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Tarifrunde öffentlicher Dienst: Konsequenter Kampf oder fauler Verhandlungspoker?

Helga Müller, Neue Internationale, April 2023

So nahe an branchen- und gewerkschaftsübergreifenden gemeinsamen Streiks – nicht nur Warnstreiks – wie jetzt waren wir seit Gründung der sogenannten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di noch nie!

Gemeinsamer Warnstreik

Selbst sog. Tarifexpert:innen aus dem bürgerlichen Lager schreiben, dass dies eine neue Situation darstelle – und hetzen gegen angebliche „Erpressung“. Am Montag, den 27. März organisierten EVG (Verkehrsgewerkschaft im DGB) und ver.di einen gemeinsamen Warnstreik im gesamten öffentlichen Verkehr. In 7 Bundesländern wurde der kommunale Nahverkehr aufgerufen (in anderen blieb dies aus, da die Tarifverträge für den Nahverkehr in den Bundesländern unterschiedlich sind). Damit wäre der öffentliche Verkehr in mehreren Bundesländern lahmgelegt. In mehreren Städten, u. a. auch in München, gab es Solidaritätsaktionen zwischen den streikenden Post- und ver.di-Kolleg:innen. Die EVG rief die Beschäftigten zu einem eintägigen, zeitgleichen Warnstreik auf, was die Bahn AG dazu brachte, den Fernverkehr gleich einzustellen.

Und natürlich rennen die Unternehmer:innenverbände Amok dagegen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung – also der „christliche“ Unternehmer:innenzusammenschluss – forderte bereits aufgrund der zweitägigen Warnstreiks an mehreren Flughäfen im Februar eine Einschränkung des Streikrechts. „Das Streikrecht dürfe nicht missbraucht werden, um im ‚frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßig Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden auszurichten‘, heißt es in einem Papier der Mittelstandsunion.“ (nd-aktuell, 20.2.23).

Während ver.di und EVG in den Warnstreik treten, geht unsere Zeitung in Druck. Eine Bilanz können wir an dieser Stelle daher noch nicht ziehen, aber eine solche werden wir auf unserer Homepage veröffentlichen. Eines wird aber schon jetzt deutlich: Der gemeinsame Warnstreik ist nicht nur ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Er verdeutlicht auch, dass alle Gewerkschafter:innen vor einer entscheidenden Frage stehen.

Entweder antworten wir auf massive Einkommensverluste mit einem gemeinsamen, branchenübergreifenden Abwehrkampf. Dann müssen die Warnstreiks als Auftakt für Urabstimmungen und befristete Erzwingungsstreiks für alle unsere Forderungen genutzt werden; dann müssen wir sie als Auftakt für eine über Lohnfragen hinausgehende politische Konfrontation mit Kabinett und Kapital führen, die auch den Kampf um Neueinstellungen von Hunderttausenden, für die Rekommunalisierung privatisierter Unternehmen und für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich umfassen muss.

Oder die gemeinsamen Warnstreiks bleiben nur ein einmaliges Signal, eine Drohgebärde an die sog. Arbeitgeber:innen, doch zum üblichen – und üblen! – Tarifrundenritual zurückzukehren. Dann werden Abschlüsse wie bei Metall, Chemie und Post folgen, die deutlich unter der Inflationsrate bleiben und uns mit zweijährigen Laufzeiten an die sog. Friedenspflicht fesseln.

Das steht an. Wir müssen jetzt die Chance ergreifen, alles zu tun, damit die volle Kampfkraft der Gewerkschaften entfaltet wird und die Tarifkommission und die Vorstände keine faulen Kompromisse am Verhandlungstisch aushandeln und uns nicht, wie jüngst bei der Post, ausverkaufen können.

Neue Lage

In einer Hinsicht haben die Kapitalist:innen nämlich recht. Wir befinden uns in einer neuen Situation: Die galoppierende Inflation, die zwar derzeit ein wenig abgeflacht ist, treibt viele Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst, bei den Flughäfen, der Bahn, im öffentlichen Nahverkehr und vor allem auch bei der Post dazu, mit mehr Nachdruck für eine Lohnerhöhung, die auch tatsächlich die Inflation ausgleicht, zu kämpfen. Diese dringende Notwendigkeit nach einem realen Inflationsausgleich tendiert dazu, sich über die Branchen hinweg zu vereinen. Wir haben eine Inflation, die viele Kolleg:innen – nicht nur in den Niedriglohnsektoren – in Existenznöte bringt!

Diese Dringlichkeit eines existenzsichernden Einkommens und sicherlich auch die eindrucksvollen Massenstreiks und -demonstrationen in Frankreich gegen die Rentenreform von Macron und die vielen Streiks in Britannien gegen Personalnotstand und Unterfinanzierung der Gesundheitsversorgung tun ihr Übriges dazu, dass der Wille auch hier steigt, die aufgestellten hohen Forderungen durchzusetzen. Selbst der Apparat muss dem Rechnung tragen. Seit Jahrzehnten gab es keine so hohen Forderungen mehr: 15 % bei der Post, 10,5 %, mindestens aber 500 Euro im öffentlichen Dienst und 650 mehr bei der Bahn.

Landauf, landab wurden gemeinsame Warnstreiks des gesamten öffentlichen Dienstes – angefangen bei der Stadtverwaltung, über die Müllentsorgung, Arbeitsagenturen bis zu Kitas und Krankenhäusern – vor den vorerst letzten Verhandlungen am 27. bis 29. März inszeniert! Und die Beteiligung an den Arbeitskämpfen ist gut, besser als von manchem/r Gewerkschaftsverantwortlichen erwartet: So haben in München insgesamt über 6.000 Kolleg:innen aus dem gesamten öffentlichen Dienst am 21.3. bei einer Kundgebung ihrem Unmut gegen die öffentlichen Arbeit„geber“:innen von Bund und Kommunen Luft verschafft, in Köln waren es um die 12.000, in Gelsenkirchen um die 20.000 Beschäftigte, in Nürnberg 8.500 am 22. März!

In München z. B. – sicherlich auch in anderen Bezirken – wurde zum ersten Mal eine überbetriebliche und branchenübergreifende Arbeitskampfleitung gegründet, in der gewerkschaftliche Aktivist:innen und Gewerkschaftssekretär:innen aus dem öffentlichen Dienst, der Post, des öffentlichen Nahverkehrs gemeinsame Aktionen und Warnstreiks besprechen und vorbereiten.

Schulterschluss mit anderen Bewegungen und Kampfbereitschaft

Was noch zusätzlich als neues Element in dieser Tarifbewegung dazukommt ist der „Schulterschluss“ mit fortschrittlichen Bewegungen.

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung. Am 3. März 2023 – dem weltweiten Klimastreiktag – kam es in vielen Städten zu gemeinsamen Aktionen und Kundgebungen, verbunden mit mehrtägigen Warnstreiks der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr, von Gruppen der Klimabewegung wie FFF und streikenden Kolleg:innen.

Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche. Ein sinnvolles „Nebenprodukt“ dabei ist auch, dass diese gemeinsamen Aktionen von Klimabewegung und streikenden Kolleg:innen den Weg aufzeigen, wie die Klimabewegung aus ihrer Krise herauskommt und eine wichtige Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung eingeht!

Auch am 8. März, dem  Internationalen Frauenkampftag, kam es in vielen Städten zu gemeinsamen Kundgebungen und Demonstrationen von Frauenbewegung und streikenden Kolleg:innen aus dem Sozial- und Erziehungsdienst. Ein Manko dabei war, dass sich der ver.di-Bundesvorstand nicht dazu entscheiden konnte, alle Bereiche – nicht einmal jene, in denen vor allem überwiegend weiblich Beschäftigte arbeiten, also der ganze Bildungs- und Gesundheitsbereich –  zu Warnstreiks aufzurufen.

Aufgrund der großen Mobilisierungen – mehrere Hunderttausend Kolleg:innen waren und befinden sich in Warnstreiks – und der Notwendigkeit, einen Inflationsausgleich in diesen Tarifrunden durchzusetzen, sind über 45.000 neue Kolleg:innen in ver.di eingetreten.

Warnung Post

Bei der Post hat der Kampfeswillen dazu geführt, dass fast 86 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen für einen unbefristeten Streik gestimmt hatten. Dazu hat sicherlich auch die Ignoranz der Konzernführung beigetragen, die Forderung nach 15 % mehr Lohn als unrealistisch zu bezeichnen, obwohl sie gleich zwei Jahre hintereinander ihre höchsten Gewinne eingestrichen hat bei gleichzeitiger Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Löhne für die Kolleg:innen. Interessanterweise lief die Urabstimmung bei der Post über unbefristete Streiks bis zum 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag. Trotz dieser großen Zustimmung ging die Tarifkommission in Verhandlungen und vereinbarte ein unterirdisches Ergebnis – das nichts anderes als einen Reallohnverlust bedeutet (siehe dazu den Artikel in diese Ausgabe).

Worüber nun die Kolleg:innen zwar wieder in einer Urabstimmung bis zum 30. März abstimmen müssen, es aber nur ein Quorum von 25 % braucht, um angenommen zu werden. Ein absolut undemokratisches Vorgehen von Seiten der Verhandlungsführung, aber auch kein, Wunder sitzen doch viele ver.di Verantwortliche wie die Verhandlungsführerin Andrea Kocsis im Aufsichtsrat und streichen dort Gelder ein, auch wenn sie einen bestimmten Teil an ver.di abgeben müssen. Laut Satzung sind sie doch schon aufgrund dieser materiellen Besserstellung weit von den Interessen der Kolleg:innen entfernt und verstehen sich als Vermittler:innen zwischen den Kapitalinteressen und denen der Kolleg:innen, anstatt sich für diese ohne Wenn und Aber einzusetzen!

Darüber hinaus ist der Bund immer noch größter Anteilseigner der Post AG. Über die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau hält die Bundesregierung über 20 Prozent der Aktienanteile und dies garantiert ihm eine jährliche Dividendenauszahlung. Dieses Jahr erhält der Bund fast eine halbe Milliarde Euro, auf die die ver.di-Führung nicht verzichten will. Dafür opfert sie dann gerne einen konsequenten Kampf für die Durchsetzung der Forderungen! Gleichzeitig fürchtet sie natürlich in einer solchen Situation eine unkontrollierbare Mobilisierung der Kolleg:innen, die über ihren eigene Branche hinausgehen könnte und Beispielfunktion für die Beschäftigten in den anderen Bereichen, die sich gerade im Tarifkampf befinden, ausüben könnte. Damit würde sie ihre Rolle als Garantin für eine geregelte Tarifauseinandersetzung in Frage stellen und wäre für die Kapitalseite unbrauchbar!

Kein Vertrauen in den Bürokratie!

Auch wenn derzeit – kurz (zur Zeit des Redaktionsschlusses) vor den vorerst letzten Verhandlungen im öffentlichen Dienst – überall beeindruckende und gemeinsame Streiks stattfinden mit guter Beteiligung der aufgerufenen Bereiche, heißt das aufgrund dieser Erfahrungen nicht, dass die Verhandlungsführung rund um den ver.di-Vorsitzenden Werneke und die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Behle (zuständig im Bundesvorstand für den öffentlichen Dienst) auch tatsächlich einen besseren Abschluss als der bei der Post aushandelt!

