Solidarität mit den Streiks im ÖPNV!

Stefan Katzer, Infomail 1244, 2. Februar 2024

Am heutigen Freitag, den 2. Februar 2024, ruft die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu einem eintägigen Streik auf. In allen Bundesländern bis auf Bayern streiken Zehntausende Beschäftigte und auch einige Klimaaktivist:innen von Fridays for Future (FFF) gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV.

Nachdem die bisherigen Verhandlungen mit den kommunalen Arbeit„geber“:innen nicht die erhofften Fortschritte brachten, soll der Druck auf die Gegenseite nun durch einen eintägigen Streik erhöht werden, so die stellvertretende Vorsitzende von ver.di, Christine Behle. Auch wenn der Ausstand in manchen Ländern wie in Berlin nur einige Stunden dauert, so zeigt die Aktion, was möglich ist, wenn die Beschäftigten zusammenstehen und gemeinsam für ihre Forderungen kämpfen.

Kampf für Entlastung und mehr Personal

Die Kernforderungen, für deren Erfüllung die Beschäftigten nun kämpfen, zielen vor allem auf die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Das ist mehr als berechtigt, denn die Belastungen für die Beschäftigten im ÖPNV sind groß. Ebenso hoch sind die Krankenstände, die nach Angaben von ver.di zum Teil 20 % betragen. Fahrer:innen müssen daher häufig für kranke Kolleg:innen einspringen, wodurch Ruhezeiten unterbrochen werden und die gesundheitliche Belastung zusätzlich steigt. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die relativ niedrigen Gehälter führen zudem dazu, dass viele Beschäftigte der Branche den Rücken kehren, wodurch sich der Druck auf die übrigen ständig weiter erhöht.

Zwar hat sich die Regierung das Ziel gesetzt, den ÖPNV bis 2030 massiv auszubauen und dadurch den Klimaschutz im Verkehrssektor voranzutreiben. Doch die notwendigen Voraussetzungen hierfür sind nicht gegeben. Nicht nur der Ausbau der Strecken kommt kaum voran, auch beim Personal herrscht großer Mangel. Zudem müsste die Regierung jährlich ca. 16 Milliarden Euro mehr für den Ausbau des ÖPNV ausgeben, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Aufgrund dieser desaströsen Lage im öffentlichen Nahverkehr fallen Verbindungen ständig aus. Zusätzlich werden die Fahrpläne an vielen Stellen selbst ausgedünnt und das Angebot verringert.

Dieses Problem sieht auch ver.di. Aus diesem Grund fordert die Gewerkschaft vor allem eine Entlastung für die rund 90.000 Beschäftigten. Durch bessere Arbeitsbedingungen soll bereits tätiges Personal gehalten und neues angelockt werden. Nur so könne man die Verkehrswende meistern. Neben einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert die Gewerkschaft auch die Erhöhung des Urlaubsanspruchs sowie zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit. Außerdem soll es eine Begrenzung geteilter Dienste und unbezahlter Zeiten im Fahrdienst geben. Dadurch sollen die Beschäftigten entlastet und die Arbeit in diesem Bereich wieder attraktiver werden.

#WirFahrenZusammen! Aber wohin geht die Reise?

Unterstützt werden die Beschäftigten dabei von 60 lokalen Gruppen von FFF. Sie rufen zur Solidarität mit den Beschäftigten auf und verbinden deren Forderungen mit der nach einer klimagerechten Verkehrswende. In diesem Zusammenhang kommt dem bereits 2020 gegründeten Bündnis #WirFahrenZusammen eine wichtige Bedeutung zu. Dieses zielt darauf ab, das Interesse der Klimaschutzbewegung an einem Ausbau des ÖPNV mit dem der Beschäftigten an besseren Arbeitsbedingungen zu verbinden und die geteilten Forderungen durch gemeinsame Aktionen durchzusetzen.

In der Vergangenheit kam es bereits zu gemeinsamen Protesten von FFF und ver.di. Nun beteiligen sich die Aktivist:innen von FFF umgekehrt an den Streiks der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr und zeigen sich mit diesen solidarisch. FFF verbindet damit die Hoffnung, die Beschäftigten für ihre eigenen Forderungen zu gewinnen und so dem Klimaschutz und der Klimaschutzbewegung in Deutschland neues Leben einzuhauchen.

Das Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV ist dabei schon ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist gut und notwendig, dass die Klimabewegung die Verbindung zur organisierten Arbeiter:innenklasse sucht und aktiv auf diese zugeht. Das Bündnis kann allerdings nur ein Anfang sein. Denn nicht nur die Beschäftigten im ÖPNV müssen für radikalen Klimaschutz gewonnen werden, sondern auch die aus der Automobilindustrie, dem Energie-, Agrarsektor usw. – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn die Lohnabhängigen können durch Streiks nicht nur Druck auf die Regierung ausüben – sie können (und müssen!) aufgrund ihrer Lage im Produktionsprozess den notwendigen Umbau der Wirtschaft in ihre eigenen Hände nehmen. Es geht dabei letztlich nicht nur um die Erneuerung der technischen Basis, sondern um die Veränderung der Produktionsverhältnisse selbst. Das wird jedoch nur möglich sein, wenn die privaten Konzerne im gesamten Verkehrs- und Transportsektor – ob Spediteur:innen, Bahn, Luft- oder Schifffahrt sowie die Autoindustrie – entschädigungslos verstaatlicht werden und unter Arbeiter:innenkontrolle gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit produzieren. Dies ist selbst untrennbar mit der Enteignung und dem planmäßigen Umbau der gesamten Energiewirtschaft verbunden.

Um dies zu erreichen, muss sich die Klimabewegung programmatisch aber selbst grundlegend neu ausrichten. Sie muss dabei vor allem den von ihr popularisierten Slogan „System Change not Climate Change!“ endlich ernst nehmen und eine politische Perspektive entwickeln, die über den zerstörerischen Kapitalismus hinausweist.

Und wie kommen wir ans Ziel?

Die Strategie von FFF und ver.di, durch gemeinsame Proteste, Petitionen und die nun anstehenden Streiks den Druck auf „die Politik“ zu erhöhen und diese zum Handeln zu zwingen, läuft absehbar ins Leere. Wie schnell sich klimapolitisch der Wind drehen kann und mit ihm die bürgerlichen Fähnchen, haben die letzten Jahre eindrucksvoll gezeigt. Von den vollmundigen Versprechen der bürgerlichen Politiker:innen, das Problem des Klimawandels ernst zu nehmen und Maßnahmen zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu ergreifen, ist nicht viel übrig geblieben. Es war auch nicht anders zu erwarten.

Angesichts der sich zuspitzenden Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, bei der auch der deutsche Imperialismus ganz vorne mitmischen möchte, treibt die Ampelregierung vor allem ein Projekt voran – die Aufrüstung der Bundeswehr. Hier werden die Milliarden verfeuert, die im sozialen Bereich, beim Ausbau der Infrastruktur und damit auch im Bereich des Klimaschutzes fehlen. Unter dem Banner der Klimapolitik verfolgt die Bundesregierung dabei vor allem das Ziel, die deutsche Industrie durch eine subventionierte Erneuerung ihres Kapitalstocks global konkurrenzfähig zu machen. Als Vertreterin der Interessen des nationalen Gesamtkapitals möchte sie dafür sorgen, dass dieses in der Konkurrenz mit China und den USA nicht zurückfällt. Das 1,5-Grad-Ziel spielt bei diesen Überlegungen kaum noch eine Rolle.

Aber auch die Interessen der Gewerkschaftsbürokratie sowie die politisch-ideologische Ausrichtung von FFF stehen einem radikalen Kampf für Klimaschutz und Interessen der Lohnabhängigen letztlich im Weg und sind Hindernisse, die überwunden werden müssen. So hat die Gewerkschaftsbürokratie in den vergangenen Tarifkämpfen immer wieder gezeigt, dass ihr die Sozialpartnerschaft und mit ihr das Wohl des deutschen Imperialismus letztlich näherstehen als die Interessen der Beschäftigten. So wurden trotz hoher Kampfbereitschaft in den letzten großen Tarifrunden Abschlüsse erzielt, die für Millionen Beschäftigte Reallohnverluste bedeuteten. Über die „Konzertierte Aktion“ haben sich die Gewerkschaften bereitwillig in die Politik der Bundesregierung einbinden lassen und dafür zentrale Forderungen der Beschäftigten geopfert.

Um dies in Zukunft zu verhindern, müssen die organisierten Beschäftigten selbst die Kontrolle über ihren Kampf ausüben, indem sie Streikkomitees bilden und Vertreter:innen aus ihren eigenen Reihen wählen, die ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Statt Geheimverhandlungen zwischen den sog. Arbeit„geber“:innen und den Gewerkschaftsfunktionär:innen braucht es Diskussionen über Forderungen und Angebote, an denen alle Gewerkschaftsmitglieder sich beteiligen können. Sie müssen bei allen Entscheidungen das erste und letzte Wort haben, denn sie sind es, die davon betroffen sind.

  • Arbeitszeitverkürzung für alle auf 35 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Einstellung von Tausenden Beschäftigten und Auszubildenden! Massive Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und kostenloser ÖPNV für alle, finanziert aus den Gewinnen privater Konzerne!

  • Vom Warnstreik zum Vollstreik! Keine Geheimverhandlungen, keine langen Verhandlungsrituale! Streik ist die einzige Sprache, die die sog. Arbeitgeber:innen verstehen! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung, um die Forderungen durch einen unbefristeten Streik zu erzwingen!

  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten! Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!



Signa und das System René Benko

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das System Benko und mit ihm die Signa-Gruppe stehen vor dem vorläufigen Aus. Die Signa Holding und viele ihrer rund 200 Tochtergesellschaften haben Insolvenz angemeldet. Aber nicht nur der Konzern, sondern letztendlich die gesamte Immobilienwirtschaft ist durch steigende Zinsen und Baukosten ins Stocken geraten. Zugleich drohen die Absicherungen durch überbewertete Immobilien, infrage gestellt zu werden. Doch die Insolvenz kann weit über die Immobilienwirtschaft und den Handel Auswirkungen haben. Denn sie steht sinnbildlich für eine Spekulationsblase des Kapitals, für kurzfristig höhere Renditeerwartungen. Auch wenn die Pleite von Signa nicht vergleichbar ist mit der von Lehman Brothers 2008, so zeigt sie doch die Krisenhaftigkeit der Weltwirtschaft und deren Einfluss in den DACH-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.

Eine kleine Geschichte René Benkos

2021 wurde Benko zum drittreichsten Österreicher mit einem geschätzten Kapitalvolumen von 5,6 Milliaren US-Dollar gekürt. Auch wenn heute weite Teile seiner Unternehmen sich in Insolvenz befinden, so ist nicht davon auszugehen, dass er am Hungertuch nagen wird. Er ist Sinnbild der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Weltwirtschaftskrise von 2007/08, Ausdruck der Finanzialisierung des Immobiliensektors weit über Signa hinaus. Um die Entwicklung nachzuvollziehen, soll kurz ein Blick auf den beruflichen Werdegang geworfen werden. Die Geschichte zeigt, dass es sich beim Kapital nicht um abstrakte Kategorien, sondern wirkliche Entitäten handelt.

Benko stieg Mitte der 1990er Jahre in die Selbstständigkeit ein. Damals plante er Projekte zum Ausbau von Dachböden in hochpreisigen Penthouses gemeinsam mit dem Bauunternehmer Johann Zittera. 2001 gründete er die Firma Immofina Holding, wofür er eine Anschubfinanzierung von 25 Millionen Euro vom ehemaligen Tankstellenbesitzer Karl Kovarik erhielt und ihn beteiligte. Benko selbst kam aus relativ einfachen Verhältnissen. Die Mutter war Erzieherin, der Vater Beamter der Gemeinde. Er wuchs in einer 60 m² Wohnung in Innsbruck auf. Sein Unternehmenskonzept basiert damals wie heute auf zwei grundlegenden Herangehensweisen. Er zielte auf Immobilien mit „Entwicklungspotential“ ab und versuchte, für diese Projekte Fremdkapital einzuwerben oder in vorherigen entwickelte Sicherheiten einzusetzen, um bessere Kreditbedingungen zu erhalten.

Zwischen 2004 und 2010 hatte er dann sein erstes Großprojekt mit der Neuerrichtung des Kaufhaus Tyrol. Bereits im Zuge dessen wurden in verschiedenen Metropolregionen Österreichs und Deutschlands Immobilien erworben und das Unternehmen in Signa Holding (2006) umbenannt.

Bekannt in Deutschland sind sicherlich sein Erwerb der Karstadt Group 2012 – 2013. Hier versprach Benko die Rettung des seit 2009 insolventen Handelskonzerns. Bereits damals machte er deutlich, dass er auch Galeria Kaufhof kaufen wolle. Mit dem Erwerb Karstadts ergänzte Signa neben den Immobilien seine Handelssparte. Gemeinsam mit der Benny Steinmetz Group kaufte er Teile des Karstadt-Eigentums. Das Verhältnis wurde bald wieder aufgelöst, wobei Steinmetz in der Zeit für seinen Korruptions- und Erpressungsskandal bekannt wurde aufgrund des Erwerbs von Erzschürfrechten im Südosten Guineas. 2014 wurden auch Benko und sein Steuerberater zu 12 Monaten auf Bewährung verurteilt („bedingte Haftstrafe“). Denn Letztere hatte 2009 dem ehemaligen kroatischen Premier Sanader 150.000 Euro angeboten, damit dieser ein Gerichtsverfahren in Italien in Benkos Sinne beeinflusst.

