Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Die Internationale –
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer. (1)

Inhalt

Einleitung

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudismus

2 Vielfalt des Judentums – gibt es ein jüdisches Volk?

3 Antisemitismus und „Kapitalismuskritik“

4 Antisemitismus und Massenpsychologie

5 Antisemitismus und Rassismus

6 Judentum, Kapitalismus und ArbeiterInnenbewegung

7 Antisemitismus und der Islam

8 Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen in Europa

9 Antizionismus und
Antisemitismus

Endnoten

Einleitung

Eines der ältesten und wirksamsten Elemente des ausgrenzenden Populismus ist der Antisemitismus, die Ablenkung aller möglichen gesellschaftlichen Probleme auf die Juden und Jüdinnen als globalem Sündenbock. Nach der Shoa (2) und den Irrsinnigkeiten des Antisemitismus der Nazis bezieht sich wohl kaum noch jemand positiv auf den offen ausgesprochenen Begriff des „Antisemitismus“ (anders als dies noch vor 1945 der Fall war, als sich bestimmte rechte politische Parteien oder Vereinigungen stolz als „antisemitisch“ bezeichneten). Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht alle rechten und populistischen Bewegungen Elemente des Antisemitismus aufrechterhalten bzw. den Hass auf Sündenböcke, die mehr oder weniger etwas mit dem „Jüdischen“ zu tun haben mögen, weiterhin für ihre politischen Zwecke verwenden würden. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass auch in der deutschen und österreichischen Bevölkerung weiterhin ein gewisser Bodensatz an Antisemitismus besteht, der von rechten Organisationen auf mehr oder weniger subtile Weise bedient wird. Dies wird letztlich auch an der steigenden Zahl antisemitischer Delikte, die in ihrer Mehrheit nachgewiesenermaßen von nicht-migrantischen Menschen ausgehen, deutlich.

Andererseits hat sich der
Begriff „Antisemitismus“ zu einem politischen Kampfbegriff gewandelt, der von
verschiedenen Kräften als polemische Waffe gegen politische GegnerInnen
eingesetzt wird. Aktuell wird er stark für Kampagnen gegen angeblich in ihrer
Mehrheit antisemitisch eingestellte migrantische Bevölkerungsgruppen genutzt.
Dies bezieht sich erstens auf Regierungsparteien und bürgerliche
Öffentlichkeit, denen dies zur Verschärfung von Repressions- und
AusländerInnengesetzen dient. Dabei werden tatsächlich anti-jüdische
Einstellungen und Positionierung gegenüber der Politik Israels verwischt, um dramatische
„Integrationsprobleme“ zu beschwören, die alle möglichen Maßnahmen bis hin zur
Abschiebung rechtfertigen würden. Zweitens wird dies auch zur
Entsolidarisierung mit Geflüchteten genutzt, besonders gegenüber linker oder
liberaler Öffentlichkeit, eben um repressive Maßnahmen zu rechtfertigen.
Drittens ist es makaberer Weise ein Mittel der RechtspopulistInnen, die den
angeblichen Antisemitismus von Geflüchteten ebenso für ihre Propaganda nutzen
wie für die Einschränkung von Frauenrechten (für die sie ja auch sonst so viel
tun…). In ihren Einlassungen zum Antisemitismus erklären AfD oder FPÖ diesen
heute zu einem Problem, das nur bei Geflüchteten wiederauftauche. Dies beweise,
wie sehr der Islam „kulturfremd“ und Migration aus muslimischen Ländern zu unterbinden
sei. Ähnlich begründen ausgerechnet auch die polnische und ungarische Regierung
unter anderem die Ablehnung der Aufnahme von Geflüchteten aus muslimischen
Ländern. Andererseits hat der Rechtspopulismus zumeist eine Kehrtwende in Bezug
auf die Positionierung zum israelischen Staat vollzogen und sieht sich heute
mit der israelischen Rechten und den Regierenden in Israel in einer Front im
Kampf gegen die „muslimische Gefahr“.

Viertens verwendet auch die
israelische Regierung den Antisemitismusvorwurf gegen alle möglichen
KritikerInnen ihrer politischen und militärischen Maßnahmen, vor allem in Bezug
auf ihre Besatzungspolitik und ihren „Kampf gegen den Terror“. Bekanntlich wird
der Begriff des „Terrors“ dabei sehr weit gefasst. Jede Solidarisierung mit
solchermaßen definiertem Terrorismus wird dann in die Nähe von eliminatorischem
Antisemitismus gebracht (so wird Solidarisierung mit Opfern israelischer
Militäraktionen in Gaza wegen der dort gegebenen führenden Rolle der Hamas als
heimliche Sympathie mit dieser extremen Form des Antisemitismus diffamiert).
Durch die Verbindung mit dem „Kampf gegen den Terror“ der Neo-Konservativen und
ihrer Clash-of-Culture-Strategie wird die so erweiterte Gleichsetzung von
Antisemitismus und Antizionismus zum Element der Sicherheitsdoktrin aller
„westlichen“ Staaten. So werden dann z. B. Iran/Hisbollah zu zentralen
AgentInnen des Antisemitismus und der Bedrohung einer friedlichen Ordnung im
Mittleren Osten und der Welt überhaupt, also zu möglichen Ausgangspunkten einer
neuen Shoa.

Schließlich wird
„Antisemitismus“ auch als Kampfbegriff innerhalb der Linken (nicht nur in
Deutschland und Österreich) benutzt, um insbesondere Teile der
„anti-imperialistischen“ Linken als „verkappte“, „sekundäre“ AntisemitInnen zu
bekämpfen oder sie zumindest als „naive Hilfstruppen“ oder „VersteherInnen“ der
gefährlichen muslimischen AntisemitInnen zu „entlarven“. Die sogenannte
„anti-nationale“ Linke verbindet ihre Antisemitismus-Definition mit einer
Kritik an einer vorgeblich „verkürzten Kapitalismuskritik“ der
„anti-imperialistischen“ Linken. Mit ihrer oft überzogenen Kritik an
„völkischen“, „personalisierenden“ oder „nationalistischen“ Elementen bei
Anti-KapitalistInnen oder Anti-ImperialistInnen wird die sogenannte
Antisemitismus-Kritik zu einem Königsweg für die Rehabilitierung von
Reformismus und die Kapitulation vor den „liberal-demokratischen“
Imperialismen. Aktuell kann diese Funktion in der Auseinandersetzung in der
britischen Labour-Party studiert werden, wo der Streit um angeblich massenhaften
Antisemitismus und um die Anerkennung stark Israel-bezogener Definitionen des
Antisemitismus zu einem Haupthebel des Angriffs der Parteirechten gegen die
linksreformistische Labourführung um Jeremy Corbyn verwendet wird.

Offensichtlich sind die offiziellen
von staatlichen oder über-staatlichen Institutionen (oder auch vom
Wissenschaftsbetrieb) kodifizierten Antisemitismus-Definitionen zu einem
Kampffeld sich widersprechender Interessen geworden. Sowohl die israelische als
auch die US-Regierung üben hier zum Teil massiven Druck aus, um die Frage des
Staates Israel entscheidend in diese offiziellen Definitionen einzubringen. Mit
den oben beschriebenen Szenarien rund um Migrationspolitik und politische
Konflikte, in denen der Begriff zum Kampfbegriff geworden ist, ist es auch
nicht verwunderlich, dass auch z. B. in Deutschland gerade heftig an
entsprechenden Ausdehnungen der Antisemitismus-Definitionen gearbeitet wird –
inklusive der Partei „Die Linke“.

Offenbar ist die an sich schon
schwierige und von Hekatomben von Opfern belastete Frage des Antisemitismus
zusätzlich kompliziert durch die Verknüpfung mit der Geschichte des Zionismus,
der nationalistischen Strömung, die als Reaktion auf den Antisemitismus die
Lösung der „jüdischen Frage“ in der Gründung eines eigenen „Nationalstaats der
Juden und Jüdinnen“ sah – und die letztlich die Gründung von Israel im Gebiet
des damaligen britischen Mandatsgebietes Palästina vor 70 Jahren erkämpfte.
Offensichtlich entwickelten sich die dominierenden Strömungen des Zionismus
seither gegenüber der arabischen Bevölkerung (ob mit israelischer
Staatsbürgerschaft, in den besetzten Gebieten oder außerhalb Palästinas) zu
rassistisch-militaristischen Ideologien und Politiken. Davon kann auch der
israelische Staat als Ganzes nicht getrennt werden – wie sich gerade in der
letzten Änderung der Verfassung (Israel als der Staat der Juden und Jüdinnen)
klar gezeigt hat.

Eine der heute stark verwendeten offiziellen Definitionen des Antisemitismus, die der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken, IHRA), führt als eine von 11 wesentlichen Beispielen von gegenwärtigem Antisemitismus an: „Leugnung des Selbstbestimmungsrechtes des jüdischen Volkes, z. B. indem man die Gründung des Staates Israels als rassistische Unternehmung denunziert“ (3). Hier wird offensichtlich unterstellt, dass jede Analyse des rassistischen Charakters von Israel das Selbstbestimmungs- bzw. Existenzrecht des „jüdischen Volkes“ (abgesehen von der Frage, ob alle 15 Millionen der sich weltweit als Juden und Jüdinnen betrachtenden Menschen zu diesem einen Volk zählen mögen oder nicht) in Frage stellen würde und damit automatisch antisemitisch sei. Dies wird oft auch mit dem Vorwurf der „Doppelstandards“ (welcher Staat sei denn frei von Rassismus?) begründet – als wenn die Entstehung des Staates als Siedlerstaat im Zusammenhang mit der westlichen Kolonialgeschichte Israel nicht tatsächlich im Gegenteil mit anderen, ähnlichen Projekten vergleichbar machen würde.

Ziel des vorliegenden Artikels ist es zunächst, jenseits dieser aktuellen Auseinandersetzungen um den Antisemitismusbegriff eine historische Übersicht über die verschiedenen Formen des Antisemitismus zu liefern. Doch wird hier schon klar, dass es nicht einen, sondern viele „Antisemitismen“ gibt. Insbesondere sollen auch die Formen des europäischen Antisemitismus von den sich in den letzten Jahrzehnten gebildeten Formen des muslimischen Antijudaismus differenziert werden. Vor diesem Hintergrund sollen die aktuellen Auseinandersetzungen um den Begriff bewertet und eine differenzierte Strategie zur Bekämpfung sowohl der verschiedenen Formen des Antisemitismus als auch der missbräuchlichen Verwendungen des Begriffs in ihren Grundzügen dargestellt werden.

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudaismus

Zunächst einmal wurzelt der in
Europa entstandene Antisemitismus in einer jahrhundertealten
kulturell-religiösen Tradition der Judenfeindlichkeit, dem sogenannten
„Antijudaismus“.

Natürlich sind moderner
europäischer Antisemitismus und traditioneller religiös-christlicher
Antijudaismus nicht gleichzusetzen, aber der moderne, rassistisch verankerte
Antisemitismus im „christlichen Europa “ wäre undenkbar und unerklärbar ohne
Berücksichtigung seiner religiös-kulturellen Verwurzelung.

1.1 Mythos „Diaspora“ und ihr
historischer Hintergrund

Es scheint eines der ältesten
historischen Rätsel zu sein, dass als „jüdisch“ bezeichnete gesellschaftliche
Gruppen über Jahrhunderte als „Volk ohne Land“, das in tausenden Gemeinden über
zahlreiche Länder, Völker, Kulturräume etc. verstreut lebte, doch als im Großen
und Ganzen kulturell homogene Ethnien überleben konnten und trotz aller
möglichen immer wieder erlittenen Verfolgungen nicht in der Assimilierung in
den jeweiligen Hauptvölkern verschwunden sind. Der Mythos will es, dass dem die
Vertreibung aus der ursprünglichen Heimat Israel/Palästina durch die RömerInnen
im Laufe des 1./2. Jahrhunderts vorausging; dass die Juden und Jüdinnen in der
Diaspora (4) von Ort zu Ort wandern mussten, zusammengehalten durch das starke
Band ihrer religiösen Gemeinschaft, mit der ewigen Hoffnung, einst in ihre
ursprüngliche Heimat zurückkehren zu können.

Tatsächlich sprechen die
historischen Quellen und archäologische Befunde dafür, dass schon vor den
Niederlagen in den drei „jüdischen Kriegen“ gegen die RömerInnen (66–135
u. Z.) und der Flucht/Vertreibung eines Teils der jüdischen Bevölkerung
des historischen Palästinas die überwältigende Mehrheit der Juden und Jüdinnen
in der Diaspora lebte, verteilt rund um das Mittelmeer, und hauptsächlich vom
(Fern-)Handel lebte – ähnlich wie übrigens auch andere Völker der Levanteküste,
wo die wichtigsten Handelswege aus Innerasien an der östlichen Mittelmeerküste
endeten. Es gab, als das phönizische Handelsimperium im Abstieg war, z. B.
auch viele Übertritte zum Judentum bei den PhönizierInnen und den
KarthagerInnen (Karthago war ursprünglich eine phönizische Kolonie). Der
deutlichste Beweis für diese Verbreitung ist der von HistorikerInnen so
genannte „Diaspora-Aufstand“ (115–117 u. Z.), mitten in diesen jüdischen
Kriegen, der jüdische Aufständische gegen die Politik des Kaisers Trajan vom
heutigen Libyen, über Zypern, Alexandria, Antiochia bis nach Mesopotamien
umfasste und beträchtliche militärische Kräfte des römischen Reiches band (5).
Auch wenn viele Zahlen der römischen HistorikerInnen übertrieben sein mögen,
zeigt sich hier klar das numerische Ausmaß der schon vor dem Ende des
Bar-Kochba-Aufstandes (136 u. Z.) bestehenden jüdischen „Diaspora“.

Tatsächlich ist die Übernahme
der Handelsmacht der PhönizierInnen im Mittelmeerraum durch Juden und Jüdinnen
ab dem 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende kein Zufall. Die Nähe des Judentums
zu Phönizien ist nicht nur geographisch gegeben, sondern auch sprachlich und
kulturell. Phönizisch und Hebräisch gehören beide zur kanaanäischen
Sprachfamilie (6). Viele Bezugnahmen in der Bibel auf die in Kanaan
verbreiteten vorbiblischen religiösen Praktiken und Vorstellungen verweisen auf
die Verehrung von Baal (dem Hauptgott der PhönizierInnen). Die „neuen
israelischen HistorikerInnen“ wie z. B. Shlomo Sand verweisen heute den
biblischen Mythos von einem „jüdischen Volk“, das als geschlossene Einheit und
mit festem monotheistischen Glauben in Kanaan eingewandert ist, in das Reich
der Mythenbildung. Tatsächlich waren die HebräerInnen wohl eines von vielen
„Völkern“, die sich zusammen mit anderen KaananiterInnen und AramäerInnen in
der frühen Eisenzeit (die in dieser Region schon im 12. Jahrhundert
v. u. Z. begann) herausbildeten und in zwei lose gefügten
„Königreichen“ organisierten („Juda“ und das „Nordreich“). Diese wurden erst
von den biblischen Erzählungen, die erst zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert
v. u. Z. entstanden, zu „jüdischen Königtümern“ gemacht. Tatsächlich
waren sie laut Shlomo Sand (7) nicht nur multiethnisch geprägt, sondern Jahwe
war nur einer von vielen Göttern wie auch die verschiedenen Baals, die dort
verehrt wurden (8). Erst die Eroberung des Nordreichs durch die AssyrerInnen im
8. Jahrhundert und von Juda durch das neubabylonische Reich im 6. Jahrhundert
schufen speziell in den Zentren der viel weiter entwickelten Großreiche eine
jüdische Elite, die begann, das monumentale Gebäude der monotheistischen
jüdischen Religion zu erstellen und zu verschriftlichen. Im Perserreich bekamen
diese Eliten die Möglichkeit, ihre religiösen Gebote in der persischen Provinz
Judäa gegen die „heidnische“ Konkurrenz immer mehr durchzusetzen (9).

Mit dem Sieg Alexanders des
Großen Ende des 4. Jahrhunderts über die PerserInnen und die Errichtung der
hellenistischen Staaten in der Region verbesserte sich die Situation des
Judentums nochmals außerordentlich. Die mit den PerserInnen eng verbundenen
PhönizierInnen verloren ihre Unabhängigkeit. Entweder durch Bekehrung oder
durch Zuwanderung vermehrte sich die Gemeinde jüdischer HändlerInnen in Städten
wie Tyros enorm (10). Gleichzeitig förderten speziell die PtolemäerInnen das
Judentum, holten eine große Zahl jüdischer HändlerInnen und Gelehrter nach
Alexandria und finanzierten eine großangelegte Übersetzung der biblischen
Schriften ins Griechische. Letzteres wurde zu einer starken Waffe zur
Verbreitung der jüdischen Religion als einer der frühesten konsequent
monotheistischen Religionen in der gesamten hellenistischen Welt. Der
Diaspora-Aufstand 300 Jahre später zeigt, wie weit im Mittelmeerraum die
offensive Missionierung des Judentums seit damals wohl gewirkt haben muss. Im
2. Jahrhundert v. u. Z. war das Judentum in Palästina so weit
erstarkt, dass es die hellenistische Herrschaft offen militärisch herausfordern
konnte. Mit den Makkabäer-Aufständen um das Jahr 160 v. u. Z. gelang
es für eine kurze Zeit von etwa 80 Jahren tatsächlich, einen jüdischen Staat
mit gewisser Unabhängigkeit zu etablieren, als „Königreich Judäa“, das eine Art
Theokratie war (mit dem Hohepriester als zentralem religiösen Führer). Diese
Unabhängigkeit wurde durch das Lavieren zwischen den SeleukidInnen und
RömerInnen möglich und endete damit logisch durch die Annexion als römische
Provinz Judäa 64 v. u. Z. durch Pompeius. Zwar führte die Integration
ins Römische Reich einerseits noch einmal zu einer günstigen Bedingung für die
Verbreitung des Judentums durch Missionierung. Andererseits mussten die
weitreichenden Ansprüche des damalig auf Expansion und Messianismus ausgerichteten
Judentums und die imperialen Ordnungsziele der RömerInnen unweigerlich zum
Konflikt führen. Die Aufstände der ZelotInnen („religiöse EifererInnen“) nach
66 u. Z. und der Bar-Kochba-Aufstand nach 132 u. Z. wurden von der
römischen Militärmacht als grundlegender Angriff auf die Integrität des Reiches
angesehen und daher mit brutalst möglicher Gewalt unterdrückt (11). Jerusalem
wurde für Jahrzehnte unbewohnbar und die einst blühende Provinz in die
untergeordnete Prokuratur „Syria Palästina“ umgewandelt.

Die Zerstörung des alten
jüdischen Zentrums führte also nicht allein zur Diaspora. Die „Zerstreuung“
(oder „Entsendung“, wie das Wort auch übersetzt werden kann) über
Mittelmeerraum und fruchtbaren Halbmond war schon vorher voll im Gang – und war
bis dahin weniger Vertreibung als vielmehr Ausbreitung entlang der Handelswege
und Missionierung mit messianischem Eifer. Doch nach der endgültigen Niederlage
im Bar-Kochba-Aufstand änderte sich der Charakter der Diaspora grundlegend. Die
bisherigen Zentren Jerusalem, Alexandria und Antiochia (letztere beiden durch
den Diaspora-Aufstand) hatten ihre Bedeutung verloren, und die Perspektive
einer militanten Ausbreitung bzw. der militärischen Durchsetzung eines eigenen
Staates hatte ausgespielt. Das Judentum beschränkte sich nunmehr auf das
Überleben seiner zerstreuten Gemeinden, legte das Missionarische ab. Es
entstand das pazifistische Rabbinertum. Zentrale Schriften des Judentums wie
die Mischna und die beiden Versionen des Talmuds entstanden in der ersten Zeit
dieses „neuen Exils“ und enthalten Auslegungen von Bibel und den Mizwot (12),
die das jüdische Leben auf die Anpassung an die Diaspora ausrichten. Die drei
heiligen Eide des Talmuds (Ketubot 111a) besagen: keine gewaltsame Rückkehr in
das „Land Israel“ ohne Zeichen des Messias; keine offensive Auflehnung gegen
die weltlichen HerrscherInnen in den Ländern, in denen man lebt; zu bewirken,
dass die Länder, in denen man lebt, die Juden und Jüdinnen gut behandeln. Auch
erst in dieser Zeit entstand die halachische Rechtsauffassung (Halacha ist die
auf dem Tanach, den normativen Bibeltexten, beruhende Rechtslehre), dass Jude
und Jüdin nur sein kann, wer eine Jüdin als Mutter hat oder eine langwierige
Konversionsprozedur (und u. a. bei Männern die Beschneidung) hinter sich
hat – die jüdischen Gemeinden wurden also gegenüber den sie umgebenden Völkern
stark abgeschlossen.

Unter diesen Geboten
verbreiteten sich nun die jüdischen Gemeinden im römischen Reich sehr viel
unspektakulärer. Am schnellsten erholte sich das Judentum in Nordafrika, von wo
aus es sich nach Spanien ausbreitete. Die missionarische Dynamik im Römischen
Reich war auf eine vom Judentum abgespaltene Sekte übergegangen: das
Christentum. Dieses übernahm nicht nur viele Diaspora-Gemeinden, sondern wurde
auch in der Levante und in Palästina bis zur Eroberung durch die AraberInnen
zur dominierenden Religion. Für die Juden und Jüdinnen außerhalb von Palästina
(wo sich nur kleine Gemeinden vor allem in Galiläa hielten) wurde das „Land
Israel“ zu einem mehr spirituellen Bezugspunkt, Jerusalem vor allem zum
Pilgerziel und die Synagoge zum Ersatz für den zerstörten Tempel.

1.2 Das Überleben in der
„Diaspora“ aus historisch-materialistischer Sicht

Der jüdische Marxist und
Trotzkist Abraham Léon hat in einer wegweisenden historisch-materialistischen
Studie (13) analysiert, dass es sowohl für die große räumliche Verteilung als
auch für das religiöse Band der jüdischen Gemeinden klare materielle Gründe
gibt: In den vorkapitalistischen Gesellschaften, bei denen der Charakter der
Hauptklassen durch die agrarische Naturalwirtschaft bestimmt war, mussten
wichtige Elemente der Warenzirkulation, insbesondere solche, die Fernhandel und
damit zusammenhängende Handwerke erforderten, von spezialisierten Schichten der
Bevölkerung ausgefüllt werden. Der Fernhandel und das Know-how spezialisierter
Handwerke erforderten einheitliche Sprache, Schrift und Weitergabe von
Erfahrungen und Ähnliches, was es am einfachsten machte, dass diese
gesellschaftlichen Schichten dann auch von einem „Volk“ gebildet wurden (ob
sich dieses Volk nun durch diese Tätigkeiten bildete, schon zuvor bestand oder
beides). Jedenfalls waren die Juden und Jüdinnen in dieser Funktion in der
Antike und dem Mittelalter keineswegs einmalig.

Der Zusammenbruch des Römischen
Reiches, die Herausbildung früher feudaler Strukturen im fränkischen Reich und
die Entstehung der dynamischen islamischen Staaten bis hin zur Iberischen
Halbinsel schienen den großen ökonomischen Wirtschafts- und Handelsraum der
Römerzeit auseinandergerissen zu haben. Tatsächlich führte dies gerade zum
Aufblühen der jüdischen FernhändlerInnen-Gemeinschaften. Durch ihre spezielle
Stellung als „Menschen des Buches“ konnten die Juden und Jüdinnen (anders als
andere ähnliche Gemeinschaften) auch unter islamischer Vorherrschaft ihre
Handelsprivilegien behalten und als nunmehr einzige Handelsschnittstelle
zwischen Ost und West sogar ausbauen (anfänglich konnten syrische ChristInnen
eine Zeit lang noch eine ähnliche Rolle spielen). Insbesondere unter den
UmayyadInnen im Kalifat von Córdoba kam es zu einem Erblühen von jüdischer
Kultur, Handwerk und Handelsaktivität, die sich mit dem Bedarf der fränkischen
Elite nach Fernhandelsprodukten und dem Know-how der Juden und Jüdinnen
(z. B. in Medizin und Technik) deckte (14). Es sollte nicht vergessen
werden, dass im mittelalterlichen Europa ein Großteil der jüdischen Bevölkerung
auf der Iberischen Halbinsel lebte (bei ihrer Vertreibung aus Spanien und
Portugal nach 1492 sollen es um die 400.000 gewesen sein). Neben diesen
„sephardischen Juden und Jüdinnen“ (15) waren die „aschkenasischen Juden und
Jüdinnen“ (16) im restlichen Europa eher Ableger und Außenposten, die bis ins
Hochmittelalter nur ein paar tausend Menschen in verstreuten Gemeinden zählten.

