannten demokratischen Staat wie Deutschland stattfinden kann. Aber es zeigt auch, dass der Staat immer die Interessen der Kapitalist:innenklasse vertritt.

Und deshalb müssen wir uns als Arbeiter:innen zusammenschließen und die Gewerkschaften zu kollektiven Kampforganisationen machen, die uns vertreten, aber wir brauchen auch eine Arbeiter:innenpartei, die uns und unsere Interessen in Wirklichkeit vertritt.

Unser Genosse Martin hielt auf der Demonstration eine bewegende Rede. Er sagte, er sei Mitglied der IG Metall (der größten Industriegewerkschaft in Deutschland und Europa), und auch wenn seine Gewerkschaft einer anderen Branche angehöre, sei es wichtig, dass wir uns als gemeinsam kämpfend verstehen.

„Das ist etwas, was die Gewerkschaften in Deutschland gar nicht oder nicht ausreichend tun. Das ist etwas, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam ändern müssen. Euer Ringen, euer Mut, euer Kampf gegen Outsourcing, gegen Leiharbeit, gegen Lohnraub zeigt nicht nur, welche Maßnahmen Wolt und andere kriminelle Kapitalist:innen ergreifen, um ihre Gewinne zu sichern. Es zeigt auch, dass ihr keine Opfer seid und ihr euch wehren könnt, und ihr habt bewiesen, dass ihr euch organisieren könnt und wir uns organisieren können. Deshalb ist es wichtig, dass wir Solidarität und einen gemeinsamen Kampf mit den Gewerkschaften im gleichen Sektor wie der NGG, ver.di und allen anderen fordern, denn der Kampf, den ihr führt, ist nicht nur für euch wichtig, er wird auch für die gesamte Arbeiter:innenklasse wichtig sein. Je mehr sich der prekäre Sektor ausweitet, desto mehr werden die Löhne überall gedrückt! Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses aller Arbeiter:innen, diesen Kampf zu unterstützen. Wir müssen unabhängig vom Wetter Lebensmittel kaufen und Miete zahlen, und deshalb müssen wir das System in Frage stellen, das hinter dem Diebstahl eines Lohns steckt, der selbst für die Deckung der Grundbedürfnisse nicht ausreicht. Hunderte Millionen von Migrant:innen, Frauen und die am stärksten benachteiligten und unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse werden durch die Ausweitung der Gig-Economy in diese Bedingungen getrieben. Wenn wir ein Ende dieses Systems wollen, müssen wir auch das Recht auf die Gewinne in Frage stellen, die Lieferando, Wolt, Flink und all die anderen für sich selbst erzielen. Wenn sie nicht bereit sind, die Löhne pünktlich zu zahlen, wenn sie nicht bereit sind, Löhne zu zahlen, die zum Leben reichen, dann sollten diese Unternehmen entschädigungslos enteignet werden! Wir müssen aus einem System, das auf Ausbeutung, Rassismus, Krieg und Unterdrückung fußt, Geschichte machen!“

Es ist nicht das erste Mal, dass die Frage der Enteignung in Berlin auf die Straße gebracht wird. Im Jahr 2021 war das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erfolgreich, auch wenn der Gesetzgeber den Willen der Berliner Bevölkerung, die angesichts der Wohnungs- und Mietkrise für die Enteignung der Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen und anderer gestimmt hat, nicht umgesetzt hat. „Wir sind nicht länger bereit, mit unseren überhöhten Mieten die Gewinne der Aktionär:innen zu finanzieren“, heißt es auf deren Website. Die Profite der Unternehmen, die von den Privilegien der Kapitalist:innenklasse durch prekäre Gig-Arbeit profitieren, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Auch einige deutsche Schüler:innen waren zu der Demonstration gekommen, um ihre Solidarität mit den unbezahlten eingewanderten Arbeiter:innen zu bekunden. „Die Tatsache, dass das Management nicht bereit ist, euch zu bezahlen, ist eine Frechheit“, sagte Kai, der auch Mitglied der kommunistischen Jugendgruppe Revolution ist. „Als Jugendliche, die sich für unsere Zukunft interessieren, sehen wir die Notwendigkeit, uns mit eurem aktuellen Kampf und mit dem Kampf der ganzen Welt zu vereinen. Heute sind wir Student:innen oder Auszubildende und eines Tages werden wir Arbeiter:innen sein. Euer Kampf jetzt ist auch ein Kampf für unsere Zukunft. Auch wir werden von demselben System unterdrückt, das euch unterdrückt.“ Als er seine Rede beendete, rief die Menge unisono: „Student:innen und Arbeiter:innen, vereinigt euch und kämpft!“

Eine Solidaritätsbotschaft des Sprechers der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) lautete: „Ich drücke meine Solidarität mit eurem Kampf aus. Als jahrzehntelang aktiver Gewerkschafter muss ich sagen, dass es eine Schande ist, dass die Nichtbezahlung von Arbeit„nehmer“:innen in diesem Land wieder möglich ist. Dass das Mindestrecht der Lohnarbeit, dass der Lohn gezahlt wird, nicht respektiert wird! Die Gewerkschaften des DGB, die Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die arbeitenden Menschen zu vertreten, SPD und Linkspartei, müssen dafür kritisiert werden, dass sie die Gesetze für Leiharbeit und Plattformökonomie zulassen, die die Rechte der Arbeiter:innen ausgehöhlt haben. Es ist ihre Pflicht, für die Wiederherstellung dieser Rechte und für die Verteidigung der betroffenen Beschäftigten zu kämpfen.“

Positiv war, dass Ferat Koçak von der Partei DIE LINKE Neukölln unserem Aufruf zur Solidarität gefolgt ist. Da Ferat terminlich verhindert war, bekundete an seiner Stelle Genosse Daniel seine Solidarität. Wir rufen alle linken Kräfte und Gewerkschaften auf, gleichermaßen zu reagieren und diese Bewegung als aktiven Kampf mit aufzubauen. Schließlich liegt es im Eigeninteresse aller Lohnabhängigen, die Ausweitung prekärer Arbeit zu verhindern und gemeinsam für die Durchsetzung von Mindestlöhnen und anderen grundlegenden Arbeitsrechten für alle zu kämpfen! Deshalb rufen wir in einem ersten Schritt alle auf, am 27. Juli zur Gerichtsverhandlung zu erscheinen, damit auch die Gerichte wissen, dass wir zusammenstehen.

Hoch die Internationale Solidarität!




Workers „RE-WOLT“ against Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

Deutsche Übersetzung: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/arbeiterinnen-re-wolt-gegen-wolt/

Berlin: Fifty Wolt workers and sympathisers took to the square in fron of Zentrum Kreuzberg at U Kottbusser Tor on Monday, 19th June 2023, to protest against non-payment of wages, deprivation from paid sickness leave and other labour law provisions. Their banner read “Wolt owes us money and rights” followed by the logo of the protest campaign, called “ReWolt” – a play on the company’s name and the word “revolt”.