Auch die Schweizer Warenhauskette Globus (2020) und das österreichische Möbelhaus Leiner & kika (heute: kikaLeiner) erwarb Signa. 2018 kaufte die Holding dann die Mehrheitsanteile an Galeria Kaufhof und führte 2019 Galeria Karstadt Kaufhof zum zweitgrößten europäischen Warenhauskonzern zusammen. Benko wurde damit zum größten europäischen Warenhausmogul. Auch im Onlinehandel war er aktiv. Mit der Signa Prime und Development wird der Immobiliensektor abgedeckt und aufgeteilt in teure und zu entwickelnde Immobilien. Die Warenhaussparte mietete zumeist bei anderen Signa-Tochterunternehmen die jeweiligen Immobilien.

2019 stieg die Konzerngruppe auch in die Medienbranche ein, als sie die Anteile der Funke Mediengruppe an den österreichischen Zeitungen Krone und Kurier kaufte. Zu Spitzenzeiten beschäftigte Signa etwa 46.000 Angestellte in Österreich, Italien, der Schweiz und Deutschland.

Doch Benko und seine Signa haben sich hier schlussendlich verspekuliert. Die Handelssparte konnte nicht genug Profit abwerfen, um sich zu halten, während die Inflation die Bauvorhaben ins Stocken brachte. Die massive Überbewertung Signas erforderte eine stetige Ausweitung des Portfolios. In diesem Sinne ist die Signa Holding eine eigene „kleine“ Spekulationsblase für Kapitalist:innen primär in der DACH-Region.

Finanzialisierung des Immobiliensektors

Mit Finanzialisierung wird die Entwicklung seitens des Finanzkapitals zur Fokussierung auf Immobilien als Anlage und Absicherung weiterer Kaufoptionen mittels Bewertung der auf Kredit gekauften Immobilien verstanden. Diese müssen dafür eine gesteigerte Rendite abwerfen.

Gerade angesichts der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken wurden solche Entwicklungen befeuert. Der Prozess war widersprüchlicher Weise auch Konsequenz gesunkener Immobilienpreise nach Platzen der Blase des aufgeblähten US-Immobilienmarktes und ihrer weitreichenden Abwertung zu dieser Zeit. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation des Kapitals. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt, auf „Betongold“, also Immobilien als „sichere“ Investitionsmöglichkeit. Während die Big Four (Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien SE) jahrelang in Deutschland den Wohnbereich dominierten, war Signa im Schatten deren aktiv und konzentrierte sich auf Gewerbegebäude.

Wer investiert in Signa?

Weiterhin ist unklar, welche Anteile Benko an der Benko Familienstiftung und ihrer Signa Holding hält. In der Reportage „Der wundersame Erfolg des René Benko“ von Inside Austria wird deutlich behauptet, dass außerhalb der Person René Benko vermutlich niemand weiß, wie viele Unternehmen und welche Besitzanteile zur Signa-Gruppe gehören. Signa als Holdinggesellschaft versuchte, nicht nur günstige Kredite für ihre Vorhaben bei Banken zu erhalten, sondern stellte für Teile der Bourgeoisie eine hoffnungsvolle Renditeerwartung dar. Nicht alle Investor:innen sind an die Öffentlichkeit gelangt, einige erst im Zuge der Panama Papers. Denn die Holdinggesellschaft besteht aus knapp 200 Subfirmen, strukturiert nach Treuhänder:innen, Investor:innen, teilweise aber auch nach Immobilien, Wirtschaftssektoren oder Staaten. Zugleich hat die Signa Holding zwar die Börse gekauft (das Unternehmen besitzt die Immobilie), ist jedoch nie eine Aktiengesellschaft geworden. Dementsprechend hat der Konzern wenig Verpflichtung zur Transparenz. Diese Undurchsichtigkeit ermöglicht es sowohl Investor:innen, teilweise weniger erkennbar zu sein, als auch die Überbewertung des Unternehmens.

Trotzdem gibt es einige bekannte Investor:innen wie den STRABAG-Chef Klemens Haselsteiner, die Peugeot-Familienholding, Ernst Tanner von Lindt & Sprüngli, der Fressnapf-Gründer Torsten Toeller oder der Logistikmilliardär Kühne. Ex-Porschevorstandschef Wendelin Wiedeking zog sich beispielsweise aus Signa zurück und sprach sich öffentlich gegen Investitionen aus wegen intransparenter Unternehmensführung. Ähnlich wie im Wohnungssektor hat Signa also als Gewerbeflächeninvestorin bereitgestanden und Anlagegewinne weit über den durchschnittlichen Kapitalrenditen versprochen. Von der Firmenpleite sind also bedeutend mehr betroffen, als wir aktuell wissen.

Das heißt nicht, dass René Benko unbedingt gegenüber seinen Investor:innen als Blender aufgetreten ist. Hier gab es auch verschiedene Buyouts und Verkäufe in den letzten Jahren, wie Wiedeking und in Teilen Tanner. Medienberichten zufolge gibt es aktuell 94 Gläubiger:innen, die der Signa-Gruppe Geld geliehen haben in einem Volumen von 14 Milliarden Euro – darunter 74 Banken, 8 Versicherungsunternehmen und 12 Fondgesellschaften.

In seiner Handelssparte kann man das schon eher annehmen, denn für abertausende Beschäftigte hat die in kürzester Zeit zum größten europäischen Handelskonzern augestiegene Signa drohende Arbeitslosigkeit und Lohnverzicht bedeutet. Die Beschäftigten im Einzelhandel und das Argument der angeblich aussterbenden Innenstädte dienten ihm auch als Türöffner:innen, um Einfluss auf die Lokalpolitik zu nehmen.

Einflussnahme auf die Politik

Der Signa-Aufsichtsratsvorsitzende Benko ist auch für sein umfassendes Netzwerk bekannt. Er tritt als politisch überparteilich auf, pflegt Kontakte zu verschiedensten Parteien, Ministerien und Staatssekretär:innen. 2017, als Sebastian Kurz österreichischer Kanzler wurde, unterstützte er alle drei Parteien, die Kanzlerkandidat:innen stellten, also FPÖ, ÖVP und SPÖ. Kurz und seine Amigos spielten ihm damals beim Kauf von des kikaLeiner-Flagshipstores in der Wiener Mariahilfer Straße in die Hände, scheinbar, weil sie Interesse am Aufbau des österreichischen Kapitalisten hatten. Kurz nahm ihn auch zu verschiedenen Staatsbesuchen mit.

Auch auf kommunaler und städtischer Ebene war Benko immer wieder aktiv. In verschiedenen Verhandlungen soll er für den Erhalt von Kaufhäusern gegen etwaige Bauvorschriften die Rechte zum Umbau oder Abriss erhalten haben, teilweise auch trotz Denkmalschutzes. Das Argument Rettung der Innenstädte und Arbeitsplätze ist hier gerade für kommunale Politik äußerst wirkmächtig und das auch ganz ohne offene Korruption. In Berlin beispielsweise, wo eine Reihe von Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen existiert, kam es zu regelrechten Kuhhandeln. Sowohl nahm Signa hunderte von Millionen an staatlichen Subventionen an, wie sie im Gegenzug auch den Erhalt eines Teils der Arbeitsplätze für Baugenehmigungen „garantierte“. Zugleich haftet Signa nicht für Teilinsolvenzen, wodurch die meisten Versprechen fromme Hoffnungen blieben.

Enteignet Benko!

René Benko kommt durch sein Unternehmenskonzept weitgehend unbeschadet aus der Pleite heraus, während sein Geschäft auf dem Auspressen von Immobilien, dem Hochtreiben von Immobilienpreisen in europäischen Innenstädten, aber auch Massenentlassungen von Beschäftigten der Handelsunternehmen basierte. Zahlen müssen also hier die einfachen Mieter:innen, kleinen Ladenbesitzer:innen und Arbeiter:innen.

Diese Kosten müssen jedoch vom Kapital getragen werden, weshalb es eine Reihe von Maßnahmen braucht wie die Öffnung der Geschäftsbücher und das Einfrieren der Kapitalanlagen in und um Signa. Die Immobilien müssen verstaatlicht, ihre Verwendung muss durch die Beschäftigten, die Gewerkschaften und die Mieter:innenbewegung kontrolliert und geplant werden. Dabei darf nicht vor dem Privatvermögen Benkos und seiner Nutznießer:innen haltgemacht werden. Zugleich braucht es einen Plan für die Zukunft des in der Krise befindlichen Einzelhandels und eine eventuelle Überführung der Stellen in andere gesellschaftlich notwendige Arbeiten. Denn die Rettung des städtischen Lebens kann nicht die künstliche Aufrechterhaltung der Konsumpaläste bedeuten.




GDL-Tarifrunde Deutsche Bahn: Fünf für Fünf und ein Claus Weselsky

Leo Drais, Neue Internationale 278, November 2023

Es wird sein großer Auftritt zum Schluss. Die anstehende Tarifrunde bei der Deutschen Bahn soll die letzte für den Vorsitzenden und Verhandlungsführer der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sein. Danach will der frühere Lokführer in den Ruhestand gehen. Bis dahin ist eine harte Tarifauseinandersetzung zu erwarten.

Forderungen

Das Paket sieht wie folgt aus: 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35-Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innenanteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden, muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Die Antwort des DB-Personalvorstandes Martin Seiler, seines Zeichens früherer Betriebsrat der Deutschen Post (also einer, der sich damit auskennt), war ein erwartbares Geheul, dass die DB damit 10.000 neue Fachkräfte zusätzlich bräuchte (gut wär’s!). Er schlug dann vor, von Anfang an eine moderierte Verhandlung zu führen, was Weselsky ebenso erwartbar ablehnte.

Hinter den Kulissen stehen die Zeichen natürlich lange nicht so auf Sturm, wie sich nach außen gegeben wird. Da ist von vorneherein klar, dass das, was gefordert wurde, nicht erreicht wird und auch gar nicht erreicht werden will, auch nicht von Claus Weselsky. Dafür sind die Forderungen der Basis wie etwa der Ortsgruppe bei der S-Bahn Berlin (30 % mehr, besondere Altersteilzeit ab 50 für Schichtarbeitende sowie das tarifvertragliche Recht der Kriegsdienstverweigerung am Zug für alle Bahnbeschäftigten) geflissentlich in Schubladen verschwunden.

Streiken, verhandeln, Claus

Natürlich werden Streiks stattfinden, allein schon, weil die Vorstellungen von DB und GDL weit auseinander liegen. Zudem waren sie immer Teil des Waffenarsenals der GDL in den letzten 15 Jahren und weiterhin sind sie bereits angedroht worden, auch, um die eigenen Mitglieder einzustimmen. Entscheidend ist die Frage: Wird es einen Erzwingungsstreik geben und wenn ja, wie viele Zugeständnisse wird es der DB gegenüber am Ende trotzdem geben? Und kann so ein Streik durchgehalten werden?

Die Motivation dafür dürfte hoch sein. Die Inflation schlägt ins Kontor, die Arbeitsbedingungen entsprechen der Pünktlichkeit und dann ist da die sowieso vorhandene, grundsätzlich kämpferischere Haltung der GDL. Und dann ist da noch die Konkurrenz zur EVG. Für Claus Weselsky und die Führung der GDL ist sie ein Ziel wiederholter verbaler Angriffe und negativer Profilierung. Auch wenn an der Inflation gemessen die GDL ebenfalls eine „Einkommensverringerungsgewerkschaft“ in den letzten Jahren war (und es wird sehr schwer, dies diesmal nicht auch zu sein), so wirft der große Claus vor allem der EVG vor, dies zu sein.

Zweifellos hat die GDL viel rausgeholt, was die EVG dann nachgetragen bekommen hat. Ihre kämpferische Haltung ist glaubwürdiger und der Vorsitzende Weselsky schafft es, sich mit einer gewissen schrulligen Note mitgliedernah zu geben – gepaart mit einem gehörigen Schuss Populismus. Selbst die bürgerliche Presse, deren liebster Feind er war, beginnt nun, mit der Gewissheit, ihn bald los zu sein, ihm kleine Denkmäler zu bauen und ihn anerkennend eine Kultfigur zu nennen. Die GDL ist vor allem er. Sein wahrscheinlicher Nachfolger Mario Reiß wird es trotz sächsischen Akzents und angedeutetem Schnauzer schwer haben, es ihm gleichzutun.

Und so ist der Apparat auch auf die Spitze der GDL zugeschnitten, sowohl strukturell als auch personell. Die Sekretär:innen sind noch mehr als etwa in der EVG Weisungsempfangende von oben, was zuerst eine straffere Kontrolle bedeutet. Eine breitere Debatte über das Ergebnis der GDL-Runde wird es nicht geben. Natürlich ist Claus Weselskys Ablehnung einer moderierten Verhandlung zwar an sich richtig, aber die Begründung, nicht im Hinterzimmer verhandeln zu wollen, geheuchelt, denn in allen Tarifrunden der GDL lief es immer darauf hinaus, dass nicht nur die letzten Worte, sondern auch die ersten der Runde die Kabinette nie verließen.

Darüber hinaus schwingt natürlich die Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes durch die DB mit, von dem Martin Seiler nicht abrückt, das zu Fall zu bringen über einen angestrebten Kündigungstarifvertrag, ein richtiges Ziel der GDL ist. Es bedeutet eine verschärfte Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften EVG und GDL, da nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die die Mitgliedermehrheit in den jeweiligen DB-Betrieben stellt. In 18 Betrieben ist das die GDL, in 282 die EVG, wobei es nicht erwiesen ist, ob diese Verteilung tatsächlich den Mehrheitsverhältnissen entspricht. Die EVG war in diesem Sinne bisher tatsächlich eher eine Hausgewerkschaft, die GDL die, die sich reingekämpft hat. Um das zu erreichen, wurden nicht nur für deutsche Verhältnisse vergleichsweise harte Streiks geführt. Der Vorstand um Claus Weselsky gebärdete sich stark und zugleich opportun. Sie ist nicht nur fein damit, Rechte unter ihren Mitgliedern zu haben, sondern stellt sogar heraus, keine Abgrenzung gegen die AfD zu wollen. Das sei nicht Aufgabe einer Gewerkschaft. Diese habe schlicht gute Arbeitsbedienungen für ihre Mitglieder zu erreichen. Hier ist die GDL eindeutig reaktionärer als die EVG. Auch wenn es schwierig war, es gegen die alte, weiß-männlich geprägte Garde durchzusetzen war, gibt es in Letzterer eine gewisse Offenheit z. B. für queere Themen.

