Pakistan: Nach Wahlbetrug drohen IWF-Knechtschaft und Instabilität

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1245, 19. Januar 2024

Die Wahlen in Pakistan am 8. Februar ergaben ein geteiltes Mandat. Trotz schwerer Repressionen vor der Wahl und Manipulationen am Wahltag gewannen „unabhängige“ Kandidat:innen, die von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unterstützt wurden, 92 der 266 direkt gewählten Sitze. Nawaz Sharifs Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) erhielt trotz der Unterstützung durch das militärische Establishment nur 75 Sitze. Die Pakistanische Volkspartei (PPP) der Bhutto-Dynastie kam mit 54 Sitzen auf den dritten Platz.

Daneben werden den Parteien weitere Mandate aus den 70 für Frauen und religiöse Minderheiten reservierten Sitzen zugewiesen. Da diese Plätze unabhängigen Kandidat:innen nicht zur Verfügung stehen, haben sich Khans „Unabhängige“ mit der Majlis Wahdat-i-Muslimeen (MWM) zusammengeschlossen, einer religiösen Partei der schiitischen Sekte, die einen Sitz in der Nationalversammlung von Khyber Pakhtunkhwa gewonnen hat. Die von der PTI unterstützten Unabhängigen haben eine ähnliche Koalition mit der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa vorgeschlagen, doch wurde dieses Angebot bisher nicht angenommen.

In anderen Provinzparlamenten wie im Punjab behielt die PML-N ihre Mehrheit, während die PPP in Sindh die Mehrheit bewahren konnte. Die PPP wird wahrscheinlich auch in Belutschistan ein Bündnis mit den nationalistischen Parteien eingehen. In Khyber Pakhtunkhwa dominierten die „Unabhängigen“.

Stimmen und Mandate

In der Zwischenzeit haben die PML-N und die PPP ihr eigenes Bündnis mit vier anderen Parteien geschlossen, nämlich der Muttahida Qaumi Movement – Pakistan (MQM-P; Vereinigte Volksbewegung), der Pakistan Muslim League – Quaid (PML-Q), der Istehkam Pakistan Party (IPP; Pakistanische Partei für Stabilität) und der Belutschistan Awami Party (BAP; Belutschische Volkspartei). Damit kommen sie auf 152 Sitze, was sie zusammen mit den reservierten Mandaten über die für eine Regierungsbildung erforderlichen 169 Stimmen bringt. In dieser Koalition fehlt Maulana Fazal-ur-Rehman von der Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl), JUI (F) (Versammlung Islamischer Kleriker [Fazl]). Er war Vorsitzender der Pakistanischen Demokratischen Bewegung (PDM), die 2020 als Bewegung gegen die angebliche Manipulation der Wahlen von 2018 gegründet wurde, die Imran Khan an die Macht brachten, und eine wichtige Kraft hinter Khans Sturz 2022. Die anderen Mitglieder der PDM haben sich der Regierungskoalition angeschlossen. Die JUI (F) fällt unter das parlamentarische Dach der Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan, die nur vier Sitze in der Nationalversammlung erreichte. Die Partei hat die „manipulierten“ Ergebnisse zurückgewiesen.

Der PPP-Vorsitzende Asif Ali Zardari erklärte, dass seine Partei und die PML-N zwar getrennt zu den Wahlen angetreten seien, sich nun aber im „Interesse der Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nawaz Sharifs Tochter Maryam Nawaz ist für das Amt der Ministerpräsidentin in der Pandschab-Provinz vorgesehen, während ihr Bruder Shehbaz Sharif als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren wurde. Es gibt Andeutungen, dass Zardari Staatspräsident werden soll.

Die Wahlergebnisse zeigten auch eine massive Ablehnung der religiösen Parteien. Die JUI (F) verlor Sitze. Die klerikalfaschistische Tehreek Labbaik Pakistan (Bewegung „Hier bin ich!“ Pakistan) erhielt in keinem einzigen Wahlkreis mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Jamaat-e-Islami versuchte, in Städten wie Karatschi von der Antimanipulationskampagne der PTI zu profitieren, jedoch ohne Erfolg. Ihr Chef in Karatschi gewann zwar ein Mandat in der Provinzversammlung, gab es aber mit der Begründung wieder auf, dass in Wirklichkeit der von der PTI unterstützte Kandidat gewonnen habe. In Khyber Pakhtunkhwa hatte diese islamistische Partei drei Sitze errungen, doch kurz nachdem Nachrichten über eine Regierungskoalition mit der PTI in der Provinz aufgetaucht waren, führte eine Neuauszählung dazu, dass die Kandidat:innen der Partei ihre Sitze an Unabhängige verloren.

„Gestohlenes Mandat“

Das harte Vorgehen gegen die PTI vor den Wahlen war so heftig, dass man davon ausging, dass die PML-N bei den Wahlen einen klaren Sieg davontragen würde. Khan und andere führende Politiker:innen wurden disqualifiziert, nach Verurteilungen ins Gefängnis gesteckt und/oder von der Kandidatur ausgeschlossen. Einige Parteiführer:innen liefen über. Die PTI wurde ihres Wahlsymbols beraubt und ihre Bewerber:innen mussten als Unabhängige antreten und durften keinen Wahlkampf führen. Das Internet wurde am Tag der Wahl abgeschaltet.

Doch trotz dieser weit verbreiteten Repression konnten die von der PTI unterstützten Kandidat:innen am Wahltag Siege verbuchen. Die Ergebnisse der Wahllokale werden förmlich auf dem „Formular 45“ festgehalten, das die Grundlage für die spätere Zusammenstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen bildet. Es wird nicht nur vom Vorsitzenden des Wahllokals unterzeichnet, sondern auch von Vertretungen der anwesenden Kandidat:innen, die als Zeug:innen des Vorgangs fungieren. Die Wahllokale sind gesetzlich verpflichtet, Kopien des Formulars öffentlich auszuhängen, um die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Wahlen zu gewährleisten. Die Formulare werden dann dem/r Leiter:in des Wahlkreises vorgelegt, der/die die Ergebnisse aller Wahllokale zusammenzählt, die Endergebnisse zusammenstellt und diese auf dem „Formular 47“ vermerkt. Die beiden Formulare standen im Mittelpunkt der Kontroverse um die Wahlergebnisse in Pakistan.

Laut den Formularen 45 erklärte die PTI 170 Sitze als gewonnen. Auf den Formblättern 47 wurden jedoch nur 93 Sitze für die von der PTI unterstützten Unabhängigen ausgewiesen. Die Partei hat die Ergebnisse gerichtlich angefochten und behauptet, dass die auf den Formblättern 47 ausgewiesenen Ergebnisse erheblich von den Angaben auf den Formblättern 45 abweichen. In anderen Fällen berichteten die Kandidat:innen, dass ihren Wahlhelfer:innen das Formular 45 von den Wahlleiter:innen verweigert wurde, obwohl mehrere Stunden nach Wahlschluss vergangen waren. Die PTI behauptet, dies sei geschehen, um die Wahlergebnisse zu manipulieren.

Inoffizielle Wahlergebnisse, die von den Medien auf Grundlage der Formulare 45 und 47 gemeldet wurden, zeigten eine Reihe von Siegen für die PTI. Die Medien wurden jedoch an der Ausstrahlung der Wahlergebnisse gehindert, die sich um Stunden verzögerte. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die einen Sieg der PML-N, der PPP und der MQM in vielen Sitzen zeigten, die die PTI nach den Formblättern 45 und 47 gewonnen hatte.

Bei Bekanntgabe der vorläufigen Wahlresultate lag Nawaz Sharif, der ursprünglich als Kandidat für das Amt des Premierministers vorgesehen war, mit einem Abstand von 13.000 Stimmen hinter der von der PTI unterstützten Yasmin Rashid. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse zugunsten von Nawaz Sharif bekannt gegeben.

Die Massen haben gesprochen

Die Wahlbeteiligung hat überdeutlich gezeigt, dass die Massen das harte Vorgehen gegen die PTI ablehnen. So sehr der Staat mit Verurteilungen, Inhaftierungen und Verleumdungen auch zeigen wollte, dass die Ära der PTI vorbei ist, die Wähler:innen machten sie dennoch zur größten Partei, was die Zahl der Sitze angeht.

Die PTI hat behauptet, sie habe vor der Manipulation der Ergebnisse 170 Sitze errungen. Selbst wenn man Übertreibungen zulässt, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Ergebnisse in mindestens 10 Bezirken in Karatschi und rund 30 Sitzen in der Provinz Punjab und anderen Gebieten zugunsten der PML-N und PPP verändert wurden.

Die hohe Wahlbeteiligung war nicht nur Ausdruck der Wut über Wahlmanipulationen, sondern auch über die steigenden Lebenshaltungskosten und das unerträgliche Elend, das der Internationale Währungsfonds (IWF) auferlegt hat. Die PTI ist keine Anti-IWF-Partei, vielmehr hat Khan das jüngste Hilfspaket eingebracht. Dadurch verlor er zwar an Unterstützung, doch nachdem er sich mit dem militärischen Establishment überworfen hatte, lehnte er einige der IWF-Bedingungen ab, die dann von der nachfolgenden geschäftsführenden Regierung umgesetzt wurden, so dass die PTI als Gegnerin des IWF auftreten konnte. Das harte Vorgehen des militärischen Establishments gegen die PTI stärkte dann ihren Status als wichtigste Oppositionspartei.

Eine neoliberale Regierung

Die PTI hat die Wahlergebnisse rechtlich angefochten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten, aber es ist offensichtlich, dass den pakistanischen Massen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik der kommenden Regierung dunkle Zeiten bevorstehen.

Abgesehen von den Lippenbekenntnissen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung ist die PML-N eine Partei des Großkapitals und eine Sklavin ihrer Herr:innen in den USA, China und den Golfstaaten. Die Auflagen des IWF-Programms werden nur noch strenger werden. Sobald eine neue Regierung an der Macht ist, wird sie das Diktat des IWF umsetzen müssen. Angesichts der Opposition der PTI ist es unwahrscheinlich, dass die nächste Regierung stark sein wird. Gleichzeitig wird die Regierung auch die wirtschaftliche Agenda des militärischen Establishments durchsetzen müssen. Obwohl die PPP in einer Koalition sitzt, wird sie die Unzufriedenheit, mit der die neue Regierung wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein wird, mit Sicherheit ausnutzen, weshalb sie sich als volksnahe Alternative präsentiert. Die vermeintliche Ablehnung der IWF-Bedingungen durch die PTI wird ihre Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich noch verstärken, auch wenn dies ein Irrtum sein mag.

Unterdessen ist der erwartete massive Sieg von Nawaz Sharif nicht eingetreten. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die PML-N in ihrer Hochburg Punjab immer noch vor der PTI liegen würde. Er war so zuversichtlich, dass er nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale eine Siegesrede hielt. Diese Träume zerschlugen sich, als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden. Seine Partei konnte kaum die Hälfte der Sitze im Punjab gewinnen, und fast alle übrigen gingen an die von der PTI unterstützten „Unabhängigen“ verloren. Die Niederlage kann mit Sicherheit auf die jahrzehntelange Korruption der Partei zurückgeführt werden. An der Regierung konzentrierte sich Shehbaz Sharif darauf, die Anklagen gegen seinen Bruder fallen zu lassen und gleichzeitig die Politik des IWF durchzusetzen. Die massive Inflation und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben die Basis der Partei erschüttert.

Heute ist sich Sharif wahrscheinlich bewusst, dass, selbst wenn seine Partei vorerst die Regierung bilden mag, das geteilte Mandat immer Raum für ein Manöver gegen ihn lässt, sobald er in der Gunst des Militärs zurückfällt. Die Kombination aus der Tatsache, dass die PTI eine wichtige Partei des Großkapitals ist, und Khans narzisstischer Persönlichkeit wird dazu führen, dass die PTI-Führung immer bereit sein wird, ihre Wähler:innenschaft zu verraten, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Kurzum, es ist sicher, dass eine schwache und instabile Regierung einer frustrierten Opposition gegenüberstehen wird.

Kandidat:innen der Arbeiter:innenklasse

Die meisten Stimmen bei der Wahl waren entweder für oder gegen Khan. Diese Polarisierung ließ wenig Raum für Vertreter:innen der Arbeiterklasse. Abgesehen von einem Kandidaten der kommunistischen Mazdoor Kissan Party (Kommunistische Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei), der in Charsadda, Khyber Pakhtunkhwa, 10.000 Stimmen erhielt, konnte keiner der anderen Bewerber:innen linker Parteien und Organisationen die 1.500-Stimmen-Marke deutlich überschreiten.

Linke Kandidat:innen wie Ammar Ali Jan von der Haqooq-e-Khalq-Partei (HKP) erklärten, dass ihre Wahlniederlage unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen über nationale Themen und damit für Parteien mit nationaler Präsenz abgestimmt hätten. Er schrieb, dass wir den Klassenkampf verschärfen und die Themen, mit denen die Massen konfrontiert sind, im nächsten Fünfjahreszeitraum in den nationalen Mainstream einbringen müssen.

Der Weg nach vorn

Auch wenn Ammar Ali Jan damit recht hat, möchten wir hinzufügen, dass dies einen zweigleisigen Ansatz erfordert. Erstens, der Aufbau einer Einheitsfront der Arbeiter:innen und Unterdrückten, um die Angriffe des IWF und seiner unterwürfigen Regierung zu bekämpfen. Zweitens, der Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms.

Erstgenanntes wird der Linken in Pakistan helfen, eine ernstzunehmende Kraft zu werden. Keine der kleinen, isolierten Gruppen mit Hunderten von Mitgliedern kann allein eine wirksame Verteidigung auf die Beine stellen. Wir müssen uns für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IWF zusammenschließen. Wir rufen alle Gewerkschaften und Arbeiter:innen- sowie feministische und fortschrittliche Organisationen auf, sich an einer solchen antikapitalistischen, gegen den IWF gerichteten Einheitsfront zu beteiligen.

Das Zweite, die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, ist entscheidend für die Gewährleistung selbst aller grundlegenden demokratischen Forderungen. Wie die Erfahrung dieses und aller vergangenen sozialen Kämpfe gezeigt hat, werden die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dem Moment deutlich, in dem der Kampf beginnt, eine echte Dynamik zu entwickeln. Wir brauchen eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur für grundlegende demokratische und wirtschaftliche Rechte kämpfen kann, sondern auch in der Lage ist, einen Kampf zum Aufbau von Arbeiter:innenorganisationen zu führen, die diese Rechte tatsächlich garantieren können. Das ist die Lehre, die wir aus den arabischen Revolutionen oder dem jüngsten Aufstand im Iran ziehen müssen. Ohne Organisationen wie demokratische Gewerkschaften, Arbeiter:innenräte und die Mittel, sie zu verteidigen, ist die Gefahr groß, dass durch den Kampf errungene Rechte verlorengehen. Jedes Eintreten für Demokratie oder soziale Fragen muss mit dem Bestreben für den Aufbau von Organisationen und Strukturen verbunden sein, die die Macht übernehmen und halten können. Dafür brauchen wir eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die eine solche Revolution anführen und eine auf diesen Strukturen basierende Arbeiter:innenregierung bilden kann, um den bestehenden kapitalistischen Staat zu ersetzen, das Kapital zu enteignen, eine Sofortprogramm im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen umzusetzen und die Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung zu reorganisieren.




Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Wieso, weshalb, warum? Eine Antwort an:  Wir // Jetzt // Hier

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1237, 22. November 2023

Nach dem Parteitag der Linkspartei in Augsburg veröffentlichen „Linke aus verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft“ den Beitrag „Wir // Jetzt // Hier“ und kündigen ihren Eintritt in DIE LINKE an.

Wer im letzten Jahrzehnt die Politik der radikalen Linken in Deutschland verfolgen musste, den erinnern darin viele Formulierungen und Inhalte an die Interventionistische Linke und andere postautonome Gruppierungen. Diese ist seit Corona erstaunlich stumm, zum Ukrainekrieg lässt sie sich kaum blicken und zu Palästina hat sie praktisch nichts zu sagen.

Aber es bleibt letztlich nur eine Mutmaßung, woher die Autor:innen genau kommen, die schreiben. In einer Telegram-Gruppe haben die Initiator:innen über 500 Menschen gesammelt, am 20. November sollten möglich alle in die Partei eintreten. Doch das Schreiben wirft in vielerlei Hinsicht mehr Fragen auf, als es klärt. Deswegen fragen wir zurück und freuen uns auf eine Antwort.

Wieso?

Die stetig voranschreitende Klimakrise, der scheinbar unaufhaltsame Rechtsruck – all das scheint unerträglich ohne eine linke Alternative, insbesondere für Aktivist:innen, die „sich der parlamentarischen Politik nie verbunden gefühlt haben.“ Stattdessen haben sie „protestiert, blockiert, gestreikt und Politik und Kultur von unten“ organisiert. So weit so verständlich.

Im späteren kommt dann die weitere Erklärung: „Durch den Abgang des Wagenknecht-Lagers kann sie sich entweder als eine solche verbindende Organisation neu aufstellen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.“ Aber schreibt der Abgang von Wagenknecht wirklich die Geschichte der Linkspartei neu?

Weshalb?

Nein, eigentlich nicht. Denn Wagenknecht sitzt nicht in Thüringen, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung und schiebt dort auch nicht ab. Wagenknecht war auch nicht dafür verantwortlich, dass es keine Kampagne für offene Grenzen gegeben und man nicht versucht hat, mit den Gewerkschaftsmitgliedern der Partei dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete in diese aufgenommen werden, man dort gemeinsam Arbeitskämpfe führen könnte, die rassistische Vorurteile abbauen und Verbesserungen für alle mit sich bringen.