The protest was organised by the Wolt Workers Collective, which is a network of Wolt workers in Berlin who had earlier organised a protest on April 13 this year. Monday’s protest was a continuation of the series of protests that workers have planned to organise until they are given their basic rights. The recent protest movement in Berlin began when a fleet of 120 migrant workers were denied payment for several months, amounting to several thousands of euros in unpaid wages. They had been hired by Wolt through a subcontractor who goes by the name Ali and runs a mobile phone accessories shop in Neukölln on Karl Marx Straße by the name Mobile World. At the last protest, workers cycled their way from U Karl Marx Straße to the Wolt headquarters in Friedrichshain where they had intended to deliver a written charter of their demands for the unpaid wages to Wolt management. Members of Gruppe Arbeiterinnenmacht were present there and we witnessed how management refused to even come out of their offices and receive the charter of demands. When Muhammad, the leader of the protest, tried to put the charter in the mailbox of the enterprise, he was told that Wolt did not have a mailbox.

What began as a campaign of unpaid employees being denied wages under the farce of a subcontractor excuse has now evolved and grown into a collective struggle that also involves directly hired employees of Wolt. Together, these workers demand their rightful payment of wages, occupational safety, workers‘ compensation, an end to the super-exploitative and illegal subcontracting system, and paid sickness leave among other rights. To make their voice heard, they organised a protest on Monday, where a number of workers and their friends and sympathisers spoke against the injustices they have been facing.

Workers accuse

“I am a migrant student and struggle to live here in Germany with my family,” said Muhammad, the leader of the protest. “My wife and I work odd jobs to make ends meet. Wolt has stolen three months of my wages. And I am not alone. We are many migrant students facing the same situation at the hands of this company. Because we are migrants, many students are even afraid of protesting. I went to the Wolt store in person eight times to claim my wages. However, the manager, whom everyone only knows as Ali from Mobile World GmbH, repeatedly refused and finally said that he has not been paid by Wolt to pay our wages. When we have delivered orders on time and with honest dedication, the least we deserve is to be paid! All labour has dignity. It is a crime for people to live in this rich nation and receive starving wages.”

His colleague, Shiwani Sharma, who has also not been paid her wages, spoke about the hardships these workers have been facing as a result of the wage theft. “I am a student in a private university in Berlin and it is already very difficult to cope with the challenges of high rent and high tuition fees,” she said. “I joined Wolt as a rider in the month of December. It was freezing cold weather but we would go door to door to deliver food to customers. On some days, we would get severe pain in our hands because the weather was so cold. All the while, the Wolt management sat in their comfortably heated offices. They get the money to heat their offices due to our hard work but then they deprive us of even our meagre wages. We deserve to be paid! And we deserve at least a minimum wage per hour instead of the per order payments. This per order payment system must be abolished!”

Another rider of Indian background, Abhay, described his experience with Wolt as a roller coaster ride. According to him, these workers worked eight to ten hours in the freezing months of December and January, thinking that they might be paid to be able to afford their university fees and other expenses. “What do I get after this work? Wolt denied to pay me. I thought they will pay me next month. But I have not been paid for November, December and January. The HR department of Wolt has even denied before that we are their workers. We have everything to prove that we worked for Wolt. We want to be paid.”

Janno, a friend of the workers from the Welcome United campaign, said that illegal business practices such as wage theft must be stopped. “Many of the delivery services violate basic rights and laws on the backs of their riders on a daily basis,” he said. “It’s not a coincidence. It’s not an accident. It’s their business model.”

Delivery riders from Gorillas, Lieferando, and other such companies were also present to make their case regarding precarious work. Joey from Workers Centre, who is also a Gorillas rider, spoke about the plight of migrant workers in Germany’s gig economy and situated it in the larger European context of structural racism. They condemned Greek authorities’ inaction and European apathy in general towards the Pakistani, Syrian and other victims of the recent drowning of an overcrowded boat in the Mediterranean.

At the end, Theater X performed a theatrical sketch on the plight of affected delivery workers.

Capitalism and superexploitation

Germany’s cost of living crisis is already becoming more and more unbearable with each passing day. It is already so difficult for us workers to make ends meet even on minimum wage. Workers employed in the precarious sector are now deprived of even that wage. It is absolutely shameful that this practice of wage theft can happen in a so-called democratic state like Germany. But what it also shows is that the state is always representative of the interests of the capitalist class. And that is why we as workers have to unite ourselves and make the trade unions collective fighting organisations that represents us but also that we need a workers’ party that in reality represents us and our interests.

Our comrade, Martin, gave a moving speech at the protest. He said he was a member of IG Metall (the largest industrial union in Germany and Europe), and even though his union belongs to a different trade, it is important that we see ourselves as waging a struggle together. “This is something that the trade unions in Germany do not do at all or do not do sufficiently. This is something that we need to change in the next years together. Your struggle, your courage, your fight against outsourcing, against subcontracting, against the robbing of your wages shows not only what kind of measures Wolt and other criminal capitalists are undertaking in order to secure their profits. It also shows that you are not victims and you can fight back and you have proven that you can organise and that we can organise ourselves. Therefore, it is important that we demand solidarity and a common struggle with the trade unions in the same sector like the NGG, Ver.di and all others because the struggle you wage is not only important for you, it will also be important for the whole working class. The more the precarious sector expands, the more it will undercut wages everywhere! This is why it is not just a question of solidarity but rather a question of self-interest of every worker to support this struggle. We have to buy food and pay rent irrespective of the weather and that is why we have to question the system that is behind stealing of a wage that is itself insufficient to pay for basic needs. Hundreds of millions of migrant workers, women and the most disadvantaged and oppressed sections of the working class are driven into these conditions by the expansion of gig economy. If we want an end to this system, we also have to question the right to the profits which Lieferando, Wolt, Flink and all the others are making for themselves. If they are not prepared to pay the wages on time, if they are not prepared to pay wages sufficient for a living, then those companies should be expropriated without compensation! We need to make history out of a system which stands on exploitation, on racism, on war and oppression!”

This is not the first time that the question of expropriation has been raised in the streets of Berlin. In 2021, the Deutsche Wohnen Enteignen (Expropriate Deutsche Wohnen) referendum was successful, even if lawmakers have failed to act on the will of the Berlin population who voted in favour of expropriating the real estate company, Deutsche Wohnen, in light of the housing and rent crisis. “We are no longer willing to finance the profits of the shareholders with our excessive rents!” reads their website. Profits of companies enjoying the privileges offered to the capitalist class through precarious gig work are now increasingly coming under question. Some German school students had also come to the protest to express solidarity with the unpaid migrant workers. “The fact that the management is not willing to pay you is an insolence,” said Kai, who is also a member of communist youth group Revolution. “As youth interested in our future, we see the necessity to unite with your current struggle and with the struggle of all around the world. We are students or trainees today and we will be workers one day. Your struggle now is also a struggle for our future. We are also being oppressed by the same system that oppresses you.” As he ended his speech, the crowd shouted in unison, “Students and workers, unite and fight!”