Entsprechend ist das Verhalten zu den Zerschlagungsplänen der DB. Während die EVG als „Hausgewerkschaft“ des Staatskonzerns an der Misere DB festhält, spricht sich die GDL für die Zerschlagung aus, was zwar nicht dem Eisenbahnsystem nutzt, aber die Erwartung in sich trägt, den eigenen Einfluss auszubauen. Da passt es ins Bild, eine eigene Leiharbeitsfirma mit „fair-train“ gegründet zu haben, wie wir im Artikel „GDL – Genossenschaft Deutscher Lokführer?“ im Juni auf unserer Homepage gezeigt haben.

Kaum was nehmen sich übrigens EVG und GDL beim Thema DB Cargo. Es zeichnet sich ab, dass die DB die rote Zahlen schreibende Güterzugsparte zusammenstauchen will. 1.800 Jobs sollen wegfallen, darunter 400 Triebfahrzeugführerstellen. So klappt das natürlich mit der Verkehrswende nicht. Selbst wenn flächendeckend die Schrauben- durch automatische Kupplungen ersetzt werden würden (was sinnvoll wäre!), würde der Einzelwagenverkehr in der Konkurrenz gegen die Straße kaum mithalten können. Die privaten EVU im Gütersektor konzentrieren sich entsprechend fast ausschließlich auf das Ganzzuggeschäft.

Wo bleiben da die Gewerkschaften, nicht nur in Worten dagegen zu sein, sondern dagegen zu kämpfen? Warum machten und machen sie den Erhalt von Cargo nicht zum Teil ihrer Tarifrunde? „Keine Stellenstreichung“ müsste die Parole lauten! Der Kampf um eine einzige staatliche Bahn mit guten Arbeitsbedingungen, finanziert aus massiver Besteuerung privater Profite und unter Kontrolle der Beschäftigten, wäre die Alternative. Damit wäre ein großer Pool an Lokpersonal vorhanden, was nicht erst per Taxi nach Rotterdam gefahren werden muss, um da einen Zug zu holen, der nicht fertig vorbereitet ist. Die sinnlosen und Trassen blockierenden Leerfahrten wären somit auch Geschichte.

Durchsetzen, zusammen kämpfen!

Aber zurück zur GDL-Runde. Dass eine rasche Urabstimmung angestrebt wird, ist ein gutes Zeichen und das richtige Vorgehen angesichts der Blockade durch Martin Seiler. Es gibt der GDL-Spitze jedoch auch freies Geleit. Umso wichtiger ist es, für öffentliche Verhandlungen, tägliche Streikversammlungen und eine wähl- und abwählbare Streikdelegation einzutreten – Forderungen, die angesichts der Popularität Weselskys einer Debatte bedürfen. Was soll die Selbstermächtigung, wenn es wen gibt, der das schon alles für eine/n macht?

Die Diskussion sollte vor dem Hintergrund geführt werden, warum eigentlich von Anfang an bereits hinter den Kulissen gesagt wird, dass das Geforderte nicht erreicht werden wird.

Die Tarifrunde der GDL geht aber nicht nur diese an. Die EVG darf nicht ihrerseits die Politik der Entsolidarisierung betreiben, die die GDL-Spitze während der EVG-Tarifverhandlungen führte, sie muss vielmehr jeden Streikbruch ablehnen und den Streik der GDL unterstützen. Ein Erfolg der GDL wäre schließlich einer für alle – und Solidaritätsbekundungen durch die EVG und, falls die Führung das verweigert, durch kämpferische Kolleg:innen wären ein wirklicher Schritt, die reale Entsolidarisierung bei der Bahn zu verhindern. So könnte auch die Grundlage für gemeinsame Kämpfe für höhere Einkommen, bessere Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten geschaffen werden – und für den kommenden Großkonflikt, nämlich gegen die Zerschlagung der Bahn.

Schließlich ist die Tarifrunde auch eine, die alle Lohnabhängigen betrifft und die wir offensiv mit der Forderung nach einem kostenlosen Nahverkehr für alle verbinden müssen, für einen ersten Schritt zu einer realen Verkehrswende im Sinne der gesamten Arbeiter:innenklasse. Die Bildung von Solidaritätskomitees mit einem GDL-Streik wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Um eine solche Perspektive bei der Bahn, EVG und GDL gegen die Vorstände, alle Bürokrat:innen, die farblosen wie die schillernden, durchzusetzen, brauchen wir Organisierung der kämpferischen und klassenbewussten Basis.

Daher: Unterstützt die Vernetzung für kämpferische Eisenbahner:innen! Tretet mit ihr in Kontakt, beteiligt Euch an deren Aufbau!




Tabula rasa – Tafeln in Not

Bruno Tesch, Infomail 1227, 9. Juli 2023

Auf seiner Internetseite bittet der Verband der Tafeln in Deutschland um Spenden:

„Über 960 Tafeln, eine Mission: Lebensmittel retten und armutsbetroffenen Menschen helfen. Die Tafeln retten Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, und geben sie an Menschen in Armut weiter, die sich eine ausgewogene Ernährung nicht leisten können.“

Schon im 1. Weltkrieg gehörten Suppenküchen für Bedürftige besonders in Großstädten zum Alltag, um den ärgsten Hunger zu stillen. Dort wurde Essen an Erwachsene gegen ein geringes Entgelt ausgegeben, für Kinder auch kostenlos verabfolgt. Diese Speiseanstalten wurden zumeist von kommunalen Verwaltungen, den Kriegshilfsausschüssen, unterhalten. Nach dem Krieg kamen sie vermehrt wieder in der Zeit der schwindelerregenden Verteuerung von Lebensmitteln und während der hohen Arbeitslosigkeit zum Einsatz.

Der Dachverband beziffert die vor der Entsorgung geretteten und gespendeten Lebensmittel auf jährlich rund 265.000 Tonnen, die an etwa zwei Millionen Menschen weitergegeben werden. Diese Zahlen haben sich jedoch in der jüngsten Zeit dramatisch auseinanderentwickelt. Nebenbei bemerkt: Hauptursache dieser Lebensmittelverschwendung ist im Gegensatz zur herrschenden Meinung nicht das Verhalten der Verbraucher:innen, sondern sind Auflagen des Handels, zumeist ökologisch völlig unsinnige Normen.

Engpässe

Die Tafeln schlagen Alarm, denn das Versorgungsangebot ist deutlich geschrumpft. Bisher kamen die Spenden zum allergrößten Teil von den großen Lebensmittelketten, die sie mit Produkten versorgten, deren Verfallsdatum kurz vor dem Ablauf stand, aus Lagerbeständen, Überproduktionen oder Sortimentsumstellungen stammen oder aus anderen Gründen sich nicht verkaufen ließen. Nun haben die Lebensmittelhändler:innen ihre Mengen im Sortiment einer knapperen Kalkulation unterworfen, so dass sie den Tafeln weniger Ware übereignen.

Binnen anderthalb Jahren hat sich die Länge der Menschenschlangen, die bei der Essensausgabe anstehen, verdreifacht. Es sind nicht nur Arbeitslose oder Zugewanderte, die sich dort einfinden. Die Arbeitslosigkeit, Hauptgrund für Bedürftigkeit wie etwa Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist in den letzten Jahren nur unwesentlich gestiegen. War es bis vor kurzem noch schambehaftet, sich in die Kette der Wartenden einzureihen, treibt jetzt die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die für die Bevölkerungsmehrheit weit über der offiziellen Inflationsrate liegt, die Menschen massenweise zur Tafel.

In der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung steckte schon immer ein Klassenproblem. Armenpflege war bis in die Neuzeit karitative Aufgabe der Kirche. Der Klerus als parasitäre Klasse (und im Kapitalismus: Kaste) erfüllte wenigstens eine soziale Pflicht, indem er für die Mittellosen Almosen- und Krankenpflegedienste organisierte.

Durch das Anwachsen des städtischen Proletariats wuchsen auch die Versorgungsprobleme.

Der bürgerliche Staat entledigte sich erst im 1. Weltkrieg, als diese soziale Unruhen heraufbeschworen, auf seine Weise des Dilemmas. Er stellte zwar Räumlichkeiten und Ausstattung für Verpflegungsstationen, wälzte aber die Arbeit darin auf unbezahlte Kräfte ab, indem an das patriotische Gewissen appelliert wurde, die Nation in der gemeinsamen Kriegsanstrengung zusammenzuhalten.

Diese ehrenamtlichen Tätigkeiten verrichteten parallel zu den medizinischen Pflegediensten in Kriegslazaretten in erster Linie Frauen. In den derzeitigen Tafeln überwiegen ebenfalls weibliche Arbeitskräfte, die nur einen Spesentagessatz – ein Almosen – für ihren physisch und psychisch anstrengenden Einsatz erhalten. Von den 60.000 Helfer:innen wandern jedoch viele ab, so dass neben Material- auch Personalengpässe entstehen.

Tafelverband

Der Tafelverband rühmt sich, mit seinem Mitarbeiter:innenstab „eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland“ zu sein. Der Dachverband ist seit 1995 als gemeinnütziger Verein eingetragen, betreibt Lobbyarbeit und erhält auch „projektgebundene“ Fördermittel aus dem mit der Schirmherrschaft betrauten Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das aber gerade bei der neuesten Bundeshaushaltsvorlage mit empfindlichen Einbußen rechnen muss. In der Summe sind die Tafeln aber auf Spenden von privater Seite angewiesen, die bisher zum großen Teil von Lebensmitteldiscountern stammten. Diese leisteten sich die Abgaben zur Aufpolierung ihres Images als nachhaltige Wirtschaftsunternehmen. Doch sie schränken nun ihr ja auf Freiwilligkeit beruhendes Engagement ein. Die Tafeln stehen also auf wackligem Fundament.

Gegen Mildtätigkeit und Spendenbereitschaft hat sicher niemand etwas einzuwenden. Sie verdecken allerdings nur das eigentliche Problem: die gesellschaftliche Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, die der Kapitalismus niemals garantiert und, wenn überhaupt, nur durch Unterdrückung und Ausbeutung imperialisierter Länder und deren proletarischer und kleinbäuerlicher Klassen gewähren kann.

Eine „sozial-ökologische Bewegung“, die der Tafelverband vorgibt zu sein, müsste sich also auch mit den Arbeitsverhältnissen und Umweltbedingungen beschäftigen, unter denen Nahrungsmittel hergestellt und vertrieben werden. Außerdem müsste auch die heimische Lebensmittelindustrie ins Visier genommen werden.

Die vier Branchenries:innen des Handels, die den deutschen Markt unter sich aufgeteilt haben, gehören zu den großen Profiteur:innen der Inflation. Ihre aggressive Einkaufspolitik verschafft ihnen bereits bei den Hersteller:innen hohe Zwischenmargen, die sie, ähnlich wie die Energiekonzerne, durch die Aufschläge in der Preisansetzung im Verkauf realisieren und in keiner Weise an die Endverbraucher:innen weitergeben.

Preiskontrollen in der Lebensmittelindustrie wären also an der Tagesordnung. Vertrauen darauf, solche durchzuführen, kann natürlich einer bürgerlichen-karitativen Institution wie der „Tafelbewegung“ nicht entgegengebracht werden. Das ist vordringliche Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung.

Derartige Einrichtungen wie die Tafel bestehen auch in anderen Industrieländern. In Frankreich existiert ein Zwangsabgabegesetz, das Lebensmittelfirmen mit mehr als 400 Quadratmeter Verkaufsfläche dazu anhält, eine bestimmte Menge ihres Sortiments an Sozialstätten abzutreten. Ein solches Gesetz kann nützlich sein, muss aber in ein allgemeineres Preisüberwachungssystem einbezogen und einer strengen Kontrolle unterworfen werden.

Hier könnten demokratisch gewählte Ausschüsse als geeignetes Instrument dienen. In ihnen müssten nicht nur Aktist:innen aus der Arbeiter:innenbewegung tätig sein. Sie könnten auch nicht-berufstätige proletarische Frauen, Migrant:innen und Verbraucher:innen und vor allem Verbindungen zu den Beschäftigten in der Lebensmittelbranche aufnehmen, damit die Arbeiter:innenkontrolle mittels Einsichtnahme in Geschäftsunterlagen der Lebensmittelkonzerne Substanz gewinnen könnte.

Um ihren politischen Wirkungsgrad zu erhöhen, sollten Verbindungen zu Mieter:innenvereinigungen und zum Energiesektor aufgebaut werden, also vornehmlich zu Bereichen, die besonders unter Inflation und Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse zu leiden haben, Diese Ausschüsse gälte es zu zentralisieren. Außerdem könnten internationale Verbindungen z. B. nach Frankreich, hergestellt, deren Erfahrungen mit dem Zwangsabgabegesetz ausgewertet und unter Umständen gemeinsame Kampforgane aufgebaut werden.




GDL – Genossenschaft Deutscher Lokomotivführer?

Leo Drais, Infomail 1226, 12. Juni 2023

Die Führung der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Eigenschreibweise nicht gegendert) hat am 5. Juni an einem selbstverkündeten „Großen Tag“ ihre Forderungen für die Tarifrunde mit allen Unternehmen für 2023 präsentiert.