Dass das nicht stattgefunden hat, ist vor allem das Werk des Flügels der Regierungssozialist:innen. Mit diesen hat kein Bruch stattgefunden, vielmehr hat sich die Bewegungslinke aus Angst vor dem Untergang an ihn geklammert und selbst angefangen, „Rebellisches Regieren“ auf ihre Fahne zu schreiben. Doch das wisst ihr selber. Deswegen schreibt ihr: „Es gibt kein ,rebellisches Regieren‘ mit SPD und Grünen. Das zeigt die zunehmende Abschiebepraxis in Thüringen ebenso wie die Blockade des Volksentscheids ,Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unter Rot-Rot-Grün in Berlin“ und „DIE LINKE hat sich mit diesen Regierungsprojekten für eine Koalitionsfähigkeit verbogen und sich zur Komplizin des rot-grünen Mitte-Extremismus gemacht.“

Das wollt ihr stoppen, das wollt ihr verändern und deswegen tretet ihr nun in die Partei ein. Aber wie genau das vonstattengehen soll, das verschweigt ihr. Mit dieser Entscheidung und ohne Plan lauft ihr Gefahr, einfach nur die neue Bewegungslinke zu werden. Ihr nehmt den Streit, der seit Gründung der Linkspartei stattfindet, auf. Aber bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, da hattet ihr selber keinen Plan, wie man die Bewegung voranbringt, Druck auf die Linkspartei ausübt, damit sie nicht ihre eigene Regierungsbeteiligung über den Erfolg der Bewegung stellt. Was macht euch so sicher, dass es jetzt ganz anders läuft? Denn es war nicht Wagenknecht, die in Berlin den Volksentscheid blockiert hat.

Für eine Partei der Arbeiter:innen?

Die Forderungen nach einem durchschnittlichen Facharbeiter:innengehalt und auch nach begrenzten Amtszeiten für Abgeordnete sind super. Wir unterstützen diese. Aber eine Partei für Arbeiter:innen macht mehr aus, als dass Mandatsträger:innen Arbeiter:innen sind und einen Teil ihrer Gehälter abgeben. Das ist ein Mittel, das verhindern soll, dass eine Schicht von Fuktionär:innen entsteht, die sich verselbständigt und im Interesse ihrer eigenen ökonomischen Stellung handelt. Das reicht aber nicht aus.

Mandatsträger:innen müssen ihrer Basis gegenüber auch rechenschaftspflichtig – und zur Not auch abwählbar – sein. Passiert das nicht, können sich Bundestagsabgeordnete mit ihrem Mandat nicht nur aus dem Staub machen, sondern Mandatsträger:innen können soziale Bewegungen und Arbeiter:innenkämpfe verraten, ohne unmittelbar Konsequenzen zu tragen.

Und auch das reicht nicht, um eine Partei der Arbeiter:innen zu sein. Busfahrer:innen und Krankenpflegende können im Bundestag sitzen – das ist cool und notwendig –, aber inhaltlich trotzdem keine Politik machen, die den Kapitalismus überwindet. Darum geht’s doch hoffentlich. Das ist eine Annahme, denn ja, es ist wichtig, wie ihr schreibt, „eine radikale, linke Sprache der Gegenwart zu entwickeln“. Aber es hilft nicht, alles scheinbar Angestaubte zu ersetzen, wenn man niemand mehr weiß, ob man denn nun transformieren, zerschlagen oder doch nur reformieren will. Klare Inhalte und Vorhaben einfach verständlich zu kommunizieren, findet nicht dadurch statt, dass man schöne Umschreibungen für Worte wie „Arbeiter:innenklasse“ oder „Sozialismus“ findet. Es geht um konkrete Ideen, die man mit entsprechender Politik umsetzen will. Denn das Wort „Enteignung“ hat z. B. die Mehrheit der Berliner Bevölkerung beim Volksentscheid auch nicht verschreckt.

Warum?

Mit der Krise der Interventionistischen Linken ist es still um weite Teile der postautonomen Linken geworden. Dabei war ihre Stagnation ein Resultat der Krise der Linkspartei. Über Jahre ging dieser Teil der „radikalen Linken“ eine Art Arbeitsteilung mit ihr ein, die Luxemburg-Stiftung und andere Finanzquellen dienten als Verbindungsstück. Nun steht dieses Verhältnis in Frage, denn wenn DIE LINKE aus dem Bundestag und den Landesparlamenten verschwindet, versiegen auch diese Geldquellen. Und das trifft ganz offenkundig auch Linke, die sich ansonsten die Hände nicht schmutzig machen wollten im parlamentarischen Geschäft, wenn es heißt: „Soziale und ökologische Bewegungen brauchen ein ökonomisches Zuhause.“

Deswegen überrascht es nicht, dass Teile aus diesem Spektrum sich entscheiden, das was sie letzten Endes immer gewesen sind, nun auch zu formalisieren. Es ist keine große, neue Veränderung, sondern eine Konsolidierung der alten Kräfte. Eventpolitik kann nun unter einem neuen Banner betrieben werden – und das hält zusammen. Das ist schade, denn die Krise der Linkspartei muss genutzt werden, um über Strategien zu reden und aus vergangenen Fehlern zu lernen.

Denn für sozialistische Politik in der Linkspartei zu kämpfen, das haben schon andere versucht in den letzten Jahren. Die Resultate sind bescheiden: marx21 hat sich im Oktober in mehrere Teile gespalten, die SAV letztes Jahr, wenn auch aus anderen Gründen. Die Antikapitalistische Linke ist kaum wahrnehmbar. Also was ist es, was euch unterscheidet? Was ist es, das verspricht, dass ihr es tatsächlich besser macht? Was ist der Plan? Wenn ihr diese Fragen nicht genügend beantworten könnt, werdet ihr nur ein neues linkes Feigenblatt für eine Partei, die vielleicht dynamischer wird, ein paar schöne Kampagnen fährt – aber letzten Endes schweigt, wenn es darum geht, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen.

Euer Aufruf fällt dabei hinter die Einschätzungen oben genannter Gruppierungen zur Linkspartei weit zurück. So heißt es: „Für alle, die es ernst meinen mit dem Klimaschutz, dem Feminismus, dem Antirassismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, für LGBTIQA+-Rechte und andere umwelt- und gesellschaftspolitisch fortschrittliche Anliegen kann dieses Zuhause nur in einer antikapitalistischen Partei liegen. Die Parteispitze hat ihren Willen zu einer Erneuerung der Partei und einer Öffnung hin zu den sozialökologischen Bewegungen wiederholt deutlich gemacht.“

So weit her ist es mit dem Antikapitalismus der Linkspartei bekanntlich nicht. Und den Willen zur Erneuerung? Worin besteht der? Bloße „Öffnung“ und Wachstumspläne ändern am Inhalt, Programm und an der seit Jahren eingeübten bürgerlichen Reformpolitik in Parlamenten, Kommunen, Stadträten, von Landesregierungen und Bürgermeister:innen nichts.

Was also tun?

Keine linke Alternative zu haben, während die Rechten immer stärken werden, macht Angst. Die Klimakrise und Kriege tun ihr Restliches dazu und man fühlt sich ohnmächtig. Aber diese Angst sollte nicht dazu führen, dass der „Kampf für Demokratie“ und eine „Transformation“, unter der sich alle vorstellen können, was sie gerade wollen, wichtiger ist als der für Sozialismus. Wer das anders sieht, der hat nicht verstanden, warum die AfD immer stärker geworden ist und weiß letztlich keinen Ausweg, wenn es darum geht, den Rechtsruck zu bekämpfen.

Denn die aktuelle Hetze, die wir erleben, kommt nicht nur von der AfD, sondern wird von allen ach so demokratischen Kräften mitgetragen. Sie ist Ausdruck einer sich international verschärfenden Konkurrenz, die den Kampf um die gewaltvolle Neuaufteilung der Welt vorbereitet und gleichzeitig die Sparmaßnahmen im Innern zu übertünchen versucht.

Um effektiv dagegen vorzugehen, kann man nicht sagen: „Hey, wir brauchen eine Linke, weil es eine Rechte gibt, wir müssen diffus über Umverteilung reden und für eine geile Sozialpolitik eintreten!“ Denn die aktuelle Situation lässt nicht zu, dass genügend Geld für eine geile Sozialpolitik einfach da ist. Selbst für solche Umverteilungsforderungen muss man den Klassenkampf mit Streiks forcieren und diese mit der Eigentumsfrage verbinden. Dementsprechend müssen Kämpfe für Lohnerhöhung, Verbesserungen der Lebensbedingungen immer mit einer Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems aktiv und deutlich verbunden werden. Ansonsten rennen wir ins Leere, erfahren Niederlagen und schaffen es nicht, eine gesellschaftlich linke Perspektive sichtbar zu machen.

Das heißt nicht, dass man sagen soll: „Hey, lass‘ für höhere Löhne kämpfen und ach, vergiss nicht, gegen den Kapitalismus musst du auch sein!“ sondern, dass man es schafft, Forderungen aufzustellen, die eine Brücke weisen vom Kampf für unmittelbare Ziele zu dem gegen das System, welches diese in Frage stellen. Beispielsweise „Hey, lass uns für höhere Löhne kämpfen, die automatisch an die Inflation angepasst werden und deren Erhöhung von den Lohnabhängigen selbst kontrolliert wird. Das ist doch besser, als bei jeder Schwankung streiken zu müssen und zu hoffen, dass man dann ein bisschen was abbekommt. Und sinnvoll ist auch, dass ihr dann ein Komitee gründet, was kontrolliert, dass das auch umgesetzt wird.“ Das kann man nur durchsetzen, wenn man eine gewerkschaftliche Basisopposition gegen die Bürokratie organisiert, Bewegungen so aufbaut, dass sie Selbstermächtigungsorgane der Klasse (Komitees an Schulen, Unis und Betrieben, Vorformen von Räten also) schafft und in diesen für eine Politik der Zuspitzung, der gesellschaftlichen Veränderung eintritt.

Und irgendwie bleibt beim Lesen des Textes, das Gefühl, dass es eher die Angst vor rechts ist, die euch planlos in DIE LINKE treibt, ohne Weg zurück.  Also, was ist euer Plan?




Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




DSA: unabhängige Arbeiter:innenorganisation oder Schoßhund der Demokratischen Partei?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Die Entwicklung der US-Arbeiter:innenbewegung und vor allem der Democratic Socialists of America (DSA) hat international viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Besonders groß war die Unterstützung, die Bernie Sanders’ Kampagne als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei erfuhr. Er bezeichnete sich offen als Sozialist und erhielt dennoch Zuspruch von Millionen. Auch wenn Sanders nie mit der Demokratischen Partei, einer der beiden zentralen politischen Stützen des US-Kapitals, brechen wollte, so offenbarte seine Kampagne, dass „Sozialismus“ keineswegs alle Wähler:innen abschreckt.

Katalysator

Seine Kandidatur beunruhigte nicht nur das Establishment der Demokratischen Partei um Clinton (2016) und Biden (2020), sondern fungierte als Katalysator für den massiven Zulauf und eine Linksentwicklung der Democratic Socialists of Amerika (DSA), einer Organisation, die auf eine, wenn auch nicht gerade glorreiche, Geschichte zurückblickt. Sie war über Jahrzehnte eine sozialdemokratische Minipartei. Sie trug als Mitglied der Sozialistischen Internationale deren proimperialistische Politik voll mit und fungierte als pseudolinkes Anhängsel der Demokratischen Partei und unterstützte fast jede Schweinerei der US-Außenpolitik, so auch den Vietnamkrieg.

2015 zählte die DSA 6.200 Mitglieder. Danach wuchs sie rapide an auf bis zu ungefähr 83.000 im Jahre 2022, wobei die Zahl im Jahre 2023 wieder leicht auf 78.000 gesunken ist. Dies ging zugleich mit einer Linksentwicklung der Organisation einher. 2017 trat die DSA aus der II. Internationale wegen deren neoliberaler Politik aus.

Trotz Stagnation und Rückgangs im letzten Jahr umfasst die DSA eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedern, die relativ neu politisch organisiert sind und ein Interesse an sozialistischer Politik aufweisen. Dieser Aufschwung hat die Organisation deutlich nach links gerückt, sodass auch offen davon geredet wurde, nicht weiter der linke Flügel der Demokratischen Partei zu bleiben, sondern auch eine eigene Arbeiter:innenpartei zu gründen.

Das Verhältnis zur Demokratischen Partei bildet daher seit fast einem Jahrzehnte eine, wenn nicht die, Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der DSA. Dies zeigt sich nicht nur bei den Conventions (Kongressen) der Partei, sondern auch daran, dass die 6 DSA-Mitglieder über die Liste der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des US-Kongresses, vertreten sind. Das wahrscheinlich bekannteste Mitglied ist Alexandria Ocasio-Cortez, kurz AOC. Auch wenn diese 6 auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei stehen, so ist von einem Bruch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Mit der Zeit hat sich die alte Politik wieder starkgemacht. So stimmten in der aktuellen Legislaturperiode 4 ihrer Kongressmitglieder, allen voran AOC, für die Illegalisierung eines potenziellen Streikes von 100.000 Eisenbahnarbeiter:innen.

Wie ist die DSA eigentlich aufgebaut?

Es gibt verschiedene Basisorganisationen, bekannt als Chapters, die abhängig von ihrer Größe Delegierte zu der DSA-Convention (Parteitag) wählen. Die Tagung findet alle 2 Jahre statt, die letzte vom 4. bis 6. August 2023. Die Convention wählt die nationale Leitung, das National Political Committee (NPC). Dieses besteht aus 16 Menschen, die unter sich noch einen fünfköpfigen Ausschuss wählen, das Steering Committee (SC). Die nationale Leitung bestimmt die politischen Linien der Organisationen z. B. in ihren verschiedenen Publikationen und soll die Entscheidungen der Convention umsetzen. Dazu verfügt die DSA über einen größeren Apparat von festangestellten Organizer:innen, Buchhalter:innen und anderen Beschäftigten in New York. Das NPC kann auch verschiedene Arbeitsgruppen und Komitees ins Leben rufen, um an verschiedenen Fragen zu arbeiten und Politik zu bestimmten Themen anzuleiten.

Außerhalb der NPC gibt es verschiedene Caucuses, die effektiv die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb der DSA verkörpern. In diesen können sich unabhängig von Wahlen alle DSA-Mitglieder organisieren und für verschiedene politische Programme kämpfen. Dabei sind verschiedene Caucuses relevanter als andere. So gibt es z. B. den Bread and Roses Caucus, der rund um die Zeitschrift Jacobin organisiert ist und eine Linie des „schmutzigen Bruches“ mit der Demokratischen Partei vertritt. Darunter wird ein kompromisslerischer „Mittelweg“ zwischen einem klaren Austritt aus der Demokratischen Partei und einer Strategie von deren Reform verstanden. Der Reform and Revolution Caucus repräsentiert einen eher linken Flügel der DSA. Schließlich gibt es noch den Socialist Majority Caucus, der die historische Führung und die traditionellen Strategien der DSA repräsentiert. Dieser bildet auch eine der stärkeren Fraktionen.

Die Fragen, wie man zur Demokratischen Partei steht, ob und wie man eine unabhängige Arbeiter:innenpartei aufbauen soll, stand dabei auch im Zentrum der letzten Parteitage.

Vorlauf zur Convention 2023

2021 fand die Convention noch online statt. Diese stellte letzten Endes eine Niederlage für die linkeren Teile der DSA dar, da sich die Ausrichtung auf die Demokratische Partei und auf reine Wahlpolitik verfestigte. Eine weitere Frage, die im Sinne der Rechten beantwortet wurde, war die der Wahlunterstützung für demokratische Kandidat:innen. Außerdem gibt es seither keine Rechenschaftspflicht mehr für die Mitglieder der DSA, die in verschiedenen Parlamenten oder gar exekutiven Funktionen sitzen.

Dass diese Wende nach rechts fortgesetzt werden soll, zeigte sich auch im Vorlauf für die diesjährige Convention. Der Vorsitzende des NPC, Hernandez, erklärte in einem interview zur zukünftigen Strategie der DSA: „Dort, wo wir jetzt sind, müssen wir verankert bleiben und den Umständen Rechnung tragen, mit denen wir uns auseinandersetzen.” Im Klartext: Wir müssen fortfahren mit der jetzigen Strategie bezüglich der Demokratischen Partei. Er empört sich in demselben Interview auch über die linken Teile der DSA und behauptet, dass es sich gezeigt habe, dass die Demokratische Partei keine „Sackgasse“ für die DSA und sozialistische Politik sei.

Entscheidungen

Die Convention selbst war effektiv ein großer Schlag ins Gesicht der linken Teile der DSA. Die erste Kontroverse entzündete sich schon um den Vorschlag der Leitung zu ihrem Ablauf selbst. Dieser sah vor, dass über die Anträge für eine Opposition zur imperialistischen Politik in Bezug auf den Ukrainekrieg nicht diskutiert wird. Dies wurde damit begründet, dass es keine Zeit für die Diskussion rund um den Antrag gäbe. Gleichzeitig war aber mehr als genug Zeit dafür eingeplant, darüber zu debattieren, ob eine Rose, die ein „Vote“-Schild hält, das offizielle Maskottchen der DSA werden solle. Dieser Vorschlag wurde zwar mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, dafür fielen aber die Resolutionen über die israelische Okkupation von Palästina sowie die zum Ukrainekrieg durch.

Dafür markierten die Beschlüsse zu den Wahlen jedoch einen weiteren Schritt nach rechts zur Anpassung an die Demokratische Partei. So sprachen sich 704 Delegierte bei 184 Gegenstimmen gegen Schritte zur Bildung einer unabhängigen Partei mit eigenen Kandidat:innen aus. So heißt es: „Es ist in der jetzigen Situation für uns nicht empfehlenswert, eine politische Partei mit eigenen Wahllisten zu gründen.“

Mit diesem Beschluss der Convention wird der Fokus der DSA über die nächsten zwei Jahre nicht einfach auf die Wahlen gelegt, die tatsächlich mehr und mehr ins Zentrum der US-Politik rücken werden, sondern vor allem auf die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei. Die DSA will auch mehr ihrer Mitglieder dabei unterstützen, sich selbst auf der Liste der Demokrat:innen aufstellen zu lassen und sich so faktisch politisch unterzuordnen.

Aber auch zur Frage der Rechenschaft hat der rechte Flügel die Mehrheit behalten können – und das, obwohl die Rechenschaftspflicht der verschiedenen DSA-Abgeordneten eine riesige Frage ist. So verrieten AOC und andere den möglichen Eisenbahner:innenstreik, so stimmte der DSA-Kongressabgeordnete Jamaal Bowman für die Bewaffnung des israelischen Militärs.