A solidarity message received from the speaker of the Vernetzung für kämpfersiche Gewerkschaften read: “I express my solidarity with your struggle. As an active trade unionist for many decades, I have to say that it is a shame that the non-payment of workers is possible again in this country. That the minimum right of wage-labour, that the wage is paid, is not respected! The trade unions of the DGB, the parties that claim to represent the working people, SPD and the Left Party, have to be criticised for allowing the laws for temporary work and platform economy that have eroded workers’ rights. It’s their duty to fight for re-establishment of these rights and for the defence of the workers concerned.”

It was positive that Ferat Kocak of Die Linke Neukölln responded to our call for solidarity and sent Comrade Daniel in his stead to express solidarity with the workers. We call upon all left forces and trade unions to respond alike and help build this movement as an active struggle. After all, it is in the self-interest of all workers to prevent the expansion of precarious work and to collectively fight for the application of minimum wage and other basic labour rights on all! Therefore, as a first step, we call on everyone to come to the court hearing on 27 July, so that the courts also know that we stand together.

Hoch die Internationale Solidarität!




Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Schweden: Sieg für den Eisenbahner:innenstreik!

Arbetarmakt, Stockholm, Infomail 1222, 6. Mai 2023

Vor der Wahl versprach die Sozialdemokratische Partei in der Region Stockholm, die Abschaffung von Zugbegleiter:innen in Pendler:innenzügen zu stoppen, ein Vorschlag, den sie als „verheerend“ und „moderat gescheitert“ bezeichnete. Nach der Regierungsübernahme hat sie gemeinsam mit der Zentrumspartei und der Grünen Partei und mit Unterstützung der Linkspartei diesen Beschluss umgesetzt.

Aus Protest haben die Lokführer:innen im Nahverkehr in diesem Frühjahr Proteste organisiert, die Zahl der Krankmeldungen wurde erhöht, und am Montag traten sie in einen wilden Streik. In einem Flugblatt, das sich an die Öffentlichkeit wendet, erklären die Lokführer:innen, dass sie seit fast zwei Jahren protestieren, aber alle Einwände ignoriert wurden. Die Forderung ist klar: Zugbegleiter:innen zurück in den Führerstand und zum Sicherheitsdienst!

Ihnen stehen Drohungen mit rechtlichen Schritten seitens der gierigen Kapitalist:innen der Privatbahn MTR entgegen. Außerdem sind sie mit der Passivität der Seko, Gewerkschaft der Beschäftigten im Kommunikations- und Dienstleistungsbereich, und der Heuchelei der politischen Führung konfrontierte. Aber die Lokführer:innen verfügen, wie in den bisherigen zwei Streiktagen deutlich wurde, über etwas viel Wichtigeres und Stärkeres: die massive Unterstützung all derer, die die Pendler:innenzüge in der Region Stockholm nutzen und eine sichere Verkehrssituation wollen.

Am Dienstag, den 2. Mai, besuchten die Genoss:innen von Arbetarmakt die Kundgebung der Streikenden vor dem Stockholmer Hauptbahnhof und verteilten anschließend in der Nähe Plakate zur Unterstützung des Streiks. Wir haben natürlich auch zum Streikfonds der kämpfenden Arbeiter:innen beigetragen der zu diesem Zeitpunkt (2. Mai) erstaunliche 1,3 Millionen SEK gesammelt hat.

Wir fordern alle, die diesen wichtigen Kampf unterstützen, auf, die Kundgebung vor dem Hauptbahnhof zu besuchen, um ihre Unterstützung zum Ausdruck zu bringen, mit Arbeitskolleg:innen, Freund:innen und Gewerkschaftskolleg:innen über den Streik zu sprechen, Geld in den Streikfonds zu spenden und bereit zu sein, den völlig berechtigten Arbeitskampf weiter zu unterstützen. Die Website des Streikkomitees findet Ihr hier: https://vildstrejkpendeln.blogg.se/, und der Streikfonds (organisiert von der Workers‘ Solidarity Association) hat eine Swish-Nummer 123 699 29 52 oder ein Bankkonto 418-6482, auf dem der Vermerk „train host“ steht.

Sicherheit vor Profit! Sieg für den Pendler:innenstreik! #rörintemintågvärd




Wunderwaffe Organizing?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 273, Mai 2023

Es geht ein Gespenst um in den Gewerkschaftshäusern – das Gespenst des Organizings. Doch es ist hohe Zeit, die Anschauungsweise, dessen Zwecke, Stärken und Schwächen darzulegen.

Einleitung

Den Gewerkschaften in Deutschland geht es im langfristigen Trend schlecht. Während 1994 9.768.378 Kolleg:innen Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft waren, sind es 2022 nur noch 5.643.762. Dieser Trend ist nicht einzigartig, sondern reiht sich ein in die Entwicklung in den westlichen imperialistischen Staaten. Inmitten dieser ist ein Schlagwort präsenter geworden: gewerkschaftliche Erneuerung. Ein zentrales Standbein dessen ist das Organizing.

In diesem Beitrag wollen wir Organizing als Methode, aber auch als Programm beleuchten und einer solidarischen Kritik unterziehen. Denn es schafft es, beispielsweise mit der Krankenhausbewegung inmitten der sozialpartnerschaftlichen Tristesse Leuchttürme des Arbeitskampfes zu errichten, neue Generationen von Arbeiter:innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu begeistern, den Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken, und vieles mehr. Zugleich verkörpert es ein Programm des (zumeist linken Teils des) Gewerkschaftsapparats, das seiner Stellung nicht gefährlich wird. Dabei ist es diese, die erst kürzlich trotz gigantischen Zuspruchs für den Vollstreik bei der Post den Ausverkauf des Arbeitskampfes eingeleitet hat. Und das ist nur ein Verrat unter vielen auf dem Kerbholz der Arbeiter:innenbürokratie.

In diesem Text werden wir uns in den Konkretisierungen im Wesentlichen auf Jane McAlevey beziehen, die in linken gewerkschaftlichen Kreisen und an den Schnittstellen zu sozialen Bewegungen aktuell die wirkmächtigsten Ansätze präsentiert. McAlevey ist die Strategin des US-amerikanischen Organizings und führender Kopf des internationalen Netzwerks „Organizing for Power“ (O4P) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Das Netzwerk ist nach eigenen Angaben der RLS eine „der erfolgreichsten Online-Veranstaltungsreihen der weltweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung [ … ; mit] fast 27.000 Menschen aus 130 Ländern“[i], die daran teilnahmen.

Das Schwerste zuerst: ein Definitionsversuch

An dieser Stelle sollen zwei Definitionen aus den Debatten rund ums Organizing herangezogen werden. Britta Rehder, Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum, bezeichnet Organizing als strategischen Instrumentenkasten, der darauf abzielt, neue Ansätze für gewerkschaftliche Revitalisierungsversuche zu erarbeiten (vgl. Rehder 2014)[ii]. Dabei handelt es sich um ein Programm strategischer Planung durch die führenden Abteilungen der Gewerkschaften, das zumeist darauf ausgelegt ist, (traditionell) schwer organisierbare Berufsgruppen über offensive Mitgliedergewinnung zu erreichen.