Die Sephardim entwickelten vom
8. bis zum 11. Jahrhundert die jüdische Kultur zu einem Höhepunkt in der
jüdischen Geschichte. Ihre VertreterInnen (wie Moses Maimonides) dachten nicht
im Traum an die Rückkehr nach Palästina (gemäß den erwähnten Eiden des
Talmuds). Maimonides entwickelte wie vor ihm schon Philon von Alexandria die
Theorie von den zwei Heimaten der Juden und Jüdinnen – dem „himmlischen
Jerusalem“ (erlebt in der Gemeinde und Synagoge) und der weltlichen,
unmittelbaren Heimat, in der man lebt. Ganz real differenzierte sich im
aufblühenden iberischen Gemeinwesen die jüdische Bevölkerung in Menschen mit
hohen Staatsämtern und großen Reichtümern, mit HandwerkerInnen, mit
SoldatInnen, mit Bauern und Bäuerinnen etc. Die Krise der muslimischen
Herrschaft in al-Andalus, verbunden mit fundamentalistischeren Strömungen, die
immer wieder politische Macht erlangten, erschütterte diese Stellung der
jüdischen Gesellschaft immer mehr. Die Ausbreitung der christlichen Königreiche
(Reconquista) und die Vertreibungen aus muslimischen Teilstaaten in diese neuen
Reiche führten immer mehr zu einer Angleichung an die Situation der Juden und
Jüdinnen im restlichen Europa.

1.3 Entstehung und Funktion des
mittelalterlichen Antijudaismus

Mit dem 11. Jahrhundert änderte
sich die vorteilhafte Situation der Juden und Jüdinnen in Europa insgesamt: Die
Entwicklung der städtischen Ökonomien im christlichen Europa brachte immer mehr
KonkurrentInnen für die jüdischen HändlerInnen und HandwerkerInnen hervor, und
von Land zu Land wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr in Nischen
abgedrängt. Von einer notwendigen und gebrauchten ökonomischen und
intellektuellen Sonderrolle wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr zu einer
Randschicht. Eine der zentralen Funktionen, die ihnen ab dem Hochmittelalter
blieb, war die des Geldverleihs. Dies wurde gegenüber Handel und
spezialisiertem Handwerk die immer wichtigere Einnahmequelle.

Eine der üblichen Theorien zur
Entwicklung des Judentums im Hochmittelalter ist, dass sie durch das
entstehende Zunftwesen und den darin verankerten Ausschluss von
Nicht-ChristInnen aus handwerklichen Berufen gedrängt wurden und wegen des
Zinsverbots für ChristInnen ihnen damit nur die Nische des Geldverleihs blieb.
Tatsächlich weist Léon zu Recht darauf hin (17), dass dies für bestimmte
Handwerke gar nicht stimmt (z. B. Goldschmiederei, Optik), in denen
weiterhin viele Juden und Jüdinnen aktiv waren. Andererseits ist auch richtig,
dass es in feudalen Gesellschaften eben die Tendenz gibt, bestimmte
Bevölkerungsgruppen kastenartig auf bestimmte Tätigkeiten festzulegen. Der
Schritt vom Fernhandel, bei dem zunehmend Konkurrenz auftrat, zum Geldhandel,
nach dem durch die Ausdehnung der Warenzirkulation zunehmend Bedarf auftrat,
ist nun nicht so weit.

Jedoch ist zu beachten, dass in
einer feudalen Gesellschaft die Funktion des Geldverleihs noch sehr viel
weniger produktiv ist als im Kapitalismus. Er dient kaum der
Mehrwertproduktion, sondern vor allem als Konsumkredit, d. h. der
Umverteilung von Mehrprodukt, was im Allgemeinen höhere Zinsen und Sicherheiten
verlangt (18). Von daher sind in diesen Gesellschaften GeldverleiherInnen
besonders unpopulär bei den SchuldnerInnen („Wucherzinsen“). Dass sich die
Funktion des Geldverleihs bei den Juden und Jüdinnen festsetzte, entlastete
andere aufstrebende BürgerInnen von dieser unpopulären Profession.
Antijudaistische Mythen, Hetze gegen Juden und Jüdinnen, schließlich
gewalttätige Ausschreitungen gegen sie waren eine Folge dieser unglücklichen
Rolle, in die sie gedrängt worden waren. Ausschlüsse aus bestimmten
Tätigkeiten, Verbot von Landbesitz, Verbot des Waffentragens, Verbote für
bestimmte Ämter etc. waren mehr die Folge dieser materiellen Situation als
deren Ursache. Ausgangspunkt der Hetze waren letztlich vor allem die von
Schulden gegenüber Juden und Jüdinnen geplagten Feudalherren selbst, ob nun
Adelige oder KlerikerInnen. Die ersten brutalen Ausschreitungen und Morde an
Juden und Jüdinnen gingen zumeist unter Beteiligung von Rittern oder mit großen
Verwünschungen von Priestern und Bischöfen vor sich.

Diese Hetze gegen Juden und
Jüdinnen wurde von KlerikerInnen ideologisch überhöht, indem sie die Juden und
Jüdinnen zu den „MörderInnen Christi“ machten (sollte Jesus eine historische
Person gewesen sein, wäre er eigentlich von den RömerInnen ermordet worden).
Sie seien daher als Verdammte über den Globus zerstreut worden und würden jetzt
bei jedem Volk wie eine Plage einfallen. Als mit der Absperrung des Pilgerwegs
nach Jerusalem der Kreuzzugswahn in Gang gesetzt wurde, waren auch die Juden
und Jüdinnen ein Teil der Feindeswelt im Weltbild der Kreuzfahrer. Im
Zusammenhang mit den Mordfahrten ins „Heilige Land“ wurden dann auch die
berüchtigten Geschichten über Juden und Jüdinnen mitgebracht, wie z. B.
die Ritualmordlegenden, Brunnenvergifter-Vorwürfe, allgemeine
Verschwörungstheorien etc. Die ersten großen Judenpogrome in Mitteleuropa
fanden zu Beginn des ersten Kreuzzuges statt und wiederholten sich dann in
schlimmer Regelmäßigkeit.

Die Verunglimpfung, die das
Alte Testament gegen den vorbiblischen Baal-Kult betrieb, wendete sich jetzt
absurder Weise gegen die Juden und Jüdinnen selbst. Die den KanaanäerInnen
vorgeworfenen „teuflischen“ Rituale wie Kinderopfer oder Tempelhurerei – wie
sie von diversen Propheten der Bibel fürchterlich ausgemalt wurden –, wurden
jetzt der jüdischen Religion selbst angedichtet. Baal, in der Form des
„Beelzebub“, ging in die mittelalterlichen Teufelsvorstellungen über und wurde
jeweils in (wie auch immer vorzustellender) jüdischer Gestalt dargestellt.
D. h., das Judentum wurde immer mehr als eine Art Teufelskult
verunglimpft, dem Kindermord, Blutrituale (Dämonisierung von Beschneidung und
Schächten) und sexuelle Exzesse zu eigen seien. Möglich ist, dass viele
Ausschmückungen dieser Baal-Judentum-Schauergeschichten von den heimkehrenden
Kreuzzüglern mitgebracht wurden, die neben grauenhaften Erlebnissen oft auch
die erstmalige Konfrontation mit einer als sehr fremd erlebten und als
bedrohlich empfundenen Kulturwelt verarbeiten mussten.

Dabei darf die ökonomische
Funktion dieser Hetze und Verfolgung nicht vergessen werden. Tatsächlich war
auch im Hochmittelalter die Geldverleihfunktion der Juden und Jüdinnen
weiterhin für die Feudalherren wichtig und unumgänglich. Bei aller Hetze und
Gewalttätigkeit war man noch nicht auf dem Level, dass man von Seiten der
Herrschenden die Juden und Jüdinnen wirklich vertreiben wollte. Dies drückt
sich dann in den verschiedenen mittelalterlichen Staaten in unterschiedlichen
Schutzprivilegien aus. So erließen z. B. die Könige von England und Frankreich
und der deutsche Kaiser Erklärungen, die Juden und Jüdinnen jeweils unter ihren
besonderen Schutz stellten und schwere Strafen für Gewaltanwendungen gegen sie
androhten (was auch tatsächlich in vielen Fällen umgesetzt wurde). Im Gegenzug
wurden die Juden und Jüdinnen (die sich gleichzeitig nicht selbst verteidigen
durften) in fast völlige Abhängigkeit (wenn nicht gar Leibeigenschaft)
gegenüber der Zentralgewalt gebracht. Dies drückte sich dann in hohen Steuern
aus, die die Juden und Jüdinnen für diesen „Schutz“ an Könige, Kaiser oder
Landesfürsten zu entrichten hatten (19). Insbesondere in Frankreich und England
wurden die Juden und Jüdinnen so zu einem wichtigen Instrument zur Umverteilung
des feudalen Mehrprodukts vom niedrigen Adel an die feudalen Zentralgewalten.
Natürlich wurden die Juden und Jüdinnen auch zur Finanzierung der großen Herren
selbst gebraucht – was auch beinhaltete, dass von Zeit zu Zeit zur Behebung von
finanziellen Engpässen die „Schutzherren“ selbst zum Mittel der zeitweiligen
Vertreibungen der Juden und Jüdinnen griffen (so weit, bis ihre
Schuldenprobleme durch Aneignung von Pfandgütern der Vertriebenen gelöst
waren). Gerade durch die Aneignung der vom Adel wegen ihrer Schulden gegenüber
den Juden und Jüdinnen verpfändeten Güter konnte sich die landesfürstliche
Gewalt im 12. bis zum 14. Jahrhundert auf immer mehr Gebiete ausdehnen. In
England hatten die Juden und Jüdinnen im 13. Jahrhundert und in Frankreich im
14. Jahrhundert „ihren Dienst“ weitgehend erfüllt. Da sich entsprechende einheimische
Kauf- und Bankleute entwickelt hatten, wurden dann jeweils die Juden und
Jüdinnen ganz aus dem Land vertrieben. Sowohl in England als auch in Frankreich
entwickelte sich jüdisches Leben (jenseits der damals übrig gelassenen kleinen
Enklaven in der Provence, Marseille, Bordeaux und dem Elsass) erst wieder ab
dem 18. Jahrhundert.

1.4 Vertreibung aus West- und
Mitteleuropa, Ost-Migration

In Deutschland und Italien
verzögerte sich diese Art der Vertreibung durch die größere Zersplittertheit
der Landeshoheiten. Einerseits gab es rückständigere Gebiete, wo die
Entwicklung sowieso langsamer vor sich ging. Andererseits verliefen die Zyklen
von Vertreibung, Rückholung und Schutzknechtschaft in den verschiedenen
Fürstentümern unterschiedlich, so dass eine Vertreibung oft nur ins benachbarte
Fürstentum erfolgte. Dies führte jedoch auch dazu, dass sich in Mitteleuropa
der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus viel stärker mit der Krise des
Feudalsystems und dem aufkommenden Kapitalismus verband. Viel mehr noch als in
Frankreich oder England konnten die Juden und Jüdinnen zu Sündenböcken für die
Härten und Krisen des Frühkapitalismus gemacht werden. Andererseits wurden die
Juden und Jüdinnen immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt: Auch im
Bankwesen traten nord-italienische und deutsche Kaufleute und Bankiers immer
mehr an die Stelle der Juden und Jüdinnen. In der Folge verarmten sie, wurden
zu TrödlerInnen, PfandleiherInnen, kleinen DiebInnen etc. Anders als es die
allgemeine Vorstellung über die Juden und Jüdinnen im Mittelalter suggeriert,
waren Ghettoisierung, Pflicht zu „charakteristischer“ Judenkleidung, extreme
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit etc. erst eine Erscheinung des späten
Mittelalters oder der frühen Neuzeit.

Mit dem 16. Jahrhundert waren
die Aschkenasim fast völlig aus West- und Mitteleuropa verschwunden und fanden
ostwärts eine neue Zuflucht. Das Gebiet östlich des „Römischen Reiches
Deutscher Nation“ war seit dem späten Mittelalter im losen polnisch-litauischen
Staatengefüge organisiert, das nicht nur Polen und die baltischen Staaten,
sondern auch weite Teile Weißrusslands, der Ukraine und Rumäniens umfasste. Die
dort vorherrschenden feudalen Strukturen, die alten Handelsbeziehungen der
Juden und Jüdinnen und ihre dort gebrauchten Fertigkeiten führten dazu, dass
sie in Osteuropa noch lange eine ähnliche Nische ausfüllen konnten, wie sie sie
im Mittelalter in West- und Mitteleuropa hatten (20). Außerdem hatten mehrere
polnisch-litauische Könige die verfolgten Juden und Jüdinnen aus West- und
Mitteleuropa (durchaus aus eigennützigen Gründen) zur Ansiedlung eingeladen und
ihnen auch weitreichende Privilegien erteilt. Auch wenn das polnische Königtum
ebenso Schutzknechtschaftssysteme verwendete und vom Adel immer wieder Pogrome
inszeniert wurden, kam es lange nicht im selben Ausmaß zu Vertreibungen wie im
Westen. „Polen“ erschien lange Zeit als ein Hort der Toleranz für das Judentum,
trotz der gegenteiligen Propaganda der polnischen Kirche. Um 1600 lebten drei
Viertel aller Juden und Jüdinnen weltweit in Polen-Litauen und hatten dorthin
nicht zuletzt auch viele Elemente ihrer in Mitteleuropa aufgenommenen Sprachen
mitgenommen (vor allem Mittelhochdeutsch), woraus sich später in Kombination
mit slawischen Sprachen und dem Hebräischen das „Jiddische“ als eigenständige
Sprache entwickelte (ursprünglich „Mame-Loshn“, Muttersprache, genannt).

Mit der permanenten Staatskrise
ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts, der Bedrohung der Staatsintegrität von
außen (Russland, Habsburg, Preußen, Schweden) und der wachsenden inneren
nationalen und sozialen Widersprüche wurden die Juden und Jüdinnen wieder
einmal zu Sündenböcken. Ein Schlaglicht darauf wirft der Chmelnyzkyj-Aufstand
von 1648, der weite Teile der West-Ukraine unter Führung von Kosaken gegen die
Willkür des polnischen Adels mobilisierte. Die Aufständischen veranstalteten
dabei an den Juden und Jüdinnen, die angeblich hinter der Knechtschaft
gestanden hätten, grauenhafte Pogrome, denen etwa die Hälfte der ukrainischen
Juden und Jüdinnen zum Opfer fiel. Mit der Krise und den periodischen Pogromen
gingen eine stärker werdende soziale Diskriminierung und eine Tendenz zur
Ghettoisierung in „typisch jüdischen“ Kleinstädten oder Stadtteilen einher.
Besonders im 18. Jahrhundert begann sich in Polen-Litauen der Antisemitismus zu
verfestigen und die Freiräume immer mehr zu beschneiden. Der „Westen“ wurde nun
wieder zur Hoffnung auf mehr Toleranz, speziell für die Vermögenderen. Trotz
dieser „Umkehr“ blieb das Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen bis zum Zweiten
Weltkrieg das Gebiet mit der bei weitem größten jüdischen Bevölkerung weltweit;
mehr als die Hälfte aller Juden und Jüdinnen lebte zu Beginn des 20.
Jahrhunderts dort. Und während die Juden und Jüdinnen im Westen zumeist
wohlhabender und integrierter waren, waren die Juden und Jüdinnen in Osteuropa
Teile der ärmeren Bevölkerungsschichten und viel weniger sozial und politisch
integriert.

Zudem wurde Polen-Litauen Ende
des 18. Jahrhunderts vollständig unter drei Großmächte aufgeteilt und seiner
Unabhängigkeit beraubt: 1772, 1793 und 1795 teilten Russland, Preußen und
Österreich in Etappen das gesamte Gebiet untereinander auf und bestätigten dies
mit kleinen Verschiebungen auf dem Wiener Kongress (auf dem ein dem Zaren in
Doppelunion unterworfenes „Königreich Polen und Litauen“ geschaffen wurde). Auf
diese Weise kam der größte Teil der osteuropäischen Juden und Jüdinnen in den
Herrschaftsbereich der Zaren, ein kleinerer Teil (Galizien und Bukowina) unter
die Habsburger. Besonders die zaristische Politik war noch weit restriktiver
als zuvor die polnische: Juden und Jüdinnen wurden auf sogenannte
„Ansiedlungsrayons“ beschränkt, Grundbesitz wurde verboten, es wurden Quoten
für den Besuch höherer Schulen eingeführt etc. Schließlich „entdeckte“ auch das
Zarenregime die Nützlichkeit antisemitischer Sündenbockpolitik. Nach den
Unruhen wegen der Ermordung von Zar Alexander II. wurde von dessen Nachfolger
ein angebliches „jüdisches Komplott“ aufgedeckt und 1881 bis 1884 eine Welle
schrecklicher Pogrome ausgelöst. Dies führte schließlich zur Flucht von etwa 2
Millionen Juden und Jüdinnen aus dem Zarenreich. Im Zuge der Krise des
Zarenreiches kam es 1903 bis 1906 zu einer weiteren enormen Welle von Pogromen.

Schon mit dieser immer prekärer
werdenden Lage in Osteuropa setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
eine neue große jüdische Auswanderungs- und Fluchtbewegung ein. Teilweise
fanden jüdische Flüchtlinge im benachbarten Habsburgerreich liberalere
Bedingungen vor. Aber die ökonomischen Kapazitäten, besonders in Galizien und
der Bukowina (selbst wenn es in Lemberg und Czernowitz zu einer gewissen Blüte
kam), waren begrenzt. In Wien und Berlin wurden die Flüchtlinge zu Zielscheiben
eines neuen, aggressiven Antisemitismus. Auch viele andere europäische Länder nahmen
die Flüchtlinge aus dem Osten nicht mit offenen Armen auf. Ebenso blieb die
Auswanderung ins Osmanische Reich, auch nach Palästina, noch die Ausnahme.
Damit gab es vor allem ein Ziel für die große Auswanderungswelle: die USA. In
den USA wurden die osteuropäischen ProletarierInnen jüdischer Herkunft schnell
zu einem wichtigen Bestandteil der wachsenden ArbeiterInnenklasse und auch der
dortigen ArbeiterInnenbewegung. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist New York
die Stadt mit der größten jüdischen Einwohnerzahl – heute wird der Anteil
jüdischer Menschen in New York auf 1,5 Millionen geschätzt, mehr Juden und
Jüdinnen, als in Tel Aviv oder Jerusalem zusammen wohnen.

Trotzdem waren nach dem
Zusammenbruch des Zarenreiches weiterhin Millionen Juden und Jüdinnen unter die
Herrschaft der osteuropäischen Nachfolgestaaten von Zaren- und Habsburgerreich
gekommen. Insbesondere lebten im wieder erstandenen Polen nach 1918 immerhin
noch über 3 Millionen Juden und Jüdinnen, etwa 10 % der Bevölkerung. Auch
aufgrund der Verbindungen der jüdischen ArbeiterInnenbewegung zur Sowjetunion
war die polnische Zwischenkriegspolitik von starkem Antisemitismus, von
Diskriminierungen und Gewaltakten gegen Juden und Jüdinnen geprägt. Nach der
Okkupation durch Nazi-Deutschland bedienten sich die Nazis für ihr
Vernichtungswerk auch des Antisemitismus in Polen, in Weißrussland, der Ukraine
und Rumänien. Dass es heute so gut wie keine jüdische Bevölkerung mehr etwa in
Polen gibt, zeigt das ganze Ausmaß des Nazi-Vernichtungswerkes. Wer nicht in
Massenerschießungen, den Arbeitslagern oder den Gaskammern umkam, wurde im
Nachkriegs-Polen schnell durch den weiterhin grassierenden Antisemitismus
vertrieben.

1.5 Vertreibung der Sephardim
und erster antijüdischer Rassismus

Eines der einschneidendsten
antijudaistischen Ereignisse der frühen Neuzeit war sicherlich die Vertreibung
der Juden und Jüdinnen von der iberischen Halbinsel nach 1492. War dort bis
dahin das Zentrum der jüdischen Welt und die wohl entwickeltste und
zahlreichste jüdische Bevölkerung, so wurde diese im Laufe weniger Jahrzehnte
fast völlig ausgelöscht. Nach dem endgültigen Sieg über das letzte muslimische
Emirat (Granada), der Etablierung eines christlichen Zentralstaates
(Kastilien-Aragon), dem Aufbruch ins Kolonialzeitalter waren die Herrschenden
in Spanien entschlossen, alle Spuren von al-Andalus aus ihrem Königreich zu
tilgen. Dazu gehörten nicht nur die muslimischen, sondern auch die großen
jüdischen Bevölkerungsteile. Außerdem hatte sich das Königreich für diesen
letzten Krieg stark bei jüdischen Finanziers verschuldet. Im Alhambra-Edikt von
1492 wurde die große jüdische Bevölkerung (ohne Unterschied von arm und reich)
vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu
konvertieren. Neben den Zehntausenden, die tatsächlich aus Spanien flohen, ist
wohl ebenfalls ein beträchtlicher Teil konvertiert. Aktuelle Gentests der
spanischen Bevölkerung zeigen angeblich, dass etwa 20 % der SpanierInnen
Genmarker aufweisen, die auf gemeinsame Vorfahren mit heute lebenden
sephardischen Juden und Jüdinnen deuten (21). Wie immer solche genetischen
Untersuchungen zu bewerten sind – dies deutet jedenfalls sowohl auf die
tatsächlich beachtliche Größe des jüdischen Bevölkerungsanteils zur Zeit der
Vertreibung hin als auch auf die große Zahl der Zwangskonvertierten.

Doch damit ist die Geschichte
des Leidens noch nicht vorbei. Die Konvertierten, mit dem Wort
„Marranos“/MarranInnen belegt (soviel wie „Abkömmlinge von Schweinen“ – ein
Schimpfwort, das also keine muslimische Eigenheit ist), wurden praktisch unter
Generalverdacht gestellt. Tatsächlich gab es noch lange Zeit Teile der
Konvertierten, die sogenannten „Krypto-Juden/-jüdinnen“, die ihren alten
Glauben im Geheimen weiterbetrieben (manche der Kryptogemeinden hielten bis ins
19. Jahrhundert durch, um sich dann wieder an die Öffentlichkeit zu trauen).
Die MarranInnen wurden allgemein des Kryptojudaismus und damit der Häresie
verdächtigt, was sie zu einem Zielobjekt grausamer Verfolgung durch die
Inquisition der katholischen Kirche und des spanischen Staates machte. Die
Inquisition war die erste europäische Institution, die rassistische Verfolgung
betrieb, indem sie Abstammungslinien untersuchte, um jemanden als Jude und
Jüdin zu „entlarven“. Die Inquisition entwickelte dabei die Theorie der
„Reinheit des Blutes“ („limpieza de sangre“), nach der Menschen „unreinen
Blutes“ niemals den „echten Glauben“ erlangen könnten (22). Für bestimmte
Berufe oder Ausbildungen musste ein Nachweis „altchristlicher Abstammung“
vorgelegt werden. Somit sollte verhindert werden, dass Juden und Jüdinnen mit
ihren geheimen Organisationen Staat und Gesellschaft „unterwandern“. Damit war
es die Inquisition, die dem Antijudaismus die Verschwörungstheorien der
geheimen jüdischen Bünde und ihrer Untergrabungsarbeit hinzufügten, die später
in solchen Machwerken wie den von der zaristischen Geheimpolizei fabrizierten
„Protokollen der Weisen von Zion“ einen traurigen Höhepunkt erreichten.

Portugal folgte
Kastilien-Aragon mit ähnlichen Motiven am Ende des 16. Jahrhunderts, wenn auch
nicht mit derselben Brutalität. Doch auch hier wurde im Laufe des 16.
Jahrhunderts entweder exiliert oder konvertiert. Viele der MarranInnen beider
Reiche entzogen sich der Inquisition durch Auswanderung speziell in die
Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. So war laut verschiedener Quellen
ein großer Teil der portugiesischen PlantagenpächterInnen in Brasilien
marranischen Ursprungs. Wohlhabende Sephardim und MarranInnen zog es eher nach
Nordeuropa, wo in Amsterdam, Antwerpen, Hamburg, Altona, London und Manchester
große sephardisch/spaniolisch/portugiesische Gemeinden entstanden. Tatsächlich
ist ein beträchtlicher Teil der Zwangskonvertierten, sobald es möglich war,
wieder zum Judentum rückkonvertiert (die sogenannten „Anusim“). Unter den
Nachkommen sephardischer Flüchtlinge sind auffällig viele bedeutende Gelehrte,
PolitikerInnen und KünstlerInnen: Spinoza, Ricardo, Disraeli, Diego Rivera, um
nur einige wenige zu nennen.

Der allergrößte Teil der
vertriebenen Sephardim jedoch floh in das sich als neue muslimische Großmacht
konsolidierende Osmanische Reich. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen
und als „Fachkräfte-Immigration“ auch gebraucht. In Fez, Istanbul, Kairo,
Jerusalem, aber vor allem auch auf dem Balkan entstanden große sephardische
Gemeinden. Wieder waren sie für Fernhandel, Geldleihe und spezialisiertes
Handwerk wesentlich für die ökonomische Expansion der OsmanInnen und deren
Beziehungen zum „Westen“. Insbesondere am Balkan entstand in Saloniki eine der
größten sephardischen Gemeinden, die, um die Entwicklung anzudeuten, 1900 mit
80.000 etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachte (der größte Teil der Juden und
Jüdinnen von Thessaloniki wurde von den Nazis während der Okkupation
Griechenlands umgebracht) (23). Von Saloniki aus verbreiteten sich die
Sephardim über den ganzen Balkan und schließlich durch ihre engen
Handelskontakte auch ins benachbarte Habsburgerreich, wo in Wien eine
bedeutende sephardische Gemeinde entstand.