Trotzdem stimmten 60 % der Delegierten sogar gegen eine Rechenschaftspflicht in nur vage formulierter Form: „Die DSA, erwartet, dass sich Sozialist:innen in gewählten Ämtern in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der sozialistischen Bewegung verhalten.“

Man kann also zusammenfassen, dass der rechte Flügel, der Socialist Majority Caucus, gestärkt aus dem Parteitag hervorging. Starker Fokus auf die Demokratische Partei, keine Rechenschaft der Abgeordneten und eine Unterbindung der wichtigen inhaltlichen Diskussionen durch das NPC sind seine Früchte.

Aufgabe von Revolutionär:innen

Trotz der Niederlage des linken Flügels der DSA ist die Organisation eine, die viele linke Kräfte an sich zieht und immer noch in sich eine Dynamik trägt. Trotz der erheblichen Hürden wäre die DSA auch in der Lage, eine Partei zu gründen. Diese Partei wäre auch eine, die die USA schon sehr lange nötig haben, denn die Wahl zwischen Republikaner:innen und Demokrat:innen ist eine zwischen zwei Übeln, die das Interesse der arbeitenden Menschen gar nicht im Sinne haben. Beide sind die historischen Parteien des US-Kapitals, des US-Imperialismus. Sie stellen letztlich nur zwei seiner konkurrierenden Flügel dar.

Deswegen ist es die Aufgabe von allen Revolutionär:innen, sich in erster Linie für den Aufbau einer Partei einzusetzen, die auch das Interesse der Arbeiter:innen als Klasse vertritt. Die Strategie des Socialist Majority Caucus, den linken Flügel der Demokratischen Partei zu bilden, ist nicht nur perspektivlos, sie stellt vor allem eine direkte Kampfansage an alle Versuche dar, die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften aus ihre Bindung an die Demokratische Partei zu lösen. Der Parteitag zeigt, dass eine Arbeiter:innenpartei nur aus dem politischen Kampf gegen diese Fraktion und im Bruch mit ihr entstehen kann.

Auch die Strategie des schmutzigen Bruches des Bread und Roses Caucus ist auf dem Parteitag gescheitert. Im Grunde hat sie dem rechtsreformistischen Mehrheitsflügel zugearbeitet, indem sie anstelle eines klaren Bruchs im Hier und Jetzt ihn auf eine ferne Zukunft vertagt, derweil jedoch eine „Realpolitik“ betreibt, die auf eine Unterstützung der Demokratischen Partei hinausläuft.

Es braucht innerhalb der DSA eine Fraktion, die für die Führung der Organisation kämpft, mit dem Ziel, die Zehntausende von Arbeiter:innen und Jugendlichen, die in die DSA eingetreten sind, für einen Bruch mit der Demokratischen Partei zu gewinnen. Auf dieser Basis müssten die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen zu einem Bruch mit den Demokrat:innen und zum Aufbau eine Arbeiter:innenpartei aufgefordert werden. Doch eine solche Kraft müsste eigenständig in die Kämpfe eingreifen und die Wahlen nutzen, um eigene Kandidat:innen aufzustellen. Dieser Prozess müsste einhergehen mit der Diskussion und Ausarbeitung des Programms einer solchen Partei, wobei Revolutionär:innen von Beginn an für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten müssten.




Zehntausende bei LQM-Bewegung für Arbeiter:innenrechte – Vorwärts zu einer Arbeiter:innenpartei in Pakistan!

Khaliq Ahmad, Infomail 1228, 24. Juli 2023

Die pakistanische Regierung hat die gesamte Last auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Stadt und Land abgewälzt, um das Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederzubeleben. Die Verbraucher:innenpreisinflation in Pakistan hat derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht. Nach offiziellen Angaben stieg sie im März auf 35,4 %, was vor allem auf die in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Strom, Getränke und Transport zurückzuführen ist.

Die Lohnerhöhungen im jüngsten Haushalt liegen unter dem aktuellen Inflationsniveau,

Die Unternehmen in der Privatwirtschaft weigern sich sogar, diese zu erhöhen, und die Arbeiter:innen müssen jedes Jahr einen organisierten Kampf führen, um wenigstens ihre Verluste auszugleichen. Das jüngste IWF-Abkommen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar wird die Situation für die Lohnabhängingen, die Bäuer:innen und die Armen noch verschlimmern, da es Kürzungen der Subventionen für grundlegende Konsumgüter, weitere Privatisierungen und Senkungen der öffentlichen Ausgaben fordert.

Kampagne

Als Reaktion auf diese Situation startete die LQM (Labour Qaumi Movement) Anfang Juni eine Kampagne für höhere Löhne und zu den Problemen am Arbeitsplatz. Vor der Konferenz für Rechte der arbeitenden Bevölkerung am 18. Juni fanden zehn Kundgebungen und zahlreiche Versammlungen unter freiem Himmel in den Arbeiter:innenvierteln und an Arbeitsplätzen statt.

Im Rahmen dieser Kampagne sprach die LQM Zehntausende von Arbeiter:innen an und organisierte sie, darunter eine große Zahl von Heimarbeiter:innen. Auf den Kundgebungen und an den Straßenecken sprachen sie über die Probleme, vor denen Millionen stehen. Sie luden sie ein, sich der LQM anzuschließen, um gemeinsam gegen Inflation, Kürzungen und das IWF-Paket zu kämpfen und zu erklären, warum nicht nur Gewerkschaften und lokale Aktionskomitees braucht, sondern auch eine eigene Partei der Arbeiter:innenklasse. Eine Partei, die sich in die täglichen Kämpfe einmischt, die Wahlen nutzt, um die unabhängige Stimme der Lohnabhängigen zu erheben, und die ihre gesamte Tätigkeit mit dem Kampf gegen das System verbindet. Die Haltung der Arbeiter:Innen gegenüber dem Aufbau der LQM und ihrer 2022 gestarteten Initiative zum Aufbau einer Partei der Arbeiter:innenklasse ist sehr positiv.

Diese Kampagne ist insofern von Bedeutung, als sie sich nicht nur auf eine für Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Fragen der Politik und der Partei der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund rückt, mit denen sie  seit Jahrzehnten konfrontiert ist. In Ermangelung einer nennenswerten politischen Organisation, die unter den Lohnabhängigen verwurzelt ist, waren die Klasse und ihre potenziellen Verbündeten – Kleinbäuer:innen, städtische und ländliche Arme, Student:innen und Unterdrückte – den verschiedenen Parteien der herrschenden Klasse oder des Kleinbürger:innentums politisch untergeordnet. Diese politische Schwäche wird in Zeiten der Krise und intensiver Klassenkämpfe besonders deutlich.

Die LQM hat mit dem Aufbau einer solchen Partei begonnen und kämpft auf der Grundlage eines Programms mit Forderungen der Arbeiter:innenklasse. Sie wehrt sich gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, in der die Regierung im Rahmen des IWF-Programms der Arbeiter:innenklasse und den Armen in Stadt und Land alle Lasten aufgebürdet hat. Die unterdrückten Nationen, die Frauen und die Studierenden sind hiervon besonders betroffen. Und gleichzeitig wächst der obszöne Reichtum der pakistanischen herrschenden Klasse.

Nach Angaben der Behörde für nationale menschliche Entwicklung schüttet die Regierung jährlich 17,4 Milliarden US-Dollar an die Elite aus. Darunter fallen nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich Boni und Einkommen für hochrangige Beamt:innen. Dazu gehören auch Vergünstigungen und Subventionen für die landbesitzende Elite. Exporthändler:innen und Industrielle erhalten ebenfalls mehr Unterstützung im Namen der nationalen Wirtschaft. Gleichzeitig setzt die Regierung die Masse der Bevölkerung unter Druck und belastet es, für das es schwierig geworden ist, zwei Mahlzeiten am Tag zu bekommen.

Konferenz

Tausende von Arbeiter:innen aus ganz Faisalabad nahmen an der Konferenz vom 18. Juni unter der Schirmherrschaft der LQM teil und hissten mit großen Märschen und Kundgebungen rote Fahnen. Auch eine große Zahl von proletarischen Frauen beteiligte sich an dieser Konferenz. Neben den Lohnabhängigen aus Faisalabad kamen auch Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften, linker Organisationen und Studierendenorganisationen aus dem ganzen Land.

Auf der Konferenz für Rechte der Arbeiter:innen sagten die Redner:innen, es sei klar, dass die Ursache für die bestehende Krise und die Probleme die Prioritäten der herrschenden Klasse seien. Sie benutzen ihren Staat für ihr kapitalistisches System und bieten keine Lösung für die Arbeiter:innen und die Armen. Unter diesen Umständen ist die LQM die einzige Partei, die aus der Arbeiter:innenklasse besteht, die in ihr und bei den Armen verwurzelt ist. Sie sind das Rückgrat des Kampfes, um dieses auf Ausbeutung und Zwang basierende System zu beenden. Aber sie müssen vernetzt, organisiert und politisch geeint werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse anzuführen.

Der Kampf der LQM, so erklärten die Redner:innen, richtet sich gegen das kapitalistische System, und ihr wichtigstes Kampfziel ist die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innenklasse. Deshalb ist die LQM mit keiner kapitalistischen Partei verbunden, organisatorisch und politisch unabhängig und eine Partei des Klassenkampfes. Und der Redner fuhr fort: „Wir hegen keine Hoffnung in dieses Parlament. Der Zweck der Teilnahme an der Wahl wird sein, den Arbeiter:innenkampf zu verstärken, Themen aus der Arbeitswelt ins Parlament zu bringen und den Kampf außerhalb des Parlaments damit zu verbinden und für die Macht der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen“. Die LQM unterscheidet sich auch deshalb von anderen Parteien, weil sie sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und die Mehrheit ihrer Führung aus Arbeiter:innen besteht. Sie sind stolz darauf, dass dies ihre Partei ist – also schließt euch ihr an und organisiert einen gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung dieses Systems!

Forderungen

Auf der Arbeitsrechtskonferenz wurde angekündigt, den Kampf um die folgenden Forderungen auf nationaler Ebene zu organisieren und alle anderen Gewerkschaften und Arbeiter:innenorganisationen aufzurufen, sich dem gemeinsamen Ringen gegen Preiserhöhungen, das IWF-Paket und für die Grundbedürfnisse der Arbeiter:innenklasse anzuschließen.

  • Senkung der Preise für Strom, Gas und Benzin. Mehl, Fett, Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst sollten billig gemacht und Preiskontrollausschüsse eingerichtet werden.

  • Der Entwicklungshaushalt sollte durch Besteuerung der Reichen und Kapitalist:innen erhöht werden, damit die grundlegende Infrastruktur aufgebaut werden kann.

  • Die Gehälter sollten im Verhältnis zur Inflation erhöht werden.

  • Das Akkord- und Vertragssystem sollte abgeschafft werden. Das Tagelohnvertragssystem sollte beseitigt und die Arbeiter:innen regulär eingestellt werden.

  • Arbeiter:innen sollten ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Lohn und die gleiche wirtschaftliche und soziale Sicherheit erhalten.

  • Die Umsetzung des Mindestlohns sollte sichergestellt werden.

  • Jede/r Arbeiter:in sollte bei der Sozialversicherung und der Altersrentenanstalt gemeldet sein.

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung und Behandlung sollten bereitgestellt werden.

  • Arbeit und Wohnung sollten garantiert, Arbeitslosengeld sollte allen Arbeitslosen gewährt werden.

  • Es sollten Sozialwohnungen gebaut werden, in denen alle grundlegenden Einrichtungen vorhanden sind.

  • Die gewerkschaftliche Organisierung ist das Recht der Arbeiter:innen und alle diesbezüglichen Beschränkungen sollten aufgehoben werden, die Studierendengewerkschaft wieder operieren dürfen.

  • Es sollten Agrarreformen durchgeführt und den Bauern und Bäuerinnen billiges Saatgut, Dünger, Strom und Wasser zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Ressourcen sollten anerkannt werden.

  • Die Schulden sollten gestrichen werden.

Solche Forderungen können nur durch einen Massenkampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung, durch Massenstreiks, Besetzungen und Massenkundgebungen durchgesetzt werden. Und das kann nicht nur durch Absprachen zwischen den Führer:innen der Organisationen entstehen, sondern muss von unten durch Massenkundgebungen, wie wir sie in Faisalabad gesehen haben, durch die Wahl von Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen, in den Arbeiter:innenbezirken oder auf dem Lande erfolgen, die sich zu einer nationalen Kampfkoordination zusammenschließen. Eine solche Massenbewegung muss demokratisch, aber auch effektiv sein und sich auf einen Aktionsplan für die Bewegung einigen. Und sie muss auch Organe der Selbstverteidigung schaffen, um sich gegen Provokationen zu schützen.

Sollte sich eine solche Bewegung etablieren und Forderungen durchsetzen, wäre das natürlich nicht das Ende des Kampfes. Die herrschende Klasse und ihr Staat würden nach allen Mitteln suchen, um selbst kleine Erfolge anzugreifen. Der Kampf muss also dauerhaft sein und zu einem revolutionären Ringen um die Macht führen, für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innen- und Kleinbäuerinnen auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten und einer Miliz – einer Regierung, die nicht nur dem Diktat des IWF und der neoliberalen Politik ein Ende setzen würde, sondern auch dem kapitalistischen System, indem sie einen demokratischen Plan aufstellt. Und eine solche Regierung darf sich nicht auf Pakistan beschränken, sie kann und muss zu einem Sammelpunkt für die Ausbreitung der Revolution auf die gesamte Region werden und zu einer Föderation von Arbeiter:innenstaaten führen.




Dirty Talk. Democratic Socialists of America hängen weiter an Demokratischer Partei

Andy Yorke, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Das Wachstum der Democratic Socialists of America (DSA, Demokratische Sozialist:innen Amerikas) auf fast 95.000 Mitglieder in den letzten Jahren der Massenkämpfe und politischen Mobilisierungen spiegelte sich in ihrem alle zwei Jahre stattfindenden nationalen Kongress in der ersten Augustwoche 2021 wider, als über 1.000 Menschen tatsächlich zusammenkamen, um über Entschließungen zu debattieren, die den weiteren Weg betreffen. Dabei zeigte sich auch eine Polarisierung innerhalb der Organisation und ein deutlicher Rechtsruck der Führung.

Während der Parteitag ein radikal-reformistisches Programm verabschiedete, wurde die Konzentration auf die Kandidatur als oder Unterstützung linke/r Kandidat:innen als Teil der Demokratischen Partei, die genauso wie die Republikanische eine Partei des Großkapitals ist, bekräftigt. Diese Ausrichtung entspricht jedoch immer weniger den Bedürfnissen der radikalen Kämpfe und Bewegungen, die in den krisengeschüttelten USA entstanden sind.

Der linke Flügel der DSA, der diese Taktik des so genannten „schmutzigen Bruchs“ ablehnt, muss die Einheitsfront nutzen, um seine eigene Uneinigkeit zu überwinden und eine koordinierte Kampagne gegen die Kandidatur oder Unterstützung demokratischer Kandidat:innen bei Wahlen zu starten und stattdessen die DSA für die Schaffung einer neuen Arbeiter:innenpartei zu gewinnen.

Ein polarisiertes Amerika

Der Zeitpunkt des Kongresses hätte nicht besser gewählt werden können, um die bisherige Arbeit der DSA und ihre zukünftigen Pläne zu untersuchen, angesichts der bedeutsamen Entwicklungen seit dem letzten Kongress. Die amerikanische Linke steht vor stürmischen Jahren unter einer wackeligen Präsidentschaft Bidens und mit einer bösartigen rechtsgerichteten Republikanischen Partei, die von ihren Hochburgen innerhalb des us-amerikanischen Gemeinwesens, der Polizei, der Justiz und dem Kongress, Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, Frauen und Farbige startet. Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch den demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden. Wirtschaftlich stehen sie seit 2008 im Zentrum der historischen Depression des Kapitalismus. Politische und ökonomische Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und zu einer historischen Polarisierung geführt.

Selbst unter der relativ populären Präsidentschaft Obamas, die diesen Niedergang bis zu einem gewissen Grad kaschierte, zeigten Umfragen, dass eine Mehrheit der jungen Amerikaner:innen Bänker:innen, den  amerikanischen Großunternehmen und dem Kapitalismus feindlich gegenübersteht. [1] Dies führte dazu, dass der „unabhängige Sozialist“ Senator Bernie Sanders zum ersten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gewählt wurde, und zwar 2015/16, als er bei den Vorwahlen dreizehn Millionen Stimmen für die Nominierung erhielt, und dann weit weniger erfolgreich 2019 – 20. Beide Male blockierte ihn das mächtige Democratic National Committee (Nationales Komitee der Demokratischen Partei). Diese Klassenwidersprüche wurden mit dem Wahlsieg von Trump 2016 zur Weißglut getrieben, als sich eine offen faschistische Bewegung mit der triumphierenden populistischen Rechten der Republikanischen Partei vermischte.

Im Jahr 2018 stürzte DSA-Mitglied Alexandria Ocasio-Cortez, (AOC), einen der mächtigsten Amtsinhaber der Demokratischen Partei und wurde die erste Sozialistin, die in den Kongress einzog (als Mitglied der Demokratischen Partei), was landesweit für Aufsehen sorgte. In ihrem Windschatten kandidierte eine Reihe von DSA-Kandidat:innen für den Kongress, fast alle unter dem Firmenschild der Demokratischen Partei. Darüber hinaus gibt es viele weitere von der DSA unterstützte „fortschrittliche“ Demokrat:innen, die (wenn überhaupt) noch weniger von sich behaupten, Sozialist:innen zu sein, so dass inzwischen 150 DSA-Mitglieder oder von ihnen befürwortete Politiker:innen in Stadträten, Landesparlamenten und anderen staatlichen Gremien vertreten sind. Mit der Wahl des DSA-Mitglieds Cori Bush in den Kongress im vergangenen Jahr sitzen nun fünf DSA-Mitglieder im Repräsentantenhaus.