Dieser Teil des Programms wird teilweise Strategic Unionising genannt. Es findet auf drei Ebenen statt: (1) die extensive Mobilisierung zur Rekrutierung neuer Mitglieder, (2) die intensive Mobilisierung zur Einbeziehung der eigenen Basis und (3) die Koalitionsbildung mit anderen politischen Akteur:innen.

Florian Wilde, wissenschaftlicher Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt im Vorwort der deutschen Ausgabe des neuesten Buchs von Jane McAlevey „Macht. Gemeinsame Sache.“, dass das „Organizing [ … ] Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ (McAlevey 2021, S. 11). Ziel ist es dabei, die Gewerkschaften als Institutionen zu stärken, um für eine gerechte (sic!) Verteilung von Reichtum und Macht zu sorgen. „Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“ (ebd., S. 18).

Organizing ist also ein Konzept geschwächter (gewerkschaftlicher) Strukturen zum Organisationsaufbau, um (wieder) verhandlungsfähig zu werden. Darin steckt bereits ein Doppelspiel aus Strategie und Taktik. Taktiken sind in dem sogenannten Instrumenten- oder auch Werkzeugkasten zu suchen, seien es Eins-zu-eins-Gespräche, Abteilungsgänge, Stärketests, Telefonflashs, Petitionen, Flashmobs, Mehrheitsstreiks und vieles Weiteres als (un-)mittelbare Schritte, um die eigene Ausgangslage zu verbessern. Und zugleich die Zweckmäßigkeit, für die diese Mittel eingesetzt werden (Strategie), die in der (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht liegen. Organizing beruht auf der Annahme, dass sich Menschen organisieren, wenn sie die Möglichkeit sehen, dass Probleme, die ihre sind, durch kollektive Organisierung gelöst werden können.

Organizing als … Methodenwerkzeugkoffer

Im breitesten Sinne, also wenn Organizing bloß auf die verwendeten Formen begrenzt wird, handelt es sich um kein genuin progressives Konzept. Beispielsweise kann auch die Tea-Party-Bewegung als eine Organizinkampagne begriffen werden. Im breitesten Sinne ließen sich Organizing und Beteiligung fast synonym verwenden. Mit dieser Erkenntnis kann man aber genauso viel wie wenig anfangen. Ziel dieses Textes ist aber keine breite Auseinandersetzung mit allem, was unter der Klammer des Organizings auftreten könnte. Es geht hier um Aspekte des sogenannten transformativen Organizings, speziell in Bezug auf gewerkschaftliche Debatten.

Eric Mann hat den Begriff zu fassen versucht, wenn er schreibt: „Durch transformatives Organizing werden Massen von Menschen rekrutiert, um radikal für konkrete notwendige Forderungen zu kämpfen – um segregierte Einrichtungen allen zugänglich zu machen, Arbeitsplätze für Schwarze, das Ende der Militärrekrutierung auf dem Campus –, aber immer als Teil einer größeren Strategie, um die strukturellen Bedingungen in der Welt zu verändern: für ein Ende der Apartheid nach der Abschaffung der Sklaverei. Um einen Krieg zu beenden. Für den Aufbau einer wirkmächtigen, langlebigen Bewegung. Transformatives Organizing richtet sich auf eine Transformation des gesellschaftlichen Systems, des Bewusstseins der Menschen, die organisiert werden –, und im Verlauf auch des Bewusstseins der Organizer.“ (Mann 2011, S. 1f).[iii] Eine generelle Kritik der Transformationstheorien haben wir an anderer Stelle unternommen.[iv]

Durch die Fokussierung auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit, beeinflusst durch das Community Organizing, stellt das gewerkschaftliche als Werkzeugkasten eine Art Anreicherung betrieblicher Kampfformen mit Einbindung der sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen als bürgerliche Individuen dar. Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen).

Daher erscheinen sie auch in ihrem eigene Bewusstsein als freier als die Mitglieder früher Gesellschaftsformationen, obwohl sie realiter stärker unter die materiellen Verhältnisse (und damit auch unter ihre Klassenposition) subsumiert sind. Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. Sie sind in Vereinen aktiv, in sozialen Medien präsent, kennen lokale Politiker:innen, sind möglicherweise gläubig usw. Im Übrigen trifft genau das auch auf deren Umfeld zu.

Um dem Theorieteil etwas vorzugreifen, lässt sich sagen: Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht. Das Organizing im Gefolge von McAlevey nimmt nicht in Anspruch, erstmalig die einzelnen Konzepte (Werkzeuge) entdeckt, sondern sie zu einem System zusammengeführt zu haben.

Zentrale Methoden: der Strukturtest und die organischen Führungspersönlichkeiten

Organizing ist oftmals ein lange andauernder Prozess mit verschiedenen Phasen. In allen werden gewisse Ziele gesetzt (X Mitglieder bis dahin, Y Teilnehmer:innen auf einer Betriebsversammlung, Z Follower:innen auf der Instagramseite). Diese Ziele werden als Strukturtests bezeichnet und bestimmen den Kampagnenfahrplan, der zumeist als eine Art Mapping bei einem Workshop erstellt wurde und nach einem Strukturtest aktualisiert werden muss. Strukturtest bedeutet nicht prinzipiell der Aufbau betrieblicher Kampfstrukturen. Es stellt sich immer die Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Urabstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes oder über dessen Fortsetzung ist immer eine Frage der Kampfperspektive, mit der diese eingebracht wird. Auch die regelmäßigen „Strukturtests“ die beispielsweise die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im TV-G (Tarifvertrag-Gesundheitsschutz) bisher absolvierte, mit monatlichen Streiktagen ohne Verhandlungsfortschritt oder Veränderung der Streiktaktik können zur Schwächung statt zum Strukturaufbau führen.

Organische (An-)Führer:innen sind Kolleg:innen oder Teile einer Community, die eine zentrale Rolle in den jeweiligen Netzwerken spielen. Auch dies Konzept ist an und für sich nützlich. So schlägt McAlevey vor, sich nicht ausschließlich auf die etablierten Kontakte zu stützen, sondern auf sogenannte organische Führer:innen. Verkürzt gesagt, soll auf jene Kolleg:innen der Fokus gelegt werden, die Gehör unter den anderen finden, Vertrauen genießen, gewissermaßen beliebt sind anstatt der reinen Gewerkschaftsmitgliedschaft oder etwaiger Stellungen (bspw. Betriebsrat, Vertrauenskörpermitglied). In gewissem Sinne handelt es sich um die Suche nach charismatischen Führer:innen.