In der Regel ist es immer so, dass, wenn kurz vor den entscheidenden Verhandlungen in einem anderen Bereich von ver.di ein Ergebnis zustande kommt, dieses die Grundlage für den nächsten Tarifbereich darstellt. Von daher ist zu befürchten, dass es zu einem schlechten Abschluss kommen könnte. Aber bisher scheinen die öffentlichen Arbeit„geber“:innen nicht gewillt, ver.di entgegenzukommen, es sei denn das Kalkül der ver.di-Führung geht auf und der gemeinsame Warnstreiktag von ver.di und EVG entwickelt soviel Druck, dass sie doch noch nachgibt, bevor es zu unvorhersehbaren Mobilisierungen kommt. Gleichzeitig ist und bleibt der Druck und damit auch die Erwartungshaltung der Gewerkschaftsmitglieder hoch, so dass durchaus zu erwarten ist, dass es zu einem Scheitern der bisher letzten Verhandlungen kommen könnte.

Doch bevor es im öffentlichen Dienst zu einer Urabstimmung über unbefristete Streiks kommen wird, die aller Wahrscheinlichkeit nach derzeit auch so eindeutig wie bei der Post ausgehen würde, wird es zu einem Schlichtungsverfahren kommen. Dieses hat ver.di trotz mehrerer Beschlüsse aus Gremien nicht gekündigt, solange noch Zeit war. Mit Sicherheit werden die Arbeit„geber“:innen dieses einleiten wollen. Damit ist auch ver.di gezwungen, sich daran zu beteiligen. Hier wird unter einem/r Vorsitzenden – meistens ein/e erfahrene/r Politiker:in – unter Einhaltung der Friedenspflicht weiterverhandelt. Auch hier ist die Gefahr groß, dass sich die Beteiligten auf einen faulen Kompromiss einigen. Darüber hinaus übt dieses Schlichtungsverfahren auch die Funktion aus, die Dynamik aus den Streiks rauszunehmen. Je länger die Schlichtung dauert, desto umwahrscheinlicher wird ein unbefristeter Streik!

Wir dürfen darüber hinaus nicht zulassen, dass die Gegenseite über den Weg des Schlichtungsverfahrens den Streik aushebeln kann. Deswegen haben auch Versammlungen in mehreren Städten wie Berlin und Leipzig mit großer Mehrheit, teilweise sogar einstimmig, beschlossen, dass es keinen Alleingang der Tarifkommissionen und Vorstände bei der Festlegung der Kampftaktik geben darf, sondern dass diese von der Basis kontrolliert und bestimmt werden muss (siehe: https://vernetzung.org/resolutionen-zur-tarifrunde-des-oeffentlichen-diensts).

Kampfesführung

Ver.di und EVG haben sich zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Zeitung dazu entschieden, am Montag, den 27. März, dem ersten Tag der vorerst letzten Verhandlungen im öffentlichen Dienst, einen bundesweiten gemeinsamen Warnstreik zu organisieren. Aufgerufen sind neben der Bahn der gesamte Verkehr des öffentlichen Dienstes – von Flughäfen, über kommunale ÖPNV-Betriebe in sieben Bundesländern, Teile der kommunalen Häfen, Autobahngesellschaften bis hin zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ein Megastreik – wie ver.di diesen Warnstreiktag bezeichnet!

Ja, ein veritabler Massenstreik, aus dem sich die politische Kraft entwickeln könnte, die die Forderungen gegen die derzeitige Front der öffentlichen Dienstherr:innen und Konzernleitungen für Millionen Kolleg:innen durchsetzen könnte. Mehr noch, die Kraft, die wir brauchen, um den Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf unseren Rücken, gegen Klimakatastrophe und Aufrüstung – diese kapitalistische Weltordnung hat uns nur Chaos, Krieg und Verwüstung zu bieten – aufnehmen zu können!

Diese Entscheidung widerspiegelt ganz offensichtlich, dass sowohl ver.di als auch EVG unter einem doppeltem Druck stehen: einerseits von den vielen Hunderttausenden Kolleg:innen, die sich derzeit in Tarifkämpfen mobilisieren und von Seiten der Arbeit„geber“:innen, die gerne ungeschoren aus diesen Tarifrunden herausgehen wollen. Letzteres kann dazu führen, dass der Apparat weiter zu gehen gezwungen ist, als er will.

Wie der Kampf weitergeht, hängt aber entscheidend davon ab, wie viel Druck die Kolleg:innen an der Basis entwickeln können und vor allem, ob sie in der Lage und auch bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen und zu beginnen, Instrumente und Strukturen aufzubauen, mit Hilfe derer sie in der Lage sind, den Gewerkschaftsführungen ihren Willen aufzuzwingen! Anstatt am Schluss der Tarifrunde enttäuscht wieder zurück zur Arbeit zu gehen, auf die Gewerkschaftsspitze zu schimpfen und die Gewerkschaftsbücher hinzuwerfen!

Das A und O dafür, dass dieser gemeinsame Kampf nicht eine Eintagsfliege bleibt, um Druck auf die Unternehmen auszuüben, und die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, liegt darin, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die Tarifkommission als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein!

Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwänge in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

  • Einzelne Streiktage reichen nicht! Schluss mit der Zersplitterung! Gemeinsame Aktionen mit der Bahn und allen anderen Kämpfen! Aufbau von Unterstützungskomitees, um die Öffentlichkeit zu informieren!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung der Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Für gläserne Tarifverhandlungen! Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!



EVG und ver.di: vom Verkehrsstreik zum Erzwingungsstreik zum Verkehrswendestreik

Leo Drais, Neue Internationale 272, April 2023

Der 27. März 2023 galt schon als Superverkehrsstreiktag, bevor er überhaupt anbrach. Die bloße Ankündigung des Warnstreiks genügte, damit die Deutsche Bahn bereits von vornherein sagte: „Wir stellen den Fernverkehr für einen Tag komplett ein.“ Auch wenn die EVG den Warnstreik nur für die Zeit von 4 bis 15 Uhr angesetzt hat, tut sich die Bahn mit dem Komplettausfall einen wirtschaftlichen Gefallen: Am Dienstag stehen die meisten ICE an der richtigen Stelle. Nebenbei lässt sich so die Pünktlichkeitsstatistik ein bisschen frisieren. Schließlich meint die DB ja, ausgefallene Züge seien nicht verspätet.

An manchen Ort geht an diesem Montag fast gar nichts. In München oder Leipzig fahren weder S-Bahnen noch Busse, in Hamburg laufen keine Schiffe in den Hafen, auf allen Flughäfen außer Berlin streikt das Bodenpersonal, Autobahntunnel sollen gesperrt werden.

Dieser gemeinsame Warnstreik von ver.di und EVG liefert eine richtige Antwort auf die Verhandlungs„angebote“ der Kommunalen Arbeit„geber“:innenverbände (VKA) und der Deutschen Bahn in den parallel laufenden Tarifrunden im öffentlichen Dienst, an Flughäfen und in 50 Eisenbahnunternehmen. Aber es wird mehr brauchen, viel mehr, nicht nur wenn ein Ausgleich der Inflation erfolgen, sondern auch ausreichend Personal speziell im öffentlichen Nah- und Fernverkehr eingestellt werden soll.

Ungewohnt groß, gewöhnlicher Ablauf

Der gemeinsame Warnstreik von EVG und ver.di gibt im Ansatz eine Vorstellung davon, wie weh wir den täglichen Abläufen der Wirtschaft tun können, welche Macht wir eigentlich haben. Sicher wird dadurch „der Druck erhöht“, wie die Vorsitzenden Burkert (EVG) und Werneke (ver.di) es verkündet haben.

Abgesehen vom Ausmaß läuft der Montag jedoch in den üblichen eingelaufenen Bahnen der deutschen Sozialpartner:innenschaft und Tarifrundenrituale. Die Gewerkschaftsführungen kontrollieren, rufen auf, blasen ab. Man wird für die Zwecke der Bürokratie in Bewegung gesetzt, wobei – natürlich – Dampf abgelassen wird und am Ende vielleicht auch ein paar Prozente mehr rauskommen. Nicht mal Solidaritätsstreiks in den Verkehrsbetrieben, wo gerade nicht verhandelt wird, finden statt, obwohl das rechtlich durchaus möglich wäre. Somit wird in Berlin die BVG weiterfahren, während die S-Bahn steht.

Dass der Streik so massiv eingreifen, kann liegt in der Natur der Sache Verkehr, wobei die EVG mit einem Streik dieser Größe bei der DB durchaus auf neuen Gleisen fährt. 2018 hielt sie zwar einen Dreistundenstreik ab, der seinen Namen eigentlich nicht verdiente, darüber hinaus verfügt sie jedoch schlicht über keine Streikerfahrung. Gestreikt hat in der Regel die GDL. Zu ihr steht die EVG zumindest bei der DB in Konkurrenz, seit der Konzern das Tarifeinheitsgesetz anwendet: Wer die meisten Mitglieder in den jeweiligen DB-Betrieben hat, dessen Tarifvertrag wird angewandt. Die EVG profitiert dabei vor allem davon, dass sie deutlich mehr Fahrdienstleiter:innen als die GDL organisiert. Auch wenn der Organisationsgrad in dieser Berufsgruppe an manchen Orten erschreckend niedrig ist, reicht bereits ein bestreiktes Stellwerk, um den Fahrplan eines Knotens empfindlich zu stören. Das allein ist es, was dafür sorgt, dass die DB bereits vor dem Streik ankündigt, Züge flächendeckend ausfallen zu lassen.

Das anscheinend unvermeidliche Gegeneinander der Apparate von GDL und EVG wird durch das Tarifeinheitsgesetz dieses Jahr übrigens besonders absurd. Hat die EVG ihren Abschluss, ist die GDL mit Verhandeln dran. Während die EVG zum jetzigen Warnstreik sagt, dass alle, auch GDL-Mitglieder streiken dürfen, da sie zu den aufgerufenen Berufsgruppen gehören, sagt die GDL das Gegenteil: Die Friedenspflicht sei ausschlaggebend. Anstatt zusammen zu kämpfen, wird durch die Führungen beider Gewerkschaften seit Jahren die Spaltung in der Belegschaft vertieft – langfristig kann uns das nur schaden.

Erzwingungsstreik!

Die Kampfbereitschaft unter den Verkehrsarbeiter:innen ist groß. Trotzdem droht, wie bei der Post, dass die Gewerkschaftsführungen diese Bereitschaft aus feigem Eigeninteresse nicht nutzen und den Arbeitskampf eskalieren und einem trotzdem am Ende erzählen, wie gut dieser Abschluss sei. Das gilt es zu verhindern! Ein Vorspiel lieferte die EVG bereits bei der Bahn: Anstatt einen ganzen Tag zu streiken, wofür auf jeden Fall die Motivation da gewesen wäre, wird die Arbeit nur bis 15 Uhr niedergelegt. Man wolle auch „deeskalierend“ wirken und „nicht schon das ganze Pulver verschießen“. Wie kann man sich nur so den Wind aus den eigenen Segeln nehmen? Man kann, wenn man den Streik bürokratisch von oben herab kontrolliert!