Natürlich bestanden schon vor
der sephardischen Einwanderung in der muslimischen Welt größere jüdische
Bevölkerungsgruppen, deren Nachkommen heute „orientalische Juden/Jüdinnen“ oder
Mizrachim (24) genannt werden. Besonders in Nordafrika waren sie schon vor der
Vertreibung eng mit den Sephardim verbunden und später von ihnen dominiert. In
der muslimischen Welt fand keine so starke Vereinheitlichung wie in Europa
statt, so dass unter Mizrachim sehr unterschiedliche kulturelle und ethnische
Gruppen zusammengefasst werden. Von den Sephardim sind sicher Juden und
Jüdinnen zu unterscheiden, die in den arabischen und persischen Regionen
lebten. Anders als in Europa gab es aufgrund der geringeren ökonomischen
Dynamik keinen derart systematischen Antijudaismus gegenüber den orientalischen
Juden und Jüdinnen wie in Europa gegenüber Aschkenasim und Sephardim.

2 Vielfalt des Judentums – gibt
es ein jüdisches Volk?

2.1 Ethnische und kulturelle
Differenzierung

Insgesamt wird aus diesem
Überblick klar, dass es schwer ist, überhaupt von „den“ Juden und Jüdinnen zu
sprechen. Die Geschichte und kulturelle Entwicklung von Aschkenasim, Sephardim
und Mizrachim ist so unterschiedlich, dass auch im heutigen Israel zwischen
diesen Gruppen große ethnische Unterschiede weiterbestehen (ganz zu schweigen
von den kleineren jüdischen Gruppen aus Äthiopien, Jemen und Indien, die heute
auch in Israel leben). Während weltweit etwa zwei Drittel der Juden und
Jüdinnen zu den Aschkenasim gerechnet werden, sind in Israel die
„orientalischen“ Juden und Jüdinnen (zu denen zumeist die aus der islamischen
Welt zugezogenen Sephardim gezählt werden) in der Mehrheit (3,8 der 6,6
Millionen Juden und Jüdinnen in Israel). Dies verweist auf eine weitere
Differenzierung in der Welt des Judentums jenseits der langen geschichtlichen
Entwicklung unterschiedlicher Gruppierungen in sehr verschiedenen Kulturräumen
– und auf die großen Unterschiede im Judentum in und außerhalb Israels.

2.2 Reformjudentum

Als sich Ende des 18.
Jahrhunderts das geistige Zentrum des Judentums in den deutschen Sprachraum
verschoben hatte, begann nicht nur ein der spanischen Zeit vergleichbarer
wirtschaftlicher und sozialer Aufschwung. In der Auseinandersetzung mit der
Aufklärung und der europäischen Philosophie entstand auch, was im Judentum
später die „Haskala“ genannt wurde – die „jüdische Aufklärung“. Unter den
Bedingungen einer wachsenden Integration einer sich mehr oder weniger
modernisierenden Gesellschaft war es vielen führenden Kräften im Judentum klar,
dass viele überkommene alte Zöpfe, von den religiösen Vorschriften bis zu kulturellen
Eigenarten, zu beenden seien und dass sich das Judentum eine moderne Form zu
geben habe. In der Folge entwickelte sich zuerst in Deutschland in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts das sogenannte „Reformjudentum“, das sich später
auch „liberales“ oder „progressives“ Judentum nannte (25). Auch wenn sich Teile
des mehr an Traditionen festhaltenden Judentums als „konservatives Judentum“
davon abspalteten – das Prinzip, dass der Kern der jüdischen Religion in den
ethisch-moralischen Vorschriften besteht, während Riten, Feste, Vorschriften
etc. der beständigen Veränderung unterliegen (z. B. auch, was die Rolle
von Frauen betrifft), hat sich im „westlichen“ Judentum im Wesentlichen
durchgesetzt. Heute sind „progressive“ oder „konservative“ Juden und Jüdinnen
außerhalb Israels die überwiegende Mehrheit, während in Israel das orthodoxe
Judentum weiterhin (auch über das offizielle Rabbinat) in religiösen Fragen den
größeren Einfluss besitzt. Purim als jüdischer Fasching, Chanukka als
„Weihnukka“ („Chrismukkah“), die Bar (Bat) Mitzwa als Familienevent à la
Konfirmation oder Jugendweihe etc. – auch das Judentum verbürgerlichte im 19.
Jahrhundert und profanisierte sich dabei in Anpassung an die „christliche“
Umgebung (Theodor Herzl feierte Chanukka unterm Weihnachtsbaum).

Einer der bekanntesten Vertreter der jüdischen Aufklärung war sicherlich Moses Mendelssohn, der nicht nur ein berühmter Berliner Philosoph war, sondern auch Begründer einer erfolgreichen Familie von UnternehmerInnen, Bankiers und KünstlerInnen. Seine Versuche, jüdische Identität jenseits von rabbinischem Traditionalismus zu definieren und mit einem Programm der politischen Emanzipation (Aufhebung diskriminierender Gesetzgebung) die Integration in moderne, möglichst säkulare Staaten anzustreben, wurde für das westliche Judentum für lange Zeit zum politischen Programm. Der jüdische Frühsozialist Moses Hess (eine Zeitlang Mitstreiter von Marx und Engels) formulierte es in historischer Perspektive: bei Mendelssohn finde man wieder die damals schon in Spanien vorexerzierte Lösung des Problems „wie man zugleich nationaler, patriotischer Jude im strengsten Sinne des Wortes bleiben und sich dennoch an dem Kultur- und Staatsleben desjenigen Landes, dessen Bürger man ist, so sehr beteiligen kann, dass dieses Land ein zweites Vaterland wird“ (26).

Für viele jüdische BürgerInnen
war dieser Doppelnationalismus Programm – einerseits Mitglied des
kulturell-geschichtlich bestimmten „jüdischen Volkes“, andererseits „guter“
Deutsche(r), US-AmerikanerIn, Franzose/Französin etc. zu sein. Moses Hess sah
dies kritisch: Er bemerkte, dass ein Großteil der ärmeren Juden und Jüdinnen
weiterhin brutal ausgegrenzt und diskriminiert war und auch gebildete Juden und
Jüdinnen wie er mit wachsendem Antisemitismus konfrontiert waren. Er vertrat
daher lange vor Theodor Herzl, dass die nationale Frage des Judentums nur durch
eine Rückkehr nach Palästina gelöst werden könne – wenn auch mit der
Perspektive eines sozialistischen Palästina. Im Unterschied zu Hess sah Marx in
der „Judenemanzipation“ an sich durchaus eine progressive und berechtigte
Bewegung. Allerdings sah er in der „politischen Emanzipation“ keine wirkliche
Lösung der „jüdischen Frage“: Nur die soziale Emanzipation, nämlich die
Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Ausgrenzung und
Diskriminierung von Minderheiten befestige, und nicht die formell-rechtliche
Gleichstellung sei die Lösung (27).

2.3 Säkulares Judentum

Schließlich muss erwähnt werden, dass aus dem westlichen Judentum schon sehr früh auch säkulare Strömungen hervorgegangen sind. Schon der aus dem Sephardischen stammende Baruch de Spinoza kritisierte die Irrationalität nicht nur der jüdischen Religion, betonte die historische Gewachsenheit der „heiligen Schriften“ (deren göttliche Autorenschaft er nicht anerkannte und aus Sicht einer historischen Bibelkritik besprach) und strebte eine Begründung der Vernunft aus sich selbst heraus an. Sein Konzept der „sich selbst begründenden unendlichen Substanz“ (keine äußere, sondern eine immanente Ursache der Welt) führt geradewegs zur Hegel’schen „Totalität“. Diese als „Pantheismus“ verstandene Lehre wurde in der Folge als Weg zur Begründung des Atheismus gesehen. Bereits seine jüdische Gemeinde in Amsterdam hatte Spinoza exkommuniziert – und bis heute gilt er dem Rabbinat als gefährlicher „Häretiker“. „Verflucht sei er… Der Herr möge seinen Namen unter dem Himmel tilgen“, heißt es in der überlieferten Ausschlusserklärung. Gleichzeitig trat er nicht zum Protestantismus über, mit dessen Autoritäten er sich genauso anlegte. Als Ausgegrenzter unter den Ausgegrenzten verlor er sein Vermögen und seine Familie – aber behielt seine Unabhängigkeit, lebte als einfacher Handwerker und schrieb bei Nacht Werke von messerscharfer Logik. Die dabei entstandenen Bücher, so bemerkte sein Briefpartner und Bewunderer, der Gelehrtenfürst Gottfried Wilhelm Leibniz, gehörten zu denjenigen, die in Europa den „allgemeinen Umsturz“ vorbereiten würden (28). Für viele Juden und Jüdinnen war Spinoza seither ein Vorbild für einen eigenen, unabhängigen Weg. Moses Hess wählte für seine „Menschheitsgeschichte“ den Untertitel „Von einem Jünger Spinozas“; Marx beschäftigte sich nicht nur stark mit Spinoza, er verteidigte ihn auch im Nachwort des „Kapital“ gegen Moses Mendelssohn; und die Hymnen von Heinrich Heine auf Spinoza sind nur zu bekannt. Schließlich beruft sich die Bewegung des „jüdischen Humanismus“ bis heute auf Spinoza als ihren „Gründungsvater“. In Israel ist der Philosophieprofessor Yaakov Malkin („Judentum ohne Gott?“) ein bekannter Vertreter eines nicht-religiösen Judentums, das sich in vielen akademischen und sozialen Initiativen organisiert. Es ist bezeichnend, dass 2016 gerade Malkin eine schwerwiegende Morddrohung von religiösen ExtremistInnen erhielt, die ihn als Repräsentanten eines in der Bibel zur Ausrottung bestimmten kanaanitischen Stammes brandmarkten (29).

Gegenüber den verschiedenen
religiösen Strömungen bezeichnen sich heute an die 40 % der Juden und
Jüdinnen in Israel als „säkular“, ein hoher Prozentsatz sogar als atheistisch.
Offensichtlich hat die Religion (außer in Bezug auf einige mehr kulturell
bedeutsame Traditionen) im Judentum gegenüber früher stark an Bedeutung für die
Bestimmung der „jüdischen Identität“ verloren. Auf die Entwicklung
sozialistischer und zionistischer Strömungen, die sich in vielen Teilen mit dem
säkularen Judentum überschneiden, wird später noch ausführlicher eingegangen.

2.4 Jüdische Identität und
Israel

Diese verschiedenen Strömungen
– liberales und konservatives Judentum, Sozialismus, Zionismus, Säkularismus,
Orthodoxie – prägten die Auseinandersetzungen im Judentum nicht nur im 19.
Jahrhundert. Auch wenn die Shoa viele Illusionen des liberalen Judentums
zerstörte und die Gewichte stark zum Zionismus verschob, sind alle diese Lager
bis heute neben den dargestellten ethnischen Vielheiten prägend. Diese
Differenziertheit ist wesentlich für Probleme rund um die Definition von
Antisemitismus. Denn wenn vom „Hass auf die Juden/Jüdinnen“ die Rede ist, wäre
erst mal zu fragen, was überhaupt „jüdisch“ sein soll und was denn „die Juden“
sind. Offensichtlich ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Religionsgemeinschaft schon lange nicht mehr bestimmend. Die gemeinsame
Abstammung (von Abraham, Jakob,…) ist einerseits ein unbrauchbarer religiöser
Mythos, andererseits eine rassistische Konstruktion (allein das spanische
Beispiel zeigt, wie sehr sich das Judentum auch mit anderen Ethnien vermischt
hat; zusätzlich zeigt die oben dargestellte Analyse der Diaspora, dass schon
das klassische Judentum ein Völkergemisch war, dessen gemeinsame Abstammung ein
mythologisches Konstrukt ist). Ebenso sehr ist auch die Vorstellung von einem
irgendwie geheim, über alle Grenzen zusammengehaltenen und organisierten
„Weltjudentum“ ein verschwörungstheoretischer Nonsens – es gibt weiterhin
außerhalb von Israel eine kulturell, sozial, politisch und religiös sehr
vielfältige Diaspora, die gegenüber den in Israel lebenden Juden und Jüdinnen
die Mehrheit darstellt und nicht mit der Politik des Staates Israel in eins
gesetzt werden kann.

Es bleibt natürlich die
gemeinsame Geschichte sowohl der Verfolgungen, aber auch der Blütezeiten und
kulturellen Errungenschaften. Wenn es etwas Kennzeichnendes gibt, dann den
Kosmopolitismus, die Fähigkeit, in vielen verschiedenen Regionen und Kulturen
zu wirken, für deren Austausch zu sorgen und bei aller Aufnahme von
Errungenschaften der Gastländer jeweils doch auch die eigene Identität zu
erhalten. Dabei wurde zumeist vor allem mit dem Wort, der Schrift und dem
Intellekt gearbeitet, nicht mit der Waffe. Dies führte natürlich nur zu oft zur
Kollaboration mit den jeweils Mächtigen, deren Spielball man wurde und deren
Willkür man letztlich ausgesetzt war. Insofern stellt der Zionismus einen
starken Bruch mit dieser „pazifistisch-intellektualistischen“ Kaufleute- und
Gelehrten-Tradition dar: Statt weiterhin der/die dienstfertige
„Opferjude/-jüdin“ zu sein, war man überzeugt, dass man so werden müsse wie
„die anderen Nationen“. Diese Herausbildung eines erst zionistischen, dann
israelischen Nationalismus ist eine neue Form von jüdischer Identität – aber
eine, die neben all den anderen, sich weiterhin erhaltenden, besteht!
Allerdings hat diese Identität, wie jeder Nationalismus, einen sehr
vereinnahmenden Anspruch. Letztlich behauptet der aktuelle Zionismus, dass
Israel „der“ Staat „des“ jüdischen Volkes sei (dies wird ja jetzt auch amtlich
so in der neuen Verfassung Israels festgelegt). All das andere jüdische Leben
sei eigentlich nur durch die Existenz dieses jüdischen Staates möglich und
Israel sei das gefundene Mittel, um der ewigen Geschichte von Flucht und
Vertreibung der Juden und Jüdinnen ein Ende zu setzen, die Heimstätte, zu der
letztlich alle Juden und Jüdinnen zurückkehren würden.

Die israelische Realität, die
immer mehr von Militarisierung, Rechtsnationalismus, religiösem Eiferertum
(„Siedler“-Bewegung) und vielfältigem Rassismus geprägt ist, wirkt andererseits
aber für viele Juden und Jüdinnen auch in Israel immer weniger anziehend. Die
Auswanderung ist bereits seit einigen Jahren höher als die Einwanderung (30).
Etwa eine halbe Million Israelis lebt heute im Ausland, von denen nach Umfragen
kaum jemand nach Israel zurück will. Fast die Hälfte davon gibt dabei die zu
starke Dominanz des Religiösen als Hauptgrund an (31). Inzwischen leben wieder
1,2 Millionen Juden und Jüdinnen in den Ländern der EU, und Deutschland ist
eines der beliebtesten Einwanderungsländer (wo inzwischen wieder an die 200.000
Juden und Jüdinnen leben). Wie immer man dies bewertet, eines ist klar: Israel
steht nur für einen Teil der jüdischen Menschen auf diesem Globus, und für
viele Juden und Jüdinnen ist es nicht ihr begehrter Ort zum Leben.

Offenbar ist dies durchaus ein
Problem für die israelische Regierung. In diesem Zusammenhang betonen
zionistische Organisationen im Einklang mit israelischen Institutionen immer
wieder das „Anwachsen des Antisemitismus“. Allgemein wurde mit der Migration
muslimischer Flüchtlinge nach Europa die „Naivität“ der europäischen Liberalen
gegeißelt. Terrorgefahr und Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen werden von
israelischen Medien und Politik immer wieder betont – natürlich garniert mit
Berichten über z. B. französische Juden und Jüdinnen, die sich nach
„Charlie Hebdo“ in letzter Not nach Israel in Sicherheit gebracht haben. Auch
in Deutschland wurde durch die entsprechende Berichterstattung unter der
jüdischen Bevölkerung eine große Verunsicherung und Anti-MigrantInnen-Stimmung
produziert, aber es wurde vergessen zu erwähnen, dass viele jüdische Gruppen,
bis hin z. B. zu den liberalen Gemeinden, dem durch Flüchtlingsarbeit
entgegenzuwirken versuchen).

In der aufgeregten Situation
der entscheidenden Knesset-Debatten um das Oslo-II-Abkommen erschien der
damalige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu am Balkon über dem Zionsplatz in
Jerusalem vor einer Anti-Friedensdemonstrationen der israelischen Rechten. Vor
zehntausenden DemonstrantInnen hetzte er gegen den „Ausverkauf“ der
israelischen Interessen durch die Regierung Rabin/Peres. Er hörte auch nicht
damit auf, als die Masse laut vernehmlich „Tod Rabin“ skandierte und
Rabin-Strohpuppen verbrannt wurden. Einen Monat später, im November 1995, wurde
Premierminister Rabin tatsächlich von einem religiösen Israeli ermordet
(Netanjahu weist natürlich bis heute jede Mitverantwortung für diese Tat zurück).
Diese Kette von Ereignissen gehört wesentlich zu dem, was man heute die
fundamentale Umwälzung der politischen Verhältnisse in Israel nennt.

Netanjahu baute seine Angriffe
auf Rabins „Zugeständnisse“, vor allem auf die Ablehnung der Formel „Land für
Frieden“ auf. Mehrfach betonte er, wie die gesamte israelische Rechte, dass
kein/e israelische/r PolitikerIn das Recht habe, auch nur ein Stück Land des
von der Bibel versprochenen „Eretz Israel“ (der „Heimat Israel“) preiszugeben.
Das ideologische Konstrukt des vor 3.000 Jahren angeblich gegründeten
israelischen Gemeinwesens mitsamt des göttlichen Bundes, der den Anspruch auf
ganz „Kanaan“ begründet, hat sich für einen Teil der israelischen Gesellschaft
zur zentralen Frage der „jüdischen Identität“ verselbstständigt. Shlomo Sand
hat in einem aktuellen Artikel in der „Haaretz“ (32) entwickelt, dass sich mit
dem Scheitern des Oslo-Prozesses und der besagten konservativen Umwälzung die
ursprüngliche Identitätsstiftung des säkularen Awoda-Zionismus (33) erledigt habe.
Unfähig zu definieren, was ein „jüdischer Israeli“ ohne Bezug auf die Religion
sei, bei gleichzeitigem Beharren auf dem in der Bibel begründeten Anspruch auf
das „Land Israel“, gelang keine wirkliche Trennung von Religion und Staat. In
welcher Form auch immer würde daher der Zionismus zur Begründung der
rassistischen Unterdrückung der nichtjüdischen Bevölkerung dienen, die im
angeblich „versprochenen“ Land lebe. Seit dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg
der Rechten in Israel wurde die Vorherrschaft des säkularen Awoda-Zionismus
durch eine Koalition von religiösen TraditionalistInnen (die seit 1967 die
Besiedlung des gesamten „Eretz Israel“ als religiöse Pflicht sehen) und
ethnozentrierten NationalistInnen abgelöst. Die in Israel und den besetzten
Gebieten lebenden AraberInnen werden als eine Art AusländerInnen gesehen, die
man mehr oder weniger im „Eretz Israel“ dulden müsse. Der „uralte Anspruch“ auf
das Land ist dabei für die Religiösen der Grund für die Unduldsamkeit, wobei
gerade Jerusalem, Hebron und Jericho ganz zentral sind (gegenüber dem Israel in
den Grenzen vor 1967), was zur Unmöglichkeit einer Anerkennung auch nur
marginaler palästinensischer Selbstständigkeit in diesem Gebiet führt. Zugleich
ist der Ethnonationalismus von RechtspopulistInnen wie Avigdor Lieberman ganz
offen rassistisch, erklärt die AraberInnen „ihrem Wesen nach“ für nicht zur
Arbeit und zu friedlicher Nachbarschaft fähig. Aus beiden Haltungen heraus ist
eine Lösung, die das Selbstbestimmungsrecht der AraberInnen, die in Israel/Palästina
leben, respektiert, reine Unmöglichkeit.

Wie Shlomo Sand darlegt, ist damit nur offengelegt, was der Zionismus von Anfang an war: ein rassistisches Projekt, das niemals seit seinem Auftreten in Palästina ernsthaft die Möglichkeit eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens mit den AraberInnen in der Region in freier Selbstbestimmung auf dem Zettel hatte: „Schlussendlich waren die sozialistisch-zionistischen Siedler in nichts moralischer als die Kippa-tragenden rechten Siedler heute. Sie waren nur heuchlerischer, was aber auch ein wichtiger Unterschied ist. Wenn Heuchelei die gute Miene zum bösen Spiel ist, so deutet sie zumindest in bestimmten historischen Situationen auf einen Reflex der Zurückhaltung. Heute fällt jede Zurückhaltung weg“ (34).

Man sollte daher nicht übersehen, wie gefährlich die Versuche der israelischen Führung und einiger zionistischer Organisationen sind, die Frage der Anerkennung von Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit zum zentralen Kriterium für die Frage zu machen, ob jemand antisemitisch sei oder nicht. Der Antisemitismusbegriff wurde damit zum Kampfbegriff der sich in Israel immer mehr durchsetzenden rechten Identitätspolitik. Dass die Kritik am rassistischen Charakter der israelischen Politik „dem jüdischen Volk“ das Selbstbestimmungsrecht nehmen würde (wie das im Beispiel der IHRA-Definition von Antisemitismus gemacht wird), nimmt tatsächlich alle Juden und Jüdinnen in Geiselhaft, sich unverbrüchlich hinter Israel stellen zu müssen, und verengt jüdische Selbstbestimmung auf die Frage der unbedingten Verteidigung von Israel in seiner jetzigen Form. Auch in Israel lebende säkulare Juden und Jüdinnen wie Shlomo Sand und die Teile der Linken, die er repräsentiert, sehen im Zionismus einen systematischen Rassismus am Werk, der in der gegenwärtigen Regierungspolitik nur offen zum Ausdruck kommt. Die Fehlkonstruktion des zionistischen Charakters des Staates Israel zu kritisieren, heißt gerade nicht, das Selbstbestimmungsrecht der Juden und Jüdinnen in Israel zu leugnen. Nur wenn sich dieses Selbstbestimmungsrecht in Verbindung mit der freien und gleichberechtigten Entwicklung der PalästinenserInnen entfaltet, kann es sich tatsächlich verwirklichen. Marx formulierte es gegenüber der englischen ArbeiterInnenklasse in einer Resolution der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ zur irischen Frage 1870 so: „Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“ (35)

Die Verleugnung des
rassistischen Charakters des israelischen Staates, um kein „Antisemit“ sein zu
müssen, führt dazu, dass der immer offener zu Tage tretende Rassismus in
Siedlungspolitik, Besatzungsterror oder Militärwillkür zu Elementen der
„Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ erklärt wird. Dies ist ein Schlag auch
ins Gesicht der zahlreichen Juden und Jüdinnen, die sich nicht in dieser
„jüdischen Identität“ wiederfinden. Wie mehrere andere jüdische Organisationen
hat die „Jewish Voice for Labour“ zu Recht zur Kampagne zionistischer
Organisationen und Zeitungen in Britannien angemerkt (36): Wenn heute Labour
unter Jeremy Corbyn zur „Hauptgefahr für das Judentum weltweit“ erklärt wird,
da Corbyn das Beispiel der IHRA zunächst nicht anerkennen wollte, so stellt
sich schon die Frage der Gewichtung linker Kritik an Israel gegenüber der Gefahr
für Juden und Jüdinnen durch den Aufstieg der Rechten in Europa und den USA –
und immerhin haben die Orbán, Le Pen, Strache, Kaczyski, Bannon etc. kein
Problem mit der Anerkennung der IHRA-Definition. Letztere sehen sich ja in
einer Front mit der gegenwärtigen israelischen Führung gegen die
„Untermenschen“ mit muslimischem Hintergrund.

Es ist gerade die Achtung vor
der Vielfalt des Judentums, die Ablehnung des Konstrukts „der Jude/die Jüdin“
ebenso wie das Auseinanderhalten von Judentum und dem Konstrukt des
israelischen Staates, wodurch die Grundlage für den erfolgreichen Kampf gegen
den Antisemitismus heute gelegt werden kann. Eine unkritische Haltung zu den
rassistischen Tendenzen in Israel wird dagegen nur zur Front selbst mit
RassistInnen führen.

3 Antisemitismus und
„Kapitalismuskritik“

Eine der impliziten
Definitionen „des Jüdischen“, die im Kern des Antisemitismus verwendet wird,
ist die, „den/die Juden/Jüdin“ als die Verkörperung von Geld und Kapital zu
sehen – das Zerrbild des/r schachernden und wuchernden Juden/Jüdin. Wie ist
diese Identifikation zu erklären und welche gesellschaftliche Funktion hat sie?
Eine Analyse der Geld- und Kapitalgenese, wie sie Marx geleistet hat, kann zum
Verständnis führen, wie die „abstrakte Gewalt“, die hier entsteht, von den
Betroffenen mit der Versuchung der „Personalisierung“, der „Verkörperung“
beantwortet wird. Im Übrigen ist diese Tendenz zur verkürzten
Kapitalismuskritik in allen populistischen Bewegungen groß – weshalb auch der
Antisemitismus zumeist in der einen oder anderen Form implizit mitschwingt
(aktuell vor allem in Verschwörungstheorien rund um das globale Finanzkapital).