Der Begriff der charismatischen Führung ist jenem der charismatischen Herrschaft entlehnt. Er findet sich u. a. theoretisiert bei Max Weber. Bei ihm lautet es: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2005, S. 38)[v]. Weber benennt darüber hinaus drei Formen der Herrschaft, die traditionale, die legale und die charismatische. Letztere ist eine Qualität der Persönlichkeit, steht und fällt aber auch mit ebenjener. Charismatische Führer:innen zu gewinnen, wird dabei in den ersten Phasen des Organizings als weitaus zentraler als der Aufbau von Strukturen oder die Gewinnung deutlich mehr neuer Gewerkschaftsmitgliedern betrachtet. Die lebendigen Beschreibungen, die McAlevey beispielsweise in ihrem Buch „Macht. Gemeinsame Sache. – Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie (sic!)“ liefert, zeigen, dass teilweise Versuche, gewerkschaftsfeindliche Kolleg:innen zu gewinnen, gelangen. Umgekehrt schafften es aber auch die professionellen Union-Busting-Unternehmen teilweise, gewerkschaftsnahe Kolleg:innen auf ihre Seite zu ziehen. In den USA treten Organizing- und Union-Busting-Firmen gewissermaßen als Zwillingsgesichter zweier gegensätzlicher Interessen auf, eine im Sinne der Gewerkschafts-, die andere im Sinne der Unternehmensführung.

All diese Beschreibungen sind hoch interessant, geben praktische Tipps für Organizer:innen, doch eine wichtige Frage werfen sie nicht auf. Organische Führer:innen zu sein, sagt noch wenig über den Inhalt der Führung aus. Die Auswahl der Führung durch vom Gewerkschaftsapparat angeheuerte Organizer:innen sagt aber zugleich etwas über deren tendenzielle Perspektive aus. Organische Führer:innen, die sich aus ihrer Opposition auf Betriebsversammlungen heraus bekanntmachen, die über Wochen, Monate und Jahre für die Durchsetzung von Streikzielen ringen, sind etwas anderes als charismatische Individuen, die von Gewerkschaftsbürokrat:innen beauftragt werden, Führer:innen zu sein.

Jedoch steht sich dies nicht prinzipiell entgegen. Was zusätzlich Einfluss nimmt, ist die Frage: Wem gegenüber besteht hier Rechenschaft oder auch wer ist Ross und wer Reiter:in? Durch Organizer:innen bestimmt zu werden, etwas aufzubauen, hat eine andere Wirkung, wenn eine Kolleg:in ausgewählt wird, weil sie eine bestimmte Kampfperspektive vertritt oder sich in einem Kampf gegen die Bosse bewährt hat. Beim aktuellen Organizing nimmt die Gefahr zu, dass die handverlesene organische Führer:in im Zweifel eher mit den Gewerkschaftsbürokrat:innen als gegen sie stimmt. An und für sich ist auch eine charismatische Führung nicht demokratisch legitimiert, wobei – und das wiederholen wir – sich Charisma und Legitimität nicht prinzipiell entgegenstehen müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Konzept der organischen Führung jenes der demokratischen Kontrolle tendenziell vermeidet.

Grenzen der Demokratie und politischen Ziele

Die Frage der Demokratie tritt jedoch nicht gänzlich in den Hintergrund. Die Kolleg:innen sollen die verschiedensten Phasen der sichtbaren Kampagne durch ihre Beteiligung und demokratische Mitbestimmung durchaus prägen. Dieses Vertrauensverhältnis, das das Organizingkonzept aufzubauen versucht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Fortschritt, denn es bezieht kämpfende Arbeiter:innen in die Entscheidungen besser ein. Die Krankenhausbewegung an den Unikliniken in NRW war hier ein gutes Beispiel. Der „Rat der 200“ war eine Art der demokratischen Entscheidungsstruktur des Arbeitskampfs durch die Belegschaft und ein Vorteil gegenüber jeder von oben eingesetzten Tarifkommission.[vi]

Aber die Demokratie hat ihre Grenzen im Konzept. Kritisch wird’s, wenn es um die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften auch über den Arbeitskampf hinaus geht oder wenn eine andere Richtung als jene des Apparates eingeschlagen werden soll. Denn schlussendlich handelt es sich nicht um gewerkschaftliche Basiseinheiten, die aufgebaut werden, die demokratische Kontrolle übernehmen könnten und sollten, sondern um eine Art befristeten, vom Apparat finanzierten und kontrollierten Projektes. Als zugespitzte Form dessen finden in den USA teilweise Pitchformate statt, bei denen Organizer:innen vor Gewerkschaftsbürokrat:innen in kurzer Zeit Potenziale dieser und jener Projektförderung darstellen, die nach Kosten und Möglichkeiten kalkuliert und dann aus der Gewerkschaft outgesourct abgehandelt werden – eine Form des New Public Managements in den Gewerkschaften.

McAlevey, aber auch andere Vertreter:innen dieser Neuausrichtung argumentieren nicht dafür, dass die organischen Führer:innen auch in den Gewerkschaften Fuß fassen sollen oder dass hier die strategische Erneuerung stattfinden solle. Denn das sei Aufgabe des Strategic Unionising, wofür hochprofessionelle (zumeist) Hauptamtliche nötig seien. Die Grenze zwischen Organizing und Strategic Unionising bildet gewissermaßen das Werkstor. Dafür soll eine Definition des Organizing von der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder exemplarisch dienen. Sie schrieb 2005 „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“[vii]. Das Zitat spielt a das Betriebsverfassungsgesetz an (BetrVG). In diesem wird das sogenannte Zwei-Säulen-Modell von betrieblicher und tariflicher Autonomie der Mitbestimmung fixiert. Ersteres ist Aufgabe von Betriebsräten,Zweiteres von Gewerkschaften – eine Einmischung findet formal (!) nicht statt. Netter kann also nicht gesagt werden, dass jedwede Demokratie nicht prinzipiell auf die Gewerkschaft zurückwirkt. Die Debatte der gewerkschaftlichen Erneuerung muss aber über Programm, Rolle und Funktion der Gewerkschaftsbürokratie stattfinden.

Als Letztes wollen wir kurz den Mehrheitsstreik anschneiden. Demnach soll es erst in die Arbeitsniederlegung gehen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Schauen wir uns Deutschland an, so sind 2019 knapp 45,3 Millionen Menschen lohnabhängig gewesen. Mit dieser Zahl lässt sich zwar nicht hinreichend die Größe der Arbeiter:innenklasse verstehen, aber sie ist ein erster Indikator. Wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass selbst in Deutschland, einem Land mit relativ großen Gewerkschaften, diese nie die Mehrheit der Klasse organisierten. Auch zeigt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dass sie (hier ver.di) in der Aktion einen Großteil ihrer Mitglieder gewinnen. Die Orientierung auf Mehrheitsstreiks mag in den USA eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schlechteren Arbeitsrechte sein, jedoch spielt auch die Frage der Bündnisfähigkeit hier mit hinein, wofür die mächtigste Waffe, der Schock in der Wertschöpfung, zu einer Maxime wird.