In der Zwischenzeit vertiefte sich die epochale Krise des Kapitalismus, als die Feuer der Klimakatastrophe von Australien bis nach Amerika loderten, und dann, bevor eine vielfach vorhergesagte Rezession im Stil von 2008 eintreten konnte, erfasste eine Pandemie das System. Historische Massenkämpfe erschütterten die letzten Jahre von Trumps Amtszeit, von der Lehrer:innenrevolte 2018, die sich über mehrere republikanisch dominierte Bundesstaaten ausbreitete, bis hin zur Black-Lives-Rebellion 2020 nach dem Polizeimord an George Floyd.

Seit ihrem Parteitag 2019 behauptet die DSA, für den Aufbau einer „unabhängigen Arbeiter:innenpartei“ zu stehen. Diese Großereignisse warfen selbst die Frage auf, wie sie aufgebaut werden soll: in erster Linie durch Massenbewegungen oder durch Wahlkampagnen, die sich an der Demokratischen Partei orientieren und diejenigen, die im Amt sind, wie Sanders und AOC, unter Druck setzen, links zu bleiben?

Welche Art von Partei?

Die DSA wuchs durch die beiden Nominierungskampagnen von Sanders, den Sieg von Trump und den viel beachteten Sieg von AOC von einer alternden Gruppe von 6.500 Mitgliedern zu der heutigen dynamischen Organisation mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren

und von 148 Ortsgruppen im Jahr 2019 auf 240 (und 130 Jugend-DSA-Ortsgruppen) heute. Mit einer landesweiten Präsenz in allen Bundesstaaten und Großstädten ist die DSA die größte sozialistische Organisation in den USA in den letzten hundert Jahren und hegemonial in der Linken. [2] Allein in den acht Wochen nach Beginn der Covid-Krise im März 2020 traten zehntausende Mitglieder bei, als sie sich der Organisation gegenseitiger Hilfe in der Gemeinde zuwandte. [3] Die dazugehörige Webseite und die Zeitschrift Jacobin haben die sozialistische Tradition in den Vereinigten Staaten wiederbelebt, sie buchstäblich wieder auf die Landkarte gebracht und das Interesse an den Ideen von Marx verbreitet.

Doch trotz aller Diskussionen über marxistische Persönlichkeiten, verschiedene Revolutionen und Massenstreiks in Jacobin stehen bei der DSA die Wahlen im Vordergrund. Während ihre Gewerkschaftsmitglieder und die von der Sanders-Kampagne inspirierten Aktivist:innen eine wichtige Rolle bei den Lehrkräftestreiks spielten, ist der Aufbau der Linken in den Gewerkschaften nach wie vor mit relativ wenig Ressourcen ausgestattet. Nach allem, was man hört, wurde die DSA von der Radikalität des Aufstands nach dem Tode von George von Floyd überrascht und spielte im Allgemeinen kaum eine Rolle bei der Organisation, geschweige denn bei der politischen Gestaltung der Erhebung. Die DSA-Führung, die für ihre Passivität angesichts dieser radikalen Ereignisse kritisiert wurde, rechtfertigte dies sogar mit dem Argument, dass es falsch wäre, eine Führungsrolle zu beanspruchen, und plädierte stattdessen dafür, dass ihre Abteilungen „respektvoll“ sein und versuchen sollten, Koalitionen mit bestehenden Protestführer:innen aufzubauen. Damit verzichtet sie auf den vollen Einsatz für Klassenpolitik und sozialistische Führung, fügt sich aber nahtlos in ihre Wahlstrategie ein.

Angesichts des seit Jahren ungebremsten Wachstums der DSA in alle Richtungen war es für alle ein Schock, als die nationale Direktorin Maria Svart auf dem Kongress die „ernüchternde Tatsache“ verkündete, dass „der Zuwachs an neuen Mitgliedern auf ein Rinnsal gesunken ist“ [4). Es ist eine offene Frage, ob dies eine Taktik war, um in Panik geratene Stimmen dazu zu bringen, den wahlpolitischen Status quo der DSA zu unterstützen, oder das Ergebnis von Bidens 7 Billionen US-Dollar schweren Plänen für Wohlfahrts- und Infrastrukturausgaben, die die Peripherie der DSA wieder zur Demokratischen Partei hinwenden und den Wachstumshahn für die DSA zudrehen sollten.

Die Angelegenheit des Wahlverhältnisses zur Demokratischen Partei verdeckt oft existenzielle Fragen der Partei und des Programms: Wird die DSA eine von Aktivist:innen kontrollierte Partei sein oder eine, die um gewählte Funktionär:innen herum aufgebaut ist? Sind Wahlen eine Taktik im Klassenkampf oder das zentrale Element der sozialistischen Strategie? Historisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, eine Massenpartei aus der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Die erste konzentriert sich auf den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Krieg, Imperialismus und Klimakatastrophe und fördert eine sozialistische Strategie zur Entwicklung von Kadern aus radikalen Aktivist:innen, die sich an Streiks und Massenprotesten beteiligen. Die zweite konzentriert sich darauf, mit einer Reformplattform politische Ämter zu gewinnen, indem sie einen soliden und zwangsläufig bürokratischen Wahlapparat auf der Grundlage von Politiker:innen und Parteifunktionär:innen aufbaut.

Auch wenn sich beide Parteien als sozialistisch bezeichnen, wie Rosa Luxemburg betonte, handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Wege, um dasselbe Ziel zu erreichen. Für die erste Partei ist der Sozialismus eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft von den eigenen Organisationen der Arbeiter:innen kontrolliert wird, die im Zuge des Klassenkampfes aufgebaut wurden. Für die zweite ist der Sozialismus durch eine gewählte Regierung einzuführen, die mit Hilfe der bestehenden staatlichen Institutionen arbeitet.

Die derzeitige DSA-Führung behauptet, sie könne beide Strategien mit dem, was sie „Klassenkampfwahlen“ nennt, verfolgen, aber das letzte Jahr, seit dem zweiten Scheitern von Sanders, hat immer deutlicher gezeigt, dass ihre Strukturen und ihr Ansatz immer mehr zu einem Wahlkampf nach Schema F tendieren, und der Parteitag 2021 hat dies zementiert. Darüber hinaus hat die wachsende Erfahrung mit „ihren“ Politiker:innen im Amt, die für kapitalistische Haushalte (sogar für Polizeibudgets) stimmen und sich dem Druck von Unternehmen, Entwickler:innen oder dem demokratischen Establishment beugen, gezeigt, dass die DSA keine Möglichkeit hat, ihre Kandidat:innen zur Rechenschaft zu ziehen, selbst wenn sie Mitglieder sind.

Der Grund dafür ist ganz einfach. Echte Marxist:innen haben nichts dagegen, bei Wahlen zu kandidieren und sich energisch dafür einzusetzen, so viele Stimmen wie möglich für ein sozialistisches Programm zu erhalten und so viele Wähler:innen wie möglich zu Aktivist:innen für die gesamte Bandbreite der Politik und der Kampagnen der Partei zu machen. Ihr Programm und ihre Politik werden jedoch nicht davon bestimmt, was die meisten Stimmen bringt, und sie glauben nicht, dass die Macht (im Gegensatz zu einem Amt) durch Wahlen errungen werden kann. Die Reformist:innen hingegen richten ihr Programm danach aus, was ihrer Meinung nach Wahlen gewinnen kann.

In Europa und einigen anderen Teilen der Welt gründete die Arbeiter:innenbewegung unabhängige Parteien. In den USA begnügten sich die Reformsozialist:innen nach mehreren gescheiterten Versuchen mit der Aussicht, die Demokratische Partei unter Druck zu setzen oder sogar selbst als Demokrat:innen aufzutreten. Auf diesem Weg gelang es selbst einem blassrosa demokratischen Sozialismus nicht, auch nur einen Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Vorbild zu schaffen. Heute scheint der Kompromiss zwischen einer unabhängigen sozialistischen Partei und Sozialist:innen, die als Demokrat:innen auftreten oder sogar solche Mitglieder der Demokratischen Partei unterstützen, die bereit sind, sich bei schönem Wetter als Sozialist:innen zu präsentieren, in der Hoffnung auf progressive Reformen unter Biden ad acta gelegt worden zu sein.

Konsens an der Spitze

Einige bezeichneten diesen Parteitag als „Konsenskongress“, weil sich die Debatten um die Demokratische Partei stabilisiert haben. Es wurden weniger Anträge eingebracht, und für das Nationale Politische Komitee (NPC) kandidierte ein viel kleineres Feld von Bewerber:innen, das keine wirkliche Alternative zu den wichtigsten prodemokratischen Caucuses, wie die Fraktionen und Tendenzen in der DSA genannt werden, bot. [5] Ein neues, undemokratisches Verfahren, bei dem vor der Konferenz darüber abgestimmt wurde, welche Anträge als „Konsens“ angenommen werden sollten, schaltete viele aus. Der Onlinecharakter der Konferenz bedeutete, dass sie schwer zu managen und chaotisch war, aber er machte auch die Arbeit der Oppositionellen noch schwieriger. Zusammen genommen bedeuteten diese Faktoren, dass wichtige politische Veränderungen wie die neue Plattform, die Wahlstrategie und der Antiimperialismus mit fast minimaler Debatte verabschiedet wurden.

Der Rechtsruck erstreckte sich nicht nur auf die Plattform und die Wahlen. Anträge auf eine teilweise Demokratisierung der DSA, die eine Abberufung der in das NPC, das DSA-Führungsgremium, Gewählten und Wahlen für den hochrangigen Posten des/r Nationaldirektors/in vorsahen, scheiterten. Das Kräfteverhältnis im NPC verschob sich weiter in Richtung Wahlreformismus, wobei die neue „Green New Deal“-Liste das Kräftegleichgewicht hielt.

Die linken Fraktionen haben die Verabschiedung der Entschließung 8 „Auf dem Weg zu einer Massenpartei in den Vereinigten Staaten (Wahlpriorität)“ beklagt. Darin wurden die Wahlen als „einzigartige Priorität“, „ vor allen anderen Prioritäten, eingestuft. Sie verpflichtete sich, „ihren erfolgreichen Ansatz des taktischen Antritts zu Parteiwahlen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei fortzusetzen“, ein Rechtsruck gegenüber dem Parteitag von 2019, der lediglich feststellte, dass „dies nicht ausschließt, dass von der DSA unterstützte Kandidat:innen taktisch auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei kandidieren“, um das Ziel zu erreichen, „eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu bilden“. [6] Dies war natürlich die offene Stalltür, durch die das prodemokratische Pferd davonlief.

In Wirklichkeit spiegelt diese offene Formel lediglich die tatsächliche Praxis der DSA wider, die sich auf Wahlen und „Machtgewinn“ konzentriert, den kapitalistischen Staat für seine wahren Herr:innen führt, indem sie Kandidat:innen als Demokrat:innen aufstellt oder, was noch üblicher ist, „progressive“ demokratische Kandidat:innen unterstützt. Im Gegensatz zur Ära vor Sanders sind fast alle Kandidat:innen, die die DSA bei Wahlen aufstellt oder unterstützt, Mitglieder der Demokratischen Partei (und nicht etwa Unabhängige, Grüne oder andere Strömungen).

Das ist nicht überraschend, denn die Orientierung auf die Demokratische Partei ist tief in der DNA der DSA verankert, und zwar seit ihrer Gründung im Jahr 1982 bis heute. Der Vater der US-Sozialdemokratie, Michael Harrington, Amerikas bekanntester Sozialist in den sechziger und siebziger Jahren, berühmt für seinen politischen Bestseller „Das andere Amerika“ von 1962, der dazu beitrug, den „Krieg gegen die Armut“ auszulösen und die Reformen der „Großen Gesellschaft“ in den sechziger Jahren beeinflusste, war in der Demokratischen Partei verwurzelt.

Er argumentierte, dass demokratische Sozialist:innen das Ziel haben sollten, der „linke Flügel des Möglichen“ zu sein und sich in der Demokratischen Partei zu beteiligen, um sie neu auszurichten, die Rechte zu besiegen und die Gewerkschaften aufzubauen, um eine sozialdemokratische Partei nach europäischem Vorbild zu schaffen. Harrington starb 1989 und mit ihm jede Aussicht auf eine Neuausrichtung. Die Demokrat:innen beschleunigten ihren Weg nach rechts, von Jimmy Carters Monetarismus und Austerität in den 1970er Jahren bis hin zu Bill Clintons offen neoliberalen, auf Recht und Ordnung ausgerichteten Regierungen mit ausgeglichenem Haushalt zwischen 1993 und 2001. Dies vervollständigte die Marginalisierung des bereits untergeordneten Flügels der Partei, der für Sozialstaat und Förderung der Unterdrückten eintrat, sich auf die Gewerkschaftsbürokratie konzentrierte und die Führer:innen der sozialen Bewegungen einbezog. Das letzte Aufbäumen der Partei war Jesse Jacksons Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokratische Partei mit der „Regenbogenkoalition“ 1984.

Spulen wir drei Jahrzehnte zurück, und der jüngste Aufstieg der DSA spiegelt sich im Aufstieg der 2010 gegründeten Zeitschrift Jacobin wider, die eine Auflage von 75.000 Exemplaren hat und deren Webseite jeden Monat von Millionen Menschen besucht wird. Sie steht in Verbindung mit den dominierenden selbsternannten „Marxist:innen“ des Bread and Roses Caucus, B&R. (Brot-und-Rosen-Caucus) [7] Die Autor:innen von Jacobin haben die Ausrichtung der DSA auf die Demokratische Partei überarbeitet und ihr mit einer neuen „Schmutziger Bruch“-Strategie einen radikalen Anstrich gegeben. Damit wird Harringtons alte Strategie, die Demokratische Patei in eine sozialdemokratische Partei „umzuwandeln“, als unrealistisch zurückgewiesen, aber auch ein sofortiger, „sauberer“ Bruch durch die Aufstellung unabhängiger sozialistischer Kandidat:innen oder das entschiedene Eintreten für eine neue Partei jetzt.

Stattdessen sieht ihre „Klassenkampfwahl“-Strategie, der „schmutzige Bruch“, vor, dass demokratisch-sozialistische Kandidat:innen Stimmen der Demokratischen Partei in den Vorwahlen im Stil von Sanders in einem „Guerillaaufstand“ übernehmen. Ziel ist es, die zugegebenermaßen großen rechtlichen Hindernisse für Wahlanfechtungen durch Dritte zu überwinden und so ins Rennen zu kommen und Wahlerfolge zu erzielen. Sie glauben, dass der Kampf für „revolutionäre Reformen“, große strukturelle Veränderungen wie „Medicare for All“ (Gesundheitsfürsorge für alle) und den „Green New Deal“ (grüner neuer Plan), sie in die Lage versetzen wird, die für den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung erforderliche Linkskoalition aufzubauen. Erst dann sollten sie sich von der Demokratischen Partei abspalten und den Weg für eine demokratische sozialistische Regierung und den „Bruch“ mit dem Kapitalismus öffnen. Dieses linke Schema, das das Traditionsritual der Demokratischen Partei rechtfertigt, ist zur Orthodoxie der neuen jungen Massenmitglieder der DSA geworden.

Für beide Flügel der DSA, von der alten „Neuausrichtungs“-Rechten (die sich heute auf den Socialist Majority Caucus [Sozialistischer Mehrheitscaucus] konzentriert) bis hin zur schmutzigen Mitte-Links-Fraktion um Brot und Rosen, wird dies mit einer Reihe falscher Argumente begründet. Erstens behaupten sie, die Demokrat:innen seien keine echte Partei, wie auf dem Parteitag bekräftigt wurde:

„ … das US-amerikanische Parteiensystem erlaubt derzeit keine traditionellen politischen Parteien, private Organisationen mit Kontrolle über ihre Mitgliederlisten und Stimmzettel, sondern besteht vielmehr aus Koalitionen von nationalen, bundesstaatlichen und lokalen Parteikomitees, angeschlossenen Organisationen, Spender:innen, Anwält:innen, Berater:innen und anderen Agent:innen.“ [8]

Ihr zweites Hauptargument ist, dass das US-amerikanische Wahlsystem manipuliert ist, dass die Republikanische und Demokratische Partei das Mehrheitswahlrecht mit staatlichen Gesetzen blockiert haben, die es Unabhängigen und Drittparteien unmöglich machen, überhaupt auf den Wahlzettel zu kommen. Diese Hindernisse sind zwar real, aber außer für kleine Propagandagruppen nicht unüberwindbar. Diese Ausrede hat sich mit dem Wachstum der DSA als immer hohler erwiesen, denn eine Partei mit einer großen Anzahl von Mitgliedern in den Städten kann diese Hindernisse umgehen. Die Frage ist nicht, welche Möglichkeiten der DSA offenstehen, sondern die prodemokratische Politik der führenden Kräfte der DSA, von Sozialistischer Mehrheit, Brot und Rosen und des neuen Akteurs, des Green New Deal Caucus.