Gehen wir zunächst wieder
zurück in das mittelalterliche Europa: In einer wesentlich auf Naturaltausch
beruhenden Gesellschaft, in der zumeist Gebrauchswerte produziert wurden, in
der Markt, (Fern-)Handel und Geld zwar existierten und notwendig waren, aber
nicht im Zentrum wirtschaftlicher Aktivitäten standen, verkörperte, im wahrsten
Sinne des Wortes, der/die Jude/Jüdin das „ fremde “, unverstandene, ja,
unheimliche Geld.

Der einfache Naturaltausch
Produkt gegen Produkt wirft keine Fragen auf, ebenso wenig das unverhüllte
Ausbeutungsverhältnis Grundherr-Bauer/Bäuerin, beruhend auf außerökonomischer
Gewalt.

Aber was ist Geld? Warum kann der/die jüdische HändlerIn, WucherIn und GeldwechslerIn offensichtlich ohne körperliche Arbeit davon leben? Warum führt häufig wirtschaftlicher Kontakt mit der Geldwirtschaft zu Verarmung und Verelendung von Bauern/Bäuerinnen und HandwerkerInnen? Im/in der Juden/Jüdin personalisiert sich die Angst vor der nicht verstandenen Armut und der Hass auf die „nicht arbeitenden Reichen“. Dabei spielt der christliche Arbeitsbegriff eine nicht unwichtige Rolle. In der Forderung „Bete und arbeite“ wird die Askese beschworen, die der Befreiung vom Bösen dient. Die (schwere körperliche) Arbeit diente dem Lob Gottes. Deshalb „kann die Vertreibung der Händler aus dem Tempel als eine der Schlüsselszenen des Neuen Testaments gelesen werden. Der Handel mit Waren und besonders mit Geld wurde fortan als etwas sittlich zu Verurteilendes und für die Seligkeit Bedenkliches bewertet.“ (37)

In der Reformation wird alles, was als „Nicht-Arbeit“ gesehen wird, als parasitär und Schmarotzertum gebrandmarkt. Es entstehen nicht nur Arbeits- und Zuchthäuser. „Luther entwarf ein Konzept der Zwangsarbeit für Juden, war aber zugleich skeptisch bezüglich des Erfolgs, da er der Meinung war, dass ‚sie keine Arbeit gewohnt seien‘. Er plädierte deshalb für ihre Vertreibung. “ (38)

Der Gegenüberstellung von
(körperlicher) Arbeit als „Dienst an Gott“ und Handel/Wucher als „gottloses
Teufelswerk“ folgt im modernen Kapitalismus in rassistischer Weise die
Gegenüberstellung von „nationaler Arbeit“ („deutsche Arbeit“) und jüdischer
„Nicht-Arbeit“. So kann der deutsche „Volkskaiser“ Wilhelm II. Reden zum
„Schutz der deutschen“ Arbeit halten, und jeder wusste, wen das mit einschloss
(die KapitalistInnen, das „schaffende Kapital“) und wer die Bedrohung der
„deutschen Arbeit“ darstellte (die Juden/Jüdinnen, das parasitäre, „raffende
Kapital“). Der Spruch über dem KZ „Arbeit macht frei“ ist kein Zufall, sondern
zynische Folgerichtigkeit. Und es ist, nebenbei bemerkt, eine der bittersten
Ironien, die die Geschichte zu bieten hat, dass der Zionismus mit seiner Forderung
nach „jüdischer Arbeit“ (Awoda Ivrit) und „jüdischen Waren“ (Tozvet Ivrit)
ebenfalls einem völkisch-nationalen Begriff von Arbeit folgt, in rassistischer
Abgrenzung zur arabischen Bevölkerung in Israel/Palästina.

Die Abstraktion an sich, das Geld, und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge, werden im Juden/in der Jüdin als Person konkret, bekommen durch den Juden/die Jüdin ein Gesicht. Luther knüpft daran an, wenn er sagt, er habe nicht vor, „die Juden zu bekehren, welches ebenso möglich ist, als den Teufel zu bekehren…Summa es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt.“ (39) Man „kennt“ jetzt die Maske des Teufels, man weiß jetzt, wer am eigenen Elend Schuld ist: der Jude/die Jüdin. Es muss hier allerdings gesagt werden, dass bei PuritanerInnen und CalvinistInnen eine Neubewertung des Geldes erfolgte und das Alte Testament gegenüber dem Neuen Testament an Bedeutung gewann, so dass in der Folge auch der Judenhass an Bedeutung verlor – was, das sei hier nur erwähnt, Folgen bis heute hat (etwa in der ambivalenten bis z. T. positiven Haltung den Juden/Jüdinnen gegenüber durch die ansonsten erzreaktionären Evangelikalen in den USA).

Den Juden/Jüdinnen haftet also etwas „Teuflisches“ an. Im Johannes-Evangelium sagt Jesus zu den Juden/Jüdinnen: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ (Joh. 8,44,) Die Figur des Teufels wird geradezu zu einer „Präfiguration des Rassebegriffs“ (G. Scheit) „Gäbe es den Teufel nicht, könnte vielleicht wirklich von einem ‚rein religiösen‘ Antijudaismus in den frühen Schriften des Christentums, ja, im Christentum insgesamt, gesprochen werden. Die Abgrenzung von den Juden würde in diesem Fall die Physis der Ausgegrenzten unangetastet lassen. Mit der besonderen Rolle aber, die dem Satan zufällt, lauert bereits im Evangelium die Möglichkeit des Rassenantisemitismus.“ (40) 

In einer Gesellschaft, in der
es die „unsichtbare Hand“ des Marktes nicht gibt, in der selbst Staaten eher
Personenverbände denn territoriale Einheiten sind, scheinen solche
Personifikationen die naheliegende Erklärung. D. h., schon beim
„traditionellen“ religiösen Antijudaismus greift es zu kurz, ihn nur als
manipulative Herrschaftsideologie zu verstehen. Denn obwohl die Herrschenden
die antijüdischen Vorurteile der Massen, insbesondere der Stadtarmut,
benutzten, um die Unterdrückten zu lenken und abzulenken, hatte der
Antijudaismus der Armen durchaus eigene, in den gesellschaftlichen Strukturen
verwurzelte Aspekte. Die antijudaistischen Gewaltausbrüche der Armen konnten
sich nämlich durchaus auch gegen die eigene „Obrigkeit“ wenden. Heute wie
damals greift jede Manipulationstheorie, wonach die Unterdrückten von den
Herrschenden nur gesteuert werden, zu kurz (dazu weiter unten).

„Was immer sich sonst noch über den Juden sagen ließ, er war zuallererst der ‚andere‘, der Christus und die Offenbarung verschmäht hatte. “ (41). Er war der Paria, dem alles zuzutrauen war, er war „Vorbote des Antichristen und der mächtige und geheimnisvolle Abgesandte der Kräfte des Bösen.“ (42). Hier konnte der moderne, rassistisch aufgeladene Antisemitismus leicht andocken. Die chiliastischen Erlösungswahnvorstellungen mittelalterlicher Armutsbewegungen, ursprünglich der Glaube an die Wiederkehr Jesu und die Errichtung seines tausendjährigen Reichs, finden ihre Fortsetzung im rassischen Antisemitismus, in der „mythischen Dimension der Rasse und der Heiligkeit des arischen Blutes“; einer „entschieden religiösen Version, der eines deutschen (oder arischen) Christentums, und führte zu einer Ideologie, die man als ‚ErlösungsAntisemitismus bezeichnen kann.“ (43)

Auch hier gibt es keine scharfe
Trennung zwischen traditionellem, religiösem Antijudaismus und modernem
rassebiologisch argumentierendem Antisemitismus. Schon bei der Vertreibung der
Juden/Jüdinnen aus Spanien 1492 wurde ihnen vorgehalten, dass sie nicht
„spanischen Blutes“ seien (und noch Lech Walesa betonte in einem Wahlkampf ,
dass er „polnischen Blutes“ sei, und jeder wusste, dass er damit antisemitische
Vorurteile in Polen bediente).

In der unverstandenen Welt des
Kapitalismus bietet diese Weltsicht eine einfache Orientierung in
unveränderlich Gut (der/die Deutsche/ArierIn) und unveränderlich Böse
(Wallstreet und Bolschewismus, gesteuert durch Juden/Jüdinnen).
Gesellschaftlich-ökonomische Prozesse werden auf das Bedürfnis nach
Sichtbarkeit von „Schuld“ heruntergebrochen.

Man kann Antisemitismus verstehen „als strukturelle Möglichkeit des individuellen und kollektiven Bewusstseins, das unbegriffene ‚Leiden‘ an der modernen Vergesellschaftung zu verarbeiten…“ (44). Weil das Kapital nicht als gesellschaftliches Ausbeutungsverhältnis erkannt wird, wird es nur auf der Erscheinungs- oder Zirkulationsebene wahrgenommen, dort, wo es nicht zu übersehen ist. Dementsprechend werden auch alle Übel dieser Welt am Geld festgemacht. Die antisemitische Propaganda kann hier an Alltagserfahrungen und Alltagssichtweisen anknüpfen, der nur mit klassenpolitischer Argumentation und Praxis zu begegnen ist und nicht mit reiner Aufklärung.

Und, hier nur ganz nebenbei,
die Propaganda der KPD zum Thema Antisemitismus war zu großen Teilen von
erbärmlicher Kurzsichtigkeit, Verkürzungen und Verharmlosungen geprägt. Im Kern
wurde der Antisemitismus auf eine Herrschaftsideologie zur Verführung und
Manipulation der Massen durch die Herrschenden reduziert.

4 Antisemitismus und
Massenpsychologie

Ein entlarvendes Detail des
„klassischen“ Antisemitismus in Europa sind die langlebigen Mythen rund um
Vorwürfe von Ritualmorden an nicht-jüdischen Kindern, die angeblich von
Juden/Jüdinnen aus bestimmten religiösen Gründen ausgeübt worden seien. Sie
reihen sich ein in ein absonderliches Gebilde von Vorwürfen wie
Hostienschändungen, Brunnenvergiftungen, Frauenraub, Pestverursachung,
Verächtlichmachung des „Heilands“ etc. Zumeist waren die unmittelbaren Anlässe
verbunden mit Pogromen oder schwerer Verfolgung und Vertreibung und führten
danach zu einer langen Erinnerungskultur, z. B. in der Verehrung der
angeblichen „Judenopfer“ (Wallfahrten, Reliquien, „Judensteine“, etc.). Die
genauere Untersuchung eines klassischen Einzelfalls soll die Mechanismen
aufzeigen, in denen sich der schon festgefügte Antisemitismus der frühen
Neuzeit in „Volkswut“ entlud.

4.1 Der „Judenmord“ und die
„Pogromstimmung“

Ein bekanntes Beispiel im
katholischen Kerngebiet ist der Kult des „Simon von Trient“ (italienisch
„Simone da Trento“) (45). Der 4-jährige Simon verschwand angeblich in den
Ostertagen des Jahres 1475 von zu Hause. Sofort wurden die drei Häuser der 30
in Trient lebenden Juden und Jüdinnen durchsucht und diese unter Hausarrest
gestellt. Als dann wenig später in der Nähe eines der Häuser die Leiche des
kleinen Jungen gefunden wurde, kam es zu einem pompös aufgezogen Prozess unter
Leitung des Bischofs von Trient. Übrigens betätigten sich während der ganzen
Ereignisse fundamentalistische Bettelmönche als organisierte Einpeitscher der
Menge. Interessant ist, dass sowohl der habsburgische Landesherr als auch das
reiche benachbarte Venedig und sogar der päpstliche Legat zu Gunsten der
beschuldigten Juden und Jüdinnen Partei ergriffen. Letzterer, der
Dominikaner-Bischof Giovanni dei Giudici, erkannte sofort, dass die Vorwürfe
haltlos und konstruiert waren und vertrat die offizielle Linie des Vatikans,
dass die Ritualmordlegenden „Aberglaube“ seien. Diese seit dem Mittelalter
verbreiteten Legenden besagten, dass Juden/Jüdinnen zum Pessachfest Blut
minderjähriger Christenkinder für die rituelle Herstellung der Matzen (der
traditionellen Brotfladen für das Fest) verwenden würden (die Entstehung dieser
Legenden in der Kreuzzugszeit wurde im Kapitel zum mittelalterlichen
Antijudaismus hergeleitet). Offiziell hatte der Vatikan mehrmals mit Berufung
auf die tatsächlichen jüdischen Glaubensvorschriften diese Legende als
Aberglaube zurückgewiesen. Als der Trentiner Mob mitbekam, dass der Vatikan
„gegen sie“ Stellung bezog, musste der päpstliche Legat vor dem wütenden, von
Bettelmönchen angeführten Mob ins benachbarte Rovereto fliehen. 14 unschuldige
Juden wurden grausam verbrannt, die weiblichen Familienmitglieder und Kinder
mussten konvertieren und ins Kloster gehen. Bemerkenswert ist, wie stark der
Hass und die Aggression gewirkt haben müssen, dass selbst der beträchtliche
Druck von Amtskirche, weltlicher Macht und möglicher ökonomischer Nachteile
(Venedig war die wichtigste Handelspartnerin) weggewischt wurden, um „der
Volksseele“ durch Folter und brutale öffentliche Hinmetzelung Befriedigung zu
verschaffen. Man kann davon ausgehen, dass die später so blühenden
Verschwörungstheorien vom jüdischen Einfluss auf den Vatikan, die
HabsburgerInnen und allgemein auf „die Wirtschaft“ schon in damaliger Zeit
Verbreitung fanden – so wie das in den schon zitierten Luther’schen Schriften
allzu deutlich zum Ausdruck kommt.

Freilich hat ihr sanfter
„Widerstand“ die Amtskirche später nicht daran gehindert, den „Simon von
Trient“ seligzusprechen und kräftig an der danach aufblühenden Wallfahrt zum
„wundertätigen“ Simon mitzuverdienen. (Die katholische Kirche hatte immer schon
eine große Expertise in Fragen des Kindesmissbrauchs.) Tatsächlich wurde Simon
zum Vorbild für unzählige andere angebliche „Judenopfer“ und die damit
etablierten Wallfahrten. So z. B. das berühmte „Anderl von Rinn“ nahe
Innsbruck, wo noch bis weit nach dem 2. Weltkrieg Wallfahrten zum „Judenstein“
stattfanden. Schon im 19. Jahrhundert hatten jüdische Gemeinden gegen solche
Wallfahrten bei den kirchlichen Obrigkeiten interveniert. Die Amtskirche hatte
dann immer im Prinzip den „Aberglauben“ verurteilt, aber mit Hinweis auf den zu
erwartenden „Volkszorn“ vom Eingreifen abgesehen. Erst das 2. Vatikanische
Konzil veranlasste langsame Veränderung, indem es alle mit Ritualmordlegenden
ausgesprochenen Seligsprechungen aufhob. Als in den 1980er Jahren der
Innsbrucker Bischof offiziell die Wallfahrt zum „Anderl von Rinn“ abschaffte,
erhob sich wiederum der beschriebene Volkszorn. Selbst die Exkommunikation des
Ortspfarrers konnte die „Gläubigen“ nicht an der Fortführung ihres
antijüdischen Rituals hindern. Selbst nach dem in den 1990er Jahren explizit
erfolgten Verbot durch den Bischof gibt es zum Jahrestag bis heute eine
Karawane aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus, die hier
auf Befragung gegen den vom „jüdischen Weltkapital“ gekauften Vatikan und
Bischof protestieren, die die „Wahrheit über die Juden“ unterdrückten (46).

4.2 Die veränderten Bedingungen
zu Beginn der Neuzeit

In dieser Geschichte der
Ritualmordlegenden finden sich viele der zentralen Elemente des
althergebrachten Antisemitismus: abenteuerliche Vorstellungen von menschenverachtenden
religiösen Vorschriften/Ritualen/Handlungen; archaische Mythen von Blutopfern
(sie wollen unser „reines Blut“ verunreinigen); die verderblichen Auswirkungen
der Anwesenheit der Juden und Jüdinnen gerade auf Kinder und Frauen, aber auch allgemein
für die „Normal“-Bevölkerung; schließlich der Hass auf die „großen
MachthaberInnen“, die von den Juden und Jüdinnen gekauft seien und angeblich
ihre schützende Hand über sie halten würden.

Dass sich der Zorn hier auch
gegen „Mächtige“ richtet, wenn auch der Hauptschlag gegen die Juden und
Jüdinnen geführt wird, zeigt den „irrationalen“ Druck, der hier bei den
beteiligten Massen im Spiel sein musste, so dass man nicht davor
zurückschreckte, sich selbst scheinbar mit den großen wirtschaftlichen und politischen
Mächten anzulegen. Tatsächlich war die ökonomische Bedeutung der jüdischen
HändlerInnen und HandwerkerInnen im 15. Jahrhundert (wie oben beschrieben)
bereits so zurückgegangen, dass sie für die herrschenden Klassen in West- und
Mitteleuropa keine wichtige Funktion mehr erfüllten bzw. dafür im entstehenden
Kapitalismus längst genug Konkurrenz zur Verfügung stand. Die „großen
Herren/Damen“ traten den antisemitischen Pogromen also trotz der angeblich
ewigen Schutzprivilegien nur sehr verhalten entgegen und waren sicher nicht
unglücklich darüber, dass sich die allgemeine Unsicherheit und Unzufriedenheit
angesichts der sozialen Krisen des Frühkapitalismus gerade an den Juden und
Jüdinnen austobte.

Der „klassische“ Antisemitismus
war wohl im Mittelalter entstanden, hatte aber seinen „Durchbruch“ und seine
„volle Blüte“ erst in der frühen Neuzeit entwickelt – also in der
Entstehungszeit des Kapitalismus. Denn für die Mächtigen hatten die Juden und
Jüdinnen ihre Rolle gespielt: Während man früher die Pogrome zur
Schuldentilgung bei Gelegenheit entfesselte, um dann die Juden und Jüdinnen
wieder zu rufen und ihnen zeitweise Schutz gegenüber dem „Volkszorn“ zu bieten,
war Letzteres nun nicht mehr unbedingt vonnöten. Man protestierte halbherzig
und ließ das Volk gewähren.

Dies zeigt natürlich, wie
berechtigt es ist, den klassischen Antisemitismus mit bestimmten Facetten einer
ungenügenden und falschen Kapitalismuskritik in Verbindung zu bringen, wie das
oben schon dargestellt wurde. Die Krise der alten feudalen Gesellschaft, die
scheinbar zerstörerische Wirkung des Geldes, ihre Personifizierung mit dem
„Wirken der Juden/Jüdinnen“, all dies gipfelte in solchen Volksbewegungen gegen
die Juden und Jüdinnen. Dabei zeigte sich an dem erwähnten Kindermord-Pogrom
das Element, das den „zerstörerischen“ Aspekt des Geldes mit dem scheinbar
religiös bewegten Massenbewusstsein verbindet: Die Wut gegen den
JudenverteidigerInnen aus dem Vatikan ist der Indikator.

4.3 Die Psychologie des
Pogromismus

Die Massenwut, die sich im Trientfall
auch gegen die „JudenschützerInnen“ richtete, zeigt, wie zwanghaft der
Irrationalismus hier wirkte. Es erinnert an Sigmund Freuds Vergleich des
Verhaltens religiöser Menschen mit dem von ZwangsneurotikerInnen. Die Analyse
des Unbewussten bei Freud zeigt, dass „unbewusst“ gerade nicht „unwirksam“
bedeutet – sondern ganz im Gegenteil. Das Verdrängte steht nur zu oft gerade im
Gegensatz zum scheinbar bewusst Gewollten und führt zu Verhalten, das Freud
„ambivalent“ nennt (die Dialektik würde „widersprüchlich“ dazu sagen). Dies
wird umso verwirrender, als sich das Verdrängte selbst in seinem Kern
verschieben, bewegen und verändern kann ebenso wie die bewussten Motive. Vieles
an den scheinbar „irrationalen“ Handlungen von Menschen kann erst aus dieser dialektischen
Bewegung von bewussten und unbewussten Triebkräften ihrer Motivationen erklärt
werden.

Der Psychoanalytiker Mario Erdheim betonte die gesellschaftspolitische Dimension dieses von Freud entwickelten Begriffs des Unbewussten: „Das Unbewusste wird für die Herrschaft dann relevant, wenn es darum geht, zum Wandel treibende, an den Voraussetzungen der Herrschaft rüttelnde Widersprüche zu neutralisieren. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft in Klassen spaltet und sich divergierende Klasseninteressen entwickeln, nimmt die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit zu“ (47). Die eigentlich möglichen Veränderungen und darauf basierenden Impulse der Unterdrückten werden verdrängt und Abwehr- und Anpassungsmechanismen entwickelt, um die wachsende Zahl der Entbehrungen, Erniedrigungen, Existenzängste etc. nicht in unmittelbare Aggression umschlagen zu lassen. „Durch Unbewusstmachung sollte verhindert werden, dass das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen könnte. … Gleichzeitig musste aber in Kauf genommen werden, dass die Aggression die ‚Exterritorialität des Unbewussten‘ (Freud) erlangte, d. h. vom Ich nicht mehr benützt, sondern bestenfalls abgewehrt werden konnte. … Wie Partisanen vom Wald aus jederzeit überraschend angreifen können, so kann auch diese Aggression von einem Augenblick auf den anderen zuschlagen und das Ich zu einem amokartigen, blinden Zerstörungswerk zwingen. Denkbar ist auch, dass die unbewusst gemachte Aggression kulturelle Einrichtungen, wie zum Beispiel die Religion, als Ersatzbefriedigungen verwendet, die einer eigenen, oft auch gegen die Herrschaft gerichteten Entwicklung folgen, der die herrschende Klasse ohnmächtig gegenübersteht“ (48).

In der Krise der Auflösung der
Feudalverhältnisse im 15./16. Jahrhundert in Mitteleuropa tauchten durchaus
Forderungen auf, die eine Möglichkeit der progressiven Veränderungen
enthielten: Die Enteignung des Grundbesitzes, die Entschuldung der Bauern/Bäuerinnen,
die Abschaffung der monetären Feudalabgaben, die Verteidigung der
gemeinschaftlichen Nutzung von Gemeindeland, die Ausdehnung der städtischen
Selbstverwaltung über die Städte hinaus, die Nutzung des technischen
Fortschrittes der Städte für die Modernisierung der Agrarwirtschaft etc.
Tatsächlich aber verschärfte sich die Ausbeutung durch die Monetarisierung des
Feudalsystems und die wachsende Verwandlung verarmender Landbevölkerung in
städtische Armut. Während sich die Aggression gegen die wachsende Ausbeutung
und Verarmung in den Bauernkriegen z. B. auf eine positive, die
Möglichkeiten der Veränderung aufgreifende Weise organisierte, war die
allgemeine Antwort die der Repression und Verdrängung. Wie Erdheim es
beschreibt, verschob sich das Aggressionspotential wesentlich in den Bereich
der Religion, die zum Ersatz für die Abfuhr der aufgestauten
Aggressionspotentiale wurde (damit sei nicht gesagt, dass diese bei den
Bauernkriegen überhaupt keine Rolle spielte).

In diesem Zusammenhang wird
auch das erneute Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus in dieser
Zeit verständlich. „Das Volk“, das durch die Krise unbewusst den Aufstand gegen
die Herrschenden wünscht, ist gleichzeitig von Schuldgefühlen gerade wegen
dieses Wunsches geplagt. Die Aggression und der (für die bösen Gefühle) zu
bestrafende Teil des Selbst werden auf einen alten äußeren Feind projiziert,
nämlich die gerade vor Ort anwesenden Juden und Jüdinnen. Und dabei ist es ganz
gleich, ob die Juden und Jüdinnen noch die ökonomische Funktion von einst
erfüllen – sie werden zu den RepräsentantInnen der Krisen erzeugenden neuen
Kapitalmächte. Ähnlich wie beim Kampf gegen die Menschen des „falschen
Glaubens“ in den Religionskriegen dieser Zeit werden die realen Menschen zu
einer Projektionsfläche für den eigenen Hass und zu den Schuldigen für all die
Nöte der Zeit. Die überkommenen Mythen, Erzählungen, Pseudo-Beweise über die
wahre Natur der So-und-so werden zu Instrumenten der Projektion. Fehlt nur noch
der Anlass – und natürlich sind Morde, speziell an Kindern oder jungen Frauen,
ein gern genützter Zünder, um Abwehrmechanismen des Ich bzw. das
Realitätsprinzip außer Kraft zu setzen und die Aggressionspotentiale
freizusetzen. Dazu lehrt die Psychoanalyse, dass in diesen Aggressionsausbrüchen
über solche Ereignisse auch die unbewusste Selbstbestrafung für den eigenen
Wunsch nach ebensolchen Tötungen enthalten ist, was die Wucht der Ausbrüche,
die solche Ereignisse auslösen, erklärt. Man denke nur aktuell an Kandel: Als
in dem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz ein junger afghanischer Flüchtling wohl
in einem Eifersuchtsdrama seine Freundin erstach, wurde der Ort wochenlang von
wütenden Demonstrationen heimgesucht unter dem Motto „Mädchenmord – dank
Merkel“. Ähnlich in Chemnitz, wo ein Mord, der einzelnen muslimischen
Flüchtlingen angelastet wird, zum Anlass genommen wird für ungehemmte
Massenaggression gegen alles was „ausländisch“ oder „anders“ aussieht. Waren es
in Trient Bettelmönche und religiöse Losungen, so sind heute organisierte Nazis
die EinpeitscherInnen, und Religion wurde durch nationalistischen Rassismus
ersetzt.