Mit viel Applaus wurden die „Fünf für Fünf“ aufgenommen: 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35 Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35- Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innenanteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Neben diesen Forderungen gab es dann noch eine Überraschung. Die GDL hat zum Juni 2023 eine eigene Genossenschaft eintragen lassen, die als Leiharbeitsfirma zunächst Triebfahrzeugführer:innen für den Eisenbahnmarkt stellen will. Mitglied werden kann nur, wer in der GDL ist. Die Konditionen sollen dabei den Forderungen der GDL entsprechen.

Fair Train e. G.

Die Gründung der Genossenschaft Fair Train kommt nicht ungefähr. Sie ist eine versuchte doppelte Kampfansage: Sowohl an gewisse Eisenbahnunternehmen –  allen voran den „roten Riesen“ DB – aber auch in Richtung der Konkurrenzgewerkschaft EVG.

Bereits im Vorfeld sollen Gespräche über Fair Train gelaufen sein – natürlich nicht mit der Mitgliedschaft, die mehr oder weniger vor den Kopf gestoßen war, sondern mit den sogenannten Wettbewerbsbahnen, also Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die nicht im Eigentum des Bundes sind (sog. NE-Bahnen). Man muss ja als gute, als bessere Sozialpartnerin erstmal abchecken, ob der Sozialpartner Kapital überhaupt Interesse an den verliehenen Kolleg:innen hat.

Anscheinend gibt es dieses Interesse – und warum auch nicht. Insbesondere im Güterverkehr würde über Leiharbeit für die Unternehmen ein Risiko genommen werden, nämlich wenn man z. B. im Falle einer Wirtschaftskrise und abbestellter Güterzüge das lästige Personal an der Backe hat. Neben dem rollenden Material (das auch oft genug geleast ist oder gemietet) wäre man dann einen anderen laufenden Kostenfaktor los und man könnte sich ganz aufs Kerngeschäft, also Geld Verdienen, konzentrieren.

Den begünstigenden Rahmen für Fair Train stellen dabei im Gegensatz zum Fernverkehr auf der Straße zwei Faktoren da. Erstens ist, auch wenn der Eisenbahnmarkt europaweit liberalisiert ist, das Bahngeschäft nach wie vor ein vor allem nationales Ding. Während auf deutschen Autobahnen als Folge der EU-Osterweiterung sehr viele Fahrer:innen aus osteuropäischen Ländern unterwegs sind und es einen gnadenlosen Preiskampf nach unten gibt (ausgetragen u. a. über Lohnkosten, schlechte Arbeitsbedingungen usw.), fahren auf deutschen Gleisen in den allermeisten Fällen nach wie vor deutsche Lokführer:innen. Denn während die Sprache für das Fahren eines LKW quasi egal ist und die Straßenverkehrsregeln auch weitestgehend gleich sind, ist der Bahnbetrieb etwas, das zwingend die Landessprache voraussetzt sowie eine besondere Qualifikation, im jeweiligen Land Züge bewegen zu dürfen. Das begrenzt von vornherein natürlich den Arbeitskräftemarkt enorm, der – und das ist der zweite Aspekt – weitgehend leergefegt ist.

Das führt uns zum Kalkül der GDL-Chef:innen. Wenn ausreichend viele Lokführer:innen zu Fair Train wechseln, dann könnte sich die GDL zumindest für das Lokpersonal die Tarifverhandlungen sparen, sondern dem Markt einfach die eigenen Konditionen aufdrücken. Weit davon entfernt, diese Größe zu haben, werden die nächsten ein, zwei Jahre zeigen, ob die e. G. by GDL ein Experiment oder mehr ist.

Politisch falsch und fatal ist sie schon jetzt.

Kampf statt Markt

Die Idee, sich durch den Zusammenschluss zu einer Genossenschaft dem Gewitter des Marktes, also dem Druck der Kapitalist:innen zu entziehen, ist nicht neu. Gewisse Überbleibsel gibt es davon bis heute, etwa in Form von Wohnungsbaugenossenschaften, Volksbanken oder der Raiffeisensparkasse. Auch Produktionsgenossenschaften oder eine Art Arbeiter:innenselbstverwaltung sind nicht neu.

Für die Arbeiter:innenklasse birgt diese Strategie, Wettbewerb durch Wettbewerb zu ersetzen, mehrere problematische Aspekte:

  • Das Geschäftsrisiko der Kapitalist:innen wird automatisch zu unserem. Haben wir als Beschäftigte z. B. der Deutschen Bahn in Krisensituationen immer noch die Möglichkeit, die Kosten der Krise dem Konzern aufzudrücken (im Endeffekt kommt unser Lohn selbst in dem maroden Cargo-Laden immer noch pünktlich), gibt es diese Möglichkeit für Beschäftigte einer Leiharbeitsgenossenschaft nicht. Der Kunde bestellt die Dienstleistung ab und fertig.
  • Sollte Fair Train keine marktrelevante Stellung einnehmen, kann es sehr schnell in einen Preiskampf mit anderen Personaldienstleister:innen geraten. Die Mitglieder der Genossenschaft werden zu Selbstausbeuter:innen. Ökonomisch exakt betrachtet, sind sie es von vorneherein. Im Endeffekt muss hier auf einen Nachfrageüberhang für Arbeitskräfte spekuliert werden.
  • Nicht zuletzt bedeutet der Schwenk von der Gewerkschaft zur Genossenschaft auch nicht, einer Arbeiter:innenselbstverwaltung näherzukommen. Im Gegenteil wird hier wie in allen Genossenschaften zwar einmal im Jahr zur regulären Mitgliederversammlung geladen werden, die wirtschaftlichen Geschicke der Firma liegen aber ganz in den Händen einer intransparenten und nicht wählbaren Führung.
  • Die Genossenschaft wird also nicht nur einem Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozess unterzogen, sie fungiert vor allem als Kapital. Die GDL wandelt sich, je nach Erfolg der Unternehmung, von einer Gewerkschaft zu einer weiteren Zeitarbeitsfirma. Die Genossenschafter:innen mit einem hohen Anteil entwickeln sich entweder selbst zu Leuten, die vom Gewinn ihrer Unternehmung leben wollen. Die Genossenschafter:innen mit geringen Anteilen, die weiter als Lokführer:innen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, geraten in eine widersprüchliche Klassenposition – und das umso mehr, je höher ihr Anteil an der Genossenschaft ist.

Dass die Führung der Unternehmung intrasparent, nicht wählbar sein und gemäß dem Diktat des Marktes agieren wird müssen, bringt uns zurück zur aktuellen Situation. Einerseits befindet sich die GDL dank Tarifeinheitsgesetz z. B. bei der Deutschen Bahn AG in Konkurrenz zur Gewerkschaft EVG (über die man am „Großen Tag“ in populistischer Manier gepfeffert herzog, als sei sie die eigentliche Feindin, und wenn man sich den Eisenbahnbossen schon mit einer Leiharbeitsfirma andient, ist an dieser Vermutung vielleicht auch was dran – kampfstarke Streikgewerkschaft hin oder her), die bei der DB abgesehen vom Zugpersonal die Mitgliedermehrheiten innehat. Daher auch das Eintreten der GDL-Führung und Claus Weselskys für die Zerschlagung der DB. Für eine weitere Liberalisierung des Eisenbahnmarktes stünde die GDL dann schon mit Fair Train in den Startlöchern, ganz nach dem Motto: Egal, welches Unternehmen den Zug besitzen, mieten oder fahren lassen will: Wir stellen das Personal.

Dem was wir, auch aus Sicht einer Verkehrswende, brauchen, bringt uns das nicht näher. Anstatt einer Genossenschaft, wo sich die Eisenbahner:innen zusammenfinden sollen gegen einen durchliberalisierten Markt oder einen Managementselbstbedienungsladen DB, braucht es eine einzige staatliche Bahn, die wir als Eisenbahner:innen in Verbindung mit den lohnabhängigen Kund:innen demokratisch kontrollieren. Denn Eisenbahn können wir besser als „die da oben“ – sitzen sie im Bahntower, auf der Bühne oder uns gegenüber. Sie wollen alle nur das Beste für uns, Herr Seiler, Herr Weselsky und Herr Burkert – und doch sind sie die Fortsetzung einer eisenbahnzerstörenden Geschichte.




Britannien: Für eine Kampagne gegen den Tarifabschluss bei Royal Mail

Workers Power Postal Workers Bulletin, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Royal Mail: Baut die Nein-Kampagne auf!

Gegenwehr gegen Angriffe auf unsere Löhne und Arbeitsbedingungen!

Organisiert eine klassenkämpferische Basisbewegung zur Zurückweisung des Abkommens!

Als die Vereinbarung mit Royal Mail (Britische Post) im April veröffentlicht wurde, löste sie eine Gegenreaktion der Gewerkschaftsmitglieder aus, als klar wurde, dass die Führung der CWU (Communication Workers Union) den meisten Forderungen von Royal Mail nachgegeben hatte.

Nach drei Abstimmungen, 18 Tage Lohnverlust an Streiktagen und über 400 suspendierten und entlassenen betrieblichen Gewerkschaftsertreter:innen und Mitgliedern, bedeutet die Vereinbarung einen Rückschlag in Bezug auf Löhne, Tarife und Arbeitsbedingungen.

Grundsätzlich ebnet sie den Weg für einen massiven Anstieg der Arbeitsbelastung, insbesondere für die Beschäftigten im Zustelldienst, und untergräbt die Kampfkraft der Gewerkschaften.

Aus diesem Grund haben einige CWU-Postangestellte und -Vertreter:innen eine Kampagne für die Belegschaft gestartet: Postangestellte sagen, stimmt mit Nein. Macht online mit, ladet das Bulletin herunter, um es an eure Kolleg:innen weiterzugeben, und beteiligt euch: www.tinyurl.com/PostiesSayNo.

Gewerkschaftsführer:innen kapitulieren

Auf den ersten beiden Seiten des Abkommens geht es um die katastrophale Lage von Royal Mail und darum, „das Schicksal des Unternehmens umzukehren“. Die Gier der Bosse hat das Unternehmen in den Ruin getrieben, aber die Vereinbarung stellt sicher, dass die Beschäftigten dafür zahlen, das Unternehmen wieder flottzumachen, und dass sie durch Erhöhungen der Arbeitsbelastung und Umstrukturierungen ihre Gewinne steigern können. Die CWU-Führerung wird die Kürzungen und Veränderungen in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit dem Management überwachen – und dann erwarten, dass die betrieblichen Gewerkschaftsvertreter:innen sie umsetzen.

Das Abkommen kann zu Recht als Niederlage bezeichnet werden. Die Führung hat den Streik für viermonatige Gespräche beendet, die zu nichts geführt haben. Für Arbeiter:innen enthält es kaum Positives. Viele begrüßen zwar die Zahlungen, aber bei steigenden Preisen bedeutet das Dreijahreslohnabkommen einen Reallohnverlust von über 10 Prozent. Der Rest akzeptiert, was die Bosse wollten oder hat ihre Forderungen (völlige Flexibilität, Fahrer:innen als Scheinselbstständige) nur dadurch „besiegt“, dass er ihnen auf halbem Wege mit Zugeständnissen bei der Arbeitsbelastung, 30 Minuten „formalisierter Flexibilität“ und saisonalen Arbeitszeiten entgegenkam.

Als eines der schlimmsten Zugeständnisse hat die Gewerkschaft die Zweistufigkeit der Belegschaft akzeptiert, d. h. neue Mitarbeiter:innen erhalten Verträge mit einer Arbeitszeit von mehr als 40 Stunden bei geringerer Bezahlung und Sonntagsarbeit. Persönliche digitale Assistent:innen und andere Daten werden als Anfang von der Geschäftsleitung für Leistungen und bestimmte Verhaltensweisen verwendet und missbraucht. Die Arbeiter:innen müssen die Worte über „unterstützende“ Ansätze für Anwesenheit und Leistung, „gesicherte Garantien“ oder noch schlimmer „gemeinsame Bestrebungen“ für die kürzere Arbeitswoche (wenn sie die Stunden für Neueinsteiger:innen erhöhen) in den Mülleimer werfen, wo sie hingehören, denn sie sind wertlos.

Die geopferten gewerkschaftlichen Vertreter:innen und Mitglieder sind nicht wieder eingestellt worden. Stattdessen wird ein „unabhängiger“ Richter, der selbst kein Freund militanter Gewerkschafter:innen ist, Lord Falconer, der 2016 für die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der Tories gestimmt hat, die Fälle überprüfen.

Das Abkommen trifft die Zusteller:innen besonders hart und wird die körperliche Arbeit im Freien ausweiten und viele aus dem Job drängen. Wie ein Zustellervertreter dies online fragte: „Im schlimmsten Fall kürzt eine Revision Hunderte Außendienststunden zur Erholung von den Gängen und macht sie länger plus 35 Minuten Streichung vom Innendienst und Anrechnung auf den Außendienst plus 2 Stunden länger im Winter plus 30 Minuten ,formalisierter Flexibilität’ an einigen Tagen. Man könnte also im Außendienst bis zu anderthalb Stunden länger als jetzt, um Weihnachten herum vielleicht sogar mehr, arbeiten.“

Einzuberechnen wären spätere Anfangszeiten bis zu 90 Minuten und Flexibilität, was bliebe dann noch übrig von „familienfreundlichen“ Schichten? Wenn man dann noch Anwesenheitszeiten, Verhaltensdaten, Kürzungen bei krankheitsbedingt vorzeitiger Verrentung zurechnet, kann Royal Mail schneller und billiger Arbeitskräfte loswerden, und mit dem zweistufigen Arbeitskräftesystem wird dem Unternehmen das gelingen.

