1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.




Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.




17. Juni 1953: Aufstand der Arbeiter:innen

Jürgen Roth, Infomail 1226, 18. Juni 2023

Auf der 2. Konferenz der SED im Juli 1952 wurde der „Aufbau des Sozialismus“ proklamiert: Forcierung der Schwerindustrie, Kollektivierung der Landwirtschaft und Aufbau der Nationalen Volksarmee. Daraufhin auftretende Engpässe bei Konsumgütern wurden zunächst dem Privatsektor angelastet. Dann senkte die Partei- und Staatsführung aber auch den Lebensstandard der Arbeiter:innen u. a. durch Preiserhöhungen, Senkung der Sozialversicherungsleistungen und Streichung von Subventionen. Das Kleinbürger:innentum flüchtete verstärkt in den Westen.

Am 9.6.1953 vollzog die SED dann eine Kehrtwendung. Der „Neue Kurs“ brachte große Zugeständnisse an Bürger:innentum und Mittelklassen: günstige Kredite, mehr Bewegungsspielraum für bürgerliche Parteien und Kirche, teilweise Rückgabe von Fabriken an die alten Besitzer:innen, Lockerung der Abgabepflicht für die Bäuer:innenschaft, Recht auf Austritt aus der LPG.

Die Arbeiter:innenklasse dagegen wurde durch Normerhöhung und Teuerung zusätzlich belastet. Ein Regierungsdekret vom 28. Mai verfügte neue Akkordsätze für die Bau- und Metallindustrie. Die Kampagne der SED für „freiwillige“ Normerhöhung traf auf erbitterten Widerstand besonders der Berliner Bauleute, die trotz freiwilliger Einsätze ihr Soll nur zu 77% erfüllt hatten.

Eine Resolution der Großbaustelle Stalinallee an „ihre“ Regierung zur Zurücknahme der Steigerungen wurde nicht beantwortet. Die am 15. in den Streik getretenen Berliner Baustellen verlangten von Grotewohl die Rücknahme der Normenerhöhung. Dem schloss sich am 16. die Stalinallee an, nachdem ein Artikel im Gewerkschaftsorgan „Die Tribüne“ die Akkordsteigerung energisch verteidigte. Nach der Verhaftung zweier Streikender wurde beschlossen, die tags zuvor verabschiedete Resolution Ulbricht und Grotewohl zu überbringen. 6000 Leute vor dem Haus der Ministerien warteten jedoch vergeblich auf sie.

Ein Sprecher verlas die Forderungen: „Sofortige Verringerung der Normen um 10%! Sofortige Preissenkung für den Grundbedarf um 40%! Entlassung der Funktionäre, die schwere Irrtümer begangen haben. Demokratisierung von Partei und Gewerkschaften von unten. Man soll nicht auf die Initiative der Bonner Regierung zur Wiedervereinigung warten. Die DDR-Regierung soll umgehend die trennenden Barrieren niederreißen. Man muss das Land durch allgemeine, freie und geheime Wahlen einigen und einen Sieg der Arbeiter bei diesen Wahlen sichern.“

Ein anderer Arbeiter rief den Generalstreik für den folgenden Tag in ganz Berlin aus. Eine Delegation zum Westberliner Rundfunksender RIAS konnte zwar ihre Forderungen bekannt geben, durfte aber nicht den Generalstreik erwähnen!

Generalstreik

Am folgenden Tag streikten ca. 150.000 Beschäftigte in Ostberlin. 30.000 forderten im Walter Ulbricht-Stadion den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung, welche die Sache der Wiedervereinigung den Händen der Reaktion entreißen und praktisch durchführen soll. Die Streikenden wahrten bewundernswerte Disziplin. Das änderte sich mit dem Eindringen reaktionärer Provokateur:innen aus dem Westteil; sie holten die rote Fahne vom Brandenburger Tor, provozierten die Volkspolizei und brandschatzten am Potsdamer Platz.

Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Obwohl Panzer rollten, leerten sich die Straßen erst abends. Nach verschiedenen Quellen gab es 16 bis 19 Tote. Einige Betriebe streikten trotzdem noch bis zum 21. Juni.

Im übrigen Land gingen Streiks und Solidaritätsbekundungen von den Großbetrieben der Industriezentren aus, die schon 1919-23 die Hochburgen der KPD und KAPD waren: Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leipzig. Aber auch in Jena, Görlitz, Erfurt, Gera, Brandenburg und Rostock fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, wurden SED-Büros gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. Sozialdemokratische Illusionen drückten sich in Parolen aus wie „Fort mit Ulbricht und Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer“ (damaliger SPD-Vorsitzender).

Entgegen der westlichen Propagandalüge war der 17. Juni kein Volksaufstand für die Eingliederung der DDR in den „Freien Westen“, aber auch kein faschistischer Umsturzversuch, wie es die SED behauptete. Er war ein im Kern ein Arbeiter:innenaufstand. Nicht zufällig bildeten die strategisch bedeutsamen Grundstoff- und Schwerindustrien die Zentren des Widerstands.