Der schmutzige Bruch auf Nimmerwiedersehen

Die Strategie des schmutzigen Bruchs wurde entwickelt, um die Ausrichtung auf die Demokratische Partei nach der Niederlage von Sanders im Jahr 2016 zu rechtfertigen, aber nach dem AOC-Erdbeben diente sie als Deckmantel für die enorm ausgeweitete Nutzung der Demokratischen Partei, entgegen dem ultimativen erklärten Ziel der DSA, mit der Partei zu brechen, um eine Arbeiter:innenmassenpartei zu gründen, das auf ihrem Parteitag 2019 verabschiedet wurde. Selbst hier hält die DSA-Linke eine einstudierte Zweideutigkeit aufrecht, wobei der Widerspruch durch ausweichende Formeln überdeckt wird. Der Erfinder des Begriffs „schmutziger Bruch“, Eric Blanc, plädierte am Beispiel der Minnesota Farmer Labor Party in den frühen 1920er Jahren für einen zweistufigen Ansatz, bei dem die Sozialist:innen als Demokrat:innen auftreten, bis die Partei gezwungen ist, sich zu verteidigen, und die Gesetzgeber:innen der Bundesstaaten die Wahlgesetze weiter einschränken, die Aufständischen rausschmeißen und sie in eine unabhängige Existenz zwingen. Die einflussreichste (und erste) Formulierung dieser Strategie (Seth Ackermans Artikel „A Blueprint for a New Party“ (Blaupause für eine neue Partei) von 2016) besteht jedoch darauf, dass eine neue Arbeiter:innenpartei die Wahlkampflinie immer noch als „zweitrangige Frage“ betrachten würde und ihre Kandidat:innen immer noch als Demokrat:innen aufstellen könnte – kaum eine überzeugend klingende Erklärung der Unabhängigkeit! [9]

Neben dem Hin und Her der Debatten innerhalb von Jacobin und der linken Fraktionen darüber, wie, wann und wo Schritte in Richtung eines schmutzigen Bruchs unternommen werden sollten, ist der rechte Flügel in aller Stille mit der Post-AOC-Flut weitergeschwommen, hat die Wahlarbeit vorangetrieben und die Unterstützung für Demokrat:innen, ob progressiv oder nicht, auf lokaler und nationaler Ebene verteidigt. Wie der rechtsgerichtete deutsche sozialdemokratische Politiker Ignaz Auer bekanntlich feststellte, „sagt man solche Dinge nicht, man tut sie einfach“. Die Zahl der Kandidat:innen, die als Demokrat:innen in das Wahlrennen gehen oder unterstützt werden, hat sich zur Norm ausgeweitet, und es gibt nur sehr wenige Unabhängige, ebenso wie die Zahl von 150, die in ein Amt gewählt wurden – warum sollte man also das Ruder herumreißen? Nur in entscheidenden Momenten sah sich die Rechte gezwungen, sich einer Politik zu widersetzen, die sie als schädlich für ihre Ausrichtung auf die Demokratische Partei ansieht, z. B. wenn die mangelnde Rechenschaftspflicht der neu gewählten DSA- oder progressiven Demokrat:innen zu Gegenreaktionen in Anbetracht  ihrer Abstimmungen gegen die DSA-Politik geführt hat.

Dies geschah erstmals, nachdem der DSA-Kongress 2019 dafür gestimmt hatte, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 keine/n demokratischen Kandidat:innen außer Sanders zu unterstützen. Nachdem Joe Biden nominiert wurde und Trump seine Wiederwahlkandidatur einleitete, veröffentlichten Hunderte prominenter DSA-Führer:innen und lokaler Organisator:innen einen offenen Brief, in dem sie erklärten, sie würden sich dafür einsetzen, ihn zu besiegen, mit anderen Worten, sie würden sich für Biden einsetzen, und rieten anderen, dasselbe zu tun. [10]

Anfang 2020 wurden AOC und andere von der DSA unterstützte Kongressabgeordnete im Rahmen der Kampagne #ForceTheVote (Stimmen erzwingen) zu Medicare for All (Gesundheitsvorsorge für alle), einer der wichtigsten Strukturreformforderungen der DSA, unter Druck gesetzt, ihre Unterstützung für Nancy Pelosi als Sprecherin des Repräsentantenhauses zurückzuhalten, bis eine Abstimmung garantiert sei. AOC und die DSA-Führung wiesen diesen Druck in einer offiziellen Erklärung zurück und beriefen sich dabei auf technische Schwierigkeiten. [11]

Nun hat eine Welle der Empörung darüber, dass DSA-Mitglied und Kongressabgeordneter Jamaal Bowman für Militärhilfe an Israel gestimmt und an einer offiziellen, von der israelischen Regierung organisierten Reise nach Israel teilgenommen hat, entgegen der klaren DSA-Politik, die die palästinensische Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel unterstützt, eine neue Krise ausgelöst. Vorhersehbar hat der rechte Flügel eine Erklärung gegen die Forderung nach seinem Ausschluss veröffentlicht, in der er sich für „Einigkeit, nicht Einstimmigkeit“ ausspricht. Diese Rückkehr zu Harringtons Sichtweise der DSA als „linker Flügel des Möglichen“, der innerhalb der Demokratischen Partei dahinvegetiert, zeigt, dass all die radikalen Denkanstöße, Debatten und die Geschichte des Klassenkampfes in Jacobin, so wertvoll sie auch sind, kaum mehr als ein Deckmantel für das „Weiter so“ waren.

Der Parteitag 2021 war also eher eine Formalisierung der DSA-Praxis als eine dramatische Verschiebung nach rechts. Wenn überhaupt, dann verbarg der Antrag von 2019 den zunehmenden Einsatz der Demokrat:innen, und die wichtigere Veränderung liegt wohl eher in der Organisation als in der Sprache. Das Nationale Wahlkomitee stellt bereits sicher, dass die Wahlarbeit die einzige ist, die eine maßgebliche, gut ausgestattete nationale Leitung hat, und stellt damit die ohnehin schwache Demokratisch-Sozialistische Laborkommission in den Schatten (Arbeit in Arbeiter:innenorganisationen ist auch eine Priorität der DSA, wenn auch nicht als „einzigartig“ deklariert). [12] Resolution 8 fügt eine weitere Organisationsebene mit landesweiten Gremien zur Unterstützung der Wahlarbeit hinzu. In einer zersplitterten DSA, die nur auf Ortsgruppen- und Wohnviertelebene organisiert ist, wird die DSA dadurch noch stärker auf diesen opportunistischen Wahlkampf ausgerichtet (und zentralisiert).

Die Linke unterlag auf dem Parteitag auf ganzer Linie, indem sie Entschließungen oder Änderungsanträge verlor, die auf eine Stärkung oder Beschleunigung der Schritte zum „schmutzigen Bruch“ abzielten. Die prodemokratische Ausrichtung spiegelt zweifellos die Ansichten der Mehrheit der DSA-Mitglieder wider, zu denen Zehntausende von relativ neuen, unerfahrenen und oft inaktiven Mitgliedern gehören, die im Rahmen dieser Taktik angeworben wurden. Die Zahl der DSA-Mitglieder hat sich seit Beginn der Coronapandemie fast verdoppelt, aber nur 10 – 15 Prozent nehmen regelmäßig an Aktivitäten teil.

In einer neuen Wendung schließt sich die DSA mit Entschließung 14 dem Forum von São Paulo an und erklärt sich unkritisch mit dessen sozialdemokratischen und linkspopulistischen Parteien und Regierungen solidarisch, einschließlich des autoritären Regimes von Maduro in Venezuela, obwohl dies mit 35 Prozent abgelehnt wurde. Die zunehmende antiimperialistische Politik, die sich innerhalb der DSA entwickelt, ist zu begrüßen, aber dies ist ein Rückschritt und bis zu einem gewissen Grad ein Zurückrudern hinter die Entscheidung des Parteitags von 2017, die reformistische, weitgehend neoliberalisierte Zweite Internationale zu verlassen, und sagt gleichzeitig viel darüber aus, welche Art von Partei die DSA aufbauen will. Sozialistinnen und Sozialisten müssen eine bedingungslose Verteidigung dieser Parteien vor der Rechten, national und international, mit praktischer Solidarität und Unterstützung für den linken Flügel, die Arbeiter:innenklasse oder unterdrückte Gruppen verbinden, die sich ihren Kürzungen und Kompromissen an der Macht widersetzen. Sie sind die einzige Kraft, die diese Regierungen wirklich von unten verteidigen, weitere Reformen von ihnen erzwingen und schließlich über ihre Grenzen hinausgehen kann, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen, durch Massenkampf und Revolution.

Trotz des scheinbaren Konsenses zeichnet sich innerhalb der DSA eine Polarisierung ab, wie die Abstimmungen zu wichtigen Resolutionen zeigen. Die Plattform selbst wurde nur mit einer knappen Mehrheit von 43 Prozent angenommen, und 23 Prozent stimmten gegen die Resolution R8 zu den Wahlen. Neue Fraktionen und Tendenzen haben sich auf dem linken Flügel der DSA ausgebreitet, am dramatischsten mit dem Beitritt der Sozialistischen Alternative (SAlt), der größten verbliebenen Organisation, die sich in den USA als trotzkistisch bezeichnet, die einen Teil ihrer Mitglieder entsandt hat, darunter das prominente Mitglied und Abgeordnete des Stadtrats von Seattle Kshama Sawant, die 2014 gegen die Demokrat:innen gewählt wurde. Der dominierende Brot-und-Rosen-Caucus, der sich in der Mitte der DSA befindet, spaltete sich in seiner Unterstützung für Änderungsanträge zur Beibehaltung der 2019 eingegangenen Verpflichtung, eine unabhängige Partei zu gründen, mit 45 Prozent dagegen, was die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung zeigt, die die B&R-Linke befreien würde.

Die große Zahl der oppositionellen Stimmen zeigt das Potenzial für eine Organisierung, die sich von der Demokratischen Partei löst. Die Teilnahme an Streiks und Kämpfen in den kommenden zwei Jahren ist neben der politischen Debatte von entscheidender Bedeutung, um die vielen neuen Mitglieder als Aktivist:innen und ihr Verständnis für sozialistische Strategien zu entwickeln. Die Frage bleibt, ob ein bedeutender Teil der DSA-Linken seine eigene Verwirrung über den schmutzigen Bruch aufklären, ihn als „Taktik“ zurückweisen und sich zusammenschließen kann, um für einen sauberen Bruch mit den Demokrat:innen und eine neue Arbeiter:innenpartei entschlossen aufzutreten.

Marxismus und die DSA

Neben der Position zu den Wahlen und der Demokratischen Partei stellt sich die Frage nach der sozialistischen Strategie der DSA, die mit ihrem Anspruch verbunden ist, die Ideen von Marx zu vertreten. Es bleibt die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll: durch Massenkämpfe der Arbeiter:innenklasse, die durch eine Revolution eine alternative, demokratische Macht zum kapitalistischen Staat schaffen, oder dadurch, dass eine sozialistische Mehrheit in die Regierung gewählt wird und über Jahre oder Jahrzehnte hinweg der Staat und der Kapitalismus in den Sozialismus umgewandelt werden, friedlich, wie sie hoffen. Der springende Punkt ist, ob die DSA für die Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse und ihre politische Unabhängigkeit steht, das Herzstück der Marx’schen Politik, oder für eine Version des Sozialismus „von oben“, die in Wirklichkeit den sozialistischen Übergang blockiert und es dem Kapitalismus ermöglicht fortzufahren oder, schlimmer noch, sich an der Bewegung zu rächen.

Der linke Flügel der DSA um die Zeitschrift Jacobin würde empört gegen die Bezeichnung „Sozialismus von oben“ protestieren. Doch das gesamte Meinungsspektrum ist sich über diese grundlegenden Punkte einig. Der der Sozialdemokratie nahestehende Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara legt seine Version des demokratischen sozialistischen Schemas oder der Strategie in seinem 2019 erschienenen Buch The Socialist Manifesto (Das sozialistische Manifest) vor, das weithin als die wichtigste Fibel für demokratisch-sozialistisches Denken gilt:

„Demokratische Sozialist:innen müssen sich entscheidende Mehrheiten in den Parlamenten sichern und die Vorherrschaft in den Gewerkschaften gewinnen. Dann müssen unsere Organisationen bereit sein, unsere soziale Macht in Form von Massenmobilisierungen und politischen Streiks einzusetzen, um der strukturellen Macht des Kapitals entgegenzuwirken und sicherzustellen, dass unsere Führer:innen die Konfrontation der Anpassung an die Eliten vorziehen. Nur so können wir nicht nur unsere Reformen dauerhaft machen, sondern mit dem Kapitalismus ganz brechen und eine Welt schaffen, in der der Mensch vor dem Profit steht.“ [13]

In dem radikaleren, populären Jacobin-Buch über die DSA-Strategie, Bigger than Bernie (Größer als Bernie Sanders), sehen die Autor:innen eine gewählte demokratische sozialistische Regierung voraus, „die die Staatsmacht ausübt, um den Weg für diese Bewegungen freizumachen, während sie sich ihren Klassenfeind:innen stellen“, obwohl sie zugeben, dass es kein „Kinderspiel sein wird, den Kapitalismus zu beseitigen, selbst mit unseren Leuten an der Macht“! [14] Eric Blanc, der in Bigger than Bernie zitiert wird und der radikalste der B&R/Jacobin-Führer ist, erkennt an:

„Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie einen Generalstreik und eine Revolution erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“ [15]

Wie alle demokratischen Sozialist:innen lehnt er jedoch jede Strategie der Doppelherrschaft und des Aufstands zugunsten einer gewählten demokratischen sozialistischen Regierung, die den sozialistischen Übergang überwacht, entschieden ab. Jede Strategie, die Doppelherrschaft und Aufstand ablehnt, in welcher Form auch immer, d. h. die Machtergreifung gegen den alten Staat, ist ein Bruch mit Marx und der Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse.

Der Begriff „Doppelherrschaft“ wurde erstmals von Lenin verwendet, um die Situation in Russland nach der ersten demokratischen Revolution im Februar 1917 zu beschreiben, als Arbeiter:innenräte (oder, auf Russisch, Arbeiter:innensowjets), unterstützt durch die Waffen revolutionärer Soldat:innen und Betriebs- und Parteimilizen, neben einer bürgerlichen Regierung existierten. Die Bolschewiki führten den erbitterten Kampf gegen die Unterdrückung dieser Räte, die die bürgerlichen Regierung schließlich in der Oktoberrevolution stürzten, und setzten eine Räteregierung ein, um die Revolution zu vertiefen, zu verteidigen und im Ausland zu verbreiten. Sie verstanden ihre Revolution als die erste von vielen in ganz Europa, die gemeinsam den Weg zum Ziel des Sozialismus, ihrem Ziel des Sozialismus, sichern würden. Andere revolutionäre Bewegungen, vor allem die in Deutschland, wurden jedoch besiegt und ließen Sowjetrussland isoliert zurück. Obwohl es einen schrecklichen Bürger:innenkrieg überlebte, führte diese Isolation dazu, dass sich innerhalb des Parteistaats eine mächtige Bürokratie entwickelte, die Jahre später, 1928, unter Stalin die Macht übernahm. [16]

Doppelherrschaft ist ein Merkmal jeder größeren Herausforderung des Kapitalismus, von Russland 1917 über Spanien in den dreißiger Jahren bis zu Chile in den siebziger Jahren. Sowjetähnliche Einrichtungen entstanden in Krisenzeiten aus verschärften Klassenkämpfen, die um Kontrolle über die Produktion rangen und schließlich die Macht des kapitalistischen Staates herausforderten. Das bedeutet in erster Linie, die Bewegung gegen Polizei und faschistische Banden zu verteidigen und schließlich die Armee zu spalten, um einen Teil auf ihre Seite zu bringen. Nur eine mächtige Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse hat die soziale Macht und vor allem die politische Autorität, um einen solchen Appell auszusprechen, die Soldat:innen zu gewinnen und den Einsatz der Armee durch die Kapitalist:innen zu verhindern, wie neuere Beispiele aus Argentinien, Bolivien und Venezuela aus den frühen 2000er Jahren zeigen.

Nur wenn solche Bewegungen Arbeiter:innenräte hervorbringen, können sie die Macht als „Kommune“staat übernehmen, der auf Arbeiter:innendemokratie und bewaffneter Macht beruht. Marx nannte dies die Diktatur des Proletariats, weil die Arbeiter:innenklasse durch ihre demokratischen Räte die herrschende Klasse sein würde, die die alten Ausbeuter:innenklassen und ihre Konterrevolution in Schach hält, bis sie im sozialistischen Übergang entscheidend absterben.

Die revolutionäre Dritte Internationale einte die Vorstellung, es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass eine echte Arbeiter:innenregierung, die sich der Abschaffung des Kapitalismus verschrieben hat, durch Wahlen an die Macht kommen kann. Sie könne sich aber nur dann halten und mit dem Kapitalismus brechen, wenn sie sich auf Arbeiter:innenräte und Milizen stützt, wenn sie eine andere, die Doppelmacht entwickelt, die letztlich an die Stelle von Polizei und Militär tritt. [17]

Die erste Frage, die sich den „Jacobins“ stellt, lautet, wie sie die Entwicklung der Doppelherrschaft in den radikalen Massenkämpfen, die ihrer Meinung nach notwendig sind, verhindern würden. Durch Demobilisierung der Arbeiter:innenklasse über die Gewerkschaftsbürokratie? Oder durch die gewalttätigeren Methoden der Polizei, wie es die deutsche Sozialdemokratie in der Revolution von 1918 tat? Welche andere Kraft könnte sie aufhalten? Noch grundlegender ist, dass, wenn Arbeiter:innenräte ausgeschlossen werden, nur eine Macht übrig bleibt: die Regierung der demokratischen Sozialist:innen, und diese ist die Agentur für den Aufbau des Sozialismus. Die Ablehnung der Doppelherrschaft bedeutet also nicht die Ablehnung eines revolutionären Weges zum Sozialismus zugunsten eines demokratisch-sozialistischen Weges. Es bedeutet, dass nicht die Arbeiter:innenklasse durch ihre eigenen Organisationen, sondern die demokratisch-sozialistische Regierung die Trägerin der Emanzipation ist. Dies ist eindeutig eine Version des „Sozialismus von oben“, und alles Gerede über parallele Bewegungen und Volksinstitutionen dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass Erstere in diesem Schema keine Macht haben.

Eine solche Regierung würde nämlich selbst mit dem Rest des Staatsapparats konfrontiert werden, der immer noch verfassungstreu ist und zweifellos regierungsfeindliche Mobilisierungen fördert. Unabhängig davon, wie links die Führer:innen der Regierung auch sein mögen, ist dies nicht ein fataler Fehler in dem Modell? Sicherlich lassen die Erfahrungen von Sanders, AOC und anderen wie Bowman einen Übergang zum Sozialismus mit ihnen am Ruder unwahrscheinlich erscheinen. Das linke DSA-Schema für eine gewählte Regierung ist ein Rezept für das Scheitern und in Wirklichkeit ein Bruch mit dem Marxismus, zu dem sich Sunkara, Blanc, Jacobin und die DSA selbst alle bekennen.