Ein selektiver Ausverkauf

Die CWU-Führung sagt, sie wolle eine informierte Diskussion, damit Mitglieder eine informierte Entscheidung treffen können, aber während sie nicht bestimmte Fragen umgehen kann, sind andere (wie Zweiklassen-Arbeitskräfte, Verhaltensdaten, 20 – 35-minütige Kürzung für Innendienst bei Zustellungen), wenig bis gar nicht angesprochen worden. Die betrieblichen gewerkschaftlichen Vertreter:innen sollten darauf aber Antworten verlangen. Wenn diese nicht gegeben werden, könnte sich Royal Mail aus dem Abkommen herausstehlen, was bedeuten würde, seine Profitabilität auf unsere Kosten wiederherzustellen.

Das Abkommen läuft bis April 2025, doch seine Verpflichtungen zu keinen zwangsweisen Entlassungen sind kaum abzuschätzen angesichts der großen Anzahl von unbesetzten Stellen in Büros und billigen Berufseinsteiger:innen. Royal Mail sagt nur, dass sie „nicht plane“, Briefzentren auszulagern, zu verpachten und rationalisieren oder getrennte Paketgesellschaften zu gründen.

Das sind keine Garantien und neue, einschneidende Änderungen, ein einheitliches Großpaketnetz zu schaffen, wird mehr direkte Konkurrenz mit Anbieter:innen wie Amazon hervorrufen, wenn die Bosse noch sagen, wir seien 40 % überbezahlt und unausgelastet, und das wird  uns immer weiter in einen Dumpingwettbewerb treiben.

Die Gewerkschaftsführer Ward und Furey versuchen uns eine Vision zu verkaufen, wonach wir zum normalen Alltag mit einem stabilen sicheren Arbeitsplatz und ruhigem Leben zurückkehren können. Doch in Wirklichkeit wird es dauerhaft Veränderungen geben, die in der gemeinsamen Arbeitsgruppe vereinbart worden sind. Wenn das Abkommen nicht den Profiterwartungen entspricht, könnte Royal Mail sich sogar Stück um Stück aus der Vereinbarungen herausziehen, wie sie es letztes Jahr getan hat. Günstigstenfalls tickt die Uhr bis 2025 herunter zu einem neuen Kampf, mit untergrabener Kraft unserer Stärke an der Basis.

Die Alternative

Wenn es keine Zustimmung gibt, könnte die Gewerkschaft Royal Mail ein paar Zugeständnisse abringen. Aber die wirkliche Alternative zu diesem faulen Abkommen bedeutet, dass die Streiks wieder aufgenommen werden. Dieses Mal mit einem wirkungsvollen Plan, sie umfassend zu steigern, und Solidaritätskomitees aufzubauen, so wie es Workers Power von Beginn der Auseinandersetzungen an vertreten hat. Jetzt ist es an der Zeit, die Kampagne zur Wiederverstaatlichung von Royal Mail als CWU-Politik zu führen, den Bossen nicht zu gestatten, uns mit der Bankrottdrohung zu erpressen. Wenn wir dieses Abkommen jetzt annehmen, was würden wir tun können, wenn sie uns 2025 oder schon vorher wieder angreifen?

Ein Ablehnungskampagne könnte die Kräfte entfalten, die die CWU seit langem gebraucht hat: eine Basisbewegung, die die Gewerkschaften unter Kontrolle der Beschäftigten bringt, mit Abrufbarkeit und Facharbeiter:innengehältern für alle Funktionär:innen. Streikkomitees sollen an der Basis gebildet werden, um den Gewerkschaften von unten neues Leben einzuhauchen. Das würde uns nicht nur für Kampf und Sieg ausrüsten, sondern auch eine neue Führung aus den militanten Elementen fördern helfen, eine, die die Gewerkschaften am Arbeitsplatz verankert.

Teilt Eure Antworten und Erfahrungen mit oder kontaktiert uns für mehr Information über Workers Power: https://workerspower.uk/contact/. Artikel zur CWU in Workers Power: www.tinyurl.com/WPCWU.




Britannien: Postbeschäftigte dürfen erpresserischer Drohung nicht nachgeben!

Andy Young, Workers Power (Britannien), Infomail 1222, 3. Mai 2023

Bevor die Einigung zustande kam, behaupteten die Chef:innen von Royal Mail, der britischen Post, das Unternehmen stehe kurz vor dem Bankrott, und drohten mit einer Insolvenz, falls die Kommunikationsarbeiter:innen-Gewerkschaft CWU keine Einigung erzielen würde.

Nicht zu glauben, hat die CWU-Führung dieser Erpressung nachgegeben und der aktuellen Vereinbarung zugestimmt, die die Bedingungen der Beschäftigten verschlechtert, um die Rentabilität wiederherzustellen. Auf den ersten Seiten des Abkommens werden die Bestimmungen ausdrücklich mit der Rückkehr der Gewinne verknüpft.

Der Vorsitzende der Londoner CWU, Martin Walsh, der die Einigung verteidigt, hat sich dieser Meinung angeschlossen. Er argumentiert, dass weitere Streiks die Situation von Royal Mail verschlimmert und das Unternehmen gezwungen hätten, noch stärkere Kürzungen als die in der Vereinbarung vorgeschlagenen vorzunehmen oder in die Verwaltung zu gehen, was bedeuten würde, dass „Tausende von Arbeitsplätzen verlorengingen, die nicht direkt mit der USO (Universal Service Obligations; Umfassende Pflichtdienste) verbunden sind“.

In einem anderen Beitrag (auf den Hunderte von verärgerten Antworten von Postangestellten eingingen) sagte er: „Diejenigen, die behaupten, dass die Regierung uns aus der Patsche helfen wird, haben nur teilweise Recht. Sie hätten die USO weitergeführt, aber alles andere, einschließlich Paketen, LAT (Briefverteilung), CSPs (Fracht, Schwerpakete) usw., wäre wahrscheinlich eingestellt worden, was zu Tausenden von sofortigen Arbeitsplatzverlusten geführt hätte, wobei nur die gesetzlichen Abfindungen zur Verfügung gestanden hätten.“

Das ist nicht unbedingt richtig und auch nicht realistisch.

Wenn wir mit Nein stimmen, geht das Unternehmen dann bankrott?

Zunächst einmal kennen wir die tatsächliche finanzielle Lage von Royal Mail nicht und werden sie auch nicht erfahren, bevor der Streik beendet ist und eine Einigung mit den Beschäftigten erzielt wurde.

Zweitens bedeutet die Annahme der Vereinbarung, dass die Bosse dafür belohnt werden, dass sie im letzten Jahr eine halbe Milliarde Gewinn eingestrichen und uns dann in der Vorweihnachtszeit zum Streik gezwungen, sie Konkurrent:innen für die Übernahme profitabler Paketzustellungen bezahlt haben und für Leiharbeitskräfte tief in die Tasche greifen mussten, um einen von ihnen provozierten Streik zu brechen.

Drittens: Ist es wirklich glaubhaft, dass ein Unternehmen, das vor der Pandemie profitabel war (in Höhe von 100 Millionen Pfund) und mehr Pakete denn je zustellt, unter normalen Bedingungen rote Zahlen schreibt?

Letztendlich bedeutet dies, dass man der Politik des Vorstands von Royal Mail nachgeben muss. Die internationale Holdinggesellschaft der Royal Mail, IDS, ist profitabel und schottet ihren Betrieb im Vereinigten Königreich absichtlich ab, um die im Ausland erwirtschafteten Profite den Aktionär:innen zukommen zu lassen und die Belegschaft unter Druck zu setzen. Das ist eine bewusste Politik, vor der wir nicht in die Knie gehen sollten. Die Profite der Royal Mail wurden verwendet, um die internationalen Vermögenswerte zu erwerben, und man war froh, die Aktivitäten damals miteinander zu verbinden!

Öffnung der Geschäftsunterlagen

Wir haben keinen Grund, die Behauptungen der Geschäftsführung für bare Münze zu nehmen. Öffnet die Geschäftsbücher und lasst uns sehen, wie es wirklich um das Unternehmen steht! Wenn es als gewinnorientierte Firma nicht lebensfähig ist, dann muss es verstaatlicht werden.

Die Wahrheit ist, dass das Unternehmen ohnehin wieder verstaatlicht werden sollte. Die Versprechungen, dass die Privatisierung dringend benötigte Investitionen in das Unternehmen bringen würde, waren immer ein Schwindel: Sie haben in den letzten 10 Jahren fast 2 Milliarden Pfund an Gewinnen entnommen.

Die 670 Millionen Pfund Gewinn, die im letzten Jahr gemacht worden sind, hätte man nutzen können, um das Unternehmen von Grund auf zu modernisieren. Wir könnten jeden Lieferwagen durch einen umweltfreundlichen Elektrotransporter ersetzen, die Büros gut isolieren, um die Heizkosten zu senken, und uns neue Arbeitsschuhe zulegen, ohne monatelang warten zu müssen!

Unabhängig davon, wie es um die Finanzen des Unternehmens bestellt ist, ist es eine harte Wahrheit, dass die Royal Mail nicht gleichzeitig ein gut geführter Betrieb sein kann, der eine wichtige öffentliche Dienstleistung erbringt und seinen Mitarbeiter:innen anständige Arbeitsbedingungen bietet, und zugleich eine Goldgrube für milliardenschwere Aktionär:innen.

Wie bei allen anderen öffentlichen Diensten, die privatisiert wurden – von der Wasser- bis zur Energieversorgung – haben die Dividenden die Investitionen bei weitem übertroffen, und das Ergebnis ist ein schlechterer Dienst, der die Nutzer:innen mehr kostet und von Arbeiter:innen erbracht wird, deren Löhne, Arbeitsbedingungen und Renten bis auf die Knochen gekürzt wurden.

Royal Mail sollte wieder verstaatlicht werden, ohne einen Penny Entschädigung für die Profiteur:innen.

„Aber die Tories wären schlimmer!“

Das Argument, dass eine von einer konservativen Tory-Regierung geführte Royal Mail in öffentlichem Besitz schlimmer wäre als die derzeitige private Verwaltung, wird von den Befürworter:innen des Deals gewöhnlich vorgetragen. Aber es ist schwer zu erkennen, wie es noch schlimmer kommen könnte.

Sie mussten die Zähne zusammenbeißen und Liberty Steel vor zwei Jahren verstaatlichen, als das Unternehmen in Konkurs ging. Die East Coast Mainline (elektrifizierte Eisenbahnlinie zwischen London King’s Cross und Edinburgh Waverley) wird von einem öffentlichen Unternehmen betrieben, nachdem sich private Betreiber:innen zurückgezogen hatten.

Ein wichtiger Grund für die Privatisierung war, dass es für eine Regierung politisch viel schwieriger ist, einen öffentlichen Dienst so zu zerstören, wie es private Eigentümer:innen mit der Notwendigkeit einer Profitsteigerung rechtfertigen können. Die von einem verstaatlichten Unternehmen erwirtschafteten Gewinne werden in den Dienst reinvestiert oder tragen zur Finanzierung anderer staatlicher Ausgaben bei – bei einem privaten Unternehmen werden sie in Jachten oder Steuerparadiesen investiert.

Eine Wiederverstaatlichung der Royal Mail und eine anschließende Kürzung der allgemeinen Dienstleistungen wäre also selbst für die Tories politisch schwierig, ebenso wie eine Abspaltung des Paketdienstes, wie Martin Walsh sagt. Die neuen Paketzentren wurden über Jahre hinweg mit den Gewinnen der Royal Mail bezahlt, und man kann nicht davon ausgehen, dass die Regierung sie absichtlich inoperabel und unrentabel macht – wenn es eine öffentlichkeitswirksame, mit Streiks verbundene Kampagne zur Wiederverstaatlichung der Post gibt.

Derzeit kann sich Premierminister Rishi Sunak noch zurücklehnen, während der Milliardär Kretinsky und seine Marionette Simon Thompson (Hauptgeschäftsführer von Royal Mail) unsere Arbeits- und Tarifbedingungen auseinandernehmen – „mit mir hat das nichts zu tun, Regierungschef“.

Aber das ändert sich, sobald Sunak dafür am Haken hängt. Wenn wir kämpfen, wird es für die Tories zu einem politischen Problem, wenn sie dabei beobachtet werden, wie sie die USO kürzen oder eine Gewerkschaft zerschlagen.

Würde die Bevölkerung uns dennoch unterstützen?

Es wird gesagt, dass die Royal Mail und ein Zustellsystem in der Öffentlichkeit nicht mehr beliebt genug sind oder nicht mehr gebraucht werden. Aber das ist nicht wahr. Der Rest der Gewerkschaftsbewegung würde uns sicherlich unterstützen, wenn wir kämpfen.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Survation vom August 2022 ergab, dass 68 Prozent der Öffentlichkeit der Meinung sind, dass die Royal Mail verstaatlicht werden sollte. Eine Kampagne für die Wiederverstaatlichung, die ohnehin die Politik der CWU zum Ziel hat, würde breite Unterstützung finden, weil ein ehemals öffentlicher Dienst dem Profit geopfert wurde, und ein Bankrott würde dies deutlich machen.

Wenn wir gewinnen würden, dann wären die Wiederverstaatlichung der Eisenbahn, der Rauswurf der Profitgeier aus dem Nationalen Gesundheitswesen, die Kontrolle über die Profiteur:innen, die die Energierechnungen in die Höhe treiben und die Abwässer in unsere Flüsse leiten, echte Möglichkeiten und die logischen nächsten Schritte.

Die Vorstellung, dass eine Wiederverstaatlichung unter einer Labour-Regierung wahrscheinlicher ist oder Parteichef Keir Starmer netter wäre als die Tories, ist nur ein Trugbild. Ohne massiven Druck würde er das nicht tun. Die Tatsache, dass Royal Mail sagt, es sei fast bankrott und nicht mehr tragfähig, erzeugt jetzt den stärksten Druck für seine Wiederverstaatlichung.