Der erste unabhängige Schritt der Belegschaften bestand in der Einberufung von Versammlungen, oft noch auf dem „Dienstweg“ über die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL). Dann bestimmten sie ein unabhängiges Streikkomitee. Die Streikausschüsse setzten zumeist die Direktor:innen ab, lösten die SED-Betriebszelle auf, sicherten die Betriebe gegen Sabotage und organisierten den Notdienst.

Die klassenbewussteste Belegschaft im ganzen Land war wohl die des Leuna-Werks „Walter Ulbricht“, die am 17.6. forderte: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung des Werkschutzes, Absetzung der BGL, Namensänderung des Werks und Rücktritt der Regierung. Das Werk war besetzt, ein Fabrikkomitee gab Informationen und Anweisungen übers Radio. 1500 Betriebsangehörige wurden nach Berlin entsandt, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Der Streik dauerte trotz zahlreicher Verhaftungen bis zum 23.

Im Industriedreieck Halle – Bitterfeld – Merseburg waren die Doppelherrschaftsorgane am weitesten entwickelt und umfassten neben der Industriearbeiter:innenschaft auch andere Teile der Bevölkerung: Angestellte, Kaufleute, Hausfrauen, Student:innen. Sie wurden teilweise auf öffentlichen Plätzen durch Zuruf gewählt, nahmen die Verwaltung in ihre Hände: Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Feuerwehr, Lokalrundfunk, Druckereien.

In Bitterfeld kontrollierten Kampfgruppen der Arbeiter:innen die Stadt, schalteten Polizei und Verwaltung aus und befreiten politische Gefangene. Trotz dieser guten Ansätze entwickelte sich in der kurzen Zeit aus dem spontanen Generalstreik keine landesweite Kampfführung.

Instinktiv hatten die Arbeiter:innen aber begriffen, ihre Bewegung auf ganz Deutschland ausweiten zu müssen. Deshalb wurde der Generalstreik auch für Gesamtberlin ausgerufen!

Dem Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski wurde verboten, zum Solidaritätsstreik aufzurufen, ja das Wort auch nur in den Mund zu nehmen! Bourgeoisie, westliche Stadtkommandanten und sozialdemokratische Arbeiter:innenbürokratie in Partei und Gewerkschaft fürchteten eine Ausweitung des Streiks wie der Teufel das Weihwasser. Solidaritätsbekundungen, wie von der Sozialistischen Jugend und einigen Betrieben gefordert, wurden verboten. Nur BRD-staatstragende Protestversammlungen gemeinsam mit den Westalliierten, CDU und FDP erlaubt.

Auswirkungen

Die SED übte nach den Juniereignissen „Selbstkritik“ und senkten die Normen um 10%. Die meisten Gefangenen wurden entlassen; Wohnungsbau und Konsumgüterindustrie erhielten Ressourcen aus dem Schwerindustriefonds. Formal gestand der Justizminister sogar das Streikrecht zu.

Trotzdem forderten die Arbeiter:innen weiter die Absetzung bestimmter Funktionäre. Mit dem Vorwurf des „Sozialdemokratismus“ wurden viele Parteimitglieder ausgeschlossen. Wie lügnerisch dieser ist, kann man daran sehen, dass die „Abweichlerzentren“ ehemalige KPD-Hochburgen waren. Der Anteil ausgeschlossener SEDlerinnen, die bereits vor 1933 in der KPD organisiert waren, betrug in Halle 71%, in Leipzig 59%, 52% in Magdeburg, 68% in Ostberlin, 61% in Bautzen!

Paradoxerweise rettete der Generalstreik das Regime Ulbrichts und kostete seine Konkurrenten (Herrnstadt, Zaisser u. a.) ihre Posten. In der UdSSR stürzte Berija. Die sowohl utopischen wie reaktionären Deutschlandpläne der SU, die den degenerierten Arbeiter:innenstaat DDR zugunsten eines wiedervereinigten bürgerlichen, aber blockfreien Deutschland opfern wollten, waren danach ebenfalls vom Tisch.

Die revolutionäre Situation, die der Arbeiter:innenaufstand schuf, konnte aufgrund des Fehlens einer revolutionären trotzkistischen Arbeiter:innenpartei nicht in eine politische, antibürokratische Revolution münden. Sie war aber Signal für die Arbeiter:innen anderer „Volksdemokratien“: 1953 in Workuta (UdSSR), 1956 in Ungarn, Polen und der CSSR, 1968 wiederum in der CSSR, 1970, 1976 und 1980/81 in Polen sowie ab 1989 in ganz Osteuropa und der UdSSR bedrohten Unruhen, Aufstände und Revolutionen die Herrschaft der stalinistischen Kaste.