Marx und Engels vertraten „von Anfang an“ den Grundsatz, dass „die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein“ muss. (18) Zweitens hielten sie die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse für grundlegend, um sie zu einer „herrschaftsfähigen“ Klasse zu machen, die über die Organisation, die Erfahrung und das Bewusstsein verfügt, die notwendig sind, um die Macht durch Revolution zu erringen, ihren Arbeiter:innenstaat und ihre Regierung zu verteidigen und den Sozialismus aufzubauen. Dies war die wichtigste Lehre, die sie unmittelbar aus der Niederlage der Revolution von 1848 zogen. [19] Statt der demokratisch-sozialistischen Strategie der „Umwandlung“ des Staates in einen sozialistischen, schrieb Marx, dass der kapitalistische Staat „zerschlagen“ werden müsse. Wie dies genau geschehen konnte, zeigte 1871 die Pariser Kommune, deren Herrschaft durch abrufbare Delegierte Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete. Dieses Konzept war so wichtig, dass Marx und Engels sagten, es sei die einzige größere Änderung, die sie am Kommunistischen Manifest von 1848 vorgenommen hätten, wenn es nicht bereits ein historisches Dokument gewesen wäre, das sie nicht ändern durften. [20]

Insbesondere betonten sie zustimmend, dass die Kommune „kein parlamentarisches, sondern ein arbeitendes Organ“ sei, das legislative und exekutive Funktionen verbinde, das auf abrufbaren Delegierten auf der Grundlage des Durchschnittslohns der Arbeiter:innen beruhe, die aus den Arbeiter:innenbezirken und Basisorganisationen gewählt würden, was die Erfahrungen der Sowjets in Russland vorwegnahm. Und natürlich kam die Pariser Kommune durch einen erfolgreichen Aufstand der plebejischen Nationalgarde gegen die offizielle Armee an die Macht, was die DSA-Mitglieder vergessen, wenn sie versuchen, sie der bolschewistischen Erfahrung gegenüberzustellen.

Die DSA und die Jacobin-Anhänger:innen erheben keine dieser Maßnahmen zur Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Sie klammern sich an das Schema einer normal gewählten Regierung, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt und den Sozialismus im Laufe vieler Legislaturperioden und sogar Jahrzehnte einführt, ohne auch nur einen Grad der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse zu erreichen, der einer Doppelherrschaft gleichkäme.

Marx und die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse

Als Marx gegen den Verrat der „kleinbürgerlichen Demokrat:innen“ in den Revolutionen von 1848 in Europa argumentierte, wies er sogar ausdrücklich das Argument des „kleineren Übels“ zurück, das in der einen oder anderen Form vorgebracht wird, um die Wahl der Demokratischen Partei heute in den USA zu rechtfertigen, und demontierte jedes seiner Argumente:

„Selbst dort, wo es keine Aussicht auf eine Wahl gibt, müssen die Arbeiter:innen ihre eigenen Kandidat:innen aufstellen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, um ihre eigene Stärke zu messen und um ihre revolutionäre Position und ihren Parteistandpunkt in der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Sie dürfen sich nicht von den leeren Phrasen der Demokrat;innen in die Irre führen lassen, die behaupten werden, dass die Arbeiterkandidat:innen die demokratische Partei spalten und den reaktionären Kräften die Chance auf einen Sieg bieten würden. All dieses Gerede bedeutet im Endeffekt, dass das Proletariat betrogen werden soll. Der Fortschritt, den die proletarische Partei durch eine solche unabhängige Arbeit machen wird, ist unendlich wichtiger als die Nachteile, die sich aus der Anwesenheit einiger weniger Reaktionär:innen in der Vertretungskörperschaft ergeben.“ [21]

Bei allen schrecklichen Folgen des Trump-Siegs 2016 erwies sich diese Einschätzung von Vorteil und Nachteil als richtig, was durch den Sieg Bidens unterstrichen wurde, dessen magere Sozialmaßnahmen, so willkommen sie auch waren, bevor sie vom demokratischen Kongress ausgeweidet wurden, einfach in eine Kluft der sozialen Not gefallen wären, die sich in den letzten Jahrzehnten in den neoliberalen USA entwickelt hat. Marx und Engels waren unerbittlich gegen britische Gewerkschaftsführer:innen, die als Liberale auftraten, entgegen der lächerlichen Behauptung von Blanc, dass dies die Kräfte für die Gründung der Labour Party stärkte. Sie tat dies nur negativ, als Ablehnung und Reaktion auf diesen groben Opportunismus, der die Entwicklung zu einer Arbeiter:innenpartei jahrzehntelang blockierte. Die Sozialistische Partei von Eugene Debs, auf die sich Sanders und die DSA berufen, sowie Karl Kautsky, der marxistische Theoretiker der Zweiten Internationale, der in DSA-Kreisen immer beliebter wird, bestanden unbeirrt auf politischer Unabhängigkeit von den Parteien der Bourgeoisie und waren keines Sinnes, die Demokrat:innen zu unterstützen, geschweige denn als solche aufzutreten! [22]

All diese Zitate und Positionen sind der DSA-Linken wohlbekannt, ebenso wie die Formel, die den Opportunismus als das Ausnutzen kurzfristiger Vorteile auf Kosten von Prinzipien definiert. Das gilt auch für die nichtjakobinische Linke in der SAlt, den Reform und Revolution Caucus, die Tempest (Sturm)-Webseite oder marx21, die sich ihr anschließen: Keine von ihnen war in der Lage, der Anziehungskraft in Richtung Demokratische Partei zu widerstehen, die mit Sanders begann. Alle diese „revolutionären“ Alternativen zum B&R-Caucus akzeptieren, wenn auch widerwillig, die „Taktik“ der Wahlkampflinie der Demokratischen Partei, zumindest für den Moment. Ja, es ist eine Taktik, eine opportunistische Taktik. Die Taktik sollte sich aus der Strategie ergeben, und die Priorität der sozialistischen Linken in den USA sollte darin bestehen, sich mit allen Mitteln des Klassenkampfes, einschließlich Wahlen, für eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu engagieren. Das hindert Sozialist:innen nicht daran, bei Wahlen anzutreten, wo dies sinnvoll ist, aber es bedeutet, sich von den Demokrat:innen zu lösen und die Kandidatur von Arbeiter:innen in Groß- und Industriestädten mit der Agitation für eine neue Partei zu verbinden, die sich an die Linke in den Gewerkschaften, die radikalen Flügel der sozialen Bewegungen und Jugendorganisationen wie die DSA-Jugendverbände richtet.

In diesem Sinne hat der von Schwarzen angeführte Aufstand gegen die Polizei im Jahr 2020 mehr Reformen angestoßen und mehr dazu beigetragen, die Legitimität und den Handlungsspielraum der Polizei zu untergraben, als jede noch so große Anzahl von DSA-unterstützten Progressiven oder Strukturreformkommissionen, die sich mit Medicare for All oder dem Green New Deal beschäftigen. Lenin unterstrich die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für die Entwicklung des Klassenbewusstseins mit Worten, die speziell für dieses historische Ereignis hätten geschrieben werden können, dessen Folgen noch nicht vollständig abzusehen sind:

„Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals von ihrem selbstständigen politischen und vor allem revolutionären Kampf getrennt werden. Nur der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse. Nur der Kampf offenbart ihr das Ausmaß ihrer eigenen Macht, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeiten, klärt ihren Verstand, schmiedet ihren Willen.“ [23]

Der Beweis dafür, dass das Eintreten für die Demokratische Partei auf deren Wahlzetteln nicht nur eine Taktik, sondern eine Strategie ist, wird durch die Entwicklung der Intervention der DSA bei den Demokrat:innen selbst erbracht. Anstelle des alten sozialdemokratischen Slogans „keinen Mann, keinen Pfennig“ für dieses verrottete System, folgen DSA-Politiker:innen der Parteidisziplin, wenn sie für den Haushalt stimmen oder sich enthalten. DSA-Mitglieder im Amt haben sogar (direkt gegen die DSA-Politik) als Teil der Demokratischen Partei für Polizeibudgets gestimmt, während drei DSA-Kongressabgeordnete (AOC, Jamaal Bowman und Rashida Tlaib) sich eher der Stimme enthielten, als gegen die Erhöhung der Mittel für die Kapitolspolizei im Zuge des Trump-Putsches zu stimmen. Diese Kräfte werden hauptsächlich gegen Proteste der Linken, der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten eingesetzt. [24] AOC lehnt wie die anderen DSA-Politiker:innen eine Stimme für rechte Demokrat:innen nicht ab und rief beispielsweise 2018 dazu auf, sich „hinter alle  Kandidat:innen der Demokratischen Partei zu stellen“, einschließlich Andrew Cuomo, dem rechtsgerichteten Ex-Gouverneur von New York. [25] Das sind keine Sozialist:innen im Kongress, sondern linke Demokrat:innen, die zum „progressiven“ Flügel gehören. Sie haben nicht die Absicht, sich von der Demokratischen Partei zu trennen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen. Im März 2021 erreichte die Ausrichtung auf die Demokratische Partei eine weitere Stufe, als fünf von der DSA unterstützte Kandidat:innen, vier davon Mitglieder, tatsächlich die Führung der DP von Nevada gewannen und die Partei nicht mehr nur „benutzten“, sondern leiteten! Die Schlussfolgerung ist klar: Die Demokratische Partei gehört nicht zum Taktikarsenal der DSA, die DSA ist der linke Flügel dieser Partei!

Das fast völlige Fehlen von Mechanismen oder einer Debatte über die Rechenschaftspflicht, selbst in der DSA-Linken, ist der konkreteste Beweis für das oberflächliche Engagement für eine weit entfernte sozialistische Transformation zugunsten von kurzfristigem Erfolg und Wachstum. In der offiziellen Wahlstrategie der DSA, die sich über vierzehn detaillierte Seiten erstreckt, wird die Frage der Rechenschaftspflicht für ihre Kandidat:innen nicht einmal erwähnt, ebenso wenig wie in der Resolution 8 des Konvents, während die Änderungsanträge, die zumindest versuchten, den Kandidat:innen einige Kriterien aufzuerlegen, abgelehnt wurden. [26] Jacobin seinerseits enthält nur wenige Artikel, wenn überhaupt, die sich mit der Frage der Rechenschaftspflicht befassen. Bigger than Bernie, das sich als großes Buch über die Strategie der demokratischen Sozialist:innen darauf konzentrierte, den Erfolg des DSA-Wahlkampfs und der Unterstützung für die Demokratische Partei zu rechtfertigen (und zu übertreiben), ist an mehreren Stellen gezwungen, das Thema anzusprechen. Doch am Ende kann es nur die lahme Schlussfolgerung ziehen, dass die DSA „keine vollständig durchdachte Methode zur Disziplinierung ihrer Wahlkandidat:innen hat“. Ihre unzureichende Lösung besteht darin, mehr Kader zu „prägen“ und sie als Kandidat:innen aufzustellen, „die organisch aus der DSA selbst hervorgegangen sind … echte DSA-Kandidat:innen, die vom politischen Programm der Organisation durchdrungen sind und sich als engagierte sozialistische Organisator:innen erwiesen haben“. (27)

Doch die Geschichte ist voll von Linken, die unter den undemokratischen Strukturen der Gewerkschaften zu Bürokrat:innen wurden, oder von reformorientierten Politiker:innen, die im Amt dem Druck durch übertrieben komplizierte Beschränkungen und Vorschriften, Unternehmenslobbyist:innen und anderen mächtigen Interessen erlagen. AOC selbst hat diesen enormen Druck eingeräumt, und er erklärt viele ihrer Zugeständnisse. Nur Sozialist:innen, für die Wahlen eine Taktik sind, nicht der Königsweg zu sozialistischem Wandel, und die sich der Parteidisziplin unterordnen, könnten einem solchen Druck standhalten oder zumindest auf Linie gehalten werden.

Das „Big-Tent“-(Großes Zelt)-Parteimodell der DSA ist in Verbindung mit dem Wahlsystem nur ein Rezept dafür, dass die Amtsinhaber:innen ein nicht rechenschaftspflichtiger, aber immer mächtigerer Kern über der Demokratie der Partei bleiben. Der Pluralismus, der gegen die vermeintlich „monolithische“ revolutionäre Linke gefeiert wird, ist letztlich nur für sie. [28] Der heuchlerische, in sich widersprüchliche Ruf der Rechten nach „Einheit, nicht Einstimmigkeit“ in der Bowman-Kontroverse unterstreicht dies: Sein Recht, seine eigene politische Linie zu bestimmen, bricht in Wirklichkeit die Einheit mit den Mitgliedern und ihren demokratischen Entscheidungen. Dieser Stab von Politiker:innen und der Wahlapparat der DSA werden auf Kosten der Demokratie, der Radikalität und letztendlich der Stabilität der DSA wachsen. Die Linke tut gut daran, einen Blick auf die griechische Linkspartei Syriza zu werfen, die ebenfalls auf Wahlen fokussiert ist, und wie sie sich parallel zu ihren Wahlerfolgen in Richtung Bürokratie entwickelt hat, wobei die neuen Strukturen die Linke zunehmend marginalisieren. [29]

Dieser Flügel der Partei will eine DSA, die sich stark von den Mitgliedern unterscheidet, die in vielen Städten den Wunsch geäußert haben, über den Wahlkampf hinauszugehen und sich im Klassenkampf zu engagieren. Wenn er Erfolg hat, würde das alle Probleme der alten Sozialistischen Partei von Debs wieder aufleben lassen, in der die 1.000 gewählten Mandatsträger:innen rechts von den Mitgliedern standen, in der Praxis reformistisch waren und oft andere bürgerliche Vorurteile wie Rassismus an den Tag legten und sich jeder echten Kontrolle entzogen, und letztlich die Linke besiegten und vertrieben. Doch diese Lektion in Sachen Rechenschaftspflicht wird nicht nur von der Rechten, sondern auch Linken in der DSA ignoriert. [30] Stattdessen ist eine Übertreibung des Radikalismus der linken Demokrat:innen, ob DSA-Mitglieder oder nicht, zwangsläufig Teil der DSA-Orientierung und notwendig, um sie zu rechtfertigen. Dies ist auch ein schwerwiegender Fehler in der gesamten Arbeit von Jacobin.

Die Kontroverse, die über Jamaal Bowman ausgebrochen ist, ist nicht die erste, sondern nur die eklatanteste Zerrüttung der DSA-Politik im Amt. DSA-Mitglieder und -Aktivist:innen müssen auf seinen Ausschluss drängen, als ersten Schritt zur Neuausrichtung der Partei weg von den Demokrat:innen und zum Aufbau von Verantwortlichkeit für Führungskräfte und gewählte Amtsträger:innen, ohne die es keine sinnvolle Demokratie gibt.

Die Linke debattiert über den schmutzigen Bruch

Die weit verbreitete Begeisterung für die Idee des „schmutzigen Bruchs“ hat dazu geführt, dass sie unter den jungen radikalen Aktivist:innen der DSA zu einer neuen Orthodoxie geworden ist, die durch die Wahlerfolge nur noch gefestigt wurde. Die DSA-Linke ist gegen diesen Druck nicht immun, ein Teil bewegt sich nach rechts mit einer eher unschlüssigen Annäherung an die Frage der „Neuausrichtung“, während die Fraktionen der „revolutionären“ Linken die Taktik des schmutzigen Bruchs prinzipiell akzeptiert oder es vermieden haben, sie im Fall von SAlt direkt anzugreifen, und lediglich darüber debattiert haben, wie man sich von ihr entfernen kann.

Die wichtigste linke Fraktion, Brot und Rosen, lehnt eine Neuausrichtung der Demokrat:innen ab und steht für den endgültigen Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter:innen. In einer Diskussion über die Unterstützung eines Änderungsantrags zu Resolution 8, in dem die Notwendigkeit eines schmutzigen Bruchs bekräftigt wird, spaltete sich die Fraktion jedoch mit 55 % Ja- und 45 % Nein-Stimmen. Aufgrund der knappen Abstimmung beschloss die Fraktionsführung undemokratisch, den Änderungsantrag nicht zu unterstützen. Eric Blanc, das prominente DSA- und Brot-und-Rosen-Mitglied, das die radikale „Schmutziger Bruch“-Linie geprägt hat, argumentierte nun gegen die Durchsetzung dieser Linie als schädliche „Propaganda“. Er übertrieb die Bilanz von Sanders und AOC und behauptete, sie würden etwas Neues tun, weil sie versuchten, eine „unabhängige sozialistische Organisation und ein unabhängiges Profil“ aufzubauen. In Wirklichkeit tun sie nur sehr wenig, um die DSA aufzubauen, aber er argumentierte, dass es für das „demokratische Establishment eine wichtige Propagandawaffe gegen uns bedeutet“, wenn man die Organisation für den schmutzigen Bruch in den Vordergrund stellt, indem man als Unabhängige kandidiert oder sogar offen als Anti-Demokrat:innen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei erscheint, als ob sie nicht schon alle von der DSA unterstützten aufständischen Kandidat:innen verleumden und versuchen würden, sie zu besiegen.