Die Strategie der deutschen Regierung und Konzerne läuft darauf hinaus, vermittels der Inflation die Krisenkosten von Corona und Krieg auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Genau das steht hinter dem angebotenen Blendwerk an Einmalzahlungen! Weil die Konkurrenz international schärfer wird, wird auch der Verteilungsspielraum kleiner, erst recht, wenn man Milliarden in die Aufrüstung stecken will. Schon allein deshalb bräuchte es auch von unserer Seite einen viel schärferen Kampf. Aber zumindest in der EVG haben Apparatstimmen schon gezwitschert, dass man es so weit nicht kommen lässt und man vor dem Sommer einen Abschluss anstrebt. Wenn das die Bosse wissen, müssen sie ja einfach nur abwarten.

In ver.di und EVG müssen wir auf Urabstimmungen über Erzwingungsstreiks hinarbeiten. Wir brauchen Debatten in den Betriebsgruppen, die genau das flächendeckend fordern müssen. Keine Tarifkommission darf ohne Zustimmung der Basis etwas abschließen. Im Gegenteil sollte diese direkt von der Basis gewählt werden und abwählbar sein, wenn die Delegierten scheiße abschließen. Um das überprüfen zu können, braucht es wiederum öffentliche Verhandlungen. Wir sollten auf Streikversammlungen selbst entscheiden, wie gekämpft wird und wann es reicht.

Aber von solchen basisdemokratischen Abläufen sind wir weit weg. Manchen Betriebsgruppen muss überhaupt erstmal Leben eingehaucht werden.

Streik und Verkehrswende

Nicht nur was den Ablauf des Arbeitskampfes angeht, läuft alles wie bekannt. Auch der Inhalt treibt nicht über das übliche mehr Geld hinaus. Weder EVG noch ver.di politisieren den Kampf wirklich für eine Verkehrswende. Obwohl es so naheliegt – höhere Löhne bedeuten attraktivere Berufe im Nahverkehr, wo in den nächsten Jahren teilweise über 70 Prozent in Rente gehen – ist das Thema politischer Streik natürlich Teufelszeug. Der sei halt verboten, was willkommene Ausrede ist. Schließlich ist es für einen Apparat bequemer, dass im Wesentlichen alles bleibt wie bisher. Heute heiße Worte, morgen im Aufsichtsrat.

Eine Verkehrswende wird weder durch Volker Wissing (VW) und die Ampel noch durch die Autokonzerne und Verkehrsbetriebe und auch nicht durch die Art und Weise, wie EVG und ver.di kämpfen, Realität werden, selbst dann nicht, wenn sich die Klimabewegung noch so sehr solidarisiert und den Apparaten ihre Unterstützung anbietet.

Ein Verkehrswende, die ihren Namen verdient, ist eine Kriegserklärung an eine Festung des deutschen Kapitalismus, die Autoindustrie. Sie muss dafür enteignet werden. Sie wird nur Realität werden, wenn wir sie gegen VW und den gleichnamigen Konzern erkämpfen, wenn wir nicht nur ein paar Stunden für mehr Lohn, sondern tagelang für einen kostenlosen Nahverkehr und seinen massiven Ausbau streiken, wenn wir die Busse in die Autobahnauffahrten stellen und den Beschäftigten in der Autoindustrie sagen: Solidarisiert euch, kämpft dafür, dass eure Autofabrik unter eurer Kontrolle und ohne Lohnverluste etwas Sinnvolles produziert!

Das ist zur Zeit sicher genauso weit weg wie basisdemokratische Streik- und Gewerkschaftsstrukturen. Aber die aktuellen Streiks bieten die Chance dafür, die Diskussion darüber voranzubringen. Zum Beispiel indem wir fordern, dass sich die DB im Tarifabschluss dazu verpflichtet, die Fahrpreise im Fernverkehr nicht zu erhöhen, oder indem wir uns dafür starkmachen, dass das 49-Euroticket durch eine Besteuerung des 22-Milliardengewinns von VW finanziert wird.




Post: Guter Streik statt schlechter Verhandlungen! Das „Ergebnis“ muss abgelehnt werden!

Mattis Molde, Infomail 1216, 14. März 2023

In letzter Minute vor Beginn des Streiks hat sich die Verhandlungskommission nochmal auf eine Verhandlung eingelassen, zu welcher der Postvorstand eingeladen hatte – eine falsche, wenn auch nicht unvorhersehbare Entscheidung mit einem üblen Ergebnis.

Das Ergebnis

Ab April 2024 werden die Tabellenentgelte für alle Vollzeitbeschäftigten um monatlich 340 Euro erhöht. Das entspricht in den unteren drei Entgeltgruppen, in denen fast 90 Prozent der Tarifbeschäftigten eingruppiert sind, Entgeltsteigerungen von 11,0 bis 16,1 Prozent. Die Laufzeit beträgt allerdings 24 Monate (siehe: https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++3272f710-c01c-11ed-a2f8-001a4a160129).

Das heißt, dass von der Forderung 15 % für 12 Monate gerade etwa die Hälfte übrig geblieben ist. Dazu kommen Sonderzahlungen von insgesamt 3000 Euro, die – verteilt über 11 Monate – nochmal unter den 340 Euro pro Monat liegen, die die Postler:innen in einem Jahr bekommen sollen.

Die 3000 Euro sind steuerfrei. Das ist ein Trick. Er bringt den Beschäftigten kurzfristig mehr Cash, aber keine Punkte bei der Rente. Auf die 3000 Euro Sonderzahlung gibt es auch kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Die Firma aber spart richtig. Der Staat zahlt mit Steuerverzicht und zwar gewaltig. Wen werden die Sparmaßnahmen treffen? Die Bundeswehr oder die Sozialausgaben?

Das „Ergebnis“ liegt nicht nur ganz weit von der Forderung, es liegt auch deutlich unter der Inflation. Die Reallöhne würden noch weiter fallen. Zur gleichen Zeit macht der Konzern  Rekordgewinne. Die Aktionär:innen gewinnen doppelt: eine fette Dividende und steigende Aktienkurse.

Dieses Ergebnis wäre ein heftiger Ausverkauf. Jede Kollegin, jeder Kollege muss dagegen mit NEIN stimmen!

Was tun?

Aber das NEIN reicht nicht. Wir müssen uns fragen: Wer hat uns in diese gefährliche Situation gebracht? Eine Verhandlungsführung unter Andrea Kocsis, die uns ein „Ergebnis“ präsentiert, das kaum besser als das letzte Angebot ist, das sie selbst zu Recht zurückgewiesen hatte, wegen dessen die Verhandlungen für gescheitert erklärt worden waren.

Eine Verhandlungsführung, die mit neuen Verhandlungsgesprächen beginnt, nachdem die Entscheidung für Streik demokratisch und eindeutig gefallen war und die dieses demokratische Votum der Mitglieder kalt missachtet. Die jetzt mit diesem „Ergebnis“ eine erneute Urabstimmung veranlasst, die wieder über 75 % Ablehnung kommen muss, um mit einem Streik ein einigermaßen gutes Ergebnis zu erreichen.

Wenn Kocsis recht hat, dass das Votum für Streik den Bossen Sorge bereitet hat, dann kann sich jede:r an den Fingern abzählen, was ein Streik bewirken würde!

Kocsis hat mit diesem Manöver auch die Verhandlungsposition für jede/n Nachfolger:in geschwächt: Wenn die Bosse die ver.di-Chef:innen auch noch nach einer Urabstimmung an den Verhandlungstisch bringen können, dann werden sie zukünftig ihre Verhandlungs„angebote“ noch unverschämter gestalten. Zugleich hat Kocsis mit ihrem Manöver das Vertrauen in die Gewerkschaft tief erschüttert. Alle diejenigen, die an ihren Arbeitsplätzen für ver.di geworben, für den Tarifkampf mobilisiert haben und für ein Ja zum Streik können durch diese drohende Niederlage aus den eigenen Reihen enttäuscht und frustriert werden.

Schließlich bedeutet eine zweijährige Laufzeit auch, dass die Konzernzentrale der Post für die nächsten zwei Jahre die Friedenspflicht nutzen kann und wird (!), die nächsten Angriffe auf Beschäftigte und Kund:innen durchzuführen, also Umstrukturierungen, weitere Arbeitszeitverdichtungen, Ausdünnen von Filialen, aber auch Preiserhöhungen, um beispielsweise den Briefversand richtig profitabel zu machen. Für diese Auseinandersetzungen, die eigentlich mit dem Kampf für entschädigungslose Verstaatlichung der Post unter Arbeiter:innenkontrolle verbunden werden müssen, stehen die Belegschaften, aber auch die Masse der lohnabhängigen Kund:innen schlechter da. Ein bundesweiter unbefristeter Erzwingungsstreik könnte nicht nur ein weit besseres Ergebnis bringen, sondern auch Kampfstrukturen für die weiteren Auseinandersetzungen schaffen.

Deshalb muss eine breite Ablehnung des „Ergebnisses“ damit verbunden werden, die Basis zu stärken und die Gewerkschaft in die eigene Hand zu bekommen:

  • Organisiert Versammlungen, um das Ergebnis zu diskutieren! Falls der Streik doch kommt, müssen solche Versammlungen auch täglich einberufen werden, um den Erfolg im Streik zu sichern und die Manöver der Führung zu erkennen.

  • Wir brauchen Gewerkschaften, die Erfolge organisieren und keine Niederlagen! Wir brauchen überall Vertrauensleute und Betriebsgruppen, die nicht so sehr die Vorgaben „von oben“ umsetzen, sondern vor allem umgekehrt Rechenschaft von der Gewerkschaftsführung verlangen!

  • Dafür müssen wir uns in den Gewerkschaften als klassenkämpferische Opposition organisieren, um schnell und wirkungsvoll handeln zu können. So hätte diese letzte Verhandlung, die den Postbossen die große Chance liefert, vom Haken runterzukommen, an dem sie sich selbst aufgehängt hatten, nie zustandekommen dürfen. Massive Proteste hätten Kocsis und Co. in den Arm fallen müssen, mit dem sie den Bossen die Hand gereicht hat.

  • Für dieses Ziel müssen wir uns selbst organisieren! Wir, die Gruppe Arbeiter:innenmacht, kämpfen in der VKG mit vielen anderen dafür, dass sich alle, die kämpferische Gewerkschaften und dafür handeln wollen, zusammenschließen.



Britannien: Bilanz des Aktionstages vom 1. Februar

KD Tait, Infomail 1213, 8. Februar 2023

Am 1. Februar streikten Hunderttausende Lehrkräfte, Dozent:innen, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Lokführer:innen im Rahmen des größten koordinierten Aktionstages seit vielen Jahren.

Allein in London zogen 50.000 Streikende durch die Straßen bei der größten Demonstration an einem Werktag seit dem Protest gegen den Besuch von Donald Trump im Jahr 2018. Weitere Zehntausende demonstrierten im ganzen Land.

Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen, um der Krise bei den Lebenshaltungskosten zu begegnen. Inflationsraten von mehr als 11 % und ein Jahrzehnt des Einfrierens der Löhne und Gehälter bedeuten, dass ihr realer Wert für Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Sektors niedriger ist als im Jahr 2010.

Mehr als Löhne

Aber bei diesen Streiks geht es um viel mehr als nur um die Löhne. Jede/r kann sehen, dass ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen, der Privatisierung und des wirtschaftlichen Rückschlags durch den Brexit die öffentlichen Dienste an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Für die regierenden Konservativen ist dies ein Schritt in Richtung Abschaffung der universellen, kostenlosen öffentlichen Dienstleistungen vor Ort. Für die Streikenden geht es bei dieser Aktion um den Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen. Sie kämpfen für vollständig finanzierte öffentliche Dienstleistungen, auf die wir alle angewiesen sind.

Die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, die Verarmung und Bestrafung der Arbeitslosen, der katastrophale Zustand unseres öffentlichen Nahverkehrs, der Anachronismus von Arbeitsbedingungen, die so schlecht sind, dass Zehntausende von teuer ausgebildeten, neu qualifizierten Lehrer:innen und Krankenpfleger:innen innerhalb der ersten zwei Jahre kündigen – all das sind Gründe genug für einen Streik.

Aber das ist noch nicht alles. Die Regierung nutzt die Streiks, um noch drakonischere Antistreikgesetze zu verabschieden, die das Streikrecht im Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungswesen sowie bei den Notdiensten faktisch abschaffen werden.

Es geht nicht nur um die Beschäftigten des öffentlichen Sektors. Die Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft bleiben weit hinter der Inflation zurück, aber die Lohnerhöhungen sind immer noch doppelt so hoch wie im öffentlichen Bereich. Die Regierung will die Löhne  dort  niedrig halten, um einen Maßstab für die Lohnsumme insgesamt zu setzen.

Es steht für alle viel auf dem Spiel: Löhne, Renten, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie das Streikrecht sind in Gefahr. Die Aktion am 1. Februar war beeindruckend. Um sie zu organisieren, waren nachhaltige Organisationsbemühungen in den Gewerkschaften erforderlich, die Zehntausende neuer Mitglieder und Hunderte von Vertreter:innen und Aktivist:innen rekrutiert haben. Die Demonstrationen spiegelten eine jüngere, vielfältigere Mitgliedschaft wider, die sich der politischen Implikationen und des Einsatzes bewusst ist.

Aber die zentrale Frage: „Wie geht es weiter?“ bedeutet, dass man sich fragen muss, ob die Strategie der Gewerkschaftsführer:innen funktioniert.

Rolle der Bürokratie

Erstens wurden die Streikenden am 1. Februar von der Gewerkschaft des Pflegepersonals (RCN) im Stich gelassen, deren Vorsitzende Pat Cullen darauf bestand, dass sie keine gemeinsamen Aktionen unterstützen würde, weil sie nur Pflegekräfte vertrete. Hinter diesem „Mandat“ verbirgt sich engstirniger Sektionalismus, der die Interessen einer Gruppe von Beschäftigten über kollektive Bemühungen stellt und damit alle schwächt.

Schlimmer noch: Geplante Verhandlungen mit den „Arbeitgeber:innen“ wurden von den Gewerkschaften im Kommunikations- (CWU) und Verkehrswesen (RMT), deren Führer Dave Ward und Mick Lynch die profiliertesten Befürworter einer koordinierten Aktion waren, als Vorwand benutzt, um sich von der Aktion fernzuhalten (mit Ausnahme einer kleinen Zahl von Lokführer:innen). In keiner der beiden Auseinandersetzungen hat die Seite der Bosse ein Angebot vorgelegt, das diese Entscheidung auch nur annähernd rechtfertigt. Sie schwächten damit ihren Arbeitskampf ebenso wie die Position aller anderen.

Die Regierungspartei der Tories spielt „Teile und herrsche“, und die Weigerung des Gewerkschaftsdachverbandes und der Führer:innen der wichtigsten Gewerkschaften, eine geschlossene Koalition zu bilden, die die Macht der Stärkeren nutzt, um die Forderungen der Schwächeren durchzusetzen, hilft ihnen dabei. Für diese Gewerkschaftsführung ist das Motto unserer Bewegung – „Einigkeit macht stark“ – nur ein leerer Slogan, gut für Reden und Transparente, aber aus dem Verhandlungssaal verbannt.

Zweitens, und verbunden mit dem vorrangigen Wunsch der Gewerkschaftsspitze, die Kontrolle über ihre eigenen Auseinandersetzungen zu behalten und zu vermeiden, dass sie sich zu einer politischen Offensive ausweiten, die ihre eigenen Forderungen durchsetzt, ist die Strategie eine von gelegentlichen ein- oder zweitägigen Streiks, gefolgt von langen Verhandlungsperioden, deren Ziele und Verlauf die Mitglieder, die Lohneinbußen hinnehmen müssen, weder mitbestimmen noch kennen.

Der Beweis ist eindeutig: Gegen eine Regierung, die entschlossen ist, die Profite der Bosse zu stützen und das Vermögen der Reichen zu verteidigen, indem sie die Löhne niedrig hält, reichen eintägige Streiks nicht aus, um zu gewinnen. Bestenfalls werden sie bescheidene Zugeständnisse für einige wie Pflegekräfte und Bahnbeschäftigte bringen, die Bewegung spalten und andere Teile isoliert zurücklassen, die sich mit weniger zufrieden geben müssen.

Die Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU hat für Februar und März 18 Streiktage angekündigt, während die Bildungsgewerkschaft NEU zu regionalen Streiks übergeht. Eine Eskalation, die so schnell wie möglich vonstattengeht, ist die einzige Alternative zu einer langwierigen Kampagne, die die Initiative und die Macht der Regierung überlässt, die  einfach länger abwarten kann.

Strategiewechsel ist nötig

Drittens: Streiks sind zwar die wirksamste Waffe der organisierten Arbeiter:innen, um für ihre Interessen zu kämpfen, aber die allgemeine soziale Krise, die den Lebensstandard drückt, erfordert die Mobilisierung der gesamten Arbeiter:innenklasse und nicht nur bestimmter Gewerkschaften. In jeder Gemeinde brauchen wir eine soziale und politische Kraft, die sich für Maßnahmen gegen Energierechnungen, Mieten und die ungezügelte Profitmacherei der großen Banken und Energieunternehmen einsetzt. Lasst uns Aktivist:innen aus Mieter:innenkampagnen, Umweltgruppen, Schwarzen- und Frauenorganisationen mit Gewerkschafter:innen zusammenbringen, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

In den Gewerkschaften müssen die Aktivist:innen der Basis, die die Notwendigkeit eines Strategiewechsels erkannt haben, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammenkommen, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, mit dem sie die Kontrolle über die Streiks und Verhandlungen übernehmen können.

Der nächste Aktionstag ist erst am 15. März, dem Tag der Verabschiedung des Haushalts, vorgesehen – also in sechs Wochen. Diese Wochen werden einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf darstellen. Was wir brauchen, ist ein gezieltes Eingreifen in die Bewegung, um die Organisation und Kontrolle der Basis und die Einheit der sozialen Kampagnen wie People’s Assembly (Volksversammlung) und Enough is Enough (Genug ist Genug) aufzubauen. Für diese Strategie, die Organisation von Aktivist:innen hinter einem Aktionsprogramm, um unsere Bewegung kampffähig zu machen, kämpfen die Mitglieder von Workers Power. Wenn ihr einverstanden seid, schließt euch uns an!




Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaftsbürokratie und Klassenbewusstsein

Mattis Molde, Neue Internationale 271, Februar 2023

Warum ziehen es die Gewerkschaften vor, sich mit Kanzler und Kapital an den Tisch zu setzen, statt auf der Strasse zu mobilisieren? Warum dürfen streikbereite Metaller:innen nicht streiken?

Die Krise der Gewerkschaften nahm in den letzten Jahren neue Dimensionen an. Sie erweisen sich hierzulande zunehmend als unfähig, die Reallöhne zu sichern. So führte die hohe Inflation im 3. Quartal 2022 zu einem Reallohnrückgang von durchschnittlich 5,7 %. Auch das gesamte Jahr war lt. Statistischem Bundesamt von einer solchen Entwicklung geprägt: 4. Quartal 2021: – 1,4 %, 1. Quartal 2022: – 1,8 %, 2. Quartal 2022: – 4,4 %.

Für 2020 (minus 1,1 %) und 2021 (- 0,1 %) weist das Bundesamt bereits einen Rückgang aus. Aber auch im Jahrzehnt davor bewegen sich die Reallohnzuwächse zwischen Stagnation und maximal 2 % (2015 und 2016).

Natürlich gab es nicht nur Niederlagen. In einzelnen Bereichen wie bei den Krankenhäusern oder auch in einzelnen Betrieben konnten durchaus vorzeigbare Teilerfolge verzeichnet werden. Aber an der allgemeinen Entwicklung ändert das leider nichts. Das betrifft nicht nur Löhne und Einkommen, sondern auch Arbeitsbedingungen, Schließungen und Personalabbau. Gerade wenn sie am meisten gebraucht werden, erweisen sich die Gewerkschaften als stumpfe Waffen.

Die Führungen der DGB-Gewerkschaften tragen dafür die politische Hauptverantwortung. Doch warum halten sie in Zeiten der Krise so verbissen an einer Politik der Sozialpartner:innenschaft, der Klassenzusammenarbeit und des Burgfriedens mit Kapital und Kabinett fest, die seit Jahrzehnten zu immer schlechteren Ergebnissen führt? Warum vermögen sie, weiter die Kontrolle über die Klasse aufrechtzuerhalten, ja teilweise sogar Zustimmung für ihre Politik zu organisieren?

Im Folgenden wollen wir zum Verständnis der Rolle der reformistischen Führungen und des bürokratischen Apparats beitragen, weil dies für revolutionäre Arbeit unerlässlich ist. Dazu ist  es notwendig, einige grundsätzliche Erwägungen über den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfs selbst vorauszuschicken.

Gewerkschaftlicher Kampf

Der Kampf um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen (inklusive Versicherungen gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit, für Renten usw.) stellt eine grundlegende Form des Klassenkampfes zwischen Lohnarbeit und Kapital, einen „Kleinkrieg“ dar, ohne den die Lohnabhängigen nicht einmal in der Lage wären, ihre eigenen Existenzbedingungen zu sichern.

Mit dem Zusammenschluss zu Gewerkschaften macht die Arbeiter:innenklasse einen wichtigen Schritt vorwärts, wird nicht mehr zum reinen Ausbeutungsmaterial. Ihre Reaktion auf die Angriffe des Kapitals nimmt bewusstere, gezieltere Formen an.

Als Sammelpunkte des alltäglichen Widerstands leisten die Gewerkschaften auch praktische Dienste zur Entwicklung von elementarem, embryonalem Klassenbewusstsein. Dieses rein gewerkschaftliche Bewusstsein ist jedoch (ähnlich wie der Reformismus) kein proletarisches, revolutionäres Klassenbewusstsein, sondern letztlich eine Form bürgerlichen Bewusstseins.