Die Ereignisse von 1989 zeigten, dass deren Stabilität viel geringer als die einer Klasse ist, weil sie kein eigenes soziales Fundament und darauf begründete politische Legitimation besitzt. In ihrer Rolle als politische Agentur des Weltimperialismus innerhalb der degenerierten Arbeiter:innenstaaten verteidigte sie deren Grundlagen nur auf Kosten des Verrats an der internationalen Revolution, der Unterdrückung der eigenen Arbeiter:innenklasse und nur solange, wie sie die Privilegien der Nomenklatura garantierten.

Aktionsprogramm

Ein kommunistisches Aktionsprogramm für die Situation 1953 musste auch die Frage der Wiedervereinigung beantworten. In der DDR hatte bereits eine soziale Umwälzung stattgefunden, wenn auch unter der Knute einer stalinistischen Bürokratie. Wiedervereinigung bedeutete folglich, unter keinen Umständen eine bürgerlich-kapitalistische Wiedervereinigung zuzulassen. Das lag aber auch nicht in der Absicht der Streikenden. Allerdings gab es auch demokratische Illusionen nach freien Wahlen in der Arbeiter:innenklasse der DDR. Die Forderung nach einer revolutionären verfassunggebenden Versammlung, die sich auf die Räte und Streikkomitees stützt und eine Planwirtschaft unterstützt, wäre eine zentrale Losung gewesen. Die Ausdehnung der Komitees auf Westdeutschland war Voraussetzung einer revolutionären Wiedervereinigung.

Abgesandte Delegierte der Streikkomitees zu den Westberliner Betrieben, um Versammlungen abzuhalten, gewerkschaftliche Aktionseinheit und Verbindungskomitees für einen Generalstreik von unten, gekoppelt mit Aufrufen an Gewerkschafts- und SPD-Führung den Streik zu führen, entschädigungslose Verstaatlichung der Schwerindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Abzug der alliierten Besatzungstruppen der NATO hätten zentrale Forderungen sein müssen. Der Sturz Adenauers und Ulbrichts müsste in der Losung nach einer Arbeiter:innenregierung, gestützt auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse, kulminieren. Die Schaffung einer revolutionären Partei stand in dieser Situation unmittelbar auf der Tagesordnung.




Nahrungsmittelmittelknappheit, Preissteigerungen und die drohende Hungerkatastrophe im globalen Süden

Jan Hektik / Martin Suchanek, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärften die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leidet an Mangelernährung.

Seit 2020, also seit Beginn der Pandemie und der mir ihr verbundenen globalen Rezession, verschärft sich die Lage gerade der Ärmsten der Armen. Dafür gibt es eine Reihe einander verstärkender Ursachen.

1. Preissteigerungen der Agrarrohstoffe und Agrarprodukte

Schon im ersten Jahr der Pandemie lässt sich infolge von Produktionsausfällen, Lieferengpässen und erhöhten Transportkosten ein massiver Anstieg der Weltmarktpreise für zentrale Agrarrohstoffe wie Saatgut und Düngemittel feststellen. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn explodierten sie. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022.

Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

2. Sinkende Einkommen und Pauperisierung

Die Wirtschaftskrise 2020/21 ging in vielen Ländern mit massiven Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse wie auch der Bauern/Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums einher.

In den Ländern des globalen Südens existierten in der Regel überhaupt keine sozialen Sicherungsmaßen für die Lohnabhängigen (wie z. B. Kurzarbeiter:innenregelungen). Zugleich führte die Rezession aber in vielen Ländern zu einem Rückgang des Outputs und weltweit zu einem massiven der geleisteten Arbeitsstunden (rund 8 % im Jahr 2020!). In den imperialistischen Ländern verhinderten staatliche Regelungen, die die Lohnabhängigen bei Kurzarbeit in Beschäftigungsverhältnissen hielten, einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. In den meisten Halbkolonien, die sich keine Lockdowns leisten konnten oder wollten, war zwar der unmittelbare Produktionsrückgang geringer, dafür breiten sich seither Stagnation und weiterer Niedergang aus. Anders als in der Krise 2008/2009 absorbierte auch der informelle Sektor die freigesetzten Arbeitskräfte nicht.

Die Folge: massive Verarmung, ja Pauperisierung großer Bevölkerungsmassen in den Halbkolonien. Ein beträchtlicher und stetig wachsender Teil des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft muss mittlerweile sein Leben unter den Reproduktionskosten fristen. In vielen vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern haben wir es faktisch mit einer direkten, offenen Verelendung zu tun.

Hinzu kommt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise die Bevölkerung des globalen Südens besonders stark trifft.

Während in den Industrieländern die Menschen zwischen 12 und 30 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, sind es für die Massen des globalen Südens rund 50 bis 100 %. Wenn Nahrungsmittel teurer werden, bedeutet das zu hungern und, dass für  andere essentielle Güter wie Gesundheit, Wohnen, Schulbildung der Kinder nichts mehr übrig bleibt. Wo kleine Bauern/Bäuerinnen davon betroffen sind, kann dies dazu führen, dass sie sich Saatgut oder Düngemittel nicht mehr leisten und ihr Land nicht bebauen können. Elend und Ernährungskrise nehmen so weiter zu.