Es kommt noch schlimmer. In seinem ursprünglichen Artikel aus dem Jahr 2017, in dem er die Idee des schmutzigen Bruchs vorstellte, wies er Versuche, die Demokratische Partei neu auszurichten, als „Illusion“ zurück, aber jetzt hat er dies umgekehrt und stellt jede Annahme in Frage, dass die „Demokratische Partei keine Arbeiter:innenpartei sein wird“:

„Wir klingen wie Dogmatiker:innen, wenn wir die Möglichkeit ausschließen, dass Linke den nationalen Parteigipfel der Demokrat:innen durch eine feindliche Übernahme mittels klassenkämpferischer Vorwahlen erobern, die sowohl die Präsident:innenschaft als auch die Führung des Kongresses gewinnen. Bisher hat noch niemand überzeugend dargelegt, warum dieser Ansatz garantiert scheitern wird.“

Unterstützt wurde dies durch verzerrte Argumente, dass frühere Versuche in den 1930er und 1960er Jahren gescheitert seien, weil sie „auf die Arbeit innerhalb der offiziellen demokratischen Strukturen angewiesen waren“. Doch so verhängnisvoll es auch war, die Unterstützung der Kommunistischen Partei für Roosevelt in den 1930er Jahren war kaum eine Arbeit innerhalb der Demokrat:innen. Die Katastrophe bestand darin, dass sie statt für den Zusammenschluss der lokalen Arbeiter:innenparteien zu einer neuen, nationalen Partei, die die Linke und die Arbeiter:innenklasse auf eine neue Ebene gebracht hätte, zu kämpfen, diese Bewegung deckelte und in ihren politischen Verfall förderte. [31]

Weitere Brüche in Brot und Rosen haben sich abgezeichnet. Die Fraktion Reform und Revolution, eine frühere Abspaltung von SAlt, die sich als revolutionär-marxistischer Flügel der DSA ausgibt, organisierte im März 2021 eine Diskussion über den schmutzigen Bruch mit Redner:innen aus den wichtigsten linken Fraktionen. Darunter waren Referent:innen aus der gesamten Linken: Jeremy Gong, Co-Vorsitzender von Brot und Rosen und Mitglied der Arbeiter:innenpartei-Linken, die „revolutionären“ Marxist:innen der Tempest-Webseite (Ex-ISO) und Reform und Revolution selbst sowie Aktivist:innen der größten lokalen linken Fraktionen Emerge (Empor, New York Stadt) und Red Star (Roter Stern, San Francisco). [32) Alle waren sich einig, dass es vorerst keine Alternative zur Wahl der Demokrat:innen gab, aber die Diskussion drehte sich darum, wie man den schmutzigen Bruch für eine neue Arbeiter:innenpartei vorantreiben könnte.

Mit erfrischender Offenheit nahm Gong die üblichen Begründungen zum Einsatz für die Demokratische Partei auseinander. Er wies das (in Resolution 8 wiederholte) Argument zurück, dass die Demokrat:innen nicht wirklich eine Partei sind, sondern eine diffuse Koalition von Kräften mit einer leeren, neutralen Wahlliste, die es auszufüllen gilt, das Feigenblatt für die Taktik:

„Sie sieht aus wie eine Partei, sie redet wie eine Partei, die Leute denken, dass sie eine Partei ist, sie muss eine Partei im US-amerikanischen Kontext sein … in unserer Zeit ist die Demokratische Partei eine Partei, und ich denke, eine Wahlliste ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was eine Partei zu sein hat … [und das ist der Grund, warum] es wichtig ist, dass wir uns formell trennen und eine neue Partei gründen.“ [33]

Einen weiteren Mythos spießte er auf, indem er argumentierte, dass die gesetzlichen Wahlrechtsbeschränkungen in den Bundesstaaten nicht so entscheidend seien. In Kalifornien, „größer als Spanien“, gebe es keine, außer bei den Präsident:innenschaftswahlen, und in New York City sei „der Ortsverband stark genug, mit 10.000 DSA-Mitgliedern und der fortschrittlichsten Organisation und Erfahrung, um diese Hindernisse zu überwinden und unabhängige Kandidat:innen aufzustellen“. Andere merkten an, dass ein Kandidat auf der von der DSA unterstützten Liste der in den Stadtrat von Chicago gewählten Delegierten ein Unabhängiger war – was wäre, wenn alle sieben unabhängig gewesen wären? Der Vorsitzende von Labor Notes, Kim Moody, wies in seinem 2018 erschienenen Buch On New Terrain (Auf neuem Gebiet) (geschrieben vor dem Sieg von AOC) darauf hin, dass gewerkschaftlich unterstützte Kandidat:innen in „mittelgroßen industriellen oder ehemals industriellen Stadtzentren mit einer großen Arbeiter:innenbevölkerung“, in denen die Demokrat:innen so hegemonial sind, dass ihre übliche Erpressung, die Republikaner:innen ins Rennen zu schicken, nicht funktioniert, allmählich Fuß fassen.“ [34]

Gong wies darauf hin, dass die Aufstellung unabhängiger Kandidat:innen im Grunde „ein politisches Problem“ sei:

„Ich würde sagen, es wird viel darüber geredet, dass es so schwer ist, eine unabhängige Wahlliste zu haben. Die Gesetze sind schwierig, aber ich denke, das ist ein Ablenkungsmanöver. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. Man muss nur den Willen haben, es zu tun. Und im Moment ist dieser Wille bei einer sehr kleinen Anzahl von Leuten vorhanden, das ist das eigentliche Problem … Ich würde einen analogen Punkt anbringen, wie wir uns zu DSA verhalten, es gibt ein geringes Maß an Kampf und Erfahrung für DSA-Mitglieder in vielen dieser Fragen.“

Er argumentierte, dass die Bedingungen für eine unabhängige Partei heute nicht gegeben sind, da das Niveau des Klassenkampfes im Gegensatz zu den 1930er und 1940er Jahren niedrig ist, aber trotzdem „konnten sie damals keine Arbeiter:innenpartei gewinnen“. Er nimmt die Führungskrise in der Arbeiter:innenbewegung mit dem Verrat der KP an dieser Bewegung nicht zur Kenntnis, aber die gleiche Frage stellt sich heute, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus: Wie blockiert die Linke die Entwicklung einer solchen Bewegung? Und ist der Klassenkampf wirklich so niedrig? Zeigen die explosiven Kämpfe von 2018 und 2020 nicht, dass eine DSA, die sich bei jedem Streik, jeder Protestbewegung und jedem Aufstand für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse einsetzt, Fortschritte machen könnte, was das Bewusstsein, die Organisation und, ja, die Kandidat:innen angeht?

Die Konzentration von Mitgliedern und Erfahrungen in den großen städtischen Zentren, New York, Chicago und einigen anderen, würde zumindest den Versuch erlauben, unabhängige gewerkschaftliche oder sozialistische Kandidat:innen aufzustellen, auch wenn dies in kleineren Gebieten schwierig wäre. Gong wies auf diese hin und erklärte: „Einige müssen führen“. In seinem Artikel forderte Eric Blanc die Linke auf, es irgendwo zu versuchen. Dies würde eine starke linke Organisation in der DSA voraussetzen, aber selbst dann sollte die Linke nicht einfach „alternativ“ experimentieren, während sie den Rest der DSA ignoriert, wenn dieser damit fortfährt, demokratische Kandidat:innen zu unterstützen, sondern sie sollte dies ablehnen.

Ironischerweise halten die zentristischen Sozialist:innen, die in Tempest und Brot und Rosen in die DSA eingetreten sind, an der Mehrheitslinie fest, obwohl aus ihren Argumenten klar hervorgeht, dass sie nicht wirklich dafür sind, auf der demokratischen Liste zu stehen, während Blanc den „schmutzigen Bruch“ abstellen oder sogar aufgeben will und die DSA sich in der Praxis davon weg entwickelt. Anstatt den Brot-und-Rosen-Linken entgegenzukommen, die immer noch an der DSA festhalten, und sich im Kreis zu drehen, wie und wann man mit der Demokratischen Partei brechen oder sich darauf vorbereiten sollte, sollte die marxistische Linke die Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der DSA und der Bilanz ihrer Mitglieder in den Ämtern ziehen und jetzt für den „sauberen Bruch“ agitieren, indem sie sich für eine neue Arbeiter:innenpartei einsetzt.

In den Groß- und Industriestädten könnten die Fraktionen aller Sozialist:innen, die für den Bruch sind, für unabhängige Arbeiterkandidat:innen werben und sich kollektiv weigern, Kandidat:innen zu wählen, die auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei stehen oder von ihnen unterstützt werden. Wenn die Rechte sich 2020 gegen die „Niemand außer Bernie“-Linie auflehnen kann, warum kann die Linke dann nicht offen die Unterstützung für demokratische Kandidat:innen ablehnen? Sie sollten Druck auf Brot-und-Rosen-Linke wie Gong (mit 45 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder vor dem Kongress) ausüben, um den Caucus dazu zu bringen, ihn zu unterstützen oder sich von ihm abzuspalten. Dies erfordert nicht, dass irgendeine der Tendenzen oder Fraktionen, seien sie „revolutionär“ oder demokratisch-sozialistisch, ihre eigene Organisation oder ihre Programme aufgibt, sondern dass sie die Einheitsfront nutzen, um die Forderung nach einer neuen Partei innerhalb und außerhalb der DSA voranzutreiben. In der Zwischenzeit könnten sie auch darauf drängen, dass die Sektionen Streiks unterstützen und Aktionskomitees für soziale Kämpfe aufbauen, um sie zu demokratisieren, ihr Wachstum zu fördern und Siege zu erringen, während sie gleichzeitig über die Politik debattieren, die die DSA mit kämpferischen Klassenkampftaktiken in sie einbringen möchte.

Wohin weiter?

In England folgte auf die stürmische Zeit des Chartismus der Arbeiter:innenklasse (1838 – 48) und die Beteiligung der Gewerkschaften an der Seite von Marx in der Ersten Internationale (1864 – 72) eine lange Periode der politischen Unterordnung der Arbeiter:innenklasse unter Gladstones Liberale Partei. Ihre materielle Grundlage bildete die Vorherrschaft des britischen Kapitalismus in der Weltwirtschaft und die Ausdehnung seines Kolonialreichs. In dieser Liberal-Labour-Periode saßen viele Gewerkschaftsführer:innen als liberale Abgeordnete im Unterhaus.

In den 1880er Jahren stellte Engels fest, dass der Verlust der Vorherrschaft des imperialen Britanniens im Welthandel zu Angriffen auf die eigenen Arbeiter:innen führen würde, dessen schwindende Position bedeuten würde, dass es „wieder Sozialismus in England geben wird“. [35] Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch ihren demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden, während sie wirtschaftlich seit 2008 im Zentrum der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus stehen. Beide Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und eine historische Polarisierung vorangetrieben.

Der spektakuläre Aufstieg der DSA spiegelt nicht nur die Tiefe der Krise des amerikanischen Kapitalismus wider, sondern zeigt vor allem, dass sozialistische Massenstimmung in materielle Organisationsgewinne umgesetzt werden kann, dass Sozialismus und Klassenpolitik vorankommen können. Doch mit dem Anstieg an Mitgliederzahlen wachsen auch die Widersprüche der DSA. Vielleicht wird die Aushöhlung von Bidens Wohlfahrtsreformen die Stimmung gegen die Demokratische Partei und das Wachstum der DSA kurzfristig wiederbeleben, aber ihre zunehmende Absorption in die Demokratische Partei ist eine Sackgasse und zeigt, dass sie trotz ihrer formalen Position, eine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, dies nie ernst genommen hat und sich in Wirklichkeit in die andere Richtung bewegt, tiefer in die Demokratische Partei. Die Mehrheit der relativ neuen, oft inaktiven DSA-Mitglieder, die im Rahmen dieser Taktik rekrutiert wurden, könnten am Ende eine Basis für den rechten Flügel und die Führung abgeben, wenn dies nicht durch die Hinwendung der Sektionen zum Kampf überwunden wird.

Erhebliche Minderheiten gegen die rechtsgerichteten Anträge des Parteitags zeigen das Potenzial, eine Opposition aufzubauen, die sich auf die Neuausrichtung der DSA weg von den Demokrat:innen und hin zum Klassenkampf und den Streit für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse konzentriert. Ein Teil des Hindernisses für die Verwirklichung dieses Potenzials ist die DSA-Linke selbst, die zwar wächst, aber zersplittert ist und, was am schädlichsten ist, die „Taktik des schmutzigen Bruchs“ akzeptiert und die Demokratische Partei „vorerst“ unterstützt. Dies ist eine durch und durch opportunistische Taktik. Die Möglichkeit, diesen Weg freizumachen, besteht darin, zu Marx‘ Position der klassenpolitischen Unabhängigkeit zurückzukehren und die Methode aufzugreifen, die Trotzki für den Aufbau einer neuen Arbeiter:innenpartei im Amerika der 1930er Jahre befürwortete.

Wenn die Linke dies tut, wird sie sich letztlich einem Kampf mit dem Mitte-Rechts-Block in der Führung stellen müssen, der bisher noch keine ernsthafte Herausforderung für seine unausgesprochene Strategie zur Neuausrichtung der Demokratischen Partei erlebt, für die die Strategie des schmutzigen Bruchs als Deckung diente. Die stalinistischen Anti-Trotzki-Memos, die den Beitritt der Sozialistischen Alternative begleiteten, liefern einen kleinen Vorgeschmack auf diese Spannung. Letztendlich wird eine reformistische Führung niemals einen wirklich klassenkämpferischen, revolutionären Flügel dulden, sondern versuchen, ihn zu unterdrücken. Wenn die Linke es zulässt, eine zahme Opposition zu bleiben, die in einer platonischen Debatte darüber gefangen ist, wie und wann Schritte in Richtung des schmutzigen Bruchs unternommen werden sollen, wird sie nur ihre eigene Ohnmacht verlängern.

Die Sozialistische Alternative, die Brot-und-Rosen-Linke und die anderen Fraktionen wiederholen alle, dass es keine objektive Grundlage für eine neue Massenpartei gibt. Dennoch geben viele zu, dass die Politik der DSA selbst das größte unmittelbare Hindernis für Schritte in Richtung Klassenunabhängigkeit und einen schmutzigen Bruch verkörpert. Die Antwort darauf ist eine unermüdliche und konsequente Kampagne, um diese Führungskrise zu lösen, indem wir eine solche Anleitung geben. Die Linke kann sich um eine offene Kampagne für eine neue Arbeiter:innenpartei scharen, die jegliche Unterstützung für Kandidat:innen auf der demokratischen (oder grünen) Wahlliste klar ablehnt. Sie sollte Druck auf Brot und Rosen ausüben, damit es sich wieder dieser Linie widmet oder spaltet. Dies ist der Schlüssel, um die dissidenten Mitglieder über die Caucuses hinaus zu organisieren und die Masse der neuen Mitglieder zu entwickeln, um die Kluft zwischen ihnen und der Linken zu schließen. Die Hinwendung der Sektionen zum Klassenkampf würde nicht nur neue Mitglieder als Aktivist:innen und Kader hervorbringen, sondern auch Militante aus den Streiks und Kämpfen der nächsten zwei Jahre rekrutieren, die der Demokratischen Partei gegenüber misstrauischer sein werden.

Ein Einheitsfrontansatz im Eintreten für einen sauberen Bruch würde auch Debatten über andere Aspekte des Programms erleichtern, als Antwort auf neue Kämpfe wie die Lehrer:innenstreikwelle und die Black-lives-matter-Revolte. Ziel sollte es sein, ein alternatives, revolutionäres Programm zur neuen Plattform zu entwickeln, das deren beste politische Elemente aufgreift und sie mit Übergangsforderungen kombiniert, die die heutigen Massenkämpfe mit dem entschlossenen Vorgehen für den Sozialismus durch Selbstorganisation und Aktivität der Arbeiter:innenklasse verbinden. Dies würde nicht nur mehr Diskussionen zwischen den Gruppierungen ermöglichen, sondern auch ein neues Publikum von Tausenden von Menschen einbeziehen, die eine Rolle dabei spielen könnten, die Politik im Lichte der Geschichte und ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Klassenkampf zu prüfen, indem sie sich daran beteiligen und veraltete oder opportunistische Ideen verwerfen.

Nur durch einen radikalen Richtungswechsel können Sozialist:innen sicherstellen, dass der nächste Parteitag eine echte Herausforderung für den prodemokratischen Konsens darstellt und den Weg für einen weiteren politischen Fortschritt hin zu einer klassenkämpferischen, internationalistischen und revolutionären DSA öffnet. Alle, die die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung sehen, sollten mit uns Kontakt aufnehmen und gemeinsam daran arbeiten, die immensen Möglichkeiten für den Fortschritt der Arbeiter:inneklasse und eine sozialistische Zukunft zu nutzen, die zum Teil im Wachstum der DSA zum Ausdruck kommen.

Endnoten

1 „Top GOP Pollster: Young Americans Are Terrifyingly Liberal“, [https://theintercept.com/2016/02/24/top-gop-pollster-young-americans-are-terrifyingly-liberal/].

2 Nur Eugene Debs‘ Socialist Party of the USA war mit 113.000 Mitgliedern auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1912 größer, allerdings bei einer Bevölkerung von 95 Millionen, weniger als ein Drittel der heutigen 333 Millionen.

3 Damit stieg die Mitgliederzahl auf 66.000. Fast 30.000 sind seitdem beigetreten.

4 „2020 DSA Convention Reports and Summaries“, [https://www.tempestmag.org/2021/08/2021-dsa-convention/].

5 Rückgang von 42 Kandidaten für sechzehn Positionen im Jahr 2017 auf 33 im Jahr 2019 und 20 im Jahr 2021: Nation, R&R.

6 2021: „Toward a Mass Party in the United States (Electoral Priority)“; 2019: „Class Struggle Elections“.

7 https://jacobinmag.com/about; https://breadandrosesdsa.org/. Der linke B&R Co-Vorsitzende Jeremy Gong sagt, dass B&R 2019 gegründet wurde, um „für eine marxistische DSA zu kämpfen“. Siehe unten: Debatte  über Reform und Revolution.

8 Siehe Resolution 8: „Bigger than Bernie“ von Micah Uetricht und Megan Day behauptet dasselbe, Kapitel 2: „Die beiden großen US-Parteien sind keine wirklichen Parteien im traditionellen Sinne (keine Mitgliedschaftskriterien, keine verbindliche demokratische Entscheidungsfindung, keine politische Bildung, keine Disziplinierung von Kandidat:innen, keine Rechenschaftspflicht gegenüber einer Plattform)“.

9 Oder die Partei könnte „theoretisch Kandidat:innen auf der eigenen Wahlkampflinie der Organisation aufstellen“. Seth Ackerman: „A Blueprint for a New Party“, Nov. 2016, https://www.jacobinmag.com/2016/11/bernie-sanders-democratic-labor-party-ackerman/; Eric Blanc: „The Ballot and the Break“, https://www.jacobinmag.com/2017/12/democratic-party-minnesota-farmer-labour-floyd-olson/.

10 Entschließung 15.

11 „Should House Progressives #ForceTheVote on Medicare for All?“, https://www.dsausa.org/statements/should-house-progressives-forcethevote-on-medicare-for-all/.