Warum? Im Kapitalismus verschwindet die Realität der Ausbeutung, der Klassengesellschaft immer wieder hinter Formen der Gleichheit und Gerechtigkeit und es verbreitet sich ein Schein von Harmonie. Karl Marx erklärt in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht nur, wie Ausbeutung funktioniert, sondern auch, wie sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit unsichtbar gemacht und verschleiert wird. Der Kern dieser Verschleierung ist die Lohnform. Wir treten als freie und gleiche Warenbesitzer:innen auf den Arbeitsmarkt und verkaufen scheinbar unsere Arbeit. Dafür erhalte ich einen „gerechten“ Lohn. In Wirklichkeit, so Marx, habe ich aber meine Arbeitskraft, mein bloßes Vermögen, Arbeit zu verrichten, verkauft. Und der Wert dieser Ware wird wie der jeder anderen durch ihre Reproduktionskosten bestimmt. Ihr Gebrauchswert ist die lebendige Arbeit, das was ich unter den Anweisungen des/r Käufer:in meiner Ware tun muss – und aus diesem Gebrauchswert meiner Ware entspringt der Mehrwert.

Der Widerspruch von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft basiert also auf den Gleichheits- und Freiheitsillusionen des Warentauschs. Schon der Begriff „Lohn“ enthält diese Verschleierung, weil der gesamte Arbeitstag als bezahlte Arbeit erscheint. Der rein gewerkschaftliche Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft bewegt sich im Rahmen dieses Verhältnisses und überwindet aus sich heraus notwendigerweise nicht bürgerliches Bewusstsein.

Revolutionäres Bewusstsein

Diese dem rein gewerkschaftlichen Kampf innewohnende Beschränktheit wird von vielen, ja den meisten Sozialist:innen und Kommunist:innen nicht beachtet, teilweise direkt negiert. Diese weigern sich daher anzuerkennen, dass der gewerkschaftliche Kampf an sich gar kein revolutionäres Bewusstsein hervorbringen kann. Das heißt jedoch keineswegs, dass dieser unbedeutend ist. So können siegreiche Kämpfe, die Erfahrung von Massenauseinandersetzungen überhaupt im Bewusstsein der Massen die Einsicht reifen lassen, dass sie eine gesellschaftliche Macht ausüben. Massive Konfrontationen um politische Fragen, Angriffe des Staates usw. werfen dabei auch über rein gewerkschaftliche Themen hinausgehende Fragen auf, bereiten den Boden dafür, dieses Bewusstsein auf eine höhere Stufe zu heben.

Das Falsche an der Erwartung, der gewerkschaftliche Kampf führe an sich zu sozialistischem Bewusstsein, beseht darin, dass dieser eben nicht das Lohnsystem selbst in Frage stellt. Lenin hat seinerzeit die Anhänger:innen dieses Irrtums in Russland als „Ökonomist:innen“ scharf kritisiert. Revolutionäres Bewusstsein, so weist Lenin nach, muss daher von einer revolutionären Organisation in die Klasse getragen werden.

Dieses Hineintragen sieht unterschiedlich aus, je nach Lage des Klassenkampfes und dem Verhältnis der revolutionären Kräfte zur Arbeiter:innenklasse. Wenn die Revolutionär:innen nur eine kleine Minderheit darstellen, geht es vor allem um die Gewinnung und Herausbildung von Kadern, auch solche, die keine Lohnarbeiter:innen sind. Der Unterschied ist der, dass die betrieblichen Kader auch dafür bewaffnet werden müssen, Vorschläge für gewerkschaftliche Kämpfe und Aktionen machen zu können, damit sie sich zumindest als Einzelne am Arbeitsplatz und in ihrer Gewerkschaft verankern können.

Dazu ist es unerlässlich, Politik in Betrieb und Gewerkschaft zu tragen, die generelle Politik der Bourgeoisie und ihres Staates mit der eigenen konkreten Ausbeutungslage zu verknüpfen, die Unterdrückung anzugreifen, die in Betrieb und Gesellschaft gegenüber national, rassistisch, sexuell Unterdrückten herrscht, und gegen die soziale Ungleichheit aufzutreten, in der sich diese ausdrückt.

Kampf, Erfahrung, Bewusstsein

Die Klasse selbst lernt natürlich am besten im Kampf. In der normalen Tretmühle stupider Ausbeutung ist es schwierig, sich politisches Wissen anzueignen, und je eintöniger und länger die Ausbeutung, desto schwerer. Auch dann, wenn der Kampf um das nackte Überleben ein alltäglicher ist, ist es schwer, sich mit der Weltlage zu befassen. Das ändert sich im Kampf, z. B. im Streik. Plötzlich wird der Kopf frei, alle müssen sich positionieren, es gibt keine Ausreden mehr und die Phrasen der Herrschenden entlarven sich schneller. Dann geht es für Revolutionär:innen auch darum, inmitten und anhand des Kampfes die Welt zu erklären und ihn so zu führen bzw. Vorschläge dafür zu machen, dass die Verhältnisse praktisch erfahrbar werden und der Weg, wie diese umgestürzt werden können.

Dies ist umso wichtiger, weil auch der erfolgreiche ökonomische Kampf zwar ein Moment der Stärkung und Radikalisierung des Bewusstseins enthält, zugleich aber seinem Wesen nach auf einen Kompromiss zielen muss. Ein guter (z. B. eine saftige Lohnerhöhung, die Verteidigung von Arbeitsplätzen, aber auch umfassende politische Reformen) stärkt daher nicht nur das Vertrauen in die Kraft der Klasse, sondern kann und wird oft auch Illusionen in die graduelle Verbesserbarkeit des Kapitalismus oder gar in dessen allmähliche, friedliche Überwindung bekräftigen.

Es sind diese Erfolge, die nicht nur die Basis für die Ausbreitung von (in Teilen durchaus kämpferischem) Gewerkschaftertum und Massengewerkschaften, sondern auch reformistischen Parteien legen. Das ist der „natürliche“ Reformismus der Arbeiter:innenklasse. Revolutionär:innen müssen also bewusst dafür arbeiten, dass ein kommunistischen Bewusstsein entsteht.

Historische Wurzeln

Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen.

Die Entstehung und Festigung einer solchen Bürokratie stellt jedoch selbst einen historischen Prozess dar. Nach dem Erstarken der Arbeiter:innenbewegung im 19. Jahrhundert musste die Bourgeoisie schon ihre Strategie ändern: Wo sie die Organisationen der ArbeiterInnenklasse nicht unterdrücken konnte, musste sie sie integrieren. Ihre Vertreter:innen bekamen Aufgaben in der Sozialversicherung, durften sich über Parlamente an der Verwaltung des bürgerlichen Staates beteiligen.

Kapitalist:innen korrumpieren aktiv Betriebsratsmitglieder, besonders die Vorsitzenden. Ihr Staat schafft gesetzliche Regeln, die die Herausbildung dieser Kaste begünstigen. So verfügen in Deutschland die Gewerkschaften über wenig Rechte im Betrieb, aber die Betriebsräte haben solche. Diese sind aber an das Betriebswohl gebunden und dürfen nicht zum Streik aufrufen. Ihre Rechte sind auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausgerichtet. Sie sollen Konflikte kontrollieren und nicht führen. Sie sollen die Beschäftigten vertreten, diese sich vertreten lassen, den Mund halten und Mehrwert produzieren.

Die Gewerkschaftsbürokratie ihrerseits beschränkt den Kampf bewusst auf ökonomische Ziele, auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Erhöhung der Löhne. In Deutschland nutzt sie das Betriebsverfassungsgesetz, das die Betriebsräte regelt, um die demokratischen Zugriffsmöglichkeiten der Gewerkschaftsmitglieder auf die Entscheidungen ihrer Organisationen auf ein Minimum zu reduzieren und ihre Macht als Kaste zu stärken.

Solche Gewerkschaften sind also nicht untauglich als „Schule für den Sozialismus“, weil sie unbeweglich, nicht spontan, unpolitisch, nationalborniert, männlich-chauvinistisch sind, sondern sie verinnerlichen diese Eigenschaften, weil sie von einer Kaste dominiert werden, deren politische Bestimmung es ist, die Gewerkschaften an das kapitalistische System zu binden und die Bedürfnisse der Arbeitenden denen der Ausbeuter:innen anzupassen und zu unterwerfen.

Es ist aber wesentlich zu verstehen, auf wen sich die Gewerkschaftsbürokratie, die obere Schicht der freigestellten Betriebs- und Personalräte in den Betrieben stützen und wie sie ihre Arbeit organisieren.

Weltmarkt und Arbeiter:innenaristokratie

Damit ein riesiger Apparat dauerhaft in das kapitalistische System eingebunden werden kann, muss dieses selbst eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben. Mit der Entwicklung des Weltmarktes und der Herausbildung eines imperialistischen Weltsystems Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht erst die Grundlage dafür, dass in der Arbeiter:innenklasse selbst eine relativ privilegierte Schicht von Lohnabhängigen herausgebildet werden kann, die ihrerseits die soziale Stütze für Reformismus und Arbeiter:innenbürokratie darstellt.

Mit dem Imperialismus entsteht faktisch in allen entwickelten kapitalistischen Ländern eine Arbeiter:innenaristokratie, die große Teile der Klasse umfasst, die über längere Perioden relativ hohe Löhne, Arbeitsplatzsicherheit, also Reproduktionsbedingungen durchsetzen können oder zugestanden erhalten, die ihnen einen Arbeitslohn über den Reproduktionskosten sichern, ihren Konsumfonds erweitern und einen kleinbürgerlichen Lebensstil erlauben. In den Kernländern des Imperialismus können diese bis zu einem Drittel der Klasse ausmachen.

Möglich ist das nur, weil die Großkonzerne dieser Länder den Weltmarkt beherrschen. Sie beuten also nicht nur eine überaus produktive Arbeiter:innenklasse (inklusive einer Aristokratie mit sehr hoher Arbeitsproduktivität und damit trotz hoher Löhne überdurchschnittlichen Ausbeutungsrate) in ihren „Stammländern“ aus, sondern ziehen Extraprofite aus der Ausbeutung der Arbeitskraft der halbkolonialen Länder und den Weltmarktbeziehungen, die dem globalen Süden aufgezwungen werden. Diese ermöglichst einen Verteilungsspielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenaristokratie und in Phasen der expansiven Entwicklung sogar die Masse der Lohnabhängigen.

In den Halbkolonien, insbesondere in den ökonomisch entwickelteren, hat sich zwar auch eine Aristokratie herausgebildet, aber eine deutlich kleinere im Verhältnis zur Gesamtklasse. Wir können an dieser Stelle nicht auf die globale Entwicklung unserer Klasse eingehen. Entscheidend ist jedoch, dass die Bürokratie nicht nur organisatorisch die Klasse dominiert, eng an reformistische Parteien und auch an den bürgerlichen Staat gebunden ist sowie das spontane Bewusstsein der Klasse aufgreift. Sie verfügt auch über eine soziale, materielle Stütze in der Arbeiter:innenklasse. Diese wird zwar durch die aktuelle Entwicklung erschüttert, aber sie besteht letztlich, solange es den Imperialismus gibt.