3. Imperialistische Ausbeutung und Schuldenkrise

Die Strukturen der Weltwirtschaft verschärfen die gesamte Krise gerade in der sog. Dritten Welt auf mehrfache Weise. So monopolisieren die großen zumeist westlichen Konzerne oder einzelne Staaten den Weltmarkt. Nestlé zum Beispiel kontrolliert einen Großteil der weltweiten Trinkwasservorräte und zwingt systematisch in Afrika Menschen dazu, sein Wasser zu kaufen, indem es sich dagegen einsetzt, dass öffentlich zugängliche Trinkwasserquellen erschlossen werden. Weiterhin wird ein Großteil vom Wasser und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Tierzucht verwendet, vor allem für die Fleischproduktion in den imperialistischen Ländern.

Krise und Knappheit bilden dann auch eine Quelle von Extraprofiten aufgrund eines etablierten Monopols oder Oligopols. Hinzu kommt, dass steigende Preise auch spekulative Möglichkeiten eröffnen.

Noch wichtiger ist freilich, dass die Pandemie und die mit ihr verbundene Weltwirtschaftskrise auch den Weltmarktzusammenhang erschüttert haben. Lieferketten wurden durchbrochen, Transportkosten stiegen, die Produktion geriet ins Stocken. Die zunehmende Konkurrenz und Blockbildung hat außerdem Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes schon vor dem Ukrainekrieg verstärkt. Nun zielen die Sanktionen des Westens darauf ab, Russland vom Weltmarkt zu isolieren. Dessen Gegenreaktion und Drohungen (z. B. „feindliche“ Länder von Lebensmittellieferungen auszuschließen) erhöhen nur die Krisenhaftigkeit und treiben zugleich die Preise in die Höhe.

Die USA wie auch in geringerem Ausmaß die EU-Staaten oder China können natürlich noch eigene Reserven mobilisieren. Generell versuchen sie, die Kosten der Krise auf andere abzuwälzen. Das beginnt schon damit, dass die globale Produktion ohnedies auf die Bedürfnisse des Kapitals der dominierenden, imperialistischen Länder und deren Märkte zugeschnitten ist. So lohnt sich auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion im großen Stil vor allem in Bezug auf diese Länder, was zur Folge hat, dass die Agrarflächen der halbkolonialen seit Jahrzehnten mehr und mehr für den Export aufkommen und immer weniger zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, die über weit weniger oder gar keine Kaufkraft verfügt. Für die kapitalistische Produktion zählt aber nicht das Bedürfnis an sich, sondern nur das zahlungskräftige – mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung der armen Länder.

Einen letztlich noch viel stärkeren Hebel bilden freilich das Finanzkapital und die Kontrolle über das Weltfinanzsystem durch die imperialistischen Kernländer. In der Krise versucht beispielsweise die USA-Zinspolitik, Kapital auf den US-Markt zu lenken. Das erfolgt aber notwendigerweise auf Kosten anderer Staaten. Es ist kein Zufall, dass Länder wie Argentinien und die Türkei, also auch sog. Schwellenländer, extrem von einer Finanzkrise geplagt sind. Im Grunde trifft das aber den gesamten globalen Süden.

Die Abhängigkeit von den Bewegungen des globalen imperialistischen Finanzkapitals hat sich in den letzten Jahren infolge des massiven Anwachsens der Staatsverschuldung in fast allen Ländern massiv verschärft. Mehreren wie Argentinien, Pakistan sowie einer ganze Reihe afrikanischer Länder droht faktisch der Staatsbankrott. Manche wie Sri Lanka sind zahlungsunfähig.

Wie letzteres Beispiel verdeutlicht, verbinden sich in einer solchen Lage Mangel an Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern mit Hyperinflation.

4. Dürre, Extremwetterlagen und Klimawandel

Die Ausplünderung des globalen Südens und die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit durch Raubau an der Natur entfalten vor diesem Hintergrund verstärkt ihre bedrohliche Dynamik.

Beispielsweise in Indien lässt sich der Einfluss durch den Klimawandel gut beobachten. Vor der großen Hitzewelle hoffte die Regierung des Landes, die Landwirtschaft anzukurbeln, um davon zu profitieren, dass Ukraine und Russland aus dem Markt fallen. Aber infolge der besagten Hitzewelle, übrigens der größten seit 1910 (!), muss sie nun selbst mit der Nahrung haushalten und Exporte stoppen – was wiederum andere Länder der sog. Dritten Welt trifft.