12 Weit davon entfernt, die Gewerkschaftsarbeit der DSA-Ortsgruppen und -Mitglieder zu leiten und zu koordinieren, wurden die beiden großen nationalen DSA-Laborinitiativen – das 2020 gegründete Emergency Worker Organising Committee und die 2021 gestartete Kampagne zur Lobbyarbeit bei der Bidenregierung zur Verabschiedung des PRO Act (Protect the Right to Organize) – beide vom NPC im Bündnis mit den Gewerkschaften initiiert.

13 Bhaskar Sunkara, The Socialist Manifesto, (London: Verso, 2019), S. 22; siehe: https://fifthinternational.org/content/bhaskar-sunkaras-socialist-manifesto.

14 Meagan Day und Micah Uetrecht, Bigger Than Bernie, (London: Verso, 2020), S. 102 f–

15 Eric Blanc hat sich als antibolschewistischer Theoretiker und Historiker der DSA etabliert, einflussreich, aber auch wie Sunkara eigenwillig – die Jacobin-Linke hat keine einheitliche, kohärente Vision des demokratisch-sozialistischen Übergangs, abgesehen von ein paar groben Punkten – die Demokrat:innen, Wahlen, eine Regierung, kein Aufstand, keine Doppelmacht. Bigger than Bernie hingegen zitiert Eric Blanc und nimmt dessen Position auf. Seine alternative „revolutionäre“ Strategie geht auf Karl Kautsky, den bekanntesten Theoretiker der Zweiten Internationale und Gegner Lenins und der Revolution von 1917 in Russland, zurück. Blanc argumentiert wie die Demokratischen Sozialist:innen im Allgemeinen, dass „das Doppelherrschafts-/Aufstandsmodell von Russland 1917“ für „kapitalistische Demokratien“ nicht relevant sei, und zwar mit dem üblichen liberalen Argument, dass „unter den arbeitenden Menschen die Unterstützung für die Ersetzung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen Demokratie durch Arbeiter:innenräte oder andere Organe der Doppelherrschaft immer marginal geblieben ist.“ Das stimmt nur insofern, als keine andere Revolution des 20. Jahrhunderts auf eine Partei wie die Bolschewiki traf, die entschlossen war, sie über den Kapitalismus in Russland hinaus zu führen, und so eine Niederlage erlitt.

Blancs Alternative, die auf seiner fehlerhaften Analyse der Finnischen Revolution 1917 – 18 mit ihrer blutigen Niederlage beruht, hat ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Das hält ihn nicht davon ab, darauf zu bestehen, dass der einzige Weg zum Sozialismus für Sozialist:innen darin besteht, „für eine allgemeine sozialistische Wahlmehrheit in der Regierung/im Parlament zu kämpfen, und (b) Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie Generalstreiks und Revolutionen erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“

Diese defensive Revolution, die in der Realität manchmal notwendig ist (Spanien 1936), würde sich als Strategie als katastrophal erweisen, wie es in Finnland der Fall war.

Der Punkt ist, dass Blanc behauptet, dies müsse gelingen, ohne eine Doppelmacht zu schaffen. Dies ist jedoch ein Widerspruch – das Wesen jeder Revolution besteht darin, dass eine Macht eine andere besiegt und ersetzt, sie stürzt. In Wirklichkeit ist dies – wie der „schmutzige Bruch“ eine weitere Idee Blancs – eher rhetorisch als real, um die Konzentration der DSA auf Wahlen und Reformen gegen sozialistische Kritik zu verteidigen, allerdings mit größerer theoretischer Distanz. BTB 108, 103; Originalzitate von Blanc in „Why Kautsky Was Right (and Why You Should Care)“, Jacobin, und „The Democratic Road to Socialism: Reply to Mike Taber“, Cosmonaut.

16 Dieser Prozess und seine materiellen Wurzeln in der nationalen Isolation sind ausführlich dokumentiert in The Degenerated Revolution: The Rise and Fall of the Stalinist States, (London: Workers Power, 1983, 2012), siehe: https://fifthinternational.org/content/key-documents/degenerated-revolution.

17 „Die vorrangigen Aufgaben der Arbeiter:innenregierung müssen darin bestehen, das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Besteuerung auf die Reichen zu übertragen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen. Eine solche Arbeiter:innenregierung ist nur möglich, wenn sie aus dem Kampf der Massen hervorgeht, von kampffähigen Arbeiter:innenorganen getragen wird, von Organen, die von den am meisten unterdrückten Teilen der arbeitenden Massen geschaffen wurden“, in: „Theses on Comintern Tactics“, Fourth Congress of the Communist International, Marxists Internet Archive (MIA), [https://www.marxists.org/history/international/comintern/4th-congress/tactics.htm].

18 Marx, „IWMA rules“, 1864; Engels, „1888 Preface to the Communist Manifesto“, beide: MIA.

19 „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

20 Marx, „1872 Preface“, MIA.

21 Marx, „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

22 Das Gleiche gilt für Ralph Miliband, den bevorzugten antileninistischen Marxisten von Bread and Roses, [https://breadandrosesdsa.org/where-we-stand/#democratic-road].

23 Wladimir Lenin, Lecture on the 1905, MIA.

24 „Demokrat:innen verabschieden nach chaotischer Verzögerung 1,9-Milliarden-Dollar-Gesetz für die Sicherheit im Kapitol mit einer Stimme Mehrheit“, [https://www.forbes.com/sites/andrewsolender/2021/05/20/democrats-pass-19-billion-capitol-security-bill-by-one-vote-after-chaotic-delay/].

25 „AOC warnt die Demokrat:innen, sich hinter dem/r Kandidat:in zu versammeln, egal wer es ist“ [https://uk.news.yahoo.com/aoc-warns-democrats-rally-behind-221155192.html].

26 „Nationale DSA-Wahlstrategie 2021-2022“, [https://electoral.dsausa.org/national-electoral-strategy/].

27 Day und Uetrecht, Bigger Than Bernie, S. 125 – 127.

28 A. a. O., S. 60 – 61, S. 99.

29 https://fifthinternational.org/content/greece-syriza-congress-eye-witness-report.

30 https://jacobinmag.com/2017/02/rise-and-fall-socialist-party-of-america.

31 https://fifthinternational.org/content/why-there-no-socialism-united-states%E2%80%9D.

32 „Putting the Break in the Dirty Break“, Podiumsdiskussion organisiert von Reform & Revolution. https://www.youtube.com/watch?v=yS8eW83NGEk&t=22s.

33 A. a. O., ab Minute 97.

34 Kim Moody, On New Terrain (Chicago, Haymarket, 2017), S. 162.

35 Engels, „England in 1845 and 1885“, MIA.




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Dilara Lorin, Neue Internationale 274, Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Revolutionäre Grüße der Labour Qaumi Movement zum Ersten Mai

Labour Qaumi Movement, Infomail 1222, 3. Mai 2023

Lal Salam (rote Grüße), Genoss:innen!

Die Labour Qaumi Movement Pakistan beglückwünscht die Genossinnen und Genossen zur Organisierung des klassenkämpferischen Blocks am 1. Mai. Die globale kapitalistische Krise, die Umweltkatastrophe und der Krieg in der Ukraine haben den Lebensstandard der Arbeiter:innen auf der ganzen Welt zerstört. Inflation, Arbeitslosigkeit und extreme Armut sind für die Arbeiter.innenklasse zur Normalität geworden.

Dies ist auf das kapitalistische System und seine interne Logik der Profitmaximierung zurückzuführen, die von den Arbeiter:innen und den Armen bezahlt werden, nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa und Amerika. Aber wir sind nicht bereit, diese Situation zu akzeptieren und kämpfen dagegen. In einer solchen Lage ist es sehr wichtig, von Seiten der revolutionären Sozialist:innen einzugreifen und sich zu organisieren, damit dieser Kampf in einen gegen das kapitalistische System umgewandelt werden kann.

In Pakistan haben die Umweltzerstörung und die kapitalistische Krise das Leben der Arbeiter:innenklasse elendig gemacht. Millionen von Menschen sind aufgrund von Überschwemmungen obdachlos und es ist für sie schwierig geworden, sich zwei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Aufgrund der Wirtschaftskrise gibt es Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut, die durch die Kapitalist:innen und ihre Profitgier verursacht wird. Unter diesen Umständen üben der IWF und die imperialistischen Länder immer mehr Druck auf die Regierung aus, das Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Kredite zu bezahlen, die die Inflation anheizen, die derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht hat.

Wir lehnen das IWF-Programm ab und setzen uns für ein „Nein zu den Schulden“ ein und appellieren an die Genoss:innen in Berlin und die Arbeiter:innenbewegung, Druck auf die herrschende Klasse in Deutschland auszuüben, um die Schulden zu streichen. Diese Bewegung muss in Europa und Amerika etabliert werden, damit wir eine koordinierte Bewegung aufbauen können.

An diesem 1. Mai bringen wir unsere Solidarität mit den Genossinnen und Genossen des klassenkämpferischen Blocks und der Arbeiter:innenklasse in Berlin zum Ausdruck. Unsere Botschaft zum 1. Mai ist die gleiche für die Arbeiter:innen auf der ganzen Welt: Wir brauchen einen organisierten Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Wenn die Angriffe gestoppt werden sollen, brauchen wir einen systematischen Kampf gegen das kapitalistische Weltsystem, eine neue Weltpartei der Arbeiter:innenklasse, eine neue Internationale.

Revolutionäre Grüße

Labour Qaumi Movement, Pakistan




Die Versprechen der Regierung Lula

Jonathan Frühling, Neue Internationale 271, Februar 2023

Vier Jahre lang war Brasilien im Griff des rechten Präsidenten Bolsonaro. Die Regenwaldabholzung hat unter ihm historische Höchstwerte erreicht, Corona knapp 600.000 Menschen getötet und die (militante) Rechte wurde massiv gestärkt. Nach einem knappen Rennen ist im zweiten Wahlgang wieder der Reformist Lula da Silva zum Präsidenten gewählt worden.

Allerdings trat dieser nicht nur als Kandidat der Arbeiter:innenpartei PT an, sondern hat eine Volksfront mit offen bürgerlichen, neoliberalen Parteien gebildet. Sein Vizepräsident ist der neoliberale Geraldo Alckmin, der lange Zeit als führendes Mitglied in der PSDB (Partei der Sozialen Demokratie) agierte, welches die wichtigste Oppositionspartei während Lulas letzten beiden Präsidentschaften war.

Rechte Gefahr

Wie der Putschversuch im Januar zeigte, ist die rechte Gefahr mit der Wahl keineswegs gebannt. Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung am deutlichsten repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Ferner setzen sie auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Die herrschende Klasse und die imperialistischen Länder kalkulieren damit, dass Lula und die PT in dieser politischen Zwickmühle leichter gefügig gemacht werden können. Angesichts der Wirtschaftskrise lehnen diese Reformen ab, sodass selbst die Versprechen der PT auf parlamentarischem Wege sicher nicht umsetzbar sein werden. Im Folgenden wollen wir sie näher betrachten.

Umweltpolitik

Besonders im Fokus stand während der Wahl in Brasilien der Amazonasregenwald. Lula versprach während der Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit die Rodungen vollständig zu beenden. Es sollen dafür Schutzprogramme aufgelegt und scharfe Kontrollen eingeführt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Lula die Umweltaktivistin Marina Silva als Umweltministerin ein, die bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 – 2008 diesen Posten bekleidete. Wie wenig wir den Versprechen von Lula trauen können, zeigen die Gründe für den Rücktritt von Marina Silva aus Lulas letztem Kabinett: Damals erlaubte Lula die Erschließung entlegener Regenwaldregionen für die Agrokapitalist:innen und Aluminiumindustrie.

Frauenrechte

Wenig Hoffnungen sollten wir auch in Bezug auf Frauenrechte hegen. Schon in seinen ersten zwei Amtszeiten hatte Lula kein Abtreibungsrecht durchgesetzt. Während des Wahlkampfs hat er sich sogar davon distanziert. Grund dafür war, die wachsende Anzahl rechtskonservativer evangelikaler Christ:innen nicht als Wähler:innenbasis zu verlieren. Ihr Anteil liegt mittlerweile bei 32 % an der Bevölkerung. Insgesamt wird es deshalb immer schwieriger, für Frauen- und LGBTQIA-Rechte Unterstützung in der Bevölkerung zu erreichen.

Arbeitsmarkt, Steuern und Renten

Ein weiteres großes Versprechen lautet, die Arbeits- und Rentenreformen rückgängig zu machen, die Michel Temer und Bolsonaro nach dem Sturz der PT-Präsidentin Rousseff durchsetzten. Dazu gehören die Abschaffung des Rechts der Landbevölkerung, früher in Rente gehen zu können, oder die Flexibilisierung von Arbeitsstunden und Urlaubstagen, die nur dem Kapital nutzt. Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmer:innen zahlen müssen, wurden gesenkt und Renten vom Mindestlohn und von inflationsbedingten Steigerungen entkoppelt. Auch wurden verpflichtende Zahlungen an Gewerkschaften und eine gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft. Bolsonaro hat diese Entwicklung später mit einer weiteren Neoliberalisierung vertieft, z. B. das Renteneintrittsalter massiv erhöht.

Hier fragt sich, wie weit Lula gehen wird, um einerseits den linken Teil seiner Wähler:innenbasis zufriedenzustellen, andererseits seine Koalition mit den wirtschaftsliberalen Parteien nicht zu gefährden. Auch hier sollte mit Alckmin als Vizepräsidenten nicht zu viel erwartet werden. Er selbst hatte 2016 für die Amtsenthebung von Dilma gestimmt, die für den ultraneoliberalen Michel Temer und seine wirtschaftsliberalen Renten- und Arbeitsmarktreformen Platz gemacht. Auch die von Lula versprochene Erhöhung der Reichensteuern droht, am Verhandlungstisch geopfert zu werden.

Wirtschaft

Die wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt und macht Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse schwierig. Die Inflationsrate liegt bei 10 %, die Arbeitslosigkeit ebenfalls. Die Coronapandemie hat ihre Spuren hinterlassen und viele Menschen in den Abgrund gestürzt. Sogar der Hunger ist für einen Teil der Bevölkerung wieder zurückgekehrt. Das Wirtschaftswachstum ist mit 3 % gegenüber 2021 gesunken, die Prognosen für 2023 sind mit 1 – 2 % nochmals deutlich geringer. Landwirtschaftliche Erzeugnisse (Soja, Rindfleisch, Zucker) und Rohstoffe (Eisenerz und Rohöl) machen den größten Exportanteil aus. Allerdings ist der Hauptabnehmer China selbst momentan wirtschaftlich geschwächt und kann die Wirtschaft Brasiliens nicht wie noch vor einigen Jahren beflügeln.

Besonders die massive Steigerung der Staatsschulden (momentan 89 % des BIP) belastet die Aussichten für Lulas Präsidentschaft. Um die Wirtschaft voranzubringen, will Lula Infrastrukturprogramme auflegen und staatliche Investitionen erhöhen. So soll der Deindustrialisierung entgegengewirkt werden. In den letzten 10 Jahren ist der Anteil der Industrieproduktion am BIP des Landes von 23,1 % auf 18,6 % gesunken (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169880/umfrage/anteile-der-wirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-brasiliens/).

Außenpolitik

Die EU und Lula da Silva visieren an, das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und der EU wiederzubeleben. Dies würde der Umwelt massiv schaden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Staaten vertiefen. Deshalb und da viele EU-Länder durch das Abkommen ihre eigene Landwirtschaft bedroht sehen, ist eine Ratifizierung des Vertrages aber weiterhin ungewiss.

Außenpolitisch wird sich Brasilien versuchen, blockfrei zu positionieren. Wichtigste Handelspartner sind nämlich China und danach die USA. Lula da Silva hat angekündigt, mit allen Wirtschaftsblöcken in normale, geregelte Beziehungen zu treten und die außenpolitische Isolierung des Landes unter Bolsonaro rückgängig zu machen.

Dazu nähert sich Lula z. B. Venezuela unter Maduro oder auch Kuba an. Das wichtigste außenpolitische Projekt könnte die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sein, welche besonders China anstrebt, um ein Gegengewicht zu den G7 zu schaffen. Die USA sieht diese Pläne natürlich als Gefahr an.

Erwartete Blockaden im Parlament

Selbst wenn Lula weitergehende Politik ernsthaft verfolgen würde, sind ihm alleine schon durchs Parlament die Hände gebunden. Dort sind nämlich von den 23 vertretenen Parteien die Rechten in der Mehrheit. Die stärkste ist mit 16,5 % und 99 Sitzen Bolsonaros Partido Liberal (PL). Lulas PT hat gerade mal 69 Sitze, das von ihm geführte Bündnis 82. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen könnte er sogar wie seine PT-Vorgängerin 2016 durch ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt werden, wenn ihm die neoliberalen Parteien die Unterstützung versagen.

Wie der Putschversuch vom Januar zeigt, stehen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten vor einem doppelten Problem. Einerseits droht die Gefahr von rechts, andererseits hängt die Volksfront mit Alckmin wie ein Mühlstein am Hals der Arbeiter:innenklasse.

Daher ist es für die Arbeiter:innenbewegung unerlässlich, die Lehren aus dem gescheiterten Putschversuch im Januar zu ziehen und sich die Frage zu stellen, wie das Kampfpotential genutzt werden kann, das bei den Demonstrationen am 9. Mai sichtbar wurde, als Hunderttausende gegen die Rechten auf die Straße gingen.

Lehren

Selbst die versprochenen Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und Stärke der Rechten in Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie Initiierung eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, massive Besteuerung der Reichen, entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness’, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

So wie Polizei und Armee als Garantinnen des Privateigentums fungieren, so Alckmin und andere offen bürgerliche Kräfte als Statthalter:innen der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit diesen wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und der PT einen Bruch mit den offen bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seiner wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden suchen. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken anwenden, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen wollen, ermöglichen, sich von den Illusionen in ihn und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu aufzufordern, weiter zu gehen, als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen. Aber solche Forderungen können als Basis für einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Reaktion dienen. Sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen andererseits sichtbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe und einen eventuellen Verrat „ihrer“ Regierung vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei verbunden werden.