Bürokratie und Aristokratie

Diese Schichten spielen für die Bürokratie in den Gewerkschaften eine besondere Rolle. Erstens sind diese zu einem hohen Anteil Gewerkschaftsmitglieder, sie wollen ja ihre hohen Löhne und guten Arbeitsbedingungen verteidigen oder verbessern. Zweitens sind sie empfänglich für alle Aspekte der reformistischen Ideologie: dass doch ein „gutes Leben“ auch im Kapitalismus möglich sei, es für dieses gute Leben auch „meiner“ Firma gutgehen müsse und ich deshalb auch noch einen Jahresbonus kriegen sollte, dass weiterhin viele Autos aus Deutschland exportiert werden müssen …Die Bürokratie findet also innerhalb der Klasse eine Schicht, deren materielle Situation sie für ihre reformistische Politik empfänglich macht.

Die Bourgeoisie verfolgt ihrerseits ein Interesse, diese Schicht an sich zu binden und ist bereit, sich dies einen Anteil an den Extraprofiten kosten zu lassen, die sie zum Beispiel im Falle der Autoindustrie durch den Export verdient oder aus den hohen Subventionen, die sie von der Regierung erhält (Milliarden für Forschung, E-Mobilität, Transformation, Abwrackprämien, Kurzarbeitergeld … ).

Dennoch es ist grundfalsch, die Arbeiter:innenaristokratie mit der -bürokratie gleichzusetzen. Diese Schicht bleibt trotzdem ein Teil der Klasse und wird nicht zur Agentur der Bourgeoisie in den Arbeiter:innenorganisation. Sie hat sich ihre Position auch erkämpft und nicht darum gebeten, geschmiert zu werden. In Zeiten der Krise aber können sich ihre Errungenschaften in Privilegien verwandeln.

Auch hier ist die Autoindustrie ein gutes Beispiel: Vor etwa 20 Jahren begann eine Welle von Sparprogrammen in den Autowerken. Die Bosse und Bürokrat:innen reagierten auf die spontanen Massenproteste, indem sie der Stammbelegschaft Sicherheit versprachen, aber alle Neuen ohne die bisherigen übertariflichen Zulagen einstellten. In der gesamten Metallindustrie wurde ein neues Tarifsystem eingeführt, das die Produktionsarbeit langfristig verbilligte. Daneben wurden noch Leih- und Werkvertragsarbeit ausgedehnt. Die alte Stammbelegschaft wurde zu einer Elite, die nicht mehr als Vorreiterin für Fortschritte wie die 35-Stundenwoche kämpfte, die eine Arbeitszeitverkürzung für alle einleiten sollte, die höhere Löhne durchgesetzt hatte, damit auch andere Branchen nachziehen (Geleitzugmodell), sondern die ihre privilegierte Position gegen die anderen abschirmte.

Es war also das Vorgehen der Bürokratie, die diese Schicht politisch korrumpiert hat. Dennoch bleiben diese Schichten oft auch ein Vorbild- und Orientierungspol für die gesamte Klasse – mitunter auch in negativer Hinsicht. Tatsächlich wurde die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst 2022 von der Bürokratie ausverkauft. Die Streikbereitschaft von 900.000 Warnstreikenden und auch das Ergebnis werden mit Sicherheit mehrheitlich bei den kämpferischsten Menschen der Klasse als vorbildhaft angesehen.

Die Arbeiter:innenaristokratie vereint also in diesem für Deutschland durchaus prägenden Fall konservatives politisches Bewusstsein mit gewerkschaftlicher Kampfkraft. Sie bildet die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen.

Gerade weil in wichtigen imperialistischen Staaten (aber auch in einigen Halbkolonien) die Arbeiter:innenaristokratie Schlüsselsektoren der Mehrwertproduktion besetzt, wird es in einer Revolution auch wichtig, sie zu gewinnen und vom Einfluss der Bürokratie zu befreien. Die Stellung als relativ privilegierte Schicht darf außerdem nicht damit verwechselt werden, dass sie notwendig eine besonders rückständige wäre. In der Novemberrevolution stammte z. B. die Avantgarde der Klasse, die revolutionären Obleute, aus der Aristokratie.

Bürokratie heute

Über die Jahrzehnte haben sich aber auch Klasse und Bürokratie massiv gewandelt und befinden sich in einem fortlaufenden Veränderungsprozess.

Betrachten wir die deutschen Gewerkschaften, so konnten vor allem jene Industriegewerkschaften (IG Metall, IG BCE), die sich massiv auf die Aristokratie und enge Beziehungen zu Kapital und Staat stützen, einigermaßen halten. Ihre Mitgliederverluste sind geringer.

Insgesamt organisierte der DGB Ende 2021 5,73 Millionen Mitglieder. 2001 waren es noch 7,9 Millionen, 2011 6,16 Millionen. Das heißt, der Schwund verlangsamte sich.

Ende 2021 organisierten die drei größten der insgesamt 8 Einzelgewerkschaften über 80 % aller Mitglieder der DGB-Gewerkschaften: die IG Metall 2.169.183 Millionen (38 %), ver.di 1.893.920 Millionen (33,1 %) und die IG BCE 591.374 (10,3 %).

Im Jahr 2001, also kurz nach ihrer Gründung, organisierte ver.di 2.806.496 Mitglieder und war damit größte DBG-Gewerkschaft. Die IG Metall zählte damals 2.710.226. Während Letztere rund 500.000 Mitglieder verlor, waren es bei ver.di über 900.000.

Dies verweist darauf, dass die Gewerkschaften in Deutschland noch mehr zu solchen der Arbeiter:innenaristokratie geworden sind, selbst wenn es einige gegenläufige Trends gibt.

Die zentrale Ursache dafür stellt zweifellos die Restrukturierung des Kapitalismus selbst dar, die Ausweitung prekärer, ungesicherter Verhältnisse und damit auch viel größere Differenzierung innerhalb der Klasse selbst.

Die Klasse der Ausgebeuteten ist natürlich nie eine homogene Masse. Es gibt unterschiedliche Qualifikationen und Branchen. Qualifikationen werden auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich bewertet. Frauen verdienen weniger als Männer, werden in bestimmte Branchen gedrängt und weisen stärker unterbrochene Erwerbsbiographien auf. Migrant:innen landen in den Jobs mit niedrigeren Qualifikationen und weniger legalen Arbeitsverhältnissen.

Aber Phasen der Krise und Neustrukturierung gehen immer auch mit Ausdehnung der ärmsten und untersten Schichten der Klasse einher. Die Bürokratie in Deutschland hat diesen Prozess zwar nicht geschaffen, aber hingenommen und auch vorangetrieben (siehe Hartz-Gesetze).

Vom Standpunkt der engen Teilinteressen der Aristokratie und erst recht von jenem der Bürokratie macht es durchaus Sinn, sich auf das „Kerngeschäft“, auf die Großbetriebe, starke Bereiche im öffentlichen Dienst zu konzentrieren. Dort arbeiten schließlich auch jene Beschäftigten, die das Gros der Mitgliedsbeiträge und damit auch der Einkommensquelle des Apparates besteuern.

Die Arbeiter:innenbürokratie umfasst natürlich viel mehr als die Hauptamtlichen der Gewerkschaften, also auch Betriebsräte samt Apparat in den Großkonzernen oder Führungspersonal angelagerter Institutionen (Stiftungen). Dabei es ist gar nicht so leicht, genaue Zahlen darüber zu erhalten. Heute gibt es jedenfalls rund 9.000 Hauptamtliche bei den DGB-Gewerkschaften. Allein ver.di beschäftigt bundesweit rund 3.000 Mitarbeiter:innen (davon 500 Beschäftigte in der Bundesverwaltung).

Das durchschnittliche Jahresgehalt als Gewerkschaftssekretär:in betrug nach Erhebungen 2021 68.600 Euro, abhängig von Faktoren wie Erfahrung und Branche, so dass es zwischen 55.600  und 101.700 Euro schwankt. Die Bezüge der Vorstandmitglieder liegen deutlich höher. Hinzu kommen Diäten und Einkommen aus Aufsichtsratsposten, die zwar gemäß etlicher Statuten abgeführt werden sollen, oft genug aber privat eingestreift werden.

Aus obigen Zahlen geht auch hervor, dass natürlich auch der Gewerkschaftsapparat wie jede Bürokratie eine innere Differenzierung, eine Rangstufe der Hauptamtlichen kennt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die Rekrutierung der Sekretär:innen deutlich verändert. Lange Zeit stellten Funktionsträger:innen aus den Betrieben (Betriebsräte, Vertrauensleute) das Gros der Gewerkschaftsbürokratie. Heute sind es in der Regel Akademiker:innen, die über Einstiegsprogramme (Organzing bei ver.di, Traineeprogramm der IG Metall) angeworben und, gewissermaßen als Bürokrat:innen auf Zeit, erprobt werden.

Die bedeutet nicht nur eine deutliche Veränderung der Herkunft der Hauptamtlichen. Lange waren diese nicht nur mit Betrieben verbunden, sondern sie wurden auch in ihrer Stadt oder Region beschäftigt. So wurde z. B. ein/e Metallarbeiter:in und Betriebrat/-rätin aus einem Stuttgarter Daimlerwerk dortige/r Gewerkschaftssekretär:in. Zwischen ihm/r und der Belegschaft, aus der er/sie kam, bestand nach wie vor ein wechselseitiges politisches Verhältnis. Der/Die Sekretär:in konnte sich weiter auf „seine/ihre“ Leute verlassen, so wie diese direkt Druck auf „ihre/n“ Mann/Frau ausüben konnten. Heute werden angehende Hauptamtliche, die ohnedies nicht aus der Branche stammen, oft in Verwaltungsstellen fernab ihres Heimat- oder Studienortes geschickt, so dass die Beziehung zu anderen Hauptamtlichen auch gleich eine zentrale soziale darstellt.

Wie jede Bürokratie rekrutiert sich auch die der Gewerkschaften weitgehend selbst. Natürlich werden die Vorstände formaldemokratisch auf dem Gewerkschaftstag gewählt. Aber die hauptamtlich Beschäftigten stellt der Apparat, meist der zentrale (also der Vorstand) ein. Dem gegenüber sind sie letztlich auch verpflichtet, nicht den lokalen Strukturen.

Mit der veränderten Rekrutierungsmethode ist der Apparat in den letzten Jahren aber in mehrfacher Hinsicht noch unabhängiger von der betrieblichen Basis geworden – nicht jedoch von den Betriebsräten der Großbetriebe, also ihrem Alter Ego der Arbeiter:innenbürokratie. Auch diese Entwicklung muss im Kampf gegen die Bürokratie und für die klassenkämpferische Transformation der Gewerkschaften bedacht werden.

Klassenkämpferische Basisbewegung

Damit die Gewerkschaften zu wirklichen Kampfinstrumenten der Klasse werden können, muss der Reformismus in ihnen bekämpft werden. Und das geht nur gegen die Bürokratie, für ihre Entmachtung und für Gewerkschaftsdemokratie. Dafür sind natürlich Taktiken nötig. Gerade weil die Bürokratie sich auf bestimmte Errungenschaften, Rechte, hohe Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse stützt, die die Gewerkschaftsmitglieder behalten und verteidigen wollen, und weil eine alternative, revolutionäre Führung letztlich nur in Verbindung mit einer revolutionären Partei entstehen kann, ist jedoch reine Denunziation der Bürokratie ein komplette Sackgasse.