Doch Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche, von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls verschwinden. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Widerstand

Die aktuelle Situation, die in vielen Ländern der halbkolonialen Welt von Inflation, massiver Verarmung, Lebensmittelknappheit geprägt ist, kann und wird auch zu Massenprotesten verschiedener Art führen. Schon in den letzten Jahren brachen auch aufgrund der extrem prekären Lebensmittel- und Landfrage zahlreich Revolten, oft verknüpft mit demokratischen Bewegungen, aus – sei es in Ländern wie Äthiopien oder Sudan, Sri Lanka oder Kasachstan. Auch die Wahl linkspopulistischer Politiker in Lateinamerika – Boric in Chile oder Gustavo Petro in Kolumbien – verdeutlichen, dass die Massen nach einer Alternative zu Neoliberalismus und imperialistischer Ausplünderung suchen.

Die Formen, die die Bewegungen gegen Preissteigerungen, Hunger, Verelendung annehmen, werden sicherlich von Land zu Land sehr verschieden sein – seien es spontane Emeuten oder auch Massenstreiks. In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass sie entweder direkt auf massive Repression durch reaktionäre, despotische Regime stoßen wie in vielen afrikanischen Ländern oder in Sri Lanka. Oder aber linke, populistische oder reformistische Führungen werden im Kampf gegen die Reaktion und den Imperialismus auf halbem Weg stehenbleiben, die Hoffnungen der Massen enttäuschen und so die Gefahr heraufbeschwören, dass die rechte Reaktion eine Stabilisierung im Sinne der herrschenden Klasse durchsetzt.

Daher besteht die Aufgabe von Revolutionär:innen nicht nur darin, sich an den Aktionen gegen die Preissteigerungen, Hunger, Verelendung entschlossen zu beteiligen. Vor allem müssen sie eine Perspektive weisen, ein Aktionsprogramm zur Lösung der Krise entwickeln und darum eine revolutionären Arbeiter:innenpartei und Internationale aufbauen. Wir können hier weder ein vollständiges Programm vorlegen noch vermögen die folgenden Punkte, spezifische, nationale Aktionsprogramme zu ersetzen. Aber wir können kurz zentrale Forderungen skizzieren, die für praktisch alle Ländern gelten und von der internationalen Arbeiter:innenbewegung und Linken unterstützt werden müssen.

– Soforthilfe ohne Bedingungen für Millionen

Millionen Menschen droht der Hungertod, Hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt. Dabei fehlt es weltweit nicht an Nahrungsmitteln, wohl aber an der Versorgung eines großen Teils der Weltbevölkerung. Die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Sicherung der Existenz dieser Menschen richtet sich sowohl an die Staaten, wo sie leben, wie auch an die imperialistischen Länder, die diese seit Jahrhunderten ausbluten. Während jährlich hunderte Milliarden für Rüstung und Militarismus verschleudert werden, müssen Hilfsgüter mühsam durch Spenden aus der Bevölkerung organisiert oder jeder Cent den Herrschenden der Welt abgebettelt werden. Dieser Skandal, dieser Irrsinn muss beendet werden! Die imperialistischen Staaten müssen gezwungen werden, diese Mittel aufbzuringen.

– Schuldenstreichung der Dritten Welt

Ohne Streichung der Schulden der halbkolonialen Länder wird früher oder später jede eigenständige, nicht vom Finanzkapital des Westens oder Chinas dominierte „Entwicklung“ unmöglich. Die Schulden an den IWF, internationale Finanzinstitutionen oder im Rahmen von Chinas „Neuer Seidenstraße“ müssen gestrichen werden. Sämtliche Bedingungen im Rahmen der sog. Strukturanpassungsprogramme des IWF müssen aufgekündigt werden.

Wir rufen die Länder des globalen Südens auf, die Schuldenrückzahlung bei den imperialistischen Institutionen einzustellen. Wir wissen aber auch, dass die mächtigen Staaten der Welt einen solchen Akt nicht hinnehmen, sondern versuchen werden, diese Länder mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen. Es braucht daher eine entschlossene Solidaritätsbewegung gerade in den imperialistischen Zentren, die ihrerseits solche Angriffe auf unterdrückte Länder bekämpft.

– Bekämpfung der Inflation

Gegen Preissteigerungen stellt der Kampf um die automatische Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation, die gleitende Skala der Löhne, eine zentrale Losung dar. Diese muss ihrerseits mit der Forderung nach Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch die Arbeiter:innenklasse verbunden werden.

Darüber hinaus bedarf es in vielen Ländern eines Mindestlohns und -einkommens für Erwerbslose, die die Reproduktion der Massen sichern. So wie wir die Entschuldung der Länder des globalen Südens fordern, müssen wir auch die  der großen Masse der Arbeiter:innen in Stadt und Land sowie der armen Bäuer:innen durchsetzen.

Frauen, die die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen und oft einen Großteil der Beschäftigen in Lebensmittelhandel und -produktion bilden, würde eine Schlüsselrolle in Kontroll- und Kampfkomitees zukommen.