Und das Argument, dass eine Renationalisierung durch die Torys automatisch schlechter wäre als das Ergebnis der aktuellen Vereinbarung, ist zwar verständlich, aber nicht wahr. Anstatt einer rücksichtslosen Unternehmensleitung nachzugeben, die nur noch mehr fordern wird, kann sich die CWU gegen alle Versuche der Tories wehren, die USO oder unsere Arbeitsbedingungen in einem wiederverstaatlichten Unternehmen zu beschneiden, und eine Solidaritätsbewegung um uns herum aufbauen.

Das setzt jedoch voraus, dass die CWU-Führer:innen ihre Strategie der Absprachen mit der Unternehmensleitung, der Zusammenarbeit bei Umstrukturierungen und der Kürzung unserer Löhne und Arbeitsbedingungen aufgeben und stattdessen für die Gewerkschaftspolitik kämpfen – die lautet: Wiederverstaatlichung.

Und das wiederum setzt voraus, dass sich die Basis der Gewerkschaft organisiert, um einen solchen Richtungswechsel voranzutreiben und unsere Macht wiederherzustellen, damit wir ihn von der Basis aus durchsetzen können.

Als Sozialist:innen würden wir noch weiter gehen. Das Unternehmen sollte verstaatlicht werden, ohne dass die Bonzen, die das Vermögen und die Gewinne abgeschöpft und den öffentlichen Dienst in die Knie gezwungen haben, auch nur einen Cent erhalten. Es sollte nur eine Entschädigung für die Kleinaktionär:innen geben, und der Postdienst sollte unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innen und Kund:innen geführt werden.




Konversion der Autoindustrie – eine Frage des Plans

Leo Drais, Neue Internationale 273, Mai 2023

Von der Fläche her ist es die größte Fabrik der Welt – das VW-Werk bei Wolfsburg. Ursprünglich gebaut von den Nazis, finanziert mit Geld, das die NSDAP von den verbotenen Gewerkschaften raubte. Nach dem Krieg wurde aus dem Kraft-durch-Freude-Wagen der Volkswagen. Außer dem geänderten Namen sah der VW Käfer genauso aus wie in Hitlers Massenmotorisierungsträumen. Wirklichkeit wurde das, was mal als Größenwahn galt – jedem Mann ein Auto, das Land zerschnitten von Asphalt – spätestens ab den 1960er Jahren, Nachkriegswestdeutschland beerbte Nazideutschland.

Geerbt wurde ein zerbombtes Land. Die Städte in Schutt und Asche boten Gelegenheit, gründlich aufzuräumen. Straßen breit machen, weg mit den lästigen Schienen und ab damit unter die Erde. Die Straßenbahn wurde zur U-Bahn, der Platz für die autofreundliche Stadt war frei. Die Kinder zäunte man ein, wo sie den zum Dosenfleisch gewordenen deutschen Mann der 1960er Jahre bei seinen PS-Spielen nicht störten. Der Spielplatz war geboren und wo sonst noch etwas Grün frei war, da passte doch viel besser ein Parkhaus hin.

Der Käfer wurde zum Symbol des Wiederaufbaus und machte das Vergessen leichter. Wer denkt schon an Auschwitz, wenn man so wunderbar gedankenverloren durch die grünen Wälder braust?

Auch das war Hitlers Erbe, der die Idee von Ford geklaut hatte: Man kette den Menschen ans Fließband, wo er sich für den Konzern oder den Staat abrackert, aber nach Feierabend darf er in seinem in Raten abzuzahlenden Automobil allen Frust auslassen, alles vergessen, Spaß haben, Freude am Fahren, ein bisschen den Wind schnuppern, der ihn glauben lässt, er sei frei.

Ideologisiertes, mystifiziertes – Blech

Dabei ist diese Freiheit doch eigentlich nur auf den rechten Fuß beschränkt, der auf das Gaspedal steigt und dessen Besitzer:in bei 180 auf der Autobahn orgiastisch denkt: „Danke FDP!“ („Danke Union, Danke AfD.“) Außerhalb dessen ist sie für die meisten Fiktion, weder wo die Arbeiter:innenklasse lebt (zur Miete oder im „Eigenheim“ der Bank), noch wo sie arbeitet (am Fließband oder Bildschirm), ist sie frei. Es ist eine gefakte bürgerliche Freiheit, die sonst eigentlich nur für die Bosse und Reichen existiert.

Heute gibt es in der BRD fast 50 Millionen PKW, aber keineswegs 50 Millionen Autobesitzer:innen. Zweit- und Drittwagen verzerren die Statistik. In keinem anderen europäischen Land sind Wohlstand und Individualität, und seien sie auch nur scheinbar, ideologisch so sehr mit dem Auto verbunden. Das „Wirtschaftswunder“, das nichts anderes war als die Erneuerung des deutschen Kapitalismus dank der Zerstörungen des Krieges, bedeutete eine Neuausrichtung des deutschen Kapitals. An der militärischen Eroberung der Welt war man gescheitert, starke Bankkonzerne hatte man im Vergleich zu den USA oder Großbritannien nicht, aber wo man mitspielen konnte, war in der Industrie. Die Fabriken waren zerstört. Während die USA, Frankreich und Großbritannien mit veralteten Maschinen im Rückstand waren, hatten deutsche Konzerne bitter ironisch den Vorteil des Neustarts. Das Know-how erbte man aus den Kriegsfabriken und von der Konkurrenz.

Politisch hatte man als Verlierer des Krieges und als gespaltenes Land nichts zu melden, aber für den Neustart des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt war das Auto wie gemacht. Es war ein Massenkonsumgut, Produktion und Produkt ständig und hochgradig technisch revolutionierbar, Letzteres damit prädestiniert für hohe immer neue Profite.

Von Anfang an ist dieses neue Flaggschiff der deutschen Industrie aufs Engste mit dem Staatsapparat verschränkt. Immerhin ist im imperialistischen Stadium des Kapitalismus die Konkurrenz der Konzerne auch die der Staaten. Immerhin muss das Produkt unter das Volk gebracht werden, muss Deutschland der Welt zeigen, wie Wiederaufbau geht. Am offensichtlichsten ist diese Verbindung natürlich an der Entwicklung des Fernstraßennetzes und dem Freiräumen der Städte für das Auto ablesbar (und an der Verstümmelung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs auf der Schiene). Darüber hinaus profitiert die Autoindustrie aber bis heute und bis zum Abwinken von massiven staatlichen Subventionen, die sich nur in Namen und Programm unterscheiden. Mal heißen sie Abwrackprämie, mal Umweltbonus (für E-Autos, die dann mit Kohlestrom fahren).Entsprechend war und ist jeder Verkehrsminister (bisher alles bekennende Cismänner) diesen Konzernen nicht nur verpflichtet, sondern stets selbst ein leidenschaftlicher Autofahrer gewesen. Volker Wissing peitscht 144 Autobahnprojekte durch, die Grünen kriegen als Trostpflaster Solaranlagen neben die Fahrbahn gestellt.

Vernunft am Steuer?

Und da sind wir, in der Gegenwart einer verkehrspolitischen Dystopie, in der die Stadt stinkt und lärmt und vollgestopft ist mit Blech, in der das Land vernarbt ist von Asphalt und der Bahnhof von Mittelnirgendwo stumm vor sich hin verfällt. Völlig unzureichende Klimaziele werden weit verfehlt. Die Mobilitätswende ist in allen Mündern, passiert aber nicht in der Realität.

Denn für die Autoindustrie und ihren Verkehrsminister bedeutet sie: Erneuerung der Fahrzeugflotte durch übergewichtige E-Autos, E-Fuels in den SUV. VW (Volker Wissing) fährt nach Brüssel und dem EU-Verbrenner-Aus in die Karre. VW plant ein E-Autowerk auf dem Acker gleich hinter der heutigen (Alb-)Traumfabrik. Sie sind die, über die Macht verfügen. Wenn wir als Klimabewegung, linke Gewerkschafter:innen oder Antikapitalist:innen ernsthaft über eine Verkehrswende sprechen, müssen wir uns überlegen, wie wir diese brechen können.

Das wird entscheidend sein. Die fossilen Kapitale und ihre politischen Vertreter:innen beweisen jeden Tag, dass sie kein Interesse an einer echten Verkehrswende hegen. Sie können es auch gar nicht und heucheln es nicht einmal vor. Eine echte Verkehrswende hätte so wenig wie möglich, so viel wie nötig die Schiene als Rahmen. Im Kapitalismus ist das unmöglich. Selbst eine relevante Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fände doch immer noch unter der Voraussetzung permanenter Ausweitung der Produktion, des Wachstums statt. Schon jetzt sind die Hauptgüterkorridore des Schienenverkehrs in Deutschland überlastet. In einem Gesellschaftssystem, dass sich stärker als jemals zuvor in der Konkurrenz verwirklicht, kann Vernunft keine Rolle spielen. Was gesamtgesellschaftlich völlig irrational ist – z. B. die Verkehrspolitik der letzten 100 Jahre – macht nur Sinn für die Bosse, Aktionär:innen und Politiker:innen VWs, Daimlers und BMWs. Eine echte Verkehrswende umzusetzen, wäre ihr Klassenverrat. Es würde bedeuten, die größte Profitquelle und damit Machtbasis Deutschlands zu ersticken, ihren eigenen Reichtum zu gefährden.

Enteignung und …

Ihre Macht zu zerbrechen, heißt, ihnen ihren Besitz wegzunehmen, über den die größten Aktionär:innen nach Belieben kommandieren, die Welt mit Autos bewerfen können. Es heißt, Quandt, Porsche, die Qatar Holding und so weiter entschädigungslos zu enteignen und die riesigen industriellen Kapazitäten der Autofabriken für sinnvolle Zwecke zu verstaatlichen. Das ist natürlich leicht gesagt und weit weg und mit heutigen legalen Mitteln gar nicht zu verwirklichen. Der Staat schützt Eigentum. Die Freiheit für Privatbebesitzen ist doch die eigentliche bürgerliche Freiheit.

Durch einen äußeren Druck der Klimabewegung alleine wird so eine Verstaatlichung kaum passieren, wie das Beispiel Ende Gelände zeigt, das die Enteignung RWEs fordert. Wir sehen die Möglichkeit realistischer in den Fabriken selbst. Wenn die Beschäftigten von VW sagten, wir bauen diese Masse an Autos nicht mehr, sie dafür streikten, dann würde sie auch nicht mehr gebaut werden.

Anlässe für die Arbeiter:innen in den Autowerken, ihre Arbeiten selbst in die Hand zu nehmen, gibt es genug. In jedem Warnstreik steckt das schon als winziger Keim. Zudem sind die Jobs in der Autoindustrie keineswegs auf ewig sicher. Durch Produktivitätssteigerung, Standortverlagerungen und E-Auto werden sie sowieso immer neu in Frage gestellt. Zudem wird für einen übersättigten Markt produziert. Die Geschichte von Opel Bochum beweist, wie schnell die Tore für immer zugesperrt werden können, ebenso die vielen Werksschließungen von Zulieferbetrieben in den letzten Jahrzehnten, etwa GKN Zwickau oder Mahle Alzenau.

Im Kampf gegen diese Schließungen, aber auch schon in jeder Nulltarifrunde offenbart sich dann auch immer die zweifelhafte Rolle der IG Metall, genauer ihrer Führung. Seit Jahrzehnten ist sie eine aus selbstgefälligen, privilegierten Eigeninteressen getriebene treue Partnerin der Autobosse. Werksschließungen werden mit abgewickelt, Leiharbeiter:innen zugunsten der Kernbelegschaften ausverkauft, Tarifrunden lieber abgebrochen bevor sie mit unbefristeten, flächendeckenden Erzwingungsstreiks eskalieren. Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Mit dem etablierten Teil der Umweltbewegung inszeniert sie unverbindliche Klimapolitik in der Ampeltraumfabrik. Vor den radikaleren Teilen der Bewegung warnt sie, statt ihre Forderungen positiv aufzugreifen.

Sie ist eines der größten Hindernisse für eine schnellstmögliche soziale, ökologische Konversion der Autoindustrie. Wenn die Klimabewegung die Autoarbeiter:innen gewinnen will, muss sie die Rolle der IG-Metall-Bürokratie verstehen und sich daran beteiligen, eine Opposition gegen sie aufzubauen – für eine demokratische Reorganisation der Gewerkschaften, für Arbeitskämpfe die von den Belegschaften selbst kontrolliert werden, für politische Streiks und für Betriebsbesetzungen – für Konversion statt Werkschließungen, für die Verteilung der Arbeit auf alle ohne Lohnverlust.

 … demokratische Planwirtschaft!

Es ist alles eine Frage der Kontrolle. Wer hat das Sagen in der IG Metall? Eine abgehobene Führung, die mit im Aufsichtsrat sitzt, oder aus der Belegschaft heraus gewählte Kolleg:innen, die sich vor dieser rechtfertigen müssen? Der Kampf um Opel Bochum zeigte Funken von dieser Selbstermächtigung. Ihm fehlten jedoch die betrieblichen Organe wie Streikkomitees, um daraus ein Feuer zu entfachen, ganz zu schweigen davon, dass die Solidarität aus anderen Fabriken fehlte, die fest in den Händen der IG-Metall-Bürokrat:innen lagen.

Aber auch: Wer hat die Kontrolle über das, was produziert wird? Auch wenn VW und Co. enteignet und verstaatlicht sind, stellt sich diese Frage. Die Deutsche Bahn beispielsweise gehört komplett dem Staat und ist trotzdem unzuverlässig, außer wenn es um Gehaltserhöhungen für den Vorstand geht. VW gehört zu zwanzig Prozent dem Land Niedersachsen.

In der Idee der demokratischen gewerkschaftlichen Selbstkontrolle liegt auch die der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion, die Planwirtschaft der Konzerne selbst in die Hand zu nehmen. Denn nicht anders produzieren sie intern. Unternehmen in der Größe von VW und Co. können gar nicht anders, als sich eine langfristige Strategie zurechtzulegen.