Besonders problematisch wird der Maßstab des Mehrheitsstreiks jedoch, wenn wir über den Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen. Ein Organisationsgrad von 50 % der Klasse ist im Kapitalismus immer die Ausnahmeerscheinung. Demzufolge können politische Massen- oder Generalstreiks fast nie stattfinden – oder hätten faktisch unterlassen werden müssen. In Wirklichkeit zeigen sich hier besonders deutlich die politischen Grenzen des Organizingkonzepts, das nicht auf eine politische Konfrontation mit der herrschenden Klasse und deren Sturz, sondern auf bessere Bedingungen des ökonomischen Kampfes zielt. Das System der Lohnarbeit selbst wird nicht in Frage gestellt.

Wer ist eigentlich Organizer:in?

Wie wird man es und wichtiger, wie bleibt man es? „Wer erzieht die Erzieher:innen?“ Organizing übt eine gewisse natürliche Attraktivität aus. Es stellt zumeist für studierte Aktivist:innen, die bisher in betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wenig systematisch Fuß gefasst haben, eine Möglichkeit dar, gegenüber beispielsweise der Arbeiter:innenklasse und der strukturellen Krise ihrer größten Organisationen, der Gewerkschaften, aktiv zu werden. Dieses Verhältnis wird durch den Gewerkschaftsapparat eingeleitet und entspringt selten einer zuvor bestehenden Verknüpfung zu betrieblichen Aktiven. In seiner zugespitzten Form sind die Organizer:innen Vermittler:innen zwischen Gewerkschaft und ihrer (potenziellen) Mitgliedschaft im Interesse und materiell abhängig von Ersterer. Eine Untersuchung der Arbeit von Organizer:innen wäre eine eigene Aufgabe. Wir haben in der Vergangenheit schon Berichte gehört von überarbeiteten Organizer:innen, die faktisch als Leiharbeiter:innen durch Subunternehmen bei der Gewerkschaft beschäftigt und dort verheizt werden. Allein aus dieser Konstellation heraus ist es wenig verwunderlich, dass die dauerhafte lebendige Beziehung zwischen organischen Führer:innen und Gewerkschaften vielleicht noch aufrechterhalten bleibt, ob dies für die organizten demokratischen Entscheidungsstrukturen gilt, ist wohl ein seltener Glückswurf.

Organizing versus Mobilizing versus Advocacy

McAlevey skizziert drei verschiedene Ansätze im Kampf gegen ein soziales Problem bei ungleichen Machtverhältnissen: Advocacy, Mobilizing, Organizing. „Advocacy bezieht letztlich gar keine normalen Leute ein; stattdessen werden AnwältInnen, MeinungsforscherInnen, WissenschaftlerInnen und PR-Agenturen damit beauftragt, den Kampf zu führen.“ (McAlevey 2019, S. 34)[viii]. Ein Ansatz, der in dieser Debatte keine große Unterstützung findet, da er auf die Einbeziehung einer breiten Masse verzichtet. Es lässt sich auch klassisch als Stellvertreter:innenpolitik bezeichnen.

Der Mobilizingansatz bezieht hingegen große Menschenmassen in seine Aktionen mit ein, jedoch oftmals dieselben engagierten Aktivist:innen, die ohne großen Rückhalt in ihrem tagtäglichen Umfeld agieren und wie per Knopfdruck von Hauptamtlichen für einen kurzen Zeitpunkt abberufen werden (mobilisiert). Ein praktisches Beispiel wäre eine Antifaaktion in einer Gegend, in der keine Verankerung besteht. Dorthin wird mobilisiert, dann findet eine Aktion statt (bspw. Blockade eines Naziaufmarschs) und danach sind alle wieder weg. Zu guter Letzt das Organizing. McAlevey malt dieses natürlich in den hellsten Farben. Im Zentrum steht die Einbeziehung von Personen, die zuvor kaum oder überhaupt nicht aktiv waren. „Im Organizing-Ansatz bilden spezifische Ungerechtigkeiten und die Empörung darüber die unmittelbare Motivation zur Aktivierung, allerdings ist das letztendliche Ziel die Übertragung der Macht der Eliten auf die Mehrheit, von dem einen auf die 99 %.“ (ebd., S. 35).

Exkurs: Die populare Klasse

Mit 99 % stellt sich schnell die Frage des Subjekts. Schlussendlich ist das Organizing kein rein gewerkschaftliches Programm zum Organisationsaufbau, sondern entspringt dem US-amerikanischen Community-Organizing-Ansatz. In den verschiedensten Texten stolpert man dabei über den Begriff der popularen Klasse. Beispielsweise bei Thomas Goes, der für einen Machtblock von unten wirbt und zusammen mit Violetta Bock im Umfeld der Bewegungslinken oder der Kampagne Organisieren, Kämpfen, Gewinnen (OKG) Einfluss nimmt. Oder Jana Seppelt und Kalle Kunkel, beide (ehemalige) ver.di-Gewerkschaftssekretär:innen und an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen – Seppelt ist zusätzlich stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Die beiden schreiben in ihrem Aufsatz „Was Organizing (nicht) ist“ von massenhaften und kollektiven Aktionen als einer zentralen Machtressource der popularen Klassen (Vgl. Kunkel/Seppelt 2022)[ix]. Diese Öffnung des Klassenbegriffs von einem im Wesen des Kapitalismus verankerten Ausbeutungsverhältnis weg und hin zu einem in seiner Erscheinung auftretenden Unterdrückungsverhältnis als Begriff der Empörten eines Volkes ist dem Ansatz bereits eingeschrieben.

In den Debatten werden Organizing und das sogenannte Mobilizing oftmals entgegengestellt. Das entspringt einer Kritik an Saul Alinsky, einem Wegbereiter des Community Organizings. Alinsky, vor allem in Chicago tätig, war von zwei wesentlichen Einflüssen geprägt: der Chicagoer Schule (der Soziologie) speziell von Ernest Burgess und dessen Aufsatz „Can Neighboorhood Work Have a Scientific Basis?“ – eine Debatte, inwiefern der Communitybegriff als Ersatz für den der Klasse verwendet wird, wird hier ausgespart – und den Thesen des Gründers des Gewerkschaftsbundes CIO (Congress of Industrial Organizations) John L. Lewis. Die frühe CIO arbeite bereits mit Konzepten wie dem Mehrheitsstreik, organischen Führer:innen und Strukturtests. Jane McAlevey widmet der CIO, Lewis und Alinsky ein ganzes Kapitel in ihrem zweiten Buch „Keine halben Sachen“ (2019). Während sie Lewis die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Organizingmodells attestiert, der angesichts des sich etablierenden Fordismus auf die Gewinnung un- und angelernter Arbeiter:innen setzte, wirft sie Alinsky dessen Entstellung vor. Dessen Organizing sei vor allem Mobilizing gewesen und in der Mehrheit der US-amerikanischen Gewerkschaften seien bis heute die Advocacy- und Mobilizing-Ansätze dominant. Alinsky entstelle das Organzingmodell der CIO an drei Punkten:

Erstens löse er die Organizingmethoden von den Motivationen der Organizer:innen ab und öffne sein Modell für „eine Eliten-zentrierte Machttheorie“ (McAlevey 2019, S. 67). Zweitens beschreibt sie ihn als Feind strategischer Bündnispolitik, da er sich alleinig auf die „Community“ der unqualifizierten Arbeiter:innen bezog und somit nicht auf die Betriebe, um dort den Schulterschluss mit angelernten und höherqualifizierten Arbeiter:innen zu suchen. Drittens ging das Konzept davon aus, dass die hauptamtlichen Organizer:innen prinzipiell ihren Basismitgliedern unterstellt seien und deswegen keine Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen müssten, da sie sowieso dem Willen ihrer „Leaders“ (der Basis) folgten. In der Realität sah dies umgekehrt aus.