In Ländern, wo die Preissteigerung die Form der Hyperinflation annimmt, die fast täglich oder wöchentlich Lohnerhöhungen auffrisst und wo das Geld selbst so rasch an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr wahrnehmen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Es braucht nicht nur Preiskontrollkomitees, sondern direkte Eingriffe in die Verteilung lebenswichtiger Güter für die Bevölkerung. Arbeiter:innenkomitees müssen die Verteilung kontrollieren und die Versorgung der Städte direkt mit den agrarischen Produzent:innen organisieren, um den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Solche Maßnahmen, die in den freien Markt eingreifen, müssen in dieser Situation sinngemäß auch auf andere essentielle Güter angewandt werden.

– Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Massen

Um das Elend zu stoppen und sichere Existenzbedingungen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen durchzusetzen, muss die Agrarproduktion gemäß den Bedürfnissen der Massen umstrukturiert werden. Das erfordert zwingend die entschädigungslose Enteignung des Agrarkapitals, ob aus den imperialistischen Staaten oder den jeweiligen Ländern, sowie des Großgrundbesitzes. Auf dieser Basis können Agrarbetriebe unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt, Genossenschaften gegründet oder auch die Aufteilung des Landes unter landlose und Kleinbauern/-bäuerinnen durchgeführt werden.

– Enteignung des Großkapitals und demokratische Planung

Die Umstrukturierung der Landwirtschaft muss jedoch Hand in Hand gehen mit einer Reorganisation der Produktion in den Städten gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen, der Landwirtschaft, der Geflüchteten und pauperisierten Massen sowie des Schutzes natürlicher Ressourcen. Dazu bedarf es eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle sowie der entschädigungslosen Enteignung des Großkapitals, der Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser. Auf dieser Grundlage kann und muss ein Notplan etabliert werden, um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu sichern.

– Kampf um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung

Auch die jüngste Erfahrung zeigt einmal mehr, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, auch nur eines der großen Probleme der Menschen zu lösen. Umso hartnäckiger wird sie aber versuchen, ihre eigene Herrschaft (und jene des Imperialismus) gegen die Arbeiter:innenklasse, die Bäuer:innenschaft, rassistisch und national Unterdrückte durchzusetzen – wenn nötig mit Repression durch Polizei, Geheimdienst oder Militär.

Der Kampf für ein Aktionsprogramm gegen Hunger und Verelendung kann sich auch deshalb nicht auf gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe oder demokratische Proteste beschränken. Auf einer bestimmten Stufe muss er sich zu einem um die Macht entwickeln, um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die solche Maßnahmen auch umsetzen kann. Damit eine solche Bewegung den unvermeidlichen reaktionären Widerstand der Herrschenden und die Repression durch ihren Staatsapparat brechen kann, müssen wir selbst Räte in den Betrieben und Stadtteilen, Stadt und Land aufbauen sowie eigene Selbstverteidigungsorgane, eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmiliz sowie Soldat:innenräte, um die Masse der Mannschaftsränge, der einfachen Soldat:innen auf die Seite der Revolution zu ziehen.

Die revolutionäre Machteroberung und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauer:innenregierung würden nicht nur einen entscheidenden Schritt bei der Bekämpfung von Armut und Hunger, sondern jeder Form von Unterdrückung und Ausbeutung darstellen. Zugleich dürfen sie sich nicht auf die sozialen und politischen Umwälzungen in einem Land beschränken, sondern müssen von Beginn an auf die Internationalisierung der Revolution, die Unterstützung des Kampfes in anderen Ländern setzen. Gerade um die vom Imperialismus abhängige Entwicklung zu durchbrechen, braucht es eine Ausweitung der Revolution und die Bildung regionaler Föderationen revolutionärer Arbeiter:innenstaaten als Schritte zur sozialistischen Weltrevolution.




Sudan: Zerschlagung der Junta ist der alleinige Weg zur Freiheit

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1175, 12. Januar 2021

Einmal mehr erleben wir im ganzen Sudan einen massiven revolutionären Aufstand gegen die Militärjunta von General Abdel Fattah al-Burhan und seinem Stellvertreter, Generalleutnant Mohammed Hamdan Daglo (Hemeti), die durch den Staatsstreich vom 25. Oktober an die Macht gekommen ist.

Seit dem 2. Januar ist das Militär seines Feigenblattes als Premierminister, des zivilen Technokraten Abdalla Hamdok, beraubt. Sein Rücktritt erfolgte nach sechs Wochen im Amt, als klar wurde, dass er absolut keine Autorität besaß und die Massendemonstrationen wieder aufflammten, ebenso wie die Repression, die seit Oktober vergangenen Jahres bereits über 60 Tote gefordert hat.