Das Problem dabei ist nicht der Plan, sondern, dass er unter dem Gesichtspunkt maximaler Profite geschrieben wird, ebenso wie das Problem mit der DDR-Planwirtschaft darin bestand, dass sie diktatorisch den Interessen der Honeckerclique unterworfen war.

Eine demokratische Planwirtschaft bedeutet demgegenüber die Möglichkeit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, also möglichst so zu produzieren, dass Produkte lange halten und am Ende ihrer Lebenszeit komplett wiederverwertet werden können (während heute einem Unternehmen die Ware egal ist, sobald sie verkauft ist … bis auf, dass ein Auto nicht ewig halten soll, irgendwann soll ja wieder ein neues verkauft werden). Sie bedeutet, dass die, die heute in der Autoindustrie arbeiten, gemeinsam mit der gesamten Arbeiter:innenklasse die Entscheidungbefugnis darüber bekommen, was und wie viel produziert wird: Straßenbahnen und Busse statt Autos, ohne den Arbeitsdruck einer 40-Stundenwoche oder eines drakonischen 5-Jahres-Plans von oben.

Im Gegensatz zum Zerrbild des real existierenden Sozialismus, der sich doch immer nur im Wettbewerb zum kapitalistischen Westen begriff, würde ein wirklich demokratischer – eine lebendige Rätedemokratie – in ihrem Plan die Idee verfolgen: so wenig wie möglich, so viel wie nötig, damit die Bedürfnisse befriedigt werden, was auch für Mobilität und Verkehr gilt. Die Zeitersparnis durch neue Maschinen würde weniger Arbeitszeit für alle bedeuten. An die Stelle der individualistischen Freiheit des Gaspedals könnte eine kollektive Freiheit treten: Selbst entscheiden, was produziert wird, wie man so leben will, dass es für alle Sinn macht, auch für die Generationen, die es noch gar nicht gibt, deren Chance auf ein gutes Leben die Autoindustrie von heute sabotiert.

Alles utopisch?

Es mangelt in der Klimabewegung nicht an Fantasie, wie die Welt anders, solidarischer aussehen könnte. Viele haben in den letzten Jahren die Erfahrungen von gemeinsamen Aktionen und riesigen Demos gemacht, in Waldbesetzungen erlebt, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlen könnte. Allein die Macht von Staat und Kapital war so nicht zu brechen. Unter den Arbeiter:innen der Autoindustrie wiederum ist ein Potential – ein Know-how – darüber vorhanden, wofür diese Fabriken besser genutzt werden könnten, wie die Produktion umgebaut werden kann.

Zudem haben sie – wenigstens von ihrer Position her – tatsächlich die Möglichkeit, die Herrschaft der Autobosse, Wissings und Autodeutschlands in Frage zu stellen, zu brechen. Wenn Umweltaktivist:innen diese Potentiale erkennen und zusammen mit den fortschrittlichsten Kolleg:innen in der Verkehrsindustrie ein Programm entwickeln würden, das einen Weg zu einer ökologischen, sozialen – also  antikapitalistischen – Konversion zeichnet, dann könnte aus dieser Allianz heraus vielleicht wirklich gegen die Wissings, Zetsches und Blumes gewonnen, aus Träumen eine konkrete Utopie werden ohne Zukunftsangst, Asphaltwüsten und in Blech verpackte Menschen, und an ihrer Stelle eine Freiheit treten, die nicht Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen und unseren Lebensgrundlagen bedeutet.




Tarifrunde öffentlicher Dienst: Konsequenter Kampf oder fauler Verhandlungspoker?

Helga Müller, Neue Internationale, April 2023

So nahe an branchen- und gewerkschaftsübergreifenden gemeinsamen Streiks – nicht nur Warnstreiks – wie jetzt waren wir seit Gründung der sogenannten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di noch nie!

Gemeinsamer Warnstreik

Selbst sog. Tarifexpert:innen aus dem bürgerlichen Lager schreiben, dass dies eine neue Situation darstelle – und hetzen gegen angebliche „Erpressung“. Am Montag, den 27. März organisierten EVG (Verkehrsgewerkschaft im DGB) und ver.di einen gemeinsamen Warnstreik im gesamten öffentlichen Verkehr. In 7 Bundesländern wurde der kommunale Nahverkehr aufgerufen (in anderen blieb dies aus, da die Tarifverträge für den Nahverkehr in den Bundesländern unterschiedlich sind). Damit wäre der öffentliche Verkehr in mehreren Bundesländern lahmgelegt. In mehreren Städten, u. a. auch in München, gab es Solidaritätsaktionen zwischen den streikenden Post- und ver.di-Kolleg:innen. Die EVG rief die Beschäftigten zu einem eintägigen, zeitgleichen Warnstreik auf, was die Bahn AG dazu brachte, den Fernverkehr gleich einzustellen.

Und natürlich rennen die Unternehmer:innenverbände Amok dagegen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung – also der „christliche“ Unternehmer:innenzusammenschluss – forderte bereits aufgrund der zweitägigen Warnstreiks an mehreren Flughäfen im Februar eine Einschränkung des Streikrechts. „Das Streikrecht dürfe nicht missbraucht werden, um im ‚frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßig Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden auszurichten‘, heißt es in einem Papier der Mittelstandsunion.“ (nd-aktuell, 20.2.23).

Während ver.di und EVG in den Warnstreik treten, geht unsere Zeitung in Druck. Eine Bilanz können wir an dieser Stelle daher noch nicht ziehen, aber eine solche werden wir auf unserer Homepage veröffentlichen. Eines wird aber schon jetzt deutlich: Der gemeinsame Warnstreik ist nicht nur ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Er verdeutlicht auch, dass alle Gewerkschafter:innen vor einer entscheidenden Frage stehen.

Entweder antworten wir auf massive Einkommensverluste mit einem gemeinsamen, branchenübergreifenden Abwehrkampf. Dann müssen die Warnstreiks als Auftakt für Urabstimmungen und befristete Erzwingungsstreiks für alle unsere Forderungen genutzt werden; dann müssen wir sie als Auftakt für eine über Lohnfragen hinausgehende politische Konfrontation mit Kabinett und Kapital führen, die auch den Kampf um Neueinstellungen von Hunderttausenden, für die Rekommunalisierung privatisierter Unternehmen und für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich umfassen muss.

Oder die gemeinsamen Warnstreiks bleiben nur ein einmaliges Signal, eine Drohgebärde an die sog. Arbeitgeber:innen, doch zum üblichen – und üblen! – Tarifrundenritual zurückzukehren. Dann werden Abschlüsse wie bei Metall, Chemie und Post folgen, die deutlich unter der Inflationsrate bleiben und uns mit zweijährigen Laufzeiten an die sog. Friedenspflicht fesseln.

Das steht an. Wir müssen jetzt die Chance ergreifen, alles zu tun, damit die volle Kampfkraft der Gewerkschaften entfaltet wird und die Tarifkommission und die Vorstände keine faulen Kompromisse am Verhandlungstisch aushandeln und uns nicht, wie jüngst bei der Post, ausverkaufen können.

Neue Lage

In einer Hinsicht haben die Kapitalist:innen nämlich recht. Wir befinden uns in einer neuen Situation: Die galoppierende Inflation, die zwar derzeit ein wenig abgeflacht ist, treibt viele Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst, bei den Flughäfen, der Bahn, im öffentlichen Nahverkehr und vor allem auch bei der Post dazu, mit mehr Nachdruck für eine Lohnerhöhung, die auch tatsächlich die Inflation ausgleicht, zu kämpfen. Diese dringende Notwendigkeit nach einem realen Inflationsausgleich tendiert dazu, sich über die Branchen hinweg zu vereinen. Wir haben eine Inflation, die viele Kolleg:innen – nicht nur in den Niedriglohnsektoren – in Existenznöte bringt!

Diese Dringlichkeit eines existenzsichernden Einkommens und sicherlich auch die eindrucksvollen Massenstreiks und -demonstrationen in Frankreich gegen die Rentenreform von Macron und die vielen Streiks in Britannien gegen Personalnotstand und Unterfinanzierung der Gesundheitsversorgung tun ihr Übriges dazu, dass der Wille auch hier steigt, die aufgestellten hohen Forderungen durchzusetzen. Selbst der Apparat muss dem Rechnung tragen. Seit Jahrzehnten gab es keine so hohen Forderungen mehr: 15 % bei der Post, 10,5 %, mindestens aber 500 Euro im öffentlichen Dienst und 650 mehr bei der Bahn.

Landauf, landab wurden gemeinsame Warnstreiks des gesamten öffentlichen Dienstes – angefangen bei der Stadtverwaltung, über die Müllentsorgung, Arbeitsagenturen bis zu Kitas und Krankenhäusern – vor den vorerst letzten Verhandlungen am 27. bis 29. März inszeniert! Und die Beteiligung an den Arbeitskämpfen ist gut, besser als von manchem/r Gewerkschaftsverantwortlichen erwartet: So haben in München insgesamt über 6.000 Kolleg:innen aus dem gesamten öffentlichen Dienst am 21.3. bei einer Kundgebung ihrem Unmut gegen die öffentlichen Arbeit„geber“:innen von Bund und Kommunen Luft verschafft, in Köln waren es um die 12.000, in Gelsenkirchen um die 20.000 Beschäftigte, in Nürnberg 8.500 am 22. März!

In München z. B. – sicherlich auch in anderen Bezirken – wurde zum ersten Mal eine überbetriebliche und branchenübergreifende Arbeitskampfleitung gegründet, in der gewerkschaftliche Aktivist:innen und Gewerkschaftssekretär:innen aus dem öffentlichen Dienst, der Post, des öffentlichen Nahverkehrs gemeinsame Aktionen und Warnstreiks besprechen und vorbereiten.

Schulterschluss mit anderen Bewegungen und Kampfbereitschaft

Was noch zusätzlich als neues Element in dieser Tarifbewegung dazukommt ist der „Schulterschluss“ mit fortschrittlichen Bewegungen.

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung. Am 3. März 2023 – dem weltweiten Klimastreiktag – kam es in vielen Städten zu gemeinsamen Aktionen und Kundgebungen, verbunden mit mehrtägigen Warnstreiks der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr, von Gruppen der Klimabewegung wie FFF und streikenden Kolleg:innen.

Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche. Ein sinnvolles „Nebenprodukt“ dabei ist auch, dass diese gemeinsamen Aktionen von Klimabewegung und streikenden Kolleg:innen den Weg aufzeigen, wie die Klimabewegung aus ihrer Krise herauskommt und eine wichtige Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung eingeht!

Auch am 8. März, dem  Internationalen Frauenkampftag, kam es in vielen Städten zu gemeinsamen Kundgebungen und Demonstrationen von Frauenbewegung und streikenden Kolleg:innen aus dem Sozial- und Erziehungsdienst. Ein Manko dabei war, dass sich der ver.di-Bundesvorstand nicht dazu entscheiden konnte, alle Bereiche – nicht einmal jene, in denen vor allem überwiegend weiblich Beschäftigte arbeiten, also der ganze Bildungs- und Gesundheitsbereich –  zu Warnstreiks aufzurufen.

Aufgrund der großen Mobilisierungen – mehrere Hunderttausend Kolleg:innen waren und befinden sich in Warnstreiks – und der Notwendigkeit, einen Inflationsausgleich in diesen Tarifrunden durchzusetzen, sind über 45.000 neue Kolleg:innen in ver.di eingetreten.

Warnung Post

Bei der Post hat der Kampfeswillen dazu geführt, dass fast 86 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen für einen unbefristeten Streik gestimmt hatten. Dazu hat sicherlich auch die Ignoranz der Konzernführung beigetragen, die Forderung nach 15 % mehr Lohn als unrealistisch zu bezeichnen, obwohl sie gleich zwei Jahre hintereinander ihre höchsten Gewinne eingestrichen hat bei gleichzeitiger Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Löhne für die Kolleg:innen. Interessanterweise lief die Urabstimmung bei der Post über unbefristete Streiks bis zum 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag. Trotz dieser großen Zustimmung ging die Tarifkommission in Verhandlungen und vereinbarte ein unterirdisches Ergebnis – das nichts anderes als einen Reallohnverlust bedeutet (siehe dazu den Artikel in diese Ausgabe).

Worüber nun die Kolleg:innen zwar wieder in einer Urabstimmung bis zum 30. März abstimmen müssen, es aber nur ein Quorum von 25 % braucht, um angenommen zu werden. Ein absolut undemokratisches Vorgehen von Seiten der Verhandlungsführung, aber auch kein, Wunder sitzen doch viele ver.di Verantwortliche wie die Verhandlungsführerin Andrea Kocsis im Aufsichtsrat und streichen dort Gelder ein, auch wenn sie einen bestimmten Teil an ver.di abgeben müssen. Laut Satzung sind sie doch schon aufgrund dieser materiellen Besserstellung weit von den Interessen der Kolleg:innen entfernt und verstehen sich als Vermittler:innen zwischen den Kapitalinteressen und denen der Kolleg:innen, anstatt sich für diese ohne Wenn und Aber einzusetzen!

Darüber hinaus ist der Bund immer noch größter Anteilseigner der Post AG. Über die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau hält die Bundesregierung über 20 Prozent der Aktienanteile und dies garantiert ihm eine jährliche Dividendenauszahlung. Dieses Jahr erhält der Bund fast eine halbe Milliarde Euro, auf die die ver.di-Führung nicht verzichten will. Dafür opfert sie dann gerne einen konsequenten Kampf für die Durchsetzung der Forderungen! Gleichzeitig fürchtet sie natürlich in einer solchen Situation eine unkontrollierbare Mobilisierung der Kolleg:innen, die über ihren eigene Branche hinausgehen könnte und Beispielfunktion für die Beschäftigten in den anderen Bereichen, die sich gerade im Tarifkampf befinden, ausüben könnte. Damit würde sie ihre Rolle als Garantin für eine geregelte Tarifauseinandersetzung in Frage stellen und wäre für die Kapitalseite unbrauchbar!