Warum der Exkurs? McAlevey unterstellt zwei Kräften eine Revitalisierung des Lewis-Alinsky’schen Ansatzes seit Mitte der 1990er Jahre, den Kräften rund um New Labour und den Demokrat:innen unter Obama und Hillary Clinton. Gegen diese beiden Richtungen versucht sie dementsprechend, in den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei zu agieren. In Letzterer ist McAlevey im Übrigen Mitglied. Die in linken Kreisen bekannteste Organizingkampagne, die ihren Zielen eher entspricht, unter den Demokrat:innen ist die von Alexandria Ocasio-Cortez (AOC).

Organizing als … politisches Programm

Wichtig bleibt zu verstehen, dass das Organizing keine Perspektive für eine antibürokratische klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition aus sich heraus darstellt. Pointiert formuliert ist Organizing ein Werkzeugkasten, mit dem sich linke Bürokrat:innen, die zumeist weitläufige Erfahrungen in sozialen Bewegungen statt betrieblichen Kämpfen aufwiesen, unter Beweis stellen können (Strukturtest), dass ihre Konzepte neue Mitglieder in die Gewerkschaften bringen können, ohne eine grundlegende Opposition gegenüber der Struktur der Gewerkschaften darzustellen. Revolutionäre Antibürokrat:innen dürfen daher nicht beim Organizing stehenbleiben. Sie müssen sich der hilfreichen Elemente bedienen und zugleich den Kampf um Demokratisierung weg von der Illusion einer demokratischen Mitbestimmung inmitten der Klassengesellschaft in einen der Demokratisierung der Kampforgane der Klasse umwandeln. In diesem Sinne können wir vom Organizing Kampfmethoden, angereichert durch technische Kniffe und die sogenannten Social Skills, erlernen. Doch Organizing als reine Form zu verstehen und dessen programmatischen Kern zu ignorieren, bedeutet immer auch eine Kapitulation vor der bestehenden Führung der Klasse und eine Blindheit vor den Sackgassen, in die sie uns führen.

Doch ist es die Gewerkschaftsbürokratie als Teil der Arbeiter:innenbürokratie, die ihr Ziel nicht in der Überwindung der Klassengesellschaft sieht, sondern in der Vermittlung gegensätzlicher Interessen, im „gerechten“ Ausgleich zwischen den Klassen. Daher ist sie materiell an den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat gebunden. Dies ist ein den objektiven, historischen Interessen der Arbeiter:innen fremdes und gilt, bekämpft zu werden. Das Organizing versucht zwar, unsere Klasse in Bewegung zu bringen. So weit, so gut! Doch zugleich bleibt diese Bewegung im Rahmen des Kapitalismus.

Dass McAlevey diese Frage nicht stellt, kann ihr nur bedingt vorgeworfen werden. Schlussendlich ist sie Teil der und Ideologin der Bürokratie. Das wird deutlich, wenn wir ihre Zieldefinition des Organizings lesen. So schreibt sie: „Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“ (McAlevey 2021, S. 8)[x].

Schlussendlich geht es dem Organizing nicht um den Untergang der herrschenden Ordnung, sondern um deren Verbesserung. Das Konzept läuft auf die Überzeugung oder bestenfalls Isolation des/r politischen Feind:in hinaus, jedoch nicht auf die Vernichtung seiner/ihrer gesellschaftlichen Grundlage (Schlagwort: Eigentum und Verfügung). Statt materielle Gewalt auszuüben mit dem Ziel des Erzwingens, ist hier die oberste Maxime der Appell als moralische Kategorie des gesunden Menschenverstandes.

Der Machtressourcenansatz: die Theorie hinter dem Organizing?

In den Ursprüngen des Organizing wurde ein doppelter Einfluss beschrieben, der einerseits den gewerkschaftlichen Debatten entsprang, die nach Konzepten für neue Herausforderungen suchten (damals: Fordismus, heute: gewerkschaftlicher Mitgliederverlust) und andererseits seine Bestätigung in den Konzepten sozialwissenschaftlicher Debatten suchte. Damals war dies die Chicagoer Schule, heute tritt zumindest in Deutschland der sog. Machtressourcenansatz an diese Stelle. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Dr. Stefan Schmalz (Uni Erfurt) und Prof. Dr. Klaus Dörre (Uni Jena) beschrieben werden.[xi]

Vergleichbar mit der Chicagoer Schule pflegen auch diese Wissenschaftler:innen ein offenes, beratendes Verhältnis zu den praktischen Organizer:innen, wie die Machtressourcenkonferenz vom April 2022 zeigt. Diese wurde vom Bereich Arbeitssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.[xii] Unter dem Einfluss dieser Konferenzen und ihrer Akteur:innen stehen die bisherig aufgezählten deutschsprachigen Autor:innen. Thomas Goes ist beispielsweise im Forschungsverbund von Dörre, Jana Seppelt war Sprecher:in auf der Konferenz.

Bevor der Ansatz vorgestellt wird, soll schemenhaft der Kapitalbegriff Pierre Bourdieus erwähnt werden. Der französische Soziologe gilt als poststrukturalistischer Neomarxist. Sein Kapitalbegriff ist jedoch grundsätzlich verschieden vom marxistischen. Bourdieu unterscheidet vier verschiedene Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Sie sind ineinander transformierbar, wobei das ökonomische Kapital primär ist (vgl. Bourdieu 2016, S. 11)[xiii]. Er befasst sich jedoch weniger mit der Genese als mit der ungleichen Verteilung besagten Kapitals. Kapital wird bei Bourdieu zwar als akkumulierte Arbeit (ähnlich der geronnenen Arbeit bei Marx) bezeichnet, jedoch nicht prinzipiell aus einem Ausbeutungsverhältnis hergeleitet. Ähnlich wie bei anderen postmodernen Denker:innen seiner Zeit symbolisiert für ihn Kapital kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Kategorie von Macht. Um beispielsweise soziales Kapital zu reproduzieren, bedarf es der stetigen Pflege sozialer Beziehungen. Während der Marx’sche Kapitalbegriff auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft fußt, ist das Bourdieu’sche Kapital durch persönlichen Einsatz reproduzierbar. Kapital bei Marx ist also ein Ausbeutungsverhältnis, bei Bourdieu eine Ressource unter vielen. Bourdieus Kapitalbegriff ist faktisch primär in der Zirkulationssphäre und der Öffentlichkeit angesiedelt.