Am 6. Januar füllten Demonstrationen, die von den OrganisatorInnen als „Marsch der Millionen“ bezeichnet wurden, die Straßen der Hauptstadt Khartum und der angrenzenden Städte Omdurman (Umm Durman)  und Ombada sowie Bur Sudan (Port Sudan). Andere Städte im Norden des Landes, Atbara, Ad-Damir (Ed Damer) und Dunqula (Dongola), schlossen sich ebenfalls an. Die DemonstrantInnen zogen durch die Straßen und skandierten „die drei Keins“: Keine Abkommen! Keine Verhandlungen! Keine Kompromisse! (und „Die Macht dem Volke!“). Sie forderten die SoldatInnen auf, in ihre Kasernen zurückzukehren und die Bildung einer vom Volk gewählten, rein zivilen Regierung zuzulassen.

Die Koordination der Widerstandskomitees von Khartum hatte den Republikanischen Palast als Ziel der DemonstrantInnen festgelegt. Die Junta reagierte wie am 19. Dezember und im Oktober 2021 mit harter Repression. Das Regime kappte die Internet- und Telefonnetzwerke in Khartum, blockierte die Nilbrücken mit Schiffscontainern und die Hauptstraßen mit Barrikaden aus Stacheldraht.

Paramilitärs der Schnellen Unterstützungstruppen (RSF) von Hemeti, die ihren Ursprung in den Dschandschawid-Milizen (sinngemäß: Teufel auf Pferden) haben, die in Darfur Völkermord begingen, sowie die Zentrale Reservepolizei und AgentInnen des Allgemeinen Nachrichtendienstes (GIS) setzten Blendgranaten und gefährliche Konzentrationen von Tränengas ein. In Umm Durman und Khartum wurden mindestens drei Tote und Dutzende von Verletzten gemeldet. Krankenhäuser, in denen DemonstrantInnen behandelt wurden, standen unter Beschuss. Dennoch gelang es einigen DemonstrantInnen, zum Republikanischen Palast im Zentrum von Khartum vorzudringen.

Die „demokratischen“ und „autoritären“ imperialistischen Mächte hüllten sich bisher in Schweigen

Auf seinem Online-„Demokratie-Gipfel“ im vergangenen Monat sprachen US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken das Problem der Unterdrückung und Militärdiktatur im Sudan nicht einmal an. Vielmehr hat Washington weiterhin die Legitimität von al-Burhan anerkannt und die MilitärführerInnen sogar gelobt. Blinken unterstützte eifrig die Vereinbarung zwischen dem Militär und Hamdok vom letzten Oktober.

Das Weiße Haus, Regierungssitz der USA, hat sogar angedeutet, dass die Forderungen der DemonstrantInnen nach „keinen Verhandlungen, keiner Partnerschaft und keiner Legitimität für das Militär“ „unrealistisch“ seien. Tatsächlich sind die USA und ihr britischer Staatsgefolge damit beschäftigt, ihre Sudan-Politik an ihre alles andere als demokratischen Verbündeten am Golf auszulagern, wie ihre mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnete Erklärung vom 16. Dezember 2021 zeigt, in der das Militärregime sogar für seine Bemühungen gelobt wird. Dies wiederum ist die Belohnung dafür, dass Saudi-Arabien sudanesische Streitkräfte, darunter auch Hemetis RSF-SchlägerInnen, zur Unterstützung seiner Interventionen im blutigen Bürgerkrieg im Jemen eingesetzt hat.

Es überrascht auch nicht, dass der Rivale der westlichen Demokratien, das neue Mitglied der imperialistischen Bande, das „kommunistische“ China, sich ebenfalls über die Verbrechen des sudanesischen Militärs ausschweigt. Seine globale Spezialität stellt die Unterstützung mörderischer Militärjuntas wie in Myanmar sowie die Begehung eigener Verbrechen in Xinjiang und Hongkong dar.

Kurzum, keiner der rivalisierenden Imperialismen, die sich in ihrem „neuen Kalten Krieg“ befinden, hat den KämpferInnen für Freiheit und Sozialismus weltweit etwas zu bieten, wie Putins Russland jetzt in Kasachstan zeigt. Die ArbeiterInnenklasse und die revolutionären Bewegungen in allen Ländern müssen alles tun, um ihre mutigen Klassenschwestern und -brüder im Sudan zu unterstützen.

Die Opposition

Eine Reihe ineinandergreifender demokratischer Bündnisse unterstützt die Massendemonstrationen und zielt darauf ab, das Militärregime durch eine zivile Regierung zu ersetzen. Von Beginn der Bewegung an spielte die Sudanese Professionals Association (SPA) eine wichtige Rolle. Sie wurde Mitte des letzten Jahrzehnts gegründet, als die Opposition gegen al-Baschir wuchs, und bestand im Kern aus drei der größten Freiberufsgruppen des Sudan: dem Zentralkomitee der sudanesischen ÄrztInnen, dem sudanesischen JournalistInnennetzwerk und der Demokratischen JuristInnenvereinigung.