Kein Vertrauen in den Bürokratie!

Auch wenn derzeit – kurz (zur Zeit des Redaktionsschlusses) vor den vorerst letzten Verhandlungen im öffentlichen Dienst – überall beeindruckende und gemeinsame Streiks stattfinden mit guter Beteiligung der aufgerufenen Bereiche, heißt das aufgrund dieser Erfahrungen nicht, dass die Verhandlungsführung rund um den ver.di-Vorsitzenden Werneke und die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Behle (zuständig im Bundesvorstand für den öffentlichen Dienst) auch tatsächlich einen besseren Abschluss als der bei der Post aushandelt!

In der Regel ist es immer so, dass, wenn kurz vor den entscheidenden Verhandlungen in einem anderen Bereich von ver.di ein Ergebnis zustande kommt, dieses die Grundlage für den nächsten Tarifbereich darstellt. Von daher ist zu befürchten, dass es zu einem schlechten Abschluss kommen könnte. Aber bisher scheinen die öffentlichen Arbeit„geber“:innen nicht gewillt, ver.di entgegenzukommen, es sei denn das Kalkül der ver.di-Führung geht auf und der gemeinsame Warnstreiktag von ver.di und EVG entwickelt soviel Druck, dass sie doch noch nachgibt, bevor es zu unvorhersehbaren Mobilisierungen kommt. Gleichzeitig ist und bleibt der Druck und damit auch die Erwartungshaltung der Gewerkschaftsmitglieder hoch, so dass durchaus zu erwarten ist, dass es zu einem Scheitern der bisher letzten Verhandlungen kommen könnte.

Doch bevor es im öffentlichen Dienst zu einer Urabstimmung über unbefristete Streiks kommen wird, die aller Wahrscheinlichkeit nach derzeit auch so eindeutig wie bei der Post ausgehen würde, wird es zu einem Schlichtungsverfahren kommen. Dieses hat ver.di trotz mehrerer Beschlüsse aus Gremien nicht gekündigt, solange noch Zeit war. Mit Sicherheit werden die Arbeit„geber“:innen dieses einleiten wollen. Damit ist auch ver.di gezwungen, sich daran zu beteiligen. Hier wird unter einem/r Vorsitzenden – meistens ein/e erfahrene/r Politiker:in – unter Einhaltung der Friedenspflicht weiterverhandelt. Auch hier ist die Gefahr groß, dass sich die Beteiligten auf einen faulen Kompromiss einigen. Darüber hinaus übt dieses Schlichtungsverfahren auch die Funktion aus, die Dynamik aus den Streiks rauszunehmen. Je länger die Schlichtung dauert, desto umwahrscheinlicher wird ein unbefristeter Streik!

Wir dürfen darüber hinaus nicht zulassen, dass die Gegenseite über den Weg des Schlichtungsverfahrens den Streik aushebeln kann. Deswegen haben auch Versammlungen in mehreren Städten wie Berlin und Leipzig mit großer Mehrheit, teilweise sogar einstimmig, beschlossen, dass es keinen Alleingang der Tarifkommissionen und Vorstände bei der Festlegung der Kampftaktik geben darf, sondern dass diese von der Basis kontrolliert und bestimmt werden muss (siehe: https://vernetzung.org/resolutionen-zur-tarifrunde-des-oeffentlichen-diensts).

Kampfesführung

Ver.di und EVG haben sich zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Zeitung dazu entschieden, am Montag, den 27. März, dem ersten Tag der vorerst letzten Verhandlungen im öffentlichen Dienst, einen bundesweiten gemeinsamen Warnstreik zu organisieren. Aufgerufen sind neben der Bahn der gesamte Verkehr des öffentlichen Dienstes – von Flughäfen, über kommunale ÖPNV-Betriebe in sieben Bundesländern, Teile der kommunalen Häfen, Autobahngesellschaften bis hin zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ein Megastreik – wie ver.di diesen Warnstreiktag bezeichnet!

Ja, ein veritabler Massenstreik, aus dem sich die politische Kraft entwickeln könnte, die die Forderungen gegen die derzeitige Front der öffentlichen Dienstherr:innen und Konzernleitungen für Millionen Kolleg:innen durchsetzen könnte. Mehr noch, die Kraft, die wir brauchen, um den Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf unseren Rücken, gegen Klimakatastrophe und Aufrüstung – diese kapitalistische Weltordnung hat uns nur Chaos, Krieg und Verwüstung zu bieten – aufnehmen zu können!

Diese Entscheidung widerspiegelt ganz offensichtlich, dass sowohl ver.di als auch EVG unter einem doppeltem Druck stehen: einerseits von den vielen Hunderttausenden Kolleg:innen, die sich derzeit in Tarifkämpfen mobilisieren und von Seiten der Arbeit„geber“:innen, die gerne ungeschoren aus diesen Tarifrunden herausgehen wollen. Letzteres kann dazu führen, dass der Apparat weiter zu gehen gezwungen ist, als er will.

Wie der Kampf weitergeht, hängt aber entscheidend davon ab, wie viel Druck die Kolleg:innen an der Basis entwickeln können und vor allem, ob sie in der Lage und auch bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen und zu beginnen, Instrumente und Strukturen aufzubauen, mit Hilfe derer sie in der Lage sind, den Gewerkschaftsführungen ihren Willen aufzuzwingen! Anstatt am Schluss der Tarifrunde enttäuscht wieder zurück zur Arbeit zu gehen, auf die Gewerkschaftsspitze zu schimpfen und die Gewerkschaftsbücher hinzuwerfen!

Das A und O dafür, dass dieser gemeinsame Kampf nicht eine Eintagsfliege bleibt, um Druck auf die Unternehmen auszuüben, und die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, liegt darin, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die Tarifkommission als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein!

Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwänge in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

  • Einzelne Streiktage reichen nicht! Schluss mit der Zersplitterung! Gemeinsame Aktionen mit der Bahn und allen anderen Kämpfen! Aufbau von Unterstützungskomitees, um die Öffentlichkeit zu informieren!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung der Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Für gläserne Tarifverhandlungen! Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!



Tarifrunde Bund & Gemeinden – TVÖD: 10,5%, mindestens 500 € durchsetzen bei 12 Monaten Laufzeit!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, ursprünglich veröffentlicht auf https://vernetzung.org, Infomail 1210, 13. Januar 2023

Wenn wir unsere Forderungen – 10,5%, mindestens 500 Euro monatlich mehr für alle Vollzeitbeschäftigten – durchsetzen, würde der Lohnverlust für 2023 verhindert.

Wenn es allerdings so läuft wie in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, wäre auch bei Kommunen und Bund der Reallohnverlust bis Ende 2024 festgeschrieben, denn bei Metall wurden mehrere Fallen eingebaut und der Abschluss ist keineswegs so gut wie in den Medien dargestellt.

Falle Nr. 1: Die Laufzeit

Die Rechnung ist eigentlich einfach, aber in den Medien und seitens der Gewerkschaftsvorstände werden die Gesetze der Mathematik zeitweise durch phantastische Märchen ersetzt. Bei einem Abschluss mit zwei Jahren Laufzeit und einer Erhöhung von zweimal 5% gibt es mitnichten eine Entgelterhöhung von 10%, denn diese muss pro Jahr berechnet werden. Die Inflation macht keine Pause, die Preise steigen auf jährlicher Grundlage um rund 10%. Eine längere Laufzeit ist nichts anderes als ein Lohnverlust auf Raten.

Falle Nr. 2: Die Einmalzahlung

Die bis zu 3000 Euro Einmalzahlung steuer- und abgabenfrei erscheinen vielen Kolleg*innen als der berühmte Spatz in der Hand. Es klingt echt, man hat es schon mal auf dem Konto, dringend benötigt für Nach- und Vorauszahlungen der Energie- und Nebenkosten. Doch die Einmalzahlung verpufft. Sie ist nicht tabellenwirksam. Die nächste Tarifrunde ein oder zwei Jahre später beginnt erneut auf einem niedrigen Niveau – denn die Arbeitgeber rücken die Einmalzahlung nur raus, wenn ver.di bei den Tabellen-Entgelten Zugeständnisse macht. Die Einmalzahlung zählt auch nicht bei der Berechnung von Krankengeld, Jahressonderzahlung, Arbeitslosengeld und Rente. Die Unternehmen sparen dadurch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Im öffentlichen Dienst ist etwas ähnliches schon 2020 mit der „Corona-Prämie“ passiert. Sie hat mit dazu beigetragen, dass die Löhne über die 27 Monate Laufzeit nur um 3,2 % erhöht wurden, während die Preise um 15,4 % gestiegen sind – das bedeutet 12,2 % Reallohnverlust. Eine Einmalzahlung – als Nachzahlung für die Verluste der vergangenen Jahre – wäre als Ergänzung zur klaren Erhöhung der Tabellen-Entgelte akzeptabel, jedoch nicht als Ersatz.

Falle Nr. 3: Die alte Leier von den knappen Kassen

Wir werden es täglich hören, wenn die Warnstreiks losgehen. Der Staat habe kein Geld, man brauche es dringend, um neue Leute einstellen und investieren zu können. Seit Jahren hat es nur bescheidene nominale Erhöhungen gegeben, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben in den 2000ern Reallohnverlust erlebt, dann einen kleinen Aufschwung Mitte der 2010er, danach ging es wieder bergab. Wurden in dieser Phase die Einsparungen seitens der Kommunen genutzt, um zu investieren, endlich genug Personal einzustellen? Alle kennen die Antwort. Kliniken, Schulen, Kitas, der öffentliche Personenverkehr und viele andere Bereiche sind weiter unterfinanziert und teilweise marode. Die Reichen und Konzerne werden nach wie vor nur gering besteuert. Während der Pandemie gingen die Subventionen vor allem an die Konzerne. Aktuell fahren Energie- und Rüstungskonzerne Rekordgewinne ein. Der Staat verzichtet darauf, diese Gelder abzuschöpfen. Wir sollen immer weiter bescheiden sein, während die Reichen reicher werden. Es ist genug Geld da, es ist nur in den falschen Händen!

Schlichtungsvereinbarung ist ein Knebel

Die Tarifrunde kann ganz einfach zu einem Misserfolg werden. Wenn die ver.di-Führung die Erzählung von den leeren Kassen akzeptiert, sich mit dem Slogan der “Stabilität” auf zwei Jahre Laufzeit einlässt und die 10,5% auf diesen Zeitraum ausdehnt – bei 16 bis 20% (oder noch höherer) Inflation. Wenn das Ganze dann noch mit halbherzigen und kleinteiligen Warnstreiks losgeht und der Abschluss erfolgt, bevor ver.di die Kampfkraft der Kolleg*innen entfaltet, ist das ein perfektes Paket für den Lohnverzicht.

Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungs-streik erfolgen.

Erfolg durch konsequenten Arbeitskampf möglich

Es geht auch anders, wir können gewinnen: Klare Kante, nicht von den 12 Monaten Laufzeit abrücken. Mobilisierung der Belegschaften für die Verteidigung des Lohnniveaus. Flächendeckende Warnstreiks zu den Verhandlungsrunden. Lernen von den erfolgreichen Kämpfen an den Kliniken in Berlin (Charité und Vivantes) und Nordrhein-Westfalen (Unikliniken): Streikversammlungen mit Beschlüssen, die für die Tarifkommission bindend sind und volle Einbeziehung der Basis z. B. durch den Aufbau von Streikkomitees der Kolleg*innen, die alle wichtigen Entscheidungen in den Tarifverhandlungen diskutieren, um Erzwingungsstreiks vorzubereiten.

Im großen Streik im öffentlichen Dienst 1992 traten allein am ersten Streiktag 30.000 neue Mitglieder in die damalige ver.di-Vorgängerin ÖTV ein. Gewerkschaften werden im Kampf aufgebaut, nicht durch den Verzicht darauf. Wir können unsere Löhne verteidigen und damit Zehntausende Kolleg*innen davor retten, sich wegen der horrenden Energie-, Miet- und Lebensmittelkosten verschulden zu müssen.

Solidarität

Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst stehen nicht allein in einer Tarifauseinandersetzung. Auch die Beschäftigten bei der Post und der Bahn gehen mit ihren Forderungen in die Verhandlungen. Was liegt mehr auf der Hand, als diese Bereiche, die alle mit der öffentlichen Daseinsvorsorge zu tun haben, miteinander zu koordinieren? Gemeinsame Streikkundgebungen und Demonstrationen würden eine Machtdemonstration der Gewerkschaften darstellen und eine Stärkung der einzelnen Tarifrunden bedeuten. Diese könnten gemeinsam zu einer gesellschaftspolitischen Bewegung gemacht werden.

Klar ist, dass für eine solche Streikbewegung auch Solidarität in der Bevölkerung aufgebaut werden muss. Denn Kapital und Regierung würden einen solchen Erfolg verhindern wollen, der Schule machen könnte. Daher sollte auch über die DGB-Gewerkschaften eine systematische Solidaritätskampagne aufgebaut werden.

In der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) versammeln sich Kolleg*innen aus verschiedenen Branchen. Wir sind der Auffassung, dass die Gewerkschaften und damit die Beschäftigten insgesamt nur aus der Defensive herauskommen, wenn die Gewerkschaften Co-Management und “Sozialpartnerschaft” beenden und konfliktbereit und konsequent die Interessen ihrer Mitglieder gegen private Konzerne und öffentliche Arbeitgeber vertreten. In dieser Tarifrunde ist es notwendiger denn je, sich zu vernetzen, um gemeinsam Druck aufzubauen, so dass diese Tarifkämpfe zum Erfolg geführt und die Gewerkschaften gestärkt werden können!