Der Kampf gegen die Bürokratie muss auch in der täglichen gewerkschaftlichen und betrieblichen Praxis erfolgen. In jedem Konflikt geht es auch um:

  • Aktionen und Kampf statt Verhandlungen

  • Diskussion und Demokratie statt Diktate der Führungen

  • Einsatz auch für die Randbelegschaften statt Ausrichtung auf die Arbeiter:innenaristokratie

  • Die Interessen der Gesamtklasse und nicht von Privilegien für Sektoren

  • Solidarität mit anderen Kämpfen.

  • Gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Nationalismus, Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Jugend.

Aber das ist nicht alles. Es ist völlig klar, dass die Bürokrat:innenkaste alle Vorteile der Zentralisierung und Organisierung für sich nutzt. Es ist also eine organisierte Bewegung gegen die Bürokratie nötig, die sich auf die Basis stützt und diese organisiert gegen das politische Monopol des Apparates. Das macht eine politische Bewusstseinsbildung nötig und bedeutet letztlich, die Kolleg:innen für eine antikapitalistische, revolutionäre Perspektive zu gewinnen. Das ist kein Spaß, vor allem dort, wo die Bürokratie besonders hart zuschlägt, wo sie aus Sicht des Kapitals ihre wichtigste Aufgabe erfüllt: in der Exportindustrie. Um so notwendiger ist ein organisierter Kampf.

In ihm spielt nicht nur die Strategie, sondern auch deren taktische Konkretisierung eine große Rolle. Immer wenn der Apparat ein paar Schritte in Richtung Kampf geht, seine radikaleren Teile auf dem Vormarsch sind, die Belegschaften aus ihrer Passivität ausbrechen, in die sie gedrängt werden, müssen wir in dieser Bewegung vorne dabei sein, dürfen nicht passiv bleiben. Wir dürfen nicht nur vor dem nächsten Verrat warnen, sondern müssen Vorschläge machen, die die Massen in Bewegung befähigen, ihn zu bekämpfen. Die Mitglieder müssen die Kontrolle über die Forderungen, Aktionen und Verhandlungen in die Hand bekommen – also Aktionskomitees wählen, auf Vollversammlungen entscheiden, Verhandlungen öffentlich führen.

Die Aufgabe einer Basisbewegung liegt darin, die Alternative einer klassenkämpferischen Gewerkschaft in der Praxis zu zeigen und für eine Umgestaltung der alten Verbände zu kämpfen. Die Bürokratie ist als soziale Schicht an den Kapitalismus gebunden. Alle Privilegien müssen beendet werden: Bezahlung nach Durchschnittseinkommen der Branche, raus aus den Aufsichtsräten, demokratische Wahlen und Abwählbarkeit auf allen Ebenen. Das kann zu heftigen Brüchen in den Gewerkschaften führen, zu Spaltungen und Ausschlüssen.

Wenn wir heute mit anderen Organisationen am Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) arbeiten, dann tun wir das solidarisch und auf Basis gemeinsamer Beschlüsse. Aber wir kämpfen auch für ein revolutionäres Verständnis von Gewerkschaftsarbeit und Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung als einer Kraft, die die Organisationen unter die Kontrolle der Klasse bekommen und die Bürokratie vertreiben kann und es so ermöglicht, die bestorganisierten Schichten der Klasse für die Revolution zu gewinnen.

„Gewerkschaften … verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen … zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 152)




Fahimi muss zurücktreten! Schluss mit Interessensverrat und Sozialpartnerschaft!

Stellungnahme der VKG zu den Äußerungen der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi, 10. Januar 2023, Infomail 1210, 16. Januar 2023

Kurz vor Ende eines historischen Krisenjahres sorgt die Vorsitzende des DGB Yasmin Fahimi mit Statements für Unmut bei GewerkschafterInnen. Wie kann die Vorsitzende des DGB ernsthaft unterstützen, dass Konzerne, die mehr als 50 Millionen Euro „Krisenhilfe“ vom Staat erhalten, diese Millionen direkt als Dividende an die Aktionäre und als Boni an die Manager weiterreichen dürfen? Selbst die Regierung hat es nicht gewagt, sich hinter diese dreiste Forderung der Unternehmerverbände zu stellen. Aber sie, als Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes, der Vertretung von knapp 6 Millionen Beschäftigten, stellt sich auf die Seite des Kapitals. In einer Situation, in der Hunderttausende nicht wissen wie sie über die Runden kommen, unterstützt sie, dass Steuergelder an Bosse und Manager verschenkt werden.

Für Fahimi sind das „die normalen Mechanismen der Marktwirtschaft“. „Es mag ja sein, dass die einem nicht gefallen. Aber jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität.“ Mehr Zynismus wäre kaum denkbar von einer Gewerkschaftsführerin, die hier ohne Scham im Sinne des Kapitals argumentiert – gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten, die sie als Vorsitzende vertreten sollte. Mit solchen Aussagen macht sie sich als Vorsitzende des DGB untragbar. Fahimi muss zurücktreten!

Zur Begründung ihrer Haltung, greift Fahimi die Schreckgespenster „Deindustrialisierung“, „Arbeitsplatzabbau“ und „Wertschöpfungskette Deutschland verlassen“ auf, die seit Jahrzehnten von Vertreter des Industriekapitals heraufbeschworen werden. Mit diesen Drohungen und Erpressungen haben die Konzerne in den letzten dreißig Jahren zahllose Verschlechterungen durchgesetzt. Sie haben Tausende Stellen abgebaut, die Löhne abgesenkt, in Tochterfirmen zu Niedrigstlöhnen ausgelagert…

Viele Mitglieder verlassen aufgrund solcher Stellungnahmen die Gewerkschaften, weil sie sich nicht mehr von ihnen vertreten fühlen. Solche Erklärungen setzen auch die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften auf’s Spiel.

Es ist nötig einen organisierten Kampf um eine politische und personelle Alternative in den Gewerkschaften zu führen, wenn wir diese als kämpfende Organisationen wieder und weiter aufbauen wollen. Gerade jetzt, gerade in der Krise, bei explodierenden Preisen, bei sinkendem Lebensstandard brauchen die Beschäftigten kämpferische Gewerkschaften an ihrer Seite, Gewerkschaften, die ihre Interessen vertreten, um sich gegen Angriffe und Erpressungen wehren zu können und die sozialen und tariflichen Errungenschaften zu verteidigen. Schluss mit Sozialpartnerschaft, Komanagement und Klassenverrat! Stärken wir einen kämpferischen Kurs und die innergewerkschaftliche Demokratie!




Tarifrunde Bund & Gemeinden – TVÖD: 10,5%, mindestens 500 € durchsetzen bei 12 Monaten Laufzeit!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, ursprünglich veröffentlicht auf https://vernetzung.org, Infomail 1210, 13. Januar 2023

Wenn wir unsere Forderungen – 10,5%, mindestens 500 Euro monatlich mehr für alle Vollzeitbeschäftigten – durchsetzen, würde der Lohnverlust für 2023 verhindert.

Wenn es allerdings so läuft wie in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, wäre auch bei Kommunen und Bund der Reallohnverlust bis Ende 2024 festgeschrieben, denn bei Metall wurden mehrere Fallen eingebaut und der Abschluss ist keineswegs so gut wie in den Medien dargestellt.

Falle Nr. 1: Die Laufzeit

Die Rechnung ist eigentlich einfach, aber in den Medien und seitens der Gewerkschaftsvorstände werden die Gesetze der Mathematik zeitweise durch phantastische Märchen ersetzt. Bei einem Abschluss mit zwei Jahren Laufzeit und einer Erhöhung von zweimal 5% gibt es mitnichten eine Entgelterhöhung von 10%, denn diese muss pro Jahr berechnet werden. Die Inflation macht keine Pause, die Preise steigen auf jährlicher Grundlage um rund 10%. Eine längere Laufzeit ist nichts anderes als ein Lohnverlust auf Raten.

Falle Nr. 2: Die Einmalzahlung

Die bis zu 3000 Euro Einmalzahlung steuer- und abgabenfrei erscheinen vielen Kolleg*innen als der berühmte Spatz in der Hand. Es klingt echt, man hat es schon mal auf dem Konto, dringend benötigt für Nach- und Vorauszahlungen der Energie- und Nebenkosten. Doch die Einmalzahlung verpufft. Sie ist nicht tabellenwirksam. Die nächste Tarifrunde ein oder zwei Jahre später beginnt erneut auf einem niedrigen Niveau – denn die Arbeitgeber rücken die Einmalzahlung nur raus, wenn ver.di bei den Tabellen-Entgelten Zugeständnisse macht. Die Einmalzahlung zählt auch nicht bei der Berechnung von Krankengeld, Jahressonderzahlung, Arbeitslosengeld und Rente. Die Unternehmen sparen dadurch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Im öffentlichen Dienst ist etwas ähnliches schon 2020 mit der „Corona-Prämie“ passiert. Sie hat mit dazu beigetragen, dass die Löhne über die 27 Monate Laufzeit nur um 3,2 % erhöht wurden, während die Preise um 15,4 % gestiegen sind – das bedeutet 12,2 % Reallohnverlust. Eine Einmalzahlung – als Nachzahlung für die Verluste der vergangenen Jahre – wäre als Ergänzung zur klaren Erhöhung der Tabellen-Entgelte akzeptabel, jedoch nicht als Ersatz.

Falle Nr. 3: Die alte Leier von den knappen Kassen

Wir werden es täglich hören, wenn die Warnstreiks losgehen. Der Staat habe kein Geld, man brauche es dringend, um neue Leute einstellen und investieren zu können. Seit Jahren hat es nur bescheidene nominale Erhöhungen gegeben, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben in den 2000ern Reallohnverlust erlebt, dann einen kleinen Aufschwung Mitte der 2010er, danach ging es wieder bergab. Wurden in dieser Phase die Einsparungen seitens der Kommunen genutzt, um zu investieren, endlich genug Personal einzustellen? Alle kennen die Antwort. Kliniken, Schulen, Kitas, der öffentliche Personenverkehr und viele andere Bereiche sind weiter unterfinanziert und teilweise marode. Die Reichen und Konzerne werden nach wie vor nur gering besteuert. Während der Pandemie gingen die Subventionen vor allem an die Konzerne. Aktuell fahren Energie- und Rüstungskonzerne Rekordgewinne ein. Der Staat verzichtet darauf, diese Gelder abzuschöpfen. Wir sollen immer weiter bescheiden sein, während die Reichen reicher werden. Es ist genug Geld da, es ist nur in den falschen Händen!

Schlichtungsvereinbarung ist ein Knebel

Die Tarifrunde kann ganz einfach zu einem Misserfolg werden. Wenn die ver.di-Führung die Erzählung von den leeren Kassen akzeptiert, sich mit dem Slogan der “Stabilität” auf zwei Jahre Laufzeit einlässt und die 10,5% auf diesen Zeitraum ausdehnt – bei 16 bis 20% (oder noch höherer) Inflation. Wenn das Ganze dann noch mit halbherzigen und kleinteiligen Warnstreiks losgeht und der Abschluss erfolgt, bevor ver.di die Kampfkraft der Kolleg*innen entfaltet, ist das ein perfektes Paket für den Lohnverzicht.

Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungs-streik erfolgen.

Erfolg durch konsequenten Arbeitskampf möglich

Es geht auch anders, wir können gewinnen: Klare Kante, nicht von den 12 Monaten Laufzeit abrücken. Mobilisierung der Belegschaften für die Verteidigung des Lohnniveaus. Flächendeckende Warnstreiks zu den Verhandlungsrunden. Lernen von den erfolgreichen Kämpfen an den Kliniken in Berlin (Charité und Vivantes) und Nordrhein-Westfalen (Unikliniken): Streikversammlungen mit Beschlüssen, die für die Tarifkommission bindend sind und volle Einbeziehung der Basis z. B. durch den Aufbau von Streikkomitees der Kolleg*innen, die alle wichtigen Entscheidungen in den Tarifverhandlungen diskutieren, um Erzwingungsstreiks vorzubereiten.

Im großen Streik im öffentlichen Dienst 1992 traten allein am ersten Streiktag 30.000 neue Mitglieder in die damalige ver.di-Vorgängerin ÖTV ein. Gewerkschaften werden im Kampf aufgebaut, nicht durch den Verzicht darauf. Wir können unsere Löhne verteidigen und damit Zehntausende Kolleg*innen davor retten, sich wegen der horrenden Energie-, Miet- und Lebensmittelkosten verschulden zu müssen.

Solidarität

Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst stehen nicht allein in einer Tarifauseinandersetzung. Auch die Beschäftigten bei der Post und der Bahn gehen mit ihren Forderungen in die Verhandlungen. Was liegt mehr auf der Hand, als diese Bereiche, die alle mit der öffentlichen Daseinsvorsorge zu tun haben, miteinander zu koordinieren? Gemeinsame Streikkundgebungen und Demonstrationen würden eine Machtdemonstration der Gewerkschaften darstellen und eine Stärkung der einzelnen Tarifrunden bedeuten. Diese könnten gemeinsam zu einer gesellschaftspolitischen Bewegung gemacht werden.

Klar ist, dass für eine solche Streikbewegung auch Solidarität in der Bevölkerung aufgebaut werden muss. Denn Kapital und Regierung würden einen solchen Erfolg verhindern wollen, der Schule machen könnte. Daher sollte auch über die DGB-Gewerkschaften eine systematische Solidaritätskampagne aufgebaut werden.

In der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) versammeln sich Kolleg*innen aus verschiedenen Branchen. Wir sind der Auffassung, dass die Gewerkschaften und damit die Beschäftigten insgesamt nur aus der Defensive herauskommen, wenn die Gewerkschaften Co-Management und “Sozialpartnerschaft” beenden und konfliktbereit und konsequent die Interessen ihrer Mitglieder gegen private Konzerne und öffentliche Arbeitgeber vertreten. In dieser Tarifrunde ist es notwendiger denn je, sich zu vernetzen, um gemeinsam Druck aufzubauen, so dass diese Tarifkämpfe zum Erfolg geführt und die Gewerkschaften gestärkt werden können!




Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!




Britanniens Winter der Unzufriedenheit

Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022

Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.

Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand  innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.

Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.

Die Eisenbahner:innen machen den Anfang

Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.

Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.

Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.

Postangestellte nehmen den Fehdehandschuh auf

Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.

Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.

Pflegepersonal startet historische Aktion

Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.

Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.

Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.

Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.

Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.

Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“

Und andere … folgen dem Beispiel

Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.

Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.

Koordinieren und eskalieren

Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.

Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.

Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.

All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.




Britannien: Gezielte Streiks im öffentlichen Dienst sind nicht genug

PCS-Gewerkschafter, Workers Power, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Die Public and Commercial Services Union (PCS), die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, führt im Dezember selektive Arbeitskampfmaßnahmen durch und fordert eine Lohnerhöhung von 10 %, eine Senkung der Rentenbeiträge und wehrt sich gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungsbedingungen.

Nach monatelangen Flugblattaktionen, Mitgliederversammlungen, Telefonanrufen und Direktnachrichten haben Gewerkschaftsaktivist:innen in 124 Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen die von den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 % überschritten und verfügen nun über ein gesetzliches Mandat für Arbeitskampfmaßnahmen. Über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben mit „Ja“ gestimmt.

Reaktionäres Streikrecht

Die PCS hat in über 80 Magistratsgerichten Rechtsberater:innen und Gerichtsmitarbeiter:innen ohne Rechtsberater:innenstatus gesondert an die Wahlurnen gerufen, um gegen das gescheiterte System der „gemeinsamen Plattform“ zu protestieren. Die Mitglieder werden den größten Teil des Dezembers bestreiken, und für den 24. Dezember bis 4. Januar wurden neue Termine angekündigt. Bei der letzten Urabstimmung in diesem Konflikt stimmten 97 % der Mitglieder für einen Streik und übertrafen damit die 50 %-Hürde.

Obwohl die Gesamtbeteiligung der Abstimmenden über dem Schwellenwert lag, wurde die Abstimmung getrennt durchgeführt, d. h. jede Abteilung wurde als separate Einheit befragt. Dadurch wurde verhindert, dass eine Gesamtbeteiligung von weniger als 50 % irgendjemanden am Streik hindert, aber andererseits bedeutet dies auch, dass die Abteilungen, die die Schwelle nicht erreicht haben, rechtlich nicht streiktätig werden können.

Von denjenigen, die das Ziel verfehlt haben, ist das HMRC (Finanzamt und Zoll), eine der beiden größten Dienststellen, am stärksten betroffen. Das HMRC hat 47 % erreicht und wird zusammen mit fünf anderen Dienststellen, die das Wahlquorum knapp verpasst haben, erneut zur Wahl gerufen. Die meisten dieser Abstimmungen, auch die des HMRC, enden am 27. Februar.

Der Nationale Exekutivausschuss (NEC) trat am 18. November nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zusammen, um zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen will. Er einigte sich auf ein erstes Programm für gezielte Aktionen, lehnte jedoch Anträge ab, die zu Streiks aller Mitglieder im Dezember aufriefen. Generalsekretär Mark Serwotka wandte sich in einem Schreiben an die Gewerkschaftsangehörigen:

„Der NEC wird Mitte Dezember erneut zusammentreten, um die nächste Streikwelle zu erörtern … Dazu könnten gemeinsame Streiks aller Mitglieder in den Gebieten gehören, die die 50 %-Beteiligungsschwelle überschritten haben, möglicherweise in Abstimmung mit anderen Gewerkschaften.“

Grenzen der Taktik

Damit würde der erste mögliche Termin für einen Flächenvollstreik bestenfalls auf Januar verschoben, zwei Monate, nachdem die Mitglieder für Maßnahmen gestimmt haben. Wenn die Führung wartet, bis die HRMC-Abstimmung vorliegt, könnte es Mitte März werden – eine unglaubliche Verzögerung in den Wintermonaten einer akuten Lebenskostenkrise.

Zweck der gezielten Maßnahmen ist es, die Auswirkungen des Streiks zu maximieren, indem diejenigen Beschäftigten, deren Abwesenheit die größten Störungen verursachen wird, in den Ausstand treten. Die Dienststellen, die selektive Maßnahmen ergreifen, sind die Rural Payments Agency (Behörde für Finanzierung im Bereich Umwelt, Ernährung und ländlichem Raum; 13. – 23. Dezember und 3. – 13. Januar), die Driver and Vehicle Standards Agency (Verkehrsregelungsbehörde), wo die Agentur in vier geografische Bereiche aufgeteilt wird, die zwischen dem 13. Dezember und dem 10. Januar an verschiedenen Tagen streiken werden. Auch die Beschäftigten der National Highways (Straßenmeistereien) werden an Tagen zwischen dem 16. Dezember und dem 7. Januar in geografischen Gruppen streiken.

Darüber hinaus werden vier Jobcenter zwischen dem 19. und 31. Dezember bestreikt. Die Beschäftigten der Border Force (Grenzkontrollorgane), die an den Flughäfen London Heathrow, London Gatwick und Manchester, Birmingham, Cardiff und Glasgow Passkontrollen durchführen, werden zwischen dem 23. und 31. Dezember ebenso streiken wie die Beschäftigten im Hafen von Newhaven.

Mit anderen Worten: Im Dezember, wenn die Beschäftigten der Bahn, Post und Krankenhäuser in den Arbeitskampf treten, werden nur kleine Gruppen von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an ihrer Seite stehen. Bislang wurden noch keine Streiks aller Mitglieder angekündigt, was in der Gewerkschaft die Sorge aufkommen lässt, dass der während der Urabstimmung aufgebaute Schwung verlorengehen könnte, wenn die Mehrheit der Mitglieder monatelang auf einen Streikaufruf wartet.

Einige Mitglieder des Jugendnetzwerks der PCS  brachten einen Antrag ein, in dem der NEC aufgefordert wurde, alle 124 Abteilungen zum Streik aufzurufen, doch wurde dieser Antrag auf ein Diskussionspapier verwiesen und dann abgelehnt. Zahlreiche Zweigstellen verabschiedeten einen Musterantrag mit denselben Forderungen und argumentierten, dass nicht nur der Schwung verlorenginge, sondern von denjenigen, die gezielte Aktionen durchführen, nicht erwartet werden könne, dass sie den gesamten Streik trügen.

In dem Antrag wird der NEC aufgefordert, bis spätestens Mitte Januar eine umfassende Aktion anzukündigen. Sicherlich sollte der NEC nicht bis zum 27. Februar warten, um zu sehen, ob HMRC das Quorum erreicht.

Andere Gewerkschaften ergreifen jetzt Maßnahmen, und weitere, darunter Lehrkräfte und Feuerwehrleute, sind dabei, ihre Stimme abzugeben. Aber unabhängig davon, ob andere Gewerkschaften für Januar zu Aktionen aufrufen oder nicht, muss die PCS dies tun. Koordinierung ist wirkungsvoller als ein Alleingang. Die Zeitung der Bosse, Financial Times, schätzte, dass allein ein zweitägiger Streik aller Gewerkschaften mit einem Mandat im Dezember das jährliche Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens um 0,3 % senken würde.

Aber in der Vergangenheit hat sich die Gewerkschaft dafür entschieden, nichts zu tun, anstatt allein zu streiken, eine Vorgehensweise, die garantiert … nichts bringt. Die Mitglieder, die sich an der gezielten Aktion beteiligen, sollten natürlich ihre Büros schließen und lautstarke Streikposten aufstellen. Sie sollten Delegationen zu den Streikposten anderer Abteilungen schicken und damit beginnen, Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbasis herzustellen.

Sie sollten aber auch die Gelegenheit eines ausgedehnten Streiks nutzen, um die Strategie ihrer Führung ernsthaft in Frage zu stellen: Wann werden die Streiks zu einem unbefristeten Flächenstreik ausgeweitet, mit dem die Forderungen der Gewerkschaft durchgesetzt werden können?