Im Laufe der Entwicklung der Bewegung schlossen sich ihr rund 18 Gewerkschaften an, darunter AkademikerInnen und LehrerInnen, IngenieurInnen und Gesundheitsfachleute. Kurz gesagt, sie repräsentiert eine Kombination aus der radikalen Mittelschicht und ArbeiterInnenorganisationen, die sich gegen al-Baschirs erdrückenden politischen Islamismus und seine völkermörderischen Kriege in Darfur und Südsudan auflehnten.

Es gibt eine „breite Front“, die Kräfte der Freiheit und des Wandels (Forces of Freedom and Change, FFC), der große bürgerliche Parteien wie die National Umma Party (NUP) und die Sudanesische Kongresspartei angehören, aber auch die SPA und die Sudanesische Kommunistische Partei. Diese Konstellation nennen TrotzkistInnen eine Volksfront. Die konservativeren Teile des FFC, wie die NUP, haben Hamdoks Abkommen mit al-Burhan vom November aktiv unterstützt und seinen Rücktritt bedauert. Es liegt auf der Hand, dass diese Kräfte einen weiteren Kompromiss mit den Militärs begrüßen würden.

Siddig Yousef, ein Führer der Kommunistischen Partei (SKP), erklärte dagegen, Hamdoks Rücktritt sei längst überfällig. Die AktivistInnen seiner Partei stellen in der Tat eine ernstzunehmende Kraft der ArbeiterInnenklasse innerhalb der Widerstandskomitees dar, die die Demonstrationen und Streiks organisiert haben, die in den zwei Jahren seit dem Sturz der Diktatur von Umar al-Baschir im Jahr 2019 stattgefunden haben.

Die Parteiführung verfolgt jedoch eine, wie sie es nennt, „Doppelstrategie“, die für den radikaleren Flügel des Stalinismus in vielen halbkolonialen Ländern typisch ist. Während sie sich also für einen Generalstreik einsetzt, ArbeiterInnen- und BäuerInnenkomitees organisierte und kontrollierte, will sie gleichzeitig diese „breite Front“ mit liberalen und patriotischen bürgerlichen Kräften aufbauen. Ihr Plan ist es, radikalere Kräfte einzubinden, denn sie sieht vor, dass die Militärdiktatur durch eine demokratische, d. h. immer noch kapitalistische, Regierung ersetzt wird. Natürlich prangert sie auch den Einfluss der USA, des IWF, des Neoliberalismus usw. an.

Dies zeigt sich in der Antwort von Fathi Alfadl, ihrem Sprecher, auf die Fragen „In welchem Stadium befindet sich Ihrer Meinung nach die sudanesische Revolution? Wie wird sie sich entwickeln?“ in einem Interview auf Facebook. Er antwortete: „Im Moment laufen Gespräche, um die Führung der ,breiten Front’ zu erreichen, die Frauen- und andere zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien umfassen kann. Die Führung eines solchen Gremiums wird die vollständige Niederlage des derzeitigen Regimes und die Übernahme der Macht durch das Volk erleichtern.“ (https://www.facebook.com/SudaneseCommunistParty)

In der Tat wird diese Strategie der Klassenkollaboration und Volksfront jede unabhängige Aktion der Massen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und Jugendlichen behindern, die nicht nur darauf abzielt, das Militär aus der politischen Macht zu drängen, sondern auch das Oberkommando und die gesamte korrupte Militärkaste und ihre Kontrolle über die einfachen Soldaten zu zerbrechen. Die letzten zwei Jahre im Sudan und davor der Arabische Frühling, vor allem im benachbarten Ägypten, sollten uns lehren, dass ein Putsch nach dem anderen stattfinden wird, wenn diese Kräfte intakt bleiben und die Kontrolle über die Streitkräfte behalten. Demokratie, d. h. die bürgerlich-kapitalistische Demokratie mit der Erlaubnis der Generäle, ist eine reaktionäre Utopie.

In Wirklichkeit wird die einzige Demokratie das sein, was die ArbeiterInnenschaft, die Jugend, die Frauen und die armen BäuerInnen aus den bestehenden Widerstandskomitees und den für einen aufständischen Generalstreik notwendigen Koordinierungsorganisationen schaffen können. Um wirksam zu sein, selbst wenn es nur darum geht, al-Burhan und Hemeti von der Macht zu vertreiben, muss die Bewegung die einfachen SoldatInnen dafür gewinnen, sich gegen die RSF-SchlägerInnen zu wenden, ihre OffizierInnen zu verhaften, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und selbst SoldatInnenräte zu bilden.

Die Basis der SKP muss dem Weg Lenins von 1917 folgen und sich für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung starkmachen, die in Wirklichkeit eine Diktatur des Proletariats im Bündnis mit allen kämpfenden Volkskräften ist. Wenn die sudanesische Revolution hingegen auf halbem Weg stehenbleibt, wird sie das Schicksal der mutigen KämpferInnen in Ägypten erleiden, die am Ende eine Diktatur bekamen, die noch repressiver ist als die von Husni Mubarak.