Das Problem ist nicht die
Aggression an sich – die im Rahmen der Selbsterhaltung und, wenn das rationale
Ich letztlich die Kontrolle behält, ja auch in eine positive Richtung gelenkt
werden kann. Es geht um die unbewussten Quellen der Aggression, die jede
Kontrolle durchbrechen. Das Problem ist dann, dass „die Aggression nicht von
Selbsterhaltung gesteuert wird, sondern von Narzissmus und Ambivalenz“ (49).
Die Ambivalenz des Verdrängten, die Suche nach dem Ersatzobjekt für den
eigentlich gewünschten Aufstand gegen die Herrschenden und die gleichzeitige
Bestrafung dieses Ersatzobjektes gerade für diesen eigenen Wunsch wurde schon
dargelegt. Eine noch gefährlichere Quelle ist der Narzissmus, da er tatsächlich
zu eliminatorischen Einstellungen führt. Der Narzissmus stellt eine aufgrund
von aktuellen traumatischen Erfahrungen bedingte Regression in eine der
frühesten Kindheitsphasen dar. Charakteristisch beim Narzissmus ist die Vorstellung
vom allseits bewunderten Selbst, das im Mittelpunkt der (damit sehr kleinen)
Welt steht. In der Regression wird die Aufspaltung der Welt des Kleinkindes in
die freundliche (eigentlich als Erweiterung des Selbst zu sehenden) Seite (vor
allem durch die Mutter, soweit sie allzeit für die eigenen Bedürfnisse des
Kindes bereit ist) und die böse Seite (z. B. die Mutter, die tatsächlich
irgendwas verweigert oder gar nicht lieb ist) vollzogen. Im Märchen wird dies
treffend durch die Spaltung in die gute Mutter und die böse Stiefmutter
repräsentiert. Die Stiefmutter hat durch ihre Magie alles gegen die arme
Prinzessin (oder den Prinzen) verschworen, auch den eigentlich guten König. Die
Welt muss von dem Stiefmutter-Bann befreit werden muss, damit am Ende wieder
alles gut ist – indem die böse Stiefmutter getötet, eliminiert wird!

Es ist wohl klar, dass die
Juden und Jüdinnen in der Geschichte die Rolle der bösen Stiefmutter erhalten
haben. Für die Gekränkten und Erniedrigten, denen „unverständlicherweise“ von
den hohen Herren von Adel und Kirche nicht geholfen wird, erscheinen die Juden
und Jüdinnen wie die bösen MagierInnen, die ihre einst so gute Herrschaft mit
ihrer abstrakten, jüdischen Geldwirtschaft verzaubert haben. Die Juden und
Jüdinnen, als Verkörperung der abstrakten Macht des Geldes, werden zur „bösen
Seite der Macht“ des Narzissmus. Mit ihrer Vernichtung, so die Hoffnung, wird
der „Papa wieder gut“, werden die Mächtigen sich unser erbarmen. Daher gehört
die Wut auf die „JudenschützerInnen“ ganz unbedingt zum Ritual des Pogroms. Es
ist der Teil des Rituals, in dem der König (oder „Mutti“) wach geküsst werden
soll.

Erdheim verweist zu Recht
darauf, dass narzisstisch bedingte Aggression bei den Herrschenden sogar noch
weit verbreiteter ist als bei den Unterdrückten. Herrschaft an sich ist auf
engste mit Narzissmus verbunden (man will bewundert werden, nicht geliebt).
Umso mehr wird Aggression freigesetzt, je mehr die Unterdrückten unbotmäßig die
Bewunderung verweigern, ja, gar gegen die Herrschaft aufbegehren. Die
Herrschenden neigen sehr viel stärker zur unkontrollierten, eliminatorischen
Aggression als die Unterdrückten. Der kurze, heftige Furor der
Bauern/Bäuerinnen in den Bauernkriegen mag in schnellen Orgien der Befreiung
heftig gewesen sein – er war aber nichts im Vergleich zur systematischen,
massenmordartigen Hinrichtungswelle, an der sich die Herrschenden nach ihrem
Sieg ergötzt haben. So war denn auch der eliminatorische Antisemitismus gerade
bei den herrschenden Klassen in Deutschland nach den narzisstischen Kränkungen
von Novemberrevolution bis Versailles besonders ausgeprägt.

4.4 Massenpsychologie des
Faschismus

Auch ohne psychoanalytische Ausbildung hat Trotzki, der bekanntermaßen für eine ernsthafte Beschäftigung mit Freud eintrat, diese Mechanismen der Massenpsychologie meisterhaft analysiert, z. B. in seinen Untersuchungen des Faschismus. In seiner Kritik der KomIntern-Politik gegenüber dem Faschismus bemerkt er, dass die führenden KP-VertreterInnen den Charakter der faschistischen Gefahr verkannt hätten, unter dem Motto „Die Bourgeoisie kann doch keinen Aufstand gegen sich selbst machen“ (50). Trotzki dagegen hat erkannt, dass es gerade dem Faschismus gelinge, tatsächlich dem Bedürfnis des „Volksaufstandes“ entgegenzukommen und die Aggressionen auf entsprechende Ersatzobjekte zu richten – gleichzeitig aber die zentralen Ziele des Kapitals durch die Nutzung dieser „Aufstandsbewegung“ zur massenhaften Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu instrumentalisieren. Dass diese Umlenkung des Aufstandswunsches gelingt, wird von Trotzki auch eindeutig analysiert: „Der italienische Faschismus erwuchs unmittelbar aus dem von den Reformisten verratenen Aufstand des italienischen Proletariats… Der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung wurde zur wichtigsten Voraussetzung für das Wachstum des Faschismus“ (51).

Es waren gerade die Demoralisierung, die Perspektivlosigkeit nach der Niederlage, die eine neue, „nationale“ Alternative zum Kampf gegen die BedrückerInnen als möglich erscheinen ließ. Dieser folgten wohl viele, die sich durch die sozialistische Bewegung bedroht sahen, aber auch demoralisierte ArbeiterInnen können so für den Bruch mit ihrem Klasseninteresse gewonnen werden. Hier erweist sich die besondere Schwere des Problems für SozialistInnen und KommunistInnen: Je mehr man vor der möglichen Revolution zurückschreckt, je mehr man die Krise des Kapitalismus laufen lässt und sich mit kleinen „Zwischenschritten“ zufriedengibt, desto mehr wächst das reaktionäre Potential in den demoralisierten Klassen durch die Unbewusstmachung ihrer revolutionären Wünsche.

Hiermit ist ein zentrales
Element der politisch-psychologischen Bedeutung des Antisemitismus entwickelt.
Mit den Mechanismen von Projektion und Regression werden die Juden und Jüdinnen
zum Ziel von Ersatz-Aufständen gegen das Kapital, speziell in Krisenzeiten.
Seit der Krise der frühen Neuzeit ist der zuvor religiös bestimmte
Antijudaismus zu einem im gesellschaftlichen Unbewussten fest verankerten
Antisemitismus geworden. In Krisenzeiten konnten Aggressionspotentiale nunmehr
immer wieder in mehr oder weniger gewalttätige Ersatz-Aufstände abgeführt
werden. Wie Erdheim aber zu Recht auch sagt, wäre es dabei falsch, einfach nur
von einer bewusst von den Herrschenden eingesetzten Sündenpolitik auszugehen.
Vielmehr sind diese Mechanismen der unbewussten Krisenbewältigung oft von den
Herrschenden kaum zu kontrollieren. Dies zeigt sich z. B. in den diversen
antisemitischen Ausbrüchen zu unvorhergesehenen Anlässen in der Kaiserzeit des
19./20.Jahrhunderts in Deutschland. Etwa um 1900, als in der westpreußischen
Kleinstadt Konitz ein Mann gefunden wurde, der scheinbar durch Ausbluten
ermordet wurde. Sofort wurde ein jüdischer Metzger in alter
Ritualmordlegenden-Form beschuldigt. Und getreu dem Muster wurde auch der aus
der Hauptstadt entsandte Kriminalist, der widerlegende Indizien fand, der
Judenschützerei beschuldigt und aus der Stadt getrieben. Natürlich wurde auch
die Regierung beschuldigt, mit den Juden/Jüdinnen unter einer Decke zu stecken.
Da dies beileibe kein Einzelfall ist, kann davon ausgegangen werden, dass dies
nur ein Indiz für festgefahrene Mechanismen des gesellschaftlichen Unbewussten
ist, die sich seit der Krise des 15./16. Jahrhunderts fest in Deutschland
verankert hatten. Und dies bedeutete unter anderem Antisemitismus als
„volkstümlicher“ Ersatz für den eigentlich notwendigen Aufstand gegen das
Kapital – ein unbewusst gespeister Antisemitismus, der sich entgegen aller
allzu einfachen Manipulationstheorien auch von den Herrschenden nur bedingt
kontrollieren lässt.

4.5 Antisemitismus und
„Kritische Theorie“

Antisemitismus- und
Faschismustheorie stellen auch zentrale Themen der sogenannten „Kritischen
Theorie“ dar, die vor allem im Umkreis des Frankfurter „Instituts für
Sozialforschung“ entstand. Begründet wurde dieses Institut in den frühen 1920er
Jahren von der jüdischen Industriellenfamilie Weil, auch aus Sorge über die
Erstarkung des Antisemitismus. Dazu kam, dass sich Felix Weil selbst zu einem
radikalen Marxisten entwickelt hatte, der für die Gründungsphase eine erste
„Marxistische Arbeitswoche“ mit solch zentralen Theoretikern wie Georg Lukács
und Karl Korsch organisieren konnte. Während in dieser Frühphase des Instituts
marxistische Gesellschaftstheorie im Vordergrund stand, wurde bald auch die
Psychoanalyse zur Grundlage (unter anderem durch die Einbeziehung des
Analytikers Erich Fromm). Als „analytische Sozialpsychologie“ versuchte die
„Frankfurter Schule“ die marxistischen, gesellschaftstheoretischen Analysen
solcher Phänomene wie des Antisemitismus durch psychoanalytische Erklärungen zu
ergänzen. Als paradigmatisch dafür kann der Aufsatz von Theodor Adorno „Die
Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda“ (52) gesehen
werden, der in engem Zusammenhang mit den Arbeiten von Ernst Simmel zu
Antisemitismus und Massenpathologie, bzw. von Max Horkheimer zum Komplex des
„autoritären Charakters“ steht (53). Der Artikel stammt aus einem
Forschungsprojekt „Antisemitismus“, das noch in der Exilphase des Instituts in
den USA durchgeführt wurde und viele bis heute wirksame Untersuchungsmethoden
zu dem Thema hervorgebracht hat.

Adorno setzt in dem Artikel die
Herangehensweise von Freud derjenigen der voranalytischen Psychologie in Bezug
auf Massenbewegungen entgegen. Letztere habe, z. B. bei Gustave Le Bon
(„Psychologie der Massen“), in der Herausbildung von „Massen“ grundlegend eine
gefährliche und das Individuum bedrohende Erscheinung gesehen, die im
Wesentlichen auf einem atavistischen Herdentrieb beruhe und von DemagogInnen
mittels „Suggestion“ oder einer Art „Massenhypnose“ manipuliert würden. Freud
bestreitet in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ dagegen die Existenz von so
etwas wie einem „Herdentrieb“. Umgekehrt: das immer mehr individualisierte,
vereinzelte „Ich“ der bürgerlichen Gesellschaft findet in der Masse eine Art
„Fluchtweg“ aus den als Vereinzeltes sich immer drängender ergebenden inneren
Konflikten. Statt also von einem „natürlichen Herdentrieb“ zur „nationalen
Vereinigung“ getrieben zu werden, ist diese „Natürlichkeit“ vielmehr eine
gesellschaftliche Konstruktion, die erst mit der Entwicklung einer hoch
individualisierten Zivilisation möglich wird. In diesem Sinn sagt auch Simmel,
dass der Antisemitismus nicht ein „Rückfall“ aus der Zivilisation ist, sondern
eine notwendige Folge oder Begleiterscheinung der voranschreitenden
Zivilisation.

Wenn nun die Herausbildung von
reaktionären Massenbewegungen vor allem irrationaler Natur, da gegen die
materiellen Interessen des Großteils der Beteiligten gerichtet, ist, was bringt
dann die Bindung der Individuen an diese hervor? Nach Freud müssen solche
„irrationalen Motive“ vor allem in unbewusst wirkenden Triebenergien gesucht
werden, die mittels Verdrängung und Regression zu mächtigen, von den
AkteureInnn selbst nicht durchschauten emotionalen Impulsen werden. Diese
Energien können unter bestimmten Umständen durch Identifikationsfiguren und
Feindbilderzeugung zu mächtigen politischen Waffen geraten.

Was sind nun nach Freud die
psychischen Energien, die hier im Spiel sind? Freud schließt hier im
Wesentlichen sexuelle Motive aus (auch wenn er auf unterdrückte homosexuelle
Momente, die auch im Faschismus eine Rolle gespielt haben, durchaus hinweist).
Im Allgemeinen führt direkte Sexualerfüllung eher weg von Massenbildung,
hintertreibt strenge Abgrenzungszwänge – wie Freud so schön sagt, durchbricht
die Liebe die Abgrenzungen „der Rasse, der nationalen Absonderung und der
sozialen Klassenordnung und vollbringt so kulturell wichtige Leistungen“ (54).
Traditionelle Massenorganisationen wie Kirche und Armee bestätigen dies durch
ihre sexuellen Enthaltsamkeitsregeln (zumindest der Fassade nach).

Wenn also die Momente der
irrationalen Massenbildung in der vorgenitalen Libidoentwicklung zu suchen
sind, dann liegt es nahe, wiederum auf die narzisstische Regression zu stoßen,
die wir schon bei der Psychologie des Pogroms besprochen haben. Die
Einverleibung der Realität in das narzisstische Ich, die Vergrößerung der
eigenen Persönlichkeit kann zur Identifizierung mit einem „größeren Ich“, einem
kollektiven Ich werden. Adorno nennt diesen Prozess in Anlehnung an Freud
„Idealisierung“ (55). Das Objekt der narzisstischen Liebe ist eigentlich das
eigene, idealisierte Selbst. Es ist eine aufgeblasene Figur, in der sich das
eigene, gedemütigte Ich wieder lieben kann. Die reaktionäre Führerfigur hat
nichts vom autoritativen, großen und gebildeten Vater, sondern muss gewisse
Züge des eigenen schwachen Ichs enthalten. Dies erklärt sicher die teilweise
Lächerlichkeit und Gewöhnlichkeit von „Führerfiguren“ von Hitler bis Trump, die
sie so geeignet macht als Identifikationsobjekte narzisstischer Selbsterhöhung.
Gefährlich wird es, wenn sich diese narzisstische Identifikation überlagert
damit, dass das eigene schwache Ich-Ideal (das zumeist in der
Auseinandersetzung mit den Eltern herausgebildet wurde) durch eben denselben
Ersatz-Vater verkörpert wird. D. h. die Über-Ich-Instanzen von Gewissen,
Moralvorstellungen etc. werden durch das idealisierte Führer-Selbst bzw. das imaginierte
kollektive Selbst, z. B. die „Volksgemeinschaft“ besetzt. In der modernen
Massenkultur ist die narzisstische Identifikation nach Adorno z. B. in der
Identifikation mit mittelmäßigen KünstlerInnen als großen „Stars“ Grundelement
– dies ist aber noch unterhalb der Idealisierung, da hierbei die Überhöhung ins
Ich-Ideal nur sehr beschränkt erfolgt. Es zeigt aber, wie sehr in der
spätkapitalistischen Gesellschaft auch heute die Mechanismen der Idealisierung
leicht wieder politisch angewendet werden können. Die „FrankfurterInnen“
betonten dabei stark die Tatsache des Autoritätsverlust der Elterngeneration
(z. B. die „vaterlose Gesellschaft“ der Nachkriegsgeneration nach dem
ersten Weltkrieg), durch die diese Ersetzung des überkommenen Über-Ichs gelingt
und die Umformung in die „autoritäre Persönlichkeit“ erleichtert wird.

Narzisstische Selbstaufblähung
ins Kollektiv und Unterwerfung unter das idealisierte Selbst als Ich-Ideal
ermöglichen die irrationale Massenbindung an reaktionäre, den Interessen dieser
Massen direkt zuwiderlaufende politische Bewegungen und Führergestalten. Das
heißt nicht, die faschistischen oder reaktionären Massenbewegungen aus der
Psychologie zu erklären. Wie Adorno bemerkt, erfordert die komplexe Psychologie
der reaktionären Massenbildung die gezielte Hervorbringung durch politische
Kräfte, die diese nutzen wollen. Dies muss nicht unbedingt bewusst und
„massenpsychologisch“ geplant erfolgen – die reaktionären Organisationen sind
zumeist schon aus Menschen zusammengesetzt, die eine Disposition für diesen
Idealisierungsprozess besitzen. Es kommt darauf an, dass es Kapitalkräfte gibt,
die das Potential solcher Gruppen auch für ihre Interessendurchsetzung nutzen
wollen.

Zu der narzisstischen Überhöhung des guten eigenen Ichs gehört (wie schon ausgeführt) die Abspaltung des bösen Teils der eigenen Welt. Die reaktionäre Massenbildung durch narzisstische Identifikation kommt nicht aus ohne die Brandmarkung des inneren und äußeren Feindes. Alle Herabsetzungen und Entbehrungen des realen Ichs, die nun im Führer-Ich eine Lösung zu finden scheinen, werden auf dieses Feindobjekt projiziert, das nun als einziges der Lösung entgegensteht. Die gegen das Judentum gerichtete narzisstische Aggression haben wir schon in der Analyse der antisemitischen Pogrome dargestellt. Im entwickelten Kapitalismus, so die These von Adorno bzw. Simmel, kann sich diese Aggression erhöhen bis auf die Ebene der Psychose – ähnlich wie bei narzisstischen Störungen, die in schizoider Paranoia enden. D. h. der moderne Antisemitismus entwickelt ein „System des Wahns“, das in irrationaler Weise alle möglichen „Bedrohungen“ mit teuflischen Verschwörungen des „Weltjudentums“ in Verbindung bringt. Die Anschuldigungen mögen so abstrus sein wie möglich (siehe z. B. die „Protokolle der Weisen von Zion“), zentral ist die Funktion bei der aggressiven Selbstvergewisserung: „Es ist daher nicht überraschend, dass der einzelne Antisemit sich über den Inhalt seiner Anschuldigungen und Verleumdungen wenig Gedanken macht, solange sie seinem Bedürfnis nach Aggressionsentladung dienen. Ferner glaubt der Antisemit an seine falschen Beschuldigungen der Juden nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität. Der Vorstellungsgehalt dieser Anschuldigungen ist Produkt des Primärprozesses im eigenen Unbewussten; seinem bewussten Denken wird es erst durch Suggestion des Massenführers zugänglich“ (56).

Die Steigerung der
antisemitischen Aggression hin zur Psychose erklärt auch die Möglichkeit der
Monstrosität von Menschen, die die industrielle Massenvernichtung von Juden und
Jüdinnen durchführen konnten. Das Projekt, mitten in einem große Ressourcen
verschlingenden Krieg, war jenseits jeden ökonomischen und militärischen Sinns.
Trotzdem wurde es mit der planmäßigen Rationalität eines/r psychotischen
SerienmörderIn durchgeführt. Die Zwanghaftigkeit des Massentötens in seiner
monströsen Irrationalität als Ganzes verschaffte offenbar den einzelnen
TäterInnen die Befriedigung, Teil einer großen „nationalen Befreiungstat“ zu
sein. Der/Die Einzelne war kein/e psychotische/r TäterIn, sondern
repräsentierte zumeist den mittelmäßigen kleinen deutschen Beamtentypus – die
„Banalität des Bösen“, wie es Hannah Arendt ausdrückte. Erst im faschistischen
Apparat wurde er/sie Teil einer psychotischen Masse.

Auch wenn die massenpsychologischen Erkenntnisse der kritischen Theorie wichtiges zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen haben, muss auf ein zentrales Problem hingewiesen werden. Anders als bei den zuvor genannten Erklärungen von Erdmann und Trotzki fehlt bei Adorno/Simmel der Bezug zum Klassenkampf vollständig. Bei den Erstgenannten kommt es aufgrund von Niederlagen in der Auseinandersetzung mit den Herrschenden bei einigen der Unterlegenen zu reaktionären Antworten, die emotional durch narzisstische Regression aufgeladen sind, während die Herrschenden Angriffe auf sich mit besonders gesteigerter narzisstischer Aggression beantworten. Bei Adorno/Simmel fehlt dieser Klassenbezug völlig. Vielmehr entwickelt Adorno die narzisstische Regression viel allgemeiner aus den Bedingungen der „Massenkultur“ in spätkapitalistischen Gesellschaften. Eine zentrale Aussage von Adorno dazu sei zitiert: „Die Menschen, mit denen er [der Faschismus] zu rechnen hat, befinden sich in der Regel in dem charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen. Aus diesem Konflikt resultieren starke narzisstische Triebimpulse, die nur durch Idealisierung, als teilweise Übertragung der narzisstischen Libido auf das Objekt, absorbiert und befriedigt werden können“ (57).

Worauf Adorno hier als Ursache der Idealisierung abzielt, ist die Vereinzelung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der Waren- und Arbeitsmärkte, oder wie es Lukács nannte, die „Verdinglichung“ (58). D. h. die Beziehungen zwischen den Menschen werden im entwickelten Kapitalismus immer mehr durch die Beziehung zwischen „Dingen“ in ihrer Warenform ersetzt, die eigenen Eigenschaften entfremden sich in verdinglichter Gestalt als Elemente der „Arbeitskraft“, deren plötzlicher Entwertung man machtlos gegenübersteht. Diese Herrschaft der Warenform über die Subjekte erzeugt also nach Adorno die Tendenz zur narzisstischen Regression, als scheinbare Wiedergewinnung von Subjektivität und Wiederherstellung von sozialer Gemeinschaft.

Sicherlich erzeugt die immer
stärker werdende Tendenz zur Verdinglichung im Kapitalismus auch die
Disposition zur narzisstischen Regression und damit zur leichten Evozierbarkeit
von nationalistischem, rassistischem oder antisemitischem Hass. Die Auslassung
der Klassenfrage an dieser Stelle führt jedoch zu einem insgesamt
kulturpessimistischen Defätismus. Adorno erwähnt zwar in dem genannten Aufsatz
die Möglichkeit, dass Massenbewegungen auch solidarisch und fortschrittlich
sein können. Doch im Grunde widerspricht dies seiner eigenen Theorie des
Spätkapitalismus, in dem die ökonomische Krisenhaftigkeit durch den
„organisierten Kapitalismus“ aufgehoben und damit die Klassenbildung selbst
systematisch blockiert wäre. Bei seinen späteren Schriften kommen folgerichtig
Zweifel auf, ob nicht alle Massenbewegungen im Spätkapitalismus die Tendenz zum
Faschismus haben. Es mag Bewegungen geben, die sich der Warenförmigkeit und
autoritären Konkurrenz der FührerInnen entziehen (z. B. Ökologie,
Hausbesetzungen, u. ä.), aber sie müssen wohl im Kapitalismus eher am Rand
bleiben. Dagegen hat Lukács den Verdinglichungsbegriff eingeführt, um zu
zeigen, dass es eben für das bürgerliche und kleinbürgerliche Bewusstsein
keinen Ausweg aus dem Konflikt der nicht erfüllbaren Ansprüche an die
Individualität gibt. Er sah also eine klassenspezifische Disposition zum
Irrationalismus bei den bürgerlichen Klassen, insbesondere beim Kleinbürgertum.
Dagegen ermöglicht die Stellung des Proletariats im Produktionsprozess es
diesem, die Verdinglichung durch Solidarität und Entwicklung von Kontrolle über
den Arbeitsprozess eben gerade zu durchschauen und letztlich zu überwinden. Auf
der Grundlage von solidarischer Selbstorganisation und Entwicklung von Macht
über den eigenen Arbeitsprozess ist daher auch eine Massenbewegung möglich, die
selbstbewusste und kritikfähige Subjekte in einem demokratischen Prozess
verbindet, der zugleich gegen die Mächte der Verdinglichung und ihrer
bewaffneten Banden zur Gegenwehr in der Lage ist. Die Aufgabe des
revolutionären Klassenbegriffs in der Frankfurter Schule markiert nicht nur
einen grundlegenden Bruch mit dem Marxismus, sie führt auch dazu, dass sich
Ideologiekritik mit kulturpessimistischem Grundton einerseits auf die
Affirmation des Bestehenden bei realen sozialen Kämpfen andererseits
zurückziehen muss.

Die Analyse des „autoritären
Charakters“ und der „narzisstischen Massenkultur“ spielte um die 1968er Jahre
in der westdeutschen Linken eine große Rolle. Sie führte einerseits zu
kulturkritischen und antiautoritären Versuchen, die viel mit der Aufarbeitung
der verdrängten Nazi-Vergangenheit zu tun hatten. Auch wenn auf der Ebene des
Überbaus hier einiges in Bewegung kam, wurden die gesellschaftlichen
Verhältnisse so nicht grundlegend herausgefordert. Adornos These von einem
durch den Totalitarismus der Verdinglichung in der spätkapitalistischen
Massengesellschaft immer bestehenden Hang zur Faschisierung führte letztlich
dazu, dass viele Linke den Faschismus als permanente Gefahr (oder gar schon
Realität sahen). Antifa-Aktivität als Hauptschwerpunkt sowie Ablehnung
„autoritärer Strukturen“ wurden seither zu einem Charakteristikum der deutschen
Linken. Die tatsächliche neuerliche Rechtsentwicklung seit einigen Jahren haben
viele dann nicht erkannt (nach dem Motto: „Was unterscheidet denn die AfD von
der SPD“?) bzw. sind mit ihren Methoden nicht dazu in der Lage, sie zu
bekämpfen.

4.6 Antisemitismus und
Fetischismus der Wertformen

Der 1979 erstmals auf Deutsch
erschienene Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (59) von Moishe
Postone kann als eine Art „Erweckungsschrift“ für die sogenannten
„antideutschen Linken“ gesehen werden. Allerdings gehen viele der Verkürzungen
der Letzteren weit an der Qualität dieses Artikels vorbei.

Postone geht von der Frage aus, warum gerade die Juden und Jüdinnen im Zentrum der faschistischen Gewalt stehen mussten, warum der Antisemitismus zentral für die Nazis sein musste. Er geht also über die Analyse von Adorno/Horkheimer hinaus, die die Unabdingbarkeit irgendeines inneren Feindes für die politische Mobilisierbarkeit der „autoritären Charaktere“ sahen – da hätten dann ja auch ganz andere als „Sündenböcke“ dienen können. Bestimmte Aspekte des von den Nazis ausgelebten Antisemitismus zeigen, dass er über Vorurteile, Fremdenhass, ja Rassismus weit hinausginge. Die systematische Verfolgung und letztlich industriell betriebene Vernichtung ist weder ökonomisch (absolute Mehrwertproduktion) noch militärisch (Blockierung von Schienenwegen mitten im Krieg) noch psychologisch („autoritärer Charakter“) erklärbar: „Ist die qualitative Besonderheit der Ausrottung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, dass Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben“ (60).

Postone grenzt
zunächst den „klassischen“ antijudaistischen und religiösen Antisemitismus vom
„modernen“ Antisemitismus, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
entstanden ist, ab. Wir werden letzteren ausführlicher im nächsten Kapitel
behandeln. Er betont jedoch als Kontinuum, dass auch der klassische
Antisemitismus mit seiner Verteufelung des Judentums diesem eine besondere, hintergründige
Macht zugesprochen hat. Rassismus unterstellt den fremden „Rassen“ immer schon
eine bedrohliche Macht, gegen die es gelte, sich zu behaupten. Doch im
Unterschied zu den als „Untermenschen“ gebrandmarkten „unterlegenen Rassen“,
die nur als potentielle Bedrohung gesehen würden, würden die Juden und Jüdinnen
als eine geheimnisvoll im Hintergrund wirkende tatsächliche Macht verteufelt.
Schon im klassischen Antisemitismus wird diese Macht mit Geld und Zins in
Verbindung gebracht. Im modernen Antisemitismus jedoch würde diese Macht um ein
Vielfaches allgemeiner und bedrohlicher dargestellt. Postone verweist
exemplarisch auf ein Nazi-Plakat, in dem der „fleißige, hart arbeitende
Deutsche“ bedroht wird durch einen fetten US-Kapitalisten auf der einen Seite
und einen mörderischen bolschewistischen Kommissar auf der anderen Seite – und
über den Horizont der Weltkugel sieht man einen Juden hervorkommen, der die
beiden Bedrohungen wie an Marionettenfäden steuert. Das „internationale
Weltjudentum“ wird dargestellt als unfassbare, abstrakte Macht des
Finanzkapitals im Hintergrund, die hinter allen schwer fassbaren
Krisenhaftigkeiten stehe und darüber hinaus an der Untergrabung der
überkommenen Kultur, an den bestehenden Gemeinschaften, der Schaffung des „Großstadtdschungels“,
der „kosmopolitischen“ Kultur etc. Schuld sei. Es ist überdeutlich, dass der
moderne Antisemitismus eine Verkörperung der Entwicklungsprobleme der
kapitalistischen Gesellschaften durch das Judentum versucht. Die Frage ist,
wieso eine solch irrsinnige Idee einen derart „naturwüchsigen“ Erfolg haben
konnte – und haben kann.

Die Antwort findet Postone in Marx‘ Konzept des „Fetisch“, mit dem die Differenz vom Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und ihren Erscheinungsformen erklärbar wird. Begründet ist dies im Doppelcharakter der Ware als Wert und Gebrauchswert: Ware, wie auch Wert schaffende Arbeit müssen immer sowohl in konkret stofflicher Form, im konkretem Arbeitsprozess, bestehen, wie auch als abstrakter Wert, allgemein gesellschaftliche, abstrakte Arbeit sein. Vermittelt wird dies durch die Wertform, die beides in Beziehung setzt. In der Wertform vergegenständlichen sich die beiden Pole des Verhältnisses in der stofflich konkreten Ware (Gebrauchswert) und der symbolischen, abstrakten Repräsentanz des Wertes, dem Geld. „Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein Eigenleben, sie bilden eine ‚zweite Natur‘, ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und ‚objektiv‘ ist und deshalb natürlich zu sein scheint“ (61). Die scheinbare Naturhaftigkeit der Vergegenständlichung des Werts in den beiden Seiten der Wertform verglich Marx mit einer Art „Fetischglauben“, einer Projektion eigentlich gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis zwischen Dingen.

Die unmittelbare und zumeist beschriebene Folge dieses Fetischismus ist die typische „Rationalität“ in bürgerlichen Gesellschaften: der Glaube an Sachgesetzlichkeiten der verschiedenen Wertformelemente (Kapital, Lohn, Markt etc.), denen man wie gegenüber einem Naturgesetz nicht zuwiderhandeln könne. Dies betont die Vereinseitigung der einen Seite der Wertform, der abstrakten zumeist mit dem Geld identifizierten Seite. Postone meint nun, dass das Verständnis des Antisemitismus die Vereinseitigung der anderen Seite der Wertform betrachten müsse. „Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als ‚Wurzel allen Übels‘. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das ‚natürliche‘ oder ontologisch Menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt“ (62).

Die „Naturalisierung“ von Arbeit, die weiterhin unter Bedingungen kapitalistischer Eigentums- und Austauschverhältnisse verrichtet wird, fetischisiert Arbeit zu „konkreter“ Arbeit, die ebenso vom Doppelcharakter konkrete Arbeit/Wert schaffende Arbeit geprägt ist – und damit weiterhin dem kapitalistischen Entfremdungsmechanismus unterliegt. Die „romantische“ Revolte der FaschistInnen gegen die Abstraktheit und Universalität kapitalistischer Rationalisierungsprinzipien endet in der Vergötterung der „völkischen“ Industrie als Fortentwicklung des „ehrlichen Handwerks“, die von der Herrschaft des unorganischen, unvölkischen, abstrakten Finanzkapitals befreit werden müsse. Daher der scheinbare Widerspruch im Faschismus zwischen „Revolte gegen das Kapital“ und Begeisterung für nationale Industrie, Technik und den Futurismus.

„Der ‚antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktes stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude“ (63). Der Drang zur Abwehr der abstrakt-allgemeinen Zumutungen der kapitalistischen Akkumulation wird also durch die Naturalisierung, „Vermenschlichung“ sowohl der Gebrauchswertseite („der ehrlich arbeitende/n Deutsche/n“) als auch der „Konkretisierung“ der Wertseite in Form „des/r Juden/Jüdin“ scheinbar in eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen verwandelt.

Warum nun die Juden und Jüdinnen? Hier spielen einerseits
historische Gründe eine Rolle. Einerseits die schon im klassischen
Antisemitismus vorhandene Identifikation von Judentum mit Geld und Zins
tragendem Kapital. Andererseits, dass sich mit der Industrialisierung im 19.
Jahrhundert parallel die „Judenemanzipation“ vollzog, die es Juden und Jüdinnen
ermöglichte, in vielen Berufen aufzusteigen, in denen sie aufgrund der
traditionell guten kommerziellen Ausbildung Chancen dazu nutzen konnten. In
Verbund mit ihrer Integration speziell in den bürgerlichen Liberalismus mussten
sie vor allem vielen kleinbürgerlichen „KonkurrentInnen“ als Verkörperung des
sie überrollenden kapitalistischen Modernisierungsprozesses erscheinen.

Neben diesen historischen Gründen nennt Postone jedoch zwei Faktoren,
die sich direkt aus den Fetischformen ergeben. Erstens ergibt sich aus der Form
des Kapitalkreislaufes, dem Fetisch des Kapitals als sich selbst verwertendem
Wert die allgemeine Ablösung des mechanischen Modells im bürgerlichen Denken
durch das biologisch-organische Paradigma. Dieser Biologismus zeigt sich nicht
nur in organischen Gesellschaftsmodellen, sondern auch in einer Tendenz zum
Rassismus. Dazu passt die Biologisierung der Herrschaft des
Abstrakt-Allgemeinen der Wertform in Gestalt einer Rasse, die parasitär von den
natürlich, konkret-produktiven Rassen lebend, vampirartig sich an die Spitze
der Nahrungskette gesetzt hat – und wie ein Schmarotzer mit allen Mitteln
biologisch vernichtet werden müsse.

Zweitens erzeugt die Ableitung der bürgerlichen Staatsform aus dem Kapitalverhältnis die Dopplung des Menschen in den konkreten „bürgerlichen Menschen“, mit all seinen privaten Verhältnissen und Ungleichheiten, und den/die abstrakt-gleiche/n „StaatsbürgerIn“ – von denen alle den gleichen Rechten und Pflichten unterworfen sind, ganz gleich, „wo sie herkommen“. Diese Doppelung ist zugleich Ausdruck der Auflösung traditionaler, „gewachsener“ Gemeinschaften und ihrer kulturellen Eigenheiten. „In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret“ (64). Damit wurden Juden und Jüdinnen zumeist direkt mit der Auflösung der „Blut-und-Boden“-Bestimmung des in der nationalen Mythologie konstruierten „Volksstammes“ in Verbindung gebracht.

Insgesamt stellt der Antisemitismus nach Postone eine besonders gefährliche Form des Fetisches dar. Er ermöglicht die Bündelung des Unbehagens an der abstrakt-allgemeinen Rationalität des Kapitalismus in eine verkürzte, personalisierende Kapitalismuskritik. Durch die Ablenkung des „Aufstandes gegen den Kapitalismus“ auf die „Befreiung der Menschheit“ vom „parasitären Weltjudentum“ mussten die Nazis den Krieg gegen das Judentum permanent machen. Daher war die antisemitische Aggression nicht nur für die Machteroberung wesentlich. Es wäre falsch, so Postone, die Nazis an der Macht nur als gewöhnlichen Bonapartismus zu analysieren. Mit dem „Röhm-Putsch“ haben die Nazis keineswegs aufgehört, den „völkischen Kampf“ fortzuführen. Ihre Machterhaltung war wesentlich verknüpft mit der beständigen Steigerung antisemitischer Mobilisierung bis hin zur systematischen Eliminierung. „Die Ausrottungslager waren demgegenüber [der industriellen Fabrik gegenüber] keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische ‚antikapitalistische‘ Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur ‚Vernichtung des Werts‘, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu ‚befreien‘“ (65).

Postones These
vom Antisemitismus als Form des durch den Warenfetisch fehlgeleiteten Denkens
hängt stark von der Identifikation der abstrakten Seite der Wertformen mit „dem
Judentum“ ab. Die Wirksamkeit der von Marx beschriebenen Fetischformen liegt ja
darin, dass wir im Alltag des Kapitalismus wie selbstverständlich erleben, dass
wir uns dem scheinbaren Eigenleben von Preisen, Löhnen, Zinsen und anderen
Erscheinungsformen des Wertes wie Naturerscheinungen gegenüber zu verhalten
haben. Doch welche „alltägliche Einübung“ soll die Sachzwangartigkeit des
Marktes als „jüdisches Prinzip“ erscheinen lassen? Sicherlich gab es Ende des
19. Jahrhunderts eine gewisse Zahl jüdischer Kaufleute und Bankiers – doch
waren auch schon damals (vor allem aus Osteuropa kommend) das jüdische
Proletariat und jüdische Unterschichten in der Mehrheit. Die Identifikation
„des Judentums“ mit der Zirkulationssphäre ist real gesehen daher weiterhin
eine ideologische Projektion, die sich nicht direkt aus der Fetischbildung erklären
lässt. Auch wenn die Fetischtheorie die Tendenz zur Vergegenständlichung der
Abstraktheit der kapitalistischen Rationalisierungsprinzipien in Form von
Sündenbockgruppen jenseits seiner tatsächlichen NutznießerInnen hervorbringt –
dass es gerade die Juden und Jüdinnen sind, die davon betroffen sind, ist
keineswegs zwingend, sondern Resultat bestimmter historischer, ökonomischer,
sozialer, psychologischer und politischer Bedingungen.

Eine gängige
Verkürzung von Postones Antisemitismus-Analyse ist es, jede Form der
Personalisierung in der Kapitalismuskritik als „strukturell antisemitisch“ zu
entlarven. Auf Postones Artikel kann sich dies nicht stützen, da er ja zeigt,
dass es sich beim Antisemitismus gerade um eine fehlgeleitete Auflösung der
Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt – nicht, dass hinter der
Verschleierung gar keine personalen Verhältnisse stehen! Postone analysiert
hier ja, dass die scheinbare „Konkretheit“ von produktiver Arbeit etc.
abgetrennt wird von der abstrakten Seite der Wertform, um scheinbar die
Herrschaft des Werts zu überwinden. In der „Kritik der personalisierten
Kapitalismuskritik“ wird jedoch zumeist übersehen, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Kapitalismus nicht nur aus der Herrschaft der abstrakten Wertform
bestehen. Das Kapital als Wertform ist als „Abstraktes“ nur auf der Ebene des
„Kapitals im Allgemeinen“ festzustellen (wie es Marx im ersten Band des
„Kapitals“ analysiert). Es kann natürlich nicht als Allgemeines konkret einzeln
auftreten, sondern muss sich in besonderen Formen des Zirkulations- und
(Re-)Produktionsprozesses verwirklichen. Damit nimmt es als Einzelnes die
Gestalt von Industrie-, Handels-, Finanzkapital etc. an und verteilt – über die
Konkurrenz vermittelt – den vom Kapital im Allgemeinen angeeigneten Mehrwert
als Revenue für die KapitaleignerInnen (Ausgleichung der
Durchschnittsprofitrate, Bildung der Zinsrate etc.). Also ist der Kapitalismus
nicht einfach ein abstrakter Kapitalverwertungsprozess des „Kapitals an sich“,
sondern funktioniert als Ausbeutungsprozess im Interesse der
PrivateigentümerInnen an Produktionsmitteln – egal welcher Nationalität oder
kulturellen Gruppe diese angehören mögen. Der „sich selbstverwertende Wert“ ist
daher Grundlage für die Bildung eines Klassenverhältnisses, das durch die
Fetischformen zugleich verschleiert wird. Während der Gesamtprozess die
ProduzentInnen dazu zwingt, sich jenseits aller beruflichen und ethnischen
Zugehörigkeiten – wie es Marx sagte – sich immer nüchterner, nackt als
Ausgebeutete oder AusbeuterInnen zu sehen, so erzeugen die Fetischformen die
Illusion von einer „natürlichen“ Gesetzmäßigkeit, nach der jede/r, der/die sich
nur anstrengt, im Kapitalismus bekommt, was ihm/ihr zusteht. Die
offensichtliche Falschheit von letzterem und das Zurückschrecken vor der
nackten Tatsache der Entfremdung führt zur hasserfüllten Projektion des
Grundproblems auf geeignete „äußere“ FeindInnen.

Was Postones
Antisemitismustheorie fehlt, ist dieser Bezug auf die Klassenfrage. Marx sah
den Kapitalismus neben dem Wert/Gebrauchswert-Widerspruch grundlegend durch den
Klassenwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit gekennzeichnet. Die beiden
Widersprüche durchdringen sich an der Stelle des Konflikts zwischen Lohnarbeit
und Kapital, bei dem die Wertbestimmungen um Arbeitszeit und Wertbestimmung der
Ware Arbeitskraft notwendig in eine Antinomie, in Klassenkampf münden müssen.
Der Klassenwiderspruch tritt danach an vielen Stellen der Herausbildung der
Kapitalformen (bis hin zur Ebene des Staates) in immer neuen Formen auf.
Zusätzlich ist der Klassenwiderspruch sowohl mit Entstehung als auch mit
Überwindung des Kapitalismus verbunden durch den grundlegenden Widerspruch von
Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen. D. h. der
Klassenstandpunkt des Proletariats ermöglicht eben auch eine Überwindung der
Verdinglichungsformen des Wertes durch die unmittelbare Vergesellschaftung der
Beziehung von Produktion und Verteilung – also das Übergehen in eine neue,
sozialistische Produktionsweise.

Die Zielsetzung
der Enteignung der EigentümerInnen an den Produktionsmitteln ist fern von einem
Trieb zur biologischen Ausrottung von „parasitären Klassen“. Welche
Repressionsmittel eine sozialistische Revolution gegen die bisher herrschenden
Klassen einzusetzen hätte, ist Sache der selbstorganisierten VerteidigerInnen
der zu erkämpfenden demokratischen Vergesellschaftung.

Die Loslösung
von der Klassenfrage verunmöglicht es Postone gerade, die klassenspezifischen
Momente des Antisemitismus zu erfassen. Bei ihm ist aufgrund des Fetischcharakters
eigentlich jede/r (sogar „selbsthassende“ Juden/Jüdinnen) im entwickelten
Kapitalismus anfällig für eliminatorischen Antisemitismus (dies wird von vielen
„Antideutschen“ ja auch so verstanden). Tatsächlich war der radikale politische
Antisemitismus bis in die späten 1920er Jahre eine stark auf bestimmte
(klein-)bürgerliche Schichten beschränkte Erscheinung. Erst die Niederlagen der
ArbeiterInnenbewegung, ihre beständigen Kapitulationen, führten dazu, dass den
Nazis auch ein Einbruch in demoralisierte Schichten des Proletariats gelang.
Offenbar ist die Entwicklung des Klassenkampfes (in welcher Form auch immer),
neben der ökonomischen und politischen Gesamtdynamik, sehr wohl entscheidend
dafür, ob die falsche antikapitalistische Rebellion in der Form des radikalen
Antisemitismus größere Anhängerschaft gewinnen kann oder nicht.

Losgelöst von
der Klassenfrage muss also die Fetisch-Theorie des Antisemitismus zu einer
ständigen Suche nach strukturellem Antisemitismus bei antikapitalistischen oder
ökologischen („Biologismus!“) Bewegungen führen. Die Aufdeckung verkürzter
Kapitalismuskritik, von Naturalismus oder biologistischen Ausdrücken wird zur
Hauptbeschäftigung im „Kampf gegen jeden Antisemitismus“. Schließlich muss auch
Postones Unvermeidlichkeit des Antisemitismus und der Einmaligkeit des
Judentums als Personifikation verkürzter Kapitalismuskritik bezweifelt werden.
Schon der italienische Faschismus zeigt, dass dort der Antisemitismus keine
zentrale Rolle gespielt hat (ohne die Verfolgung von Juden und Jüdinnen als
Pflichterfüllung gegenüber dem deutschen Bündnispartner dort kleinzureden).
Offenbar ist das Element der Niederschlagung der revolutionären
ArbeiterInnenbewegung der roten Jahre viel wesentlicher gewesen, aus denen der
italienische Faschismus viel unmittelbarer hervorgegangen ist als der deutsche
Faschismus (der zehn Jahre nach der letzten ernsthaften revolutionären
Herausforderung an die Macht kam). Andererseits fehlt bei Postone ja auch das
Element der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus: Für den
italienischen Faschismus stand die Eroberung von Kolonien und der damit
verbundene Rassismus viel mehr im Zentrum der Ideologie als der Antisemitismus.
Die Hauptfunktionen des Faschismus bleiben, dass er unter Umständen für das Kapital
eine notwendige Waffe zur Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung ist sowie zur
nationalistisch-rassistischen Mobilisierung gegen „äußere FeindInnen“. Ob dabei
der Antisemitismus oder eine andere Form des Rassismus zur Machteroberung und
-erhaltung notwendig sind, hängt von den Umständen ab. Die von Postone
beschriebene Fetischform kann bestimmte pseudo-antikapitalistische Züge des
eliminatorischen Antisemitismus erklären. Eine allgemeine Theorie des
Zusammenhangs von Antisemitismus und Faschismus wird damit aber nicht
geliefert.

Die Ausläufer der Fetisch-Theorie sind in der deutschen Linken (nicht nur den „wertkritischen“ Anti-Deutschen) weithin bemerkbar. Exemplarisch sei hier die Jugendorganisation der Partei DIE LINKE angeführt. „[‘solid]“ hat in einer Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ auf ihrem Bundeskongress 2015 folgende „Definition“ des Antisemitismus niedergelegt: „Ein kritisches Verständnis von Antisemitismus geht in seiner Analyse nicht vom Objekt, sondern von der_dem Antisemit_in aus, welche_r die abstrakten Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft auf das Judentum projiziert. Antisemitismus richtet sich gegen ein überlegen und kontrollierend imaginiertes ‚jüdisches Prinzip‘, das die Ursache allen Übels darstellt. In der postnazistischen Gesellschaft tritt Antisemitismus häufig nicht mehr offen in der Verurteilung von Jüd_innen auf, dennoch ist er als Denkstruktur weiter vorhanden.“  (66)

Hier wird die
Fetisch-Theorie (Personalisierung der abstrakten Seite der Wertform)
verabsolutiert – alle Formen des Antisemitismus werden auf ein „Wesen“
zurückgeführt, es gibt keine unterschiedlichen Formen von Antijudaismus und
Antisemitismus, es gibt keine historischen oder gar klassenspezifischen
Bedingungen seiner Entstehung mehr – er wird rein essentialistisch auf den
Fetisch zurückgeführt. Dies führt nicht nur zu einer großen Beliebigkeit und
„Flexibilität“ des Antisemitismus-Vorwurfs – auch solche Phänomene wie der
„Bayern-Hass“ von Nicht-FC-Bayern-Fußballfans in Deutschland kann als „struktureller
Antisemitismus“ analysiert werden (so tatsächlich vom Bundesarbeitskreis [BAK]
Shalom). Es abstrahiert tatsächlich damit auch von den Opfern, da die
Personifizierung des Fetischs ja nicht unbedingt im Judentum erfolgen muss.
Dieser verkürzte Antisemitismusbegriff ist dazu geeignet, selbst in projektiver
Regression die Welt in Gut/Böse nach dem Prinzip der Entlarvung von
strukturellem Antisemitismus zu teilen und alle Schuldgefühle über einmal
selbst vertretene allzu „personalisierte Kapitalismuskritik“ auf politische
GegnerInnen zu projizieren.

Bezeichnend an
der Definition von „[‘solid]“ an der oben zitierten Stelle ist auch, dass
gleich im nächsten Satz folgt, dass sich der zeitgenössische Antisemitismus vor
allem in der diffamierenden Kritik an Israel äußere – eine Behauptung, die nur
sehr schwer aus dem zuvor definierten Fetisch-Begriff ableiten lässt. Oder kann
jemand darlegen, wie sich in der Wirkungsweise der Waffen der IDF ein „abstrakt
jüdisches Prinzip“ äußern sollte? Der Schluss ist nur logisch, wenn „das
Judentum“ mit Israel identifiziert wird – eine Identifikation, die gewöhnlich
den AntisemitInnen vorgeworfen wird. Deutlich wird daran, dass es wenig um die
tatsächlich z. B. in Deutschland real lebenden Juden und Jüdinnen oder das
reale Israel und seine konkrete Politik geht – dass – wie Moshe Zuckermann (67)
richtig bemerkt – Judentum und Israel hier vor allem Projektionsflächen dieser
angeblichen Anti-AntisemitInnen sind, die zur Denunzierung von
AntikapitalistInnen und AntiimperialistInnen dienen. Gerade für reformistische
Jugendorganisationen hat sich diese Form der „Kritik von Kapitalismuskritik“
und angeblichem Anti-Antisemitismus als sehr wirkungsvoll erwiesen, um jegliche
Linksabweichung und jeden Antiimperialismus moralisch zu verwerfen.

5 Antisemitismus und Rassismus

Mit der Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft insbesondere im Kolonialismus wurde es ideologisch
fragwürdig, Menschen anderer Herkunft und Kulturen aufgrund religiöser
Begründungen zu diskriminieren, zu unterjochen oder zu verfolgen. Ähnlich wie
bei den Unterschieden der Geschlechter nicht mehr auf gottgegebene Hierarchien
verwiesen werden konnte, wurde nun auch bei ethnischen „Bewertungen“ nach
Rechtfertigungen in der Biologie gesucht. Im 18. Jahrhundert wurde noch nach
sehr oberflächlichen äußeren Kriterien (Hautfarbe, Gesichtsformen, …) in
„schwarze“, „weiße“ und „gelbe“ Rassen unterschieden. Teilweise wurden noch
biblische Mythen herangezogen: So solle sich ja die Menschheit nach Noahs
Söhnen in die SemitInnen (Kinder des Sem), HamitInnen (AfrikanerInnen) und
JaphetitInnen (mehr oder weniger alle übrigen) geteilt haben. Während diverse
„hamitische“ Rassentheorien inzwischen längst das Zeitliche gesegnet haben,
überlebten die „semitischen Rassen“ ziemlich lange (heute jedenfalls noch im
Begriff des „Antisemitismus“; Bemerkung: Die Argumentation, die AraberInnen
seien doch auch SemitInnen, bringt nicht viel, weil dies natürlich bereits eine
Rassentheorie voraussetzt).

5.1 Der biologistische
Rassenbegriff

Mit der Entwicklung
biologischer Theorien der Arten, spätestens mit Linné, setzte auch die
Biologisierung des Rassenbegriffs ein. Nachdem die Sklaverei und die
millionenfache Entmenschlichung schwarzer Menschen offensichtlich der
Rechtfertigung durch „christliche“ oder moralisch höherwertige „Herrenmenschen“
bedurften, war es naheliegend, dass sich Theorien der „minderwertig“
entwickelten Rassen durchsetzten – dies noch verstärkt durch die Fortschritte
im tierischen Zuchtwesen und den biologischen Vererbungslehren. Mit den
Erfolgen der europäischen Kolonialreiche entstand in den herrschenden Klassen
die Überzeugung, dass die „weiße Rasse“ zur Dominanz über alle anderen bestimmt
sei und alle anderen Rassen untergeordnet oder möglicherweise zum Verschwinden
bestimmt seien.

Um diese Mentalität mit einem Schlaglicht zu beleuchten, sei hier ein Zitat von einem eigentlich „fortschrittlichen“ britischen Autor angeführt, Herbert George Wells (Autor berühmter Bücher wie „Zeitmaschine“, „Krieg der Welten“), der Mitglied der Labour-Party war, sich als Sozialist sah und sogar der Russischen Revolution mit Sympathie gegenüberstand. Trotzdem lesen wir in seiner Schrift „Anticipations“ (1902) über seine Vision einer zukünftigen Welt („Zukunftsrepublik“): „Und wie wird die neue Republik die minderwertigen Rassen behandeln? Wie wird sie mit den Schwarzen umgehen?… Mit dem gelben Manne?… Mit dem Juden? Mit jenen Horden schwarzer, brauner, schmutzigweißer und gelber Menschen, die der neuen Notwendigkeit der Effizienz nicht Rechnung tragen? Nun, die Welt ist eine Welt und keine karitative Einrichtung, und ich gehe davon aus, dass sie verschwinden werden… Und die Methode, deren sich die Natur bisher bei der Gestaltung der Welt bedient hat, so dass Schwäche daran gehindert wurde, wieder Schwäche hervorzubringen … ist der Tod…. Wenn die Minderwertigkeit einer Rasse demonstriert werden kann, dann gibt es nur eines … zu tun – und das ist, sie auszurotten“ (68).

H. G. Wells ging davon aus,
dass sich die Menschheit, um zu überleben, genetisch dem technischen
Fortschritt anpassen müsse und dass daher die „minderwertigen Rassen“ wegen
ihrer geringeren Rationalität die Existenz der Menschheit gefährden würden:
Sozialdarwinismus mit „humanistischer“ Begründung! Tatsächlich finden sich in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viel schlimmere Schriften über die
Notwendigkeit der „Rassenauslese“. Politisch einflussreich geworden ist davon
vor allem Gobineaus Buch „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“
(69), das vor allem in der Mischung von Rassen die Ursache für den Niedergang
bestimmter Völker oder Reiche sah. Houston Stewart Chamberlains „Werk“ über die
Notwendigkeit der „Reinerhaltung der arischen Rasse“ und ihren notwendigen
Kampf um die Weltherrschaft gegen „das Judentum“ ist stark von Gobineau
beeinflusst und wurde zur Grundlage der „Rassentheorie“ im Entstehungsumfeld
des Nationalsozialismus (besonders in „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“)
(70). Direkt an Chamberlain schließt Hitlers „Chefideologe“ Alfred Rosenberg
an, der im „Mythos des 20. Jahrhunderts“ (71) alle bekannten Mythen über „die
Juden/Jüdinnen“ und ihre „Weltverschwörung“ (in die er insbesondere die
Russische Revolution als wesentlichen Erfolg des „Weltjudentums“ einbezieht)
mit den Theorien des Rassenkriegs von Gobineau und Chamberlain zusammenfasst.
Als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ und Beteiligter an der
Wannseekonferenz war Rosenberg nicht nur Theoretiker, sondern Praktiker der
„Ausrottung minderwertiger Rassen“.

Mit Auschwitz hat der Rassismus
aber lange nicht ausgedient. Auch wenn der Begriff der „Rasse“ danach immer
fragwürdiger wurde, ist die Betonung der „Differenz“ (an welchen Merkmalen auch
immer festgemacht) zwischen „zivilisierten“ Ethnien und den „anderen“ weiterhin
strukturell dieselbe wie damals, als ein H. G.Wells noch wie selbstverständlich
von „minderwertigen Rassen“ sprach.

5.2 Die Rassentheorie ist ohne
naturwissenschaftliche Grundlage!

Inzwischen ist zumindest
naturwissenschaftlich klar, dass der Begriffe der „Rasse“ im humangenetischen
Sinn kein relevantes Konzept darstellt. In der Biologie sieht man biologische
Arten als solche an, deren Mitglieder sich problemlos kreuzen und dies in
„freier Wildbahn“ auch tun. Insofern gibt es natürlich seit Tausenden von
Jahren nur eine noch lebende („rezente“) menschliche Art der Gattung Homo –
also den homo sapiens. Von „Rassen“ spricht die Biologie, wenn sich innerhalb
einer Art Differenzen ergeben, die auf dem Sprung zu einer neuen Art sind. Seit
den großen Fortschritten der Humangenetik weiß man, dass die Menschheit
ungeheuer weit von einer solchen Entwicklung entfernt ist. Wie Richard Dawkins
in seiner Einführung in die Evolutionsbiologie schreibt: „Wenn man
Proteinmoleküle aus dem Blut vergleicht oder die Gene selbst sequenziert, findet
man zwischen zwei beliebigen Menschen, die heute leben, weniger Unterschiede
als zwischen zwei afrikanischen Schimpansen“ (72). Zwischen zwei beliebigen
Menschen findet sich eine genetische Übereinstimmung von etwa 99,5 %. In
dem kleinen Bereich der Differenzen, in denen sich regionale Unterschiede durch
mutierte Gene finden lassen, ergibt sich auch nur eine Varianz von 6–15 %
– viel zu wenig, um im Sinn der Biologie von einer Rasse als Vorstufe zur
Spezies-Differenzierung zu sprechen. Außerdem finden sich die Unterschiede in
unwesentlichen, zufälligen Bereichen, die keine dominante oder rezente Wirkung
entfalten (selbst Theorien davon, welche Hautfarbe letztlich sich bei der
Menschheit durchsetzen würde, sind humangenetisch gesehen fragwürdig). Aufgrund
der für eine Art ungewöhnlich großen Verbreitung der Spezies homo sapiens sind
solche äußerlichen Unterschiede (z. B. in Bezug auf die Hautfarbe aufgrund
der Umweltbedingungen) zu erwarten. Schließlich sind Elemente der kulturellen
Wirkung (Theorie der „sexuellen Selektion“, z. B. aufgrund der
Durchsetzung bestimmter Schönheitsideale) in Bezug auf äußerliche Merkmale
(z. B. Haarfarbe) auch am Werk.

Die überraschende
Einheitlichkeit der Menschheit (z. B. auch im Vergleich zu unseren
nächsten Verwandten, den Schimpansen) lässt sich nach der heute gängigen
Theorie dadurch erklären, dass der homo sapiens vor rund 70.000 Jahren knapp
vor dem Aussterben stand (die genetischen Indizien dafür sind ziemlich
unzweifelhaft, nur für die Erklärung gibt es unterschiedliche Hypothesen,
z. B. Klimaveränderungen durch Vulkanausbrüche). Die Menschheit war auf
circa 15.000 Exemplare in einem eingrenzbaren geographischen Raum
zusammengeschrumpft („Flaschenhals“-Theorie). Eine Entwicklung von genetisch
wesentlich unterschiedlichen Rassen in einer evolutionsbiologisch gesehen
verschwindend kleinen Zeit wie 70.000 Jahren ist völlig ausgeschlossen.
Schließlich führt auch die immer globalere Vermischung der Menschheit dazu,
dass auch für die lange Zeit (anders als in gewissen Science-Fiction-Filmen)
zumindest auf „natürliche“ Weise nicht mit dem Erscheinen von neuen
Mutantenrassen zu rechnen ist.

5.3 Unsinnige Versuche einer
genetischen Begründung des Judentums

Ausgerechnet in Israel ist es
heute üblich geworden, mit Hilfe der Genanalyse „beweisen“ zu wollen, dass alle
Juden und Jüdinnen eine/n „letzte/n gemeinsame/n VorfahrIn“ im heutigen
Israel/Palästina gehabt hätten, also Israel das Land „der VorfahrInnen“, die
„Heimat aller Juden und Jüdinnen“ sei. Die oben besprochene immer ausufernder
werdende Identitätspolitik in Israel hat inzwischen alle möglichen
Wissenschaftsgebiete, vor allem aber Archäologie und Genetik, in Beschlag
genommen, um die „revisionistischen“ LeugnerInnen der „Wahrheit“ der Bibel zu
widerlegen. Für Ausgrabungen um den Tempelberg werden schon mal arabische
Unruhen als Kollateralschaden provoziert, wenn nur kleine Bruchstücke gefunden
werden, die angeblich unwiderleglich beweisen, dass es den ersten oder
Salomonischen Tempel gegeben habe (man erinnere sich an die absurden
Kontroversen um die Frage der Realität Trojas der homerischen Epen in Beziehung
zu den Ausgrabungen Schliemanns).

In eine ähnliche Kerbe schlagen
die „Beweise“ auf Grundlage von Genanalysen, nach denen so gut wie alle heute
lebenden Juden und Jüdinnen aus dem Gebiet von Palästina stammen sollen. Dies
richtet sich vor allem gegen die These von der missionarischen Diaspora vor dem
Bar-Kochba-Aufstand bzw. die These, dass ein großer Teil der Aschkenasim als
osteuropäische Juden und Jüdinnen eigentlich von konvertierten ChasarInnen
abstamme (wie in Fußnoten 11 und 13 erwähnt, bestand im 9./10. Jahrhundert
zwischen Wolga und Kaukasus kurzfristig ein jüdisches Königreich). 2002
veröffentlichte das „American Journal of Human Genetics“ eine Studie (73) der Universität
London, in der aus Vergleichen von heute lebenden aschkenasischen Juden und
Jüdinnen mit Vergleichsgruppen in den entsprechenden Regionen geschlossen
wurde, dass die Aschkenasim zu 90 % aus dem Nahen Osten stammen würden. Es
folgten weitere Studien insbesondere aus Israel, die weiter die Nachricht
verbreiteten, dass die ChasarInnen-Theorie endgültig „naturwissenschaftlich“
widerlegt sei. Dies wird so auch allgemein in der Literatur verbreitet.
Allerdings kam 2013 wiederum eine sehr breit angelegte Studie der „John Hopkins
School of Medicine“ heraus, die genau das Gegenteil „bewies“: dass nämlich die
kaukasischen Genmarker bei den Aschkenasim leicht dominant wären (74). Wie auch
immer der wissenschaftliche Wert dieser sich widersprechenden Studien zu
bewerten ist – sicher ist, dass man äußerst genau hinsehen sollte, was die
Genetik tatsächlich über die „Herkunft“ bestimmter Menschen und Völker aussagen
kann. Auch hier sei wieder auf die sehr eingehende Kritik von
Fehlinterpretationen der Genmarker-Genealogie durch Richard Dawkins hingewiesen
(75):

Ausgangspunkt ist, dass ein Gen
im Unterschied zum Menschen immer nur ein „Eltern“-Gen hat, das zufällig vom
Vater oder der Mutter „kopiert“ wurde. Ausnahmsweise werden Gene des
Y-Chromosoms und solche der Mitochondrien-DNA (mtDNA) nur vom Vater bzw. nur
von der Mutter vererbt. Dabei bleiben bestimmte Gruppen von Allelen gegenüber
sexueller Rekombination so stabil, dass sie als Gruppe über lange Zeit in der
Vererbung zusammenbleiben. So eine Gruppe nennt man einen Haplotyp. Auf dem
Y-Chromosom und der mtDNA hat man nun bestimmte Stellen identifiziert, an denen
sich mithilfe der Haplotypen ein jeweils weit zurück reichender Stammbaum
erkennen lässt (76). D. h. es gibt Verzweigungspunkte, bei denen durch
Mutation sich ein Haptlotyp in zwei oder mehr andere aufgeteilt hat. So hat
sich der im Nahen Osten weit verbreitete J-Typ (Y-Chromosom) etwa vor 20.000
Jahren vom in Europa verbreiteten I-Typ verzweigt. Wichtig ist, dass diese
Haplotypen völlig unwichtig in Bezug auf irgendwelche relevanten menschlichen
Eigenschaften sind – sie sind reine genetische Marker, über die gewisse
Verwandtschaftsbeziehungen ableitbar sind. Tatsächlich ist es so, dass es
messbare unterschiedliche Häufigkeitsverteilungen für sehr großflächige
Regionen gibt – gleichzeitig gibt es überall aber auch eine Durchmischung der
Haplotypen. So ist im Nahen Osten mit fast 50 % der J-Typ zwar dominant,
es gibt aber genauso den I- und R-Typ (die für Europa dominierenden Typen).
Umgekehrt ist in Mittel- und West-Europa der J-Typ auch signifikant
anzutreffen, in Spanien sogar zu 20 %.

Eine genaue Herkunft eines
Menschen wird sich daher aufgrund des Haplotyps kaum beweisen lassen. Es ist
wahrscheinlich, dass man bei einem heute lebenden jüdischen Menschen einen
Haplotyp finden wird, der darauf hindeutet, dass er in den letzten 2.000 bis
10.000 Jahren einen männlichen Vorfahren im Nahen Osten oder im Mittelmeerraum
hatte. Wenn man irgendein anderes Gen als diese Gruppe aus dem Y-Chromosom
nehmen würde, würde man aber sicher auch einen Vorfahren in irgendeiner ganz
anderen Region der Welt finden (mtDNA liefert aufgrund anderer Mutationsraten
sogar nur für viel längere Zeiträume sinnvolle Aussagen über die weiblichen
Vorfahren). Die Aussagekraft solcher Untersuchungen ist also eher sehr
bescheiden. Es lassen sich höchstens grobe Wahrscheinlichkeitsaussagen über
Wanderungsbewegungen von Großgruppen über längere Zeiträume anstellen, sofern
man dies durch andere Belege (z. B. Archäologie) untermauern kann. Das Einzige,
was diese Analysen über die regionalen Verbreitungen von Haplotypen klar zeigt,
ist, dass sich im Raum Europa/Naher Osten/Mittelmeer in den letzten 10.000 bis
2.000 Jahren die Völker in großem Umfang „durchmischt“ haben. Die Vorstellung
von sich klar von anderen abgrenzenden und nicht gemischt haltenden
Familien-/Stammes-Verbänden, die als Einheit an „ihrer“ Scholle hafteten, ist
eine Gobineau‘sche Absurdität, die durch diese Belege endgültig auf den
Misthaufen der ideologischen Geschichtsauffassungen gehört. Insofern setzt der
Versuch israelischer HistorikerInnen/GenetikerInnen, einen für Juden und
Jüdinnen typschen Haplotyp (zumeist J1) als Marker zu verwenden, schon voraus,
was bewiesen werden soll: dass das „jüdische Volk“ seit Tausenden Jahren als
„unvermischte“ und abgeschlossene Einheit bestanden habe und die heutige
Mischung von Haplotypen im Nahen Osten eine Entwicklung erst der letzten 2.000
Jahre sei. Auch die ChasarInnen-Theorie lässt sich so weder beweisen noch
widerlegen: Einerseits finden sich Haplotypen, die im Nahen Osten vertreten
sind, auch im ursprünglichen Siedlungsgebiet der ChasarInnen; andererseits weiß
niemand genau, wer die heutigen Nachkommen der ChasarInnen genau sind, mit
denen verglichen werden sollte (und z. B. im Kaukasus ist der Haplotyp J
auch stark verbreitet).

Wenn daher Firmen wie iGENA
heute Gentests für den Beweis jüdischer Abstammung um 99 Euro anbieten, so kann
man das nur unter Geschäft mit der Dummheit abbuchen. Angesichts der Geschichte
des Rassismus gegenüber Juden und Jüdinnen ist es allerdings makaber, wenn sich
heute israelische Institutionen ernsthaft damit beschäftigen, gentechnische
Beweise für die Herkunft aller Juden und Jüdinnen aus dem „Heiligen Land“ zu
finden – und wohl am liebsten noch den Haplotyp finden würden, der Juden und
Jüdinnen von den PalästinenserInnen unterscheidet (was, wie oben dargestellt
wurde, so gut wie unmöglich ist). David Ben Gurion, der erste israelische
Ministerpräsident, vertrat noch in den 1920er Jahren die These, dass ein Großteil
der damals in Palästina lebenden AraberInnen wohl von den Juden und Jüdinnen
abstamme, die nach der Zerstörung des Tempels im Land geblieben sind (77).
Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit, gemeinsame Vorfahren von Juden und
Jüdinnen und PalästinenserInnen in dem einzig belegten jüdischen Gemeinwesen um
die Zeitenwende zu finden, sehr viel größer als für alle möglichen anderen
Völker. Mithilfe der Genetik wird sich jedenfalls keine Begründung für
Rassismus zwischen den Völkern finden lassen.

5.4 Der Rassismusbegriff nach
dem Ende des Rasse-Biologismus

Der Begriff der „Rasse“ ist
also nicht nur diskreditiert, sondern auch wissenschaftlich wertlos (was nicht
heißt, dass dieser Begriff nicht weiterhin pseudo-wissenschaftliche fröhliche
Urstände feiert). Dagegen ist der Begriff des „Rassismus“ weiterhin vollauf
berechtigt. Denn auch wenn dem Rassismus seine pseudo-wissenschaftliche
Begründung, ja sogar sein zentraler Kampfbegriff abhandengekommen ist, bleibt
das soziale Verhalten gegenüber ausgegrenzten Ethnien dasselbe. Wenn man nicht
mehr genetische Abstammung für die „Minderwertigkeit“ verantwortlich machen
kann, dann sind es eben die „fremde Kultur“, „Mentalität“, „Geschichte“ etc.
Der zeitgenössische „Rassismus“ ist einer der „kulturellen Differenz“. Zwangsläufig
wird mit dem Verlust des zentralen Begründungszusammenhangs der „Rasse“ und
angesichts der Vielfalt an „fremden“ Kulturen (auch aufgrund der globalen
Mobilität), die jetzt dem Rassismus anheimfallen, das Phänomen immer
zersplitterter. Deswegen gibt es eine Diskussion darüber, ob man nicht
eigentlich von „Rassismen“ statt einem „Rassismus“ sprechen könne oder ob
angesichts dessen der Begriff überhaupt noch sinnvoll sei. Tatsächlich wirkt
aber noch der alte Mechanismus: Immer noch werden bestimmte fremdartige,
„rückständige“ Merkmale („Muslime folgen doch einer mittelalterlichen Religion,
behandeln ihre Frauen schlecht, sind antisemitisch, sind grausam,…“) aufgrund
einer als nahezu unveränderlich angesehen „Kultur“ festgeschrieben und dadurch
naturalisiert und so eigentlich auch wieder pseudo-biologisch als vererbt
betrachtet.

5.4.1 Der postkoloniale Diskurs

Besonders die „cultural
studies“ und die „postkoloniale Theorie“ haben auf das Weiterbestehen des
Rasse-Diskurses, auch nach der Widerlegung eines naturwissenschaftlichen
Begründungszusammenhangs des Rasse-Begriffs, hingewiesen. Genannt sei hier vor
allem der aus Jamaika stammende schwarze Kulturphilosoph Stuart Hall, der für
beide Theoriestränge eine zentrale Person ist. Eine zusammenfassende
Darstellung seiner Rassismus-Theorie hat er in der Harvard-Vorlesungsreihe „Das
verhängnisvolle Dreieck: Rasse, Ethnie, Nation“ (78) publiziert.

Stuart Hall gehörte mit Eric
Hobsbawm (79) zu den dominierenden Publizisten des britischen Eurokommunismus,
besonders durch beider Beiträge in „Marxism Today“ Ende der 1970er Jahre bis
1991, das auch starken Einfluss auf die Debatten in der Labour-Party hatte.
Entwickelt wurde dort die auch auf dem Kontinent verbreitete Revision des
Marxismus, die die „Klassenpolitik“ im Wesentlichen durch eine an Gramsci
orientierte Hegemonie-Kritik ersetzte, heute vertreten im Ansatz der
„Netzwerklinken“. Hall und Hobsbawm gingen von einer radikalen Veränderung des
Kapitalismus hin zum „Post-Fordismus“ aus, durch den sich die klassischen
Großkonflikte des Klassenkampfes in eine Vielzahl von fraktalen
Auseinandersetzungen aufgelöst hätten, in denen sich Grundwidersprüche des
Kapitalismus widerspiegelten. Ähnlich wie beim strukturalistischen „Marxismus“
von Althusser sahen sie die „Identitäten“ der dabei um Hegemonie kämpfenden
Milieus nur „im Letzten“ durch die ökonomische Basis determiniert. Stuart Hall
blieb jedoch trotz seines Abgleitens in die Diskurs-Theorien von Foucault und
Laclau (80) bei der Betonung des Klassencharakters solcher Identitätsbegriffe
wie „Nation“ (im Unterschied zu Laclau betrachtet Hall diesen Begriff nicht
„neutral“, d. h. von links und rechts besetzbar) (81).

Auch wenn wir also den
Ausgangspunkt von Stuart Hall nicht teilen (die Kritik an den eurokommunistischen
und an Gramsci orientierten Revisionen des Marxismus haben wir andernorts (82)
ausführlich dargestellt), so sind Halls Beiträge zum Thema Rassismus doch
wichtige Angelpunkte der zeitgenössischen Debatte zu diesem Thema. Schon Anfang
der 1970er Jahre hatte Hall mit anderen Autoren des „New Left Review“ das
einflussreiche Buch „Policing the Crisis“ über die neue Bedeutung des Rassismus
für die Popularisierung des Neoliberalismus geschrieben (83). Darin führte er
aus, wie Panikmache um die „wachsende Kriminalität“ von angeblichen „schwarzen
Jugendbanden“ zu einem Aufschaukeln von Boulevardpresse und populistischer
Law-and-Order-Politik dienten. Hall lehnte dabei jedoch den einfachen
verschwörungstheoretischen Ansatz einer gezielten Kampagne oder eines Kurzschlusses
von „Geldmacht und Presse“ ab. Er betonte stattdessen, dass sich bei diesen
Pressekampagnen tiefere gesellschaftliche Strukturen zeigten, die einen
rassistischen „Common Sense“ darstellten, einen ritualisierten Diskurs, der
wesentlich sei für die Identitätsversicherung der „Mehrheitsgesellschaft“,
gerade in Zeiten der Krisenhaftigkeit dieser Identität. Die Abgrenzung
gegenüber den „gefährlichen Schwarzen“ diene zur Versicherung des angeblich
gemeinsamen „Common Sense“ der weißen BritInnen und zur Abwehr einer möglichen
alternativen Klassensolidarität unter den Unterklassen, die diesen gemeinsamen
britischen „Common Sense“ im Interesse der neoliberalen Krisenpolitik hätte
gefährden können. Umgekehrt seien damit schwarze Jugendliche in die Rolle einer
radikalen Ersatz-Avantgarde gebracht worden, die ihrem politischen Bewusstsein
kaum entsprach. Im Ergebnis habe sich möglicher Klassenkampf in die
ritualisierte Konfrontation der Mehrheits-„Kultur“ mit verschiedenen sich
abspaltenden mehr oder weniger widerständigen „Sub-Kulturen“ gewandelt.

Diese Bedeutung einer neuen
gesellschaftlichen Konstellation von „Rassenkonflikten“ entwickelt Hall auch in
seinem Harvard-Vortrag weiter. Hall geht davon aus, dass der Begriff „Rasse“
zwar diskreditiert sein möge, aber die dahinter stehende Kategorienbildungen –
„die Schwarzen“, „die MuslimInnen“, „die Juden und Jüdinnen“,… weiterhin in
allen möglichen politischen Diskursen aktiv sind oder sich immer wieder
regenerieren. Auch wenn es nicht mehr „politisch korrekt“ ist, unmittelbar von
körperlichen Eigenschaften wie Hautfarbe, Haarformen, Nasenformen usw. auf
kulturelle, moralische, intellektuelle etc. Verhaltensweisen zu schließen,
würde diese „Colour Line“ virtuell durchaus weiterbestehen (der Begriff der
„Colour Line“ (84) wurde von dem afro-amerikanischen Soziologen William Edward
Burghardt (W. E. B.) Du Bois um 1900 geprägt, um die Hierarchisierung der
US-Gesellschaft nach bestimmten ethnischen und rassistischen Kriterien zu
beschreiben). Hinter den „kulturellen Differenzen“ scheine weiterhin die
„biologische Spur“ durch. Hall spricht von Äquivalenzketten (85), die letztlich
die äußerlichen Merkmale mit der vermuteten Tiefenstruktur verbänden. Diese
Tiefenstruktur zeige sich in der weiterbestehenden fundamentalen Annahme
substantieller, „essentieller“, nicht-auflösbarer Unterschiede zwischen
Menschenkategorien, eben dem verhängnisvollen Gespann von „Rasse, Ethnie,
Nation“.

Er verweist hier auf die ersten
Diskurse zum Rassebegriff zu Beginn der euro-imperialistischen Expansion, als
TheologInnen angesichts der „UreinwohnerInnen“ in den neu entdeckten Gebieten
diskutierten, ob es sich um Menschen, Ergebnisse einer untergeordneten
Schöpfung etc. handele. Die Aufklärung, mit der Ablösung religiöser
Begründungen der essentiellen Differenz, habe dann dieses selbe Bedürfnis durch
den „wissenschaftlichen“ Begriff der Rasse ersetzt. Hall charakterisiert diesen
Zug der „Aufklärung“ zu Recht mit folgender Episode: Als die RevolutionärInnen
der Sklavenrepublik Haiti gegenüber der Französischen Republik für sich die
Erklärung der Menschenrechte einforderten, reagierte die Nationalversammlung
aus Paris mit der Bemerkung, dass diese Erklärung leider nur für „zivilisierte
Völker“ gelte. Dies trifft den Kern des arroganten Universalismus-Anspruches
der „westlichen Werte“, der allgemein und über alle Kulturen gestülpten
Menschheitsprinzipien, dass nämlich mit „Menschen“ nur die Menschen im globalen
„Westen“ gemeint sind. Der Kern des Rasse-Diskurses ist tatsächlich weiterhin
die Aufrechterhaltung einer globalen Hierarchie von „zivilisiert“ bis
„barbarisch“, die man entlang der virtuellen Colour Line je nach Bedarf
verschiedenen nicht-westlichen Erscheinungen anheften kann.

Für Hall haben die Diskurse zu
Rasse, Ethnie und Nation eine für die Bildung politischer Subjekte
entscheidende Funktion in der Schaffung von „Identität“. Die essentialistische
Unterscheidung von den „nicht-westlichen“, mehr oder weniger
„nicht-zivilisierten Anderen“ ist zentral für die eigene Selbstvergewisserung.
Gerade durch die Wackeligkeit dieser „Identität“ angesichts von sozialen und
kulturellen Veränderungen im Inneren (nicht bloß durch Migrationsbewegungen)
wird diese „Ich-Schwäche“ projiziert auf RepräsentantInnen des „Anderen“.
Dieses „System der Repräsentation produziert die unfreien, infantilen,
bösartigen, barbarischen, primitiven und hinterhältigen rassistischen
Narrative“ (86), die gleichzeitig Projektionen eigener Ängste und Wünsche sind.
Nicht verwunderlich spiegelt sich dieses Repräsentationssystem in der Identitätspolitik
der von Rassismus Betroffenen. Hall bezieht sich speziell auf die verschiedenen
Theorien und Bewegungen von Schwarzen in den USA und der Karibik, von
Pan-Afrikanismus bis zu „Nation of Islam“. Letztlich wird der „rassistische
Blick“ der Weißen gespiegelt, die essentialistische Zuschreibung der Andersheit
akzeptiert und bloß um 180 Grad umgewertet. Hall akzeptiert durchaus, dass
diese Identitätspolitik von Unterdrückten etwas anderes ist als die der
UnterdrückerInnen. Sie ist Ausdruck des Widerstands, der Vereinigung gegen die
UnterdrückerInnen und der Schaffung eines Raumes für die tatsächliche,
eigenständige Differenzierung und Entwicklung. Andererseits ist klar, dass in
dieser Form der Identitätspolitik die Verfestigung rassistischer Diskurse und
die Ablenkung von dem eigentlichen Ziel der Befreiung angelegt sind.

5.4.2 Rasse-Diskurs und
Antijudaismus

Hall hat sicherlich Recht, wenn
er das „ursprünglich Andere“ des Europäertums vor Beginn der kolonialen
Expansion, gleichermaßen in der Abgrenzung von Judentum und von Muslimen,
bestimmt. Sowohl die „islamische Gefahr“ als auch die systematisch erzeugte
Ausgrenzung der jüdischen „Nachbarn“ waren Kernelemente der Konstruktion einer
„europäischen Identität“. Antijudaismus wie auch MuslimInnen-Hass sind die
Urfiguren des europäischen Rasse-Diskurses, nach deren Muster die Abgrenzung
zum „Barbarentum“ im Kolonialismus umso leichter funktionieren konnte. Es ist
daher auch kein Wunder, dass sich der Antisemitismus mit dem Aufkommen des
„aufgeklärten“ Rassismus in die anderen Rasse-Ideologien bruchlos einreihen
konnte. Die in Teilen der deutschen Linken gängige Differenzierung des
Antisemitismus vom Rassismus gegen Schwarze hat hierbei auch einen gefährlichen
Aspekt: Das Argument, „gewöhnlicher Rassismus“ richte sich besonders gegen
unterdrückte Bevölkerungsgruppen, während den Juden und Jüdinnen die „heimliche
Weltherrschaft“ unterstellt würde, verkennt das viel wesentlichere Band des
Rassismus – die angebliche Bedrohung der „überlegenen europäischen Zivilisation“
durch Fremde, Nicht-WestlerInnen. Opfer der Shoa wurden in überwiegender Zahl
osteuropäische Juden und Jüdinnen, die in keiner Weise das Sinnbild des
Kapitalfetischs nach Postone darstellten, sondern vor allem ProletarierInnen
und Pauper waren. Die Nazis und ihre Vernichtungsmaschinerie präsentierten sich
über allem als „Retter vor dem osteuropäischen Untermenschentum“, das sie immer
wieder in diffamierend gedachten Bildern der Ostjuden und -jüdinnen
präsentierten. Dabei konnten sie sich auch des verbreiteten Antisemitismus in
Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine bedienen. Man muss die Shoa auch
als eines der letzten westlichen Kolonialismusprojekte zur „Europäisierung“ von
Osteuropa begreifen, wenn man die „Rationalität“ der industriellen
Massenvernichtung verstehen will. Postone oder Adorno konnten dagegen nur die
Mobilisierungsbedeutung des eliminatorischen Antisemitismus erklären. Als
industrielle Massenvernichtung ist die Shoa zwar singulär in der Geschichte –
nicht jedoch in Bezug auf die Fortsetzung der Barbarei der (west-)europäischen
Kolonialisierungsgeschichte, die viele solcher Episoden von rassistischen
Verbrechen kennt (vor allem die Verschleppung und Versklavung von Millionen von
AfrikanerInnen).

5.4.3 Jüdische Identität im Verhältnis
zu Rasse, Ethnie und Nation

Etwa 30 Jahre vor Halls Vortrag hatte Isaac Deutscher 1966 in der Londoner „Jewish Chronicle“ die Aufgabe gestellt bekommen, „jüdische Identität“ zu definieren und seine Antwort mit vielen autobiografischen Elementen veranschaulicht (87). Deutscher hatte im damals russischen Teil Polens vor dem Ersten Weltkrieg selbst eine orthodox-jüdische Erziehung bekommen, mit der er in Richtung Marxismus und jüdisch-russischer ArbeiterInnenbewegung gebrochen hatte. Damals berichtet er, hätten er oder seine FreundInnen sich kaum genötigt gefühlt, ihre „jüdische Identität“ zu bestimmen. Ihre Identität ging ganz in einer ArbeiterInnenbewegung auf, die zwar stark jüdisch geprägt war, aber sich kaum vor allem als „jüdisch“ definierte. Trotzdem habe sie eine Blüte jiddischer Literatur, eigene Intellektuelle, ein reges Versammlungs- und Kulturwesen, kurz eine starke Identität entwickelt. Zionismus und chassidische Orthodoxie waren gerade im Gegensatz zu dieser starken, sich vom traditionellen Judentum lösenden Diaspora-Kultur entstanden. Nachdem sich die Perspektive, in der ArbeiterInnenbewegung letztlich auch den Antisemitismus überwinden zu können, durch den Triumph der Nazis nicht erfüllt hatte und die osteuropäische Diaspora gründlich zerstört worden war, erst da haben sich die Verhältnisse völlig umgekehrt. „Und jetzt sollen wir die Vorstellung akzeptieren, dass ausgerechnet rassische Merkmale oder ‚Blutbande‘ die jüdische Gemeinschaft ausmachen? Wäre nicht genau das ein weiterer Triumph für Hitler und seine verkommene Philosophie? Wenn nicht die Rasse, was macht einen Juden aus? Religion? Ich bin Atheist. Jüdischer Nationalismus? Ich bin Internationalist. Nach keiner dieser Bedeutungen bin ich daher Jude. Wohl aber bin ich Jude kraft meiner unbedingten Solidarität mit den Verfolgten und Ausgerotteten. Ich bin Jude, weil ich die jüdische Tragödie als meine eigene empfinde; weil ich den Pulsschlag der jüdischen Geschichte spüre; weil ich mit allen Kräften dazu beitragen möchte, etwas für die wirkliche und nicht die trügerische Sicherheit und Selbstachtung der Juden zu tun“ (88).

Von einer „allumfassenden
jüdischen Identität“ zu sprechen, hielt Deutscher also zu Recht für unsinnig.
In den verschiedenen Diasporaländern und Regionen haben Juden und Jüdinnen ganz
unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen gesammelt, aber sich auch ganz
unterschiedlich in die jeweiligen Gesellschaften eingebracht. Dabei hat sich
eine Vielzahl verschiedener Identitäten entwickelt. Der Anspruch des Zionismus,
im angeblich nicht überwindbaren Antisemitismus die bestimmende Klammer für die
Juden und Jüdinnen zu sehen, ist dagegen nur eine negative
Identitätsbestimmung, die allein nicht trägt. Wie schon zuvor ausgeführt,
musste sich die zionistische Ideologie in Israel letztlich zu einem
Ethno-Nationalismus wandeln, also reaktionäre Identitätspolitik werden. Die
nationalistische Rechte in Israel hat nunmehr die „jüdische Identität“ ins
Zentrum der Verfassung gesetzt, und eines der zentralen Wahlkampfthemen der
Rechten ist jeweils die Angstmache vor der „demographischen Bombe“, der
angeblichen Gefahr, dass durch „die Fruchtbarkeit der AraberInnen“ (ein
klassisches rassistisches Motiv gegenüber Subalternen) die „jüdische Identität“
Israels in Gefahr sei, wenn das Land aus mehr als 20 % AraberInnen
bestünde (89).

Schon Deutscher hatte den Alleinvertretungsanspruch Israels und des Zionismus für „das jüdische Volk“ als nationalistische Vereinnahmung zurückgewiesen. Ebenso warnte er vor der neuerlichen „aufklärerischen“ Illusion in die „westlichen Demokratien“ – nicht unwesentlich angesichts des Fetischs von der „einzigen westlichen Demokratie in der Region“. Schon die jüdische Aufklärung hatte „zum Tanz um die Vernunft“ angesetzt und auf die Überwindung der alten Barbarei durch Toleranz und Aufklärung gehofft: „Aber gerade die Göttin der Vernunft hat sie im Stich gelassen, war sie doch eine höchst bürgerliche Gottheit, die Schutzheilige einer Gesellschaft, die vor lauter Geldmachen (keine ausschließlich jüdische Beschäftigung!) nicht dazu kam, ihre eigene Barbarei zu verdauen. Eine Gesellschaft also, die in jedem Augenblick akuter Gefährdung Rassismus und Nationalismus aufstachelt, die Xenophobie, den Hass auf den anderen und die Furcht vor den Fremden. Und wer ist so fremd wie der Jude?“ (90).

Die Juden und Jüdinnen in der
Diaspora und in Israel sind inzwischen im „globalen Westen“ angekommen und
scheinen auf der „sicheren Seite“ zu sein. Sie sind sozusagen die „Colour Line“
aufwärts geglitten, nachdem sie sich z. B. noch bis in die 1960er Jahre in
den USA laut Deutscher als die „weißen NegerInnen“ fühlen mussten. Die große
Migrationswelle aus Osteuropa in die USA hatte jüdische MigrantInnen und
Schwarze in die typische Konkurrenz subalterner Ethnien gebracht und speziell
nach dem Aufstieg vieler US-Juden und -Jüdinnen in die Mittelschichten eine
Tendenz zum Antijudaismus in breiten Teilen der schwarzen Bevölkerung in den
USA hervorgebracht. Israel gilt in fast allen Halbkolonien und bei vielen
rassistisch Unterdrückten, z. B. den Schwarzen in den USA, als Sinnbild
des Fortbestands der neokolonialen Ordnung unter US-Hegemonie. Die Juden und
Jüdinnen können jederzeit wieder zum Sündenbock für einen krisenhaften
Kapitalismus und seine verheerenden Auswirkungen in den Halbkolonien gemacht
werden. Insofern bleibt die erlangte „Sicherheit“ für die Juden und Jüdinnen
ein Trugbild, solange Kapitalismus und Imperialismus bestehen.

Andererseits lässt sich derzeit
auch der „Antisemitismus“-Vorwurf zum Kampfbegriff des westlichen Rasse-Diskurses
missbrauchen. Der in vielen antikolonialen und anti-rassistischen Bewegungen
übliche Protest gegen die israelische Politik wird durch Vorwürfe des
Antisemitismus und der Terroristenunterstützung als „rückständig“ und
„barbarisch“ verunglimpft. Wieder einmal ist ein Mittel gefunden, z. B.
MuslimInnen einen geringeren Zivilisationsgrad zuzusprechen, eben da sie
„wesentlich antisemitisch“ seien. In Verkennung der Wirkungen der israelischen
Politik auf Menschen aus Halbkolonien (besonders der muslimischen Welt) wird
deren Antijudaismus umstandslos in eins gesetzt mit dem eliminatorischen
Antisemitismus imperialistischer Länder. Gerade der sogenannte antideutsche
Diskurs entlarvt sich hier deutlich als Produkt postkolonialer Ignoranz, der
sich umstandslos in offen anti-muslimischen Rassismus verwandeln kann. Gerade
die Redeweise von Israel als der „einzigen westlichen Demokratie“ in der Region
macht die postkoloniale Denkweise nur allzu deutlich. So konnte sich Netanjahu
als einer der ersten StaatschefInnen mit dem semifaschistischen brasilianischen
Staatspräsidenten Bolsonaro über die gemeinsame Verteidigung „westlicher Werte“
durch Militäroperationen austauschen, ob nun in den schwarzen Favelas oder in
den eingezäunten besetzten Gebieten des Westjordanlandes.

5.4.4 Positiv-Wendung der
Diaspora

Dagegen ist die Umdeutung des
Diaspora-Begriffs bei Stuart Hall durchaus zukunftsweisend (91). Hall verweist
darauf, dass die um ihr Selbstbewusstsein ringende Bewegung der Schwarzen in
den USA diesen ursprünglich jüdischen Begriff sehr früh übernommen habe. Als
sich diese Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu organisieren
begann, hatte man durchaus ähnliche Vorstellungen wie der Zionismus: Die aus
Afrika Vertriebenen, in der schwarzen Diaspora Lebenden, entwickelten Ideen
einer Rückkehr in ein vom Kolonialismus befreites Afrika. Der „Panafrikanismus“
war eine stark von AfroamerikanerInnen wie Marcus Mosiah Garvey geprägte Idee,
die in der Phase der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in Afrika stark
an Einfluss gewann. Allerdings wurde schnell klar, dass sich die Schwarzen in
den USA weit von den sozialen und kulturellen Entwicklungen in Afrika entfernt
hatten. Die schwarze Bewegung in den USA veränderte sich daher konsequent zu
einer auf Nordamerika konzentrierten anti-rassistischen Bewegung bzw. einem
schwarzen Nationalismus in der Black Power-Bewegung.

Hall sieht die Entwicklung des
modernen Kapitalismus, die nicht erst mit der Globalisierung zur Erosion
nationaler und ethnischer Grenzziehungen geführt hat, allgemein durch eine
immer mehr um sich greifende „Diasporaisierung“ (92) der Gesellschaften
geprägt. Statt sich illusorischen oder in ihren Auswirkungen gefährlichen
„Rückkehrprojekten“ zu verschreiben, sollte die synkretistische, unzählige Kulturen
verbindende Netzwerkgesellschaft aus Diasporagemeinden vielmehr als Chance
einer Überwindung der alten, auf Differenzen beharrenden und Identitäten
aufzwingenden Formationen wie Rasse, Ethnie und Nation gesehen werden.
Letztlich verbleibt der im Westen vorherrschende Begriff der „notwendigen
Integration in die Mehrheitsgesellschaft“ beim Mythos der vereinheitlichten und
„zivilisierten“ europäischen Rasse stehen und verlangt nicht mehr und nicht
weniger als die assimilierende Anpassung an den Westen und seine angeblich
„universellen Werte“. So sah auch Deutscher die besondere Rolle der jüdischen
Diaspora, als zwischen/über den europäischen Kulturen und Nationen stehend,
sich sowohl außerhalb als auch innerhalb derer entwickelnd, diese befruchtend
wie auch umgekehrt von ihnen jeweils geprägt zu werden. Gerade diese
Sonderrolle, diese Position der Beteiligung wie auch der „Außenbetrachtung“
habe solche Persönlichkeiten ermöglicht wie Spinoza, Marx, Heine, Luxemburg,
Trotzki oder Freud (um nur einige zu nennen).

Die Positiv-Wendung des Diaspora-Begriffs, die Anerkennung des Prinzips „Meine Heimat ist, wo ich lebe, wo immer auch meine Vorfahren hergekommen sind“ (93) ist sicherlich eine richtige Entgegnung gegenüber nationalistischen Integrations-/Assimilationsprinzipien einerseits und unzähligen nationalistischen Projekten der Rückkehr in die „alte Heimat“ andererseits. Doch sollte dabei bedacht werden, dass, solange es eine kapitalistische Klassengesellschaft gibt, Unterdrückung nationaler und ethnischer Minderheiten ein eingebauter Automatismus ist. Die mit der Globalisierungsperiode einhergehende reale weitere Diasporaisierung der Weltgesellschaft geht einher mit einer immer wiederkehrenden Auferstehung von nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungen. Hier zeigt sich auch die zentrale Schwäche der Analysen von Stuart Hall: Die Hoffnung auf die Auflösungserscheinungen des „verhängnisvollen Dreiecks“ und die Macht der dezentralen kulturellen Vielfalt erweisen sich angesichts der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Vergesellschaftung als brüchig. Die Krisenhaftigkeit jeglicher kapitalistischen Umwälzung der Gesellschaft führt letztlich auf die barbarischen Elemente von Rasse, Ethnie und Nation zurück. Die Klassensolidarität, die Erfahrung der gemeinsamen Kampfinteressen und die Organisierung von Interesse quer zur nationalistisch/rassistischen Spaltung bleiben weiterhin die wesentlichsten Verteidigungslinien gegenüber den Abgründen der Krisenpolitik. Letztlich bleibt die Klassenfrage durch ihre zentrale Rolle bei der Überwindung von Kapitalismus und Imperialismus grundlegend dafür, dass Rasse und Nation auf der Müllhalde der Geschichte landen können.

5.4.5 Antisemitismus als
Rassismus „sui generis“

Trotz dieser Einordnung des
modernen Antisemitismus in den im westlichen Kolonialismus entstandenen
Rassismus hat der Antisemitismus wesentliche Besonderheiten. Als Urform des
Rassismus, die die Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen seit dem Mittelalter
darstellt, und durch die besondere Sündenbockrolle der Juden und Jüdinnen für
die hässlichsten Auswirkungen von Kapitalismus und Moderne wurde der
Antisemitismus zu einem Rassismus „sui generis“ (ein Rassismus der besonderen
Art). Er ist auch deswegen eine besondere Form des Rassismus, weil er in Europa
sehr viel weitergehende eliminatorische Folgen hatte, die zu einem historisch
singulären Vernichtungsprozess führten (94). Die im Antisemitismus geweckten
zerstörerischen Kräfte gehen auch über die Pogrom-Bewegungen, die wir für die
frühe Neuzeit analysiert haben, weit hinaus. Dieser besondere Prozess in der
kapitalistischen Entwicklung besonders in Deutschland muss im Folgenden
nachgezeichnet werden.

6 Judentum, Kapitalismus und
ArbeiterInnenbewegung

6.1 Judentum und die
Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland

Bis in die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts schien sich die Geschichte des Judentums in Europa allgemein
zum Besseren zu wenden. Die schon besprochene „Judenemanzipation“ seit Ende des
18. Jahrhunderts erlaubte zumindest dem wohlhabenden Teil der jüdischen
Bevölkerung einen raschen Aufstieg. Während ehemalige jüdische
LumpensammlerInnen die Gunst der Stunde nutzten und zu großen
TextilunternehmerInnen wurden, stiegen die alteingesessenen
ZunfthandwerkerInnen in den Textilgewerben rasch ab und mussten nun z. B.
für „den/die Juden/Jüdin“ arbeiten. Damit war natürlich eine neue Quelle des
pseudo-antikapitalistischen Antisemitismus geschaffen. 1819 kam es
deutschlandweit zu den sogenannten Hep-Hep-Unruhen, in denen jüdische Geschäfte
und Unternehmen überfallen und geplündert wurden (95). Neben HandwerkerInnen
wurde der Mob vor allem von StudentInnen gebildet (letztere blieben in Form der
Burschenschaften danach auch weiterhin eine hartnäckige Brutstätte des
Antisemitismus). Diese Bewegung wurde letztlich durch die Metternich-Polizei
unterdrückt und schien für lange Zeit eine Episode im unaufhaltsamen Aufstieg
der bürgerlichen Juden und Jüdinnen zu sein. Für den Rest der kleinbürgerlichen
und proletarischen Juden und Jüdinnen blieben bis nach 1848 viele der ausgrenzenden
Bestimmungen und antisemitischen Übergriffe bestehen. Wie oben dargestellt,
wissen wir das unter anderem aus den Ausführungen von Moses Hess. Der
Antisemitismus hatte hier also auch die übliche Wirkungsweise des Rassismus
nach „unten“ – dies dann umso mehr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Denn zwei Ereignisse änderten
ab Anfang der 1870er Jahre die Entwicklung wesentlich. Einerseits führte die
mit dem Finanzkrach 1871 beginnende zwanzig Jahre lange Stagnationsphase zu
einer Diskreditierung der liberalen Eliten, was nicht nur zum Aufstieg der
organisierten ArbeiterInnenbewegung beitrug, sondern auch zum Nährboden für
populistische reaktionäre Bewegungen wurde. Unter anderem wurden die „jüdischen
Liberalen und KapitalistInnen“ zu allgemeinen Sündenböcken für Bewegungen wie
die Christsozialen in Österreich oder diverse deutschnationale Konservative in
Deutschland. Es muss beachtet werden, dass kleine Bauern/Bäuerinnen und
KleinbürgerInnen (im Handel und Handwerk) noch die größte gesellschaftliche
Gruppe darstellten und besonders vom wirtschaftlichen Niedergang betroffen
waren. Bevor sie eine Perspektive in der gerade stagnierenden Industrie finden
konnten, waren sie von Schulden und Niedergang betroffen. Wiederum wurden die
angeblich jüdischen GeldverleiherInnen und Bankiers zu den Sündenböcken dieser
Schichten.

Zweitens setzte mit den
anti-jüdischen Pogromen im Zarenreich in den 1880er Jahren eine massive
Flüchtlingswelle osteuropäischer Juden und Jüdinnen Richtung Westen ein. Die
Reaktion in den verschiedenen europäischen Ländern war ziemlich dieselbe wie
die anti-muslimische Hetze, die nach 2015 und der jetzigen sogenannten
Flüchtlingskrise  einsetzte. Die
armen „Ost-Juden und -Jüdinnen“, die zu Tausenden als Flüchtlinge zuerst nach
Deutschland oder Österreich-Ungarn kamen, waren mittellos und fanden wenig
Beschäftigungsmöglichkeit im gerade krisengeschüttelten Mitteleuropa. Auch die
liberalen jüdischen BürgerInnen konnten wenig mit ihnen anfangen und fürchteten
ein Wiederaufflammen des Antisemitismus. Es gab zwar Auswanderung weiter in
andere europäische Länder und die USA (und zum geringsten Teil nach Palästina),
aber es kamen immer mehr als wieder weiterzogen. Ghettoisierung, geringe
Integration etc. gingen Hand in Hand mit wachsender antisemitischer Propaganda
und wachsendem Zulauf zu den antisemitischen Parteien in Deutschland und
Österreich-Ungarn. Insofern entstand hier in Mitteleuropa eine unheilvolle
Mischung aus dem klassischen „antikapitalistischen“ Antisemitismus gegen das
„jüdische Kapital“ und aus dem klassischen Rassismus gegen sozial und kulturell
„tiefstehende“ MigrantInnen. Dies bereitete den Boden für die breite Aufnahme
der oben beschriebenen Theorien des Rassenkrieges gegen „das Judentum“ in der
folgenden kapitalistischen Epoche, die die globalen Widersprüche dieses Systems
erst richtig zum Ausbrechen brachte. Daher kann erst die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts als die eigentliche Geburtsstunde des „modernen“ Antisemitismus
gelten. Auf der Grundlage des überkommenen Antijudaismus bildete sich in
Reaktion auf sozialistische und liberale politische Strömungen eine reaktionäre
politische Bewegung, deren Kernelemente Rassismus und Antisemitismus waren. Ob
unabhängig, oder in national-konservative oder monarchistische Parteien integriert,
Antisemitismus wurde in Ländern wie Deutschland oder