Mit diesem gewappnet gehen die Autor:innen vor, wenn sie dem Machtressourcenansatz anhängen. Sie entwickeln vier verschiedenen Formen: strukturelle, Organisationsmacht, institutionelle und, etwas quer dazu, gesellschaftliche Macht. Ausgangsthese ist, dass Lohnabhängige in Aushandlungen „durch kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen ihre Interessen erfolgreich vertreten können“ (Schmalz/Dörre 2014, S. 211). In einer gewissermaßen linearen Reihenfolge stehen dabei die ersten drei Machtressourcen. Die strukturelle Macht entspringt der Stellung von Arbeiter:innen in der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, die Organisationsmacht ist Ausdruck des kollektiven Zusammenschlusses in ihren Organisationen. Bis hierin erinnert das Konzept noch an Marx. Der grundlegende Unterschied wird jedoch deutlich, wenn es nun zur Frage der Zwecksetzung kommt.

An dieser Stelle kommt die institutionelle Macht ins Spiel. Diese zielt auf die Möglichkeit des zeitlichen Fortbestehens sozialer Kompromisse. In diesem Sinne muss Organizing als Aufbau von Organisationsmacht (Gewerkschaften), die aus der strukturellen Macht der Klasse folgt (Stellung im Wertschöpfungsprozess und der ständigen Herausforderung durch ihre sozialen Errungenschaften) mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der institutionellen Macht (beispielsweise der Sozialpartner:innenschaft) verstanden werden.

Dieses Programm wird durch überhöhte Argumente für ein damit zusammenhängendes Gemeinwohl anstelle der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Interessen begründet, also mit der Kategorie gesellschaftlicher Macht in ihren Unterformen der Kooperations- und Diskursmacht. Schauen wir uns, um plakativ zu sein, einmal die Slogans von Organizingkampagnen an: Krankenhausbewegung – Mehr von uns ist besser für alle; TV-Stud – Ohne uns läuft hier nix, gebt uns unsre Kohle fix; Service Employees International Union – Justice for Janitors.

Es geht darum, das eigene Interesse als ebenfalls legitim zu markieren und dafür breite (also klassenübergreifende) Bündnisse zu schmieden. Zumeist werden dafür die weiterreichenden Ziele aufgegeben (es muss realistisch sein). Unter der Überschrift eines gerechten Ausgleichs lassen sich verschiedene bürgerliche Ideologien zusammenfassen, sowohl solche, die in der Arbeiter:innenbewegung verankert sind (Reformismus) als auch bürgerlich liberale Konzeptionen (bspw. John Stuart Mills Lohnfonds). Und damit ist auch das Problem skizziert. (Transformative) Organizingansätze zielen auf die Erreichung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlichen Kompromiss ab, dieser ist immer einer zwischen antagonistischen Klassen. Das Programm des Organizing stellt sich also nicht die Frage, inwiefern der ursprüngliche Kompromiss (die Sozialpartner:innenschaft in Deutschland) notwendig selbst zum Niedergang der eigenen Basis führen musste und auch bei den besten Organizingkampagnen wieder führen wird. In diesem Sinne ist Organizing ein gefährliches Amalgam aus bürgerlichen Ideologien.

Doch warum jetzt? Oder: Wann, wenn nicht wir?

Mit einer These hat der Text angefangen, konkret mit dem Schrumpfen der Organisationsmacht der Gewerkschaften in Deutschland (Mitgliederzahlen). Andererseits beobachten wir als Folge der Agenda 2010, aber auch beispielsweise der Digitalisierung der Arbeitswelt (Plattformökonomie usw.) eine Zunahme nicht gewerkschaftlich erschlossener Bereiche, während zugleich der Caresektor massiv und nicht erst seit der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen hat. Über Organizingkampagnen, aber auch außerhalb dieser konnten wir neue kampffähige Sektoren der Arbeiter:innenbewegung sehen, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Zur selben Zeit erleben wir eine Tendenz der Deglobalisierung und des Umbaus ganzer Wertschöpfungsketten, teilweise zurück in die imperialistischen Zentren selbst. Die neuen Sektoren zu erschließen und für ein Programm des Klassenkampfes zu gewinnen, ist also das Gebot der Stunde.

Aber das Organizing gerade in seiner linken Form verbleibt dabei im Rahmen eines bürgerlich-reformistischen Verständnisses von Klassenbeziehungen und des -kampf. Es erkennt wie andere reformistische Kräfte den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital durchaus an. Aber es will nichts wissen von seiner revolutionären Aufhebung.

So sinnvoll daher auch einzelnen Organizingtechniken sind – so grundlegend müssen Revolutionär:innen dieses strategische Konzept und das damit verbundene gewerkschaftliche und reformistische Programm ablehnen. Es entspricht der Stellung und den Zielen der (linken) Bürokratie, linker reformerischer und populistischer Kräfte und findet daher auch seine Grenzen, wenn der politische Horizont bürgerlicher Reformpolitik überschritten werden soll.

Dann wendet sich die ganze Organizingprogrammatik letztlich gegen eine klassenkämpferische, demokratische und antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter:innenorganisationen. Der Aufbau eine klassenkämpferischen Basisbewegung und erst recht kommunistischer Fraktionen in den Gewerkschaften steht dem Gesamtkonzept diametral entgegen. Das wirkliche Gespenst, das nicht nur durch die Gewerkschaftshäuser geistert – bleibt das des Kommunismus.


Endnoten

[i] https://www.rosalux.de/o4p (abgerufen am 18.04.23)

[ii] Rehder, Britta (2014): Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 241-264.

[iii] Mann, Eric (2011): Transformatives Organizing. Praxistheorie und theoriegeleitete Praxis. https://www.rosalux.de/publikation/id/5259/transformatives-organizing (abgerufen am 18.04.23)

[iv] Suchanek, Martin (2016): Zur „Revolutionären Realpolitik“ der Linkspartei. Revolution oder Transformation. In: Neue Internationale 215. https://www.arbeitermacht.de/ni/ni215/luxemburg.htm (abgerufen am 18.04.23)

[v] Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Berlin: Zweitausendeins.

[vi] Hier ein Bilanzartikel von uns: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/

[vii] Schreieder, Agnes (2005): Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung. Berlin: ver.di Eigenverlag.

[viii] McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA Verlag.

[ix] Kunkel, Kalle und Seppelt, Jana (2022): Was Organizing (nicht) ist. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/ (abgerufen am 18.04.23)

[x] McAlevey, Jane (2021): Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie. Hamburg: VSA Verlag.

[xi] Schmalz, Stefan und Dörre, Klaus (2014): Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse

gewerkschaftlichen Handlungsvermögens. In: Industrielle Beziehungen, 21(3). S. 217-237.

[xii] https://www.machtressourcen-konferenz.de/ (abgerufen am 18.04.23)

[xiii] Bourdieu, Pierre (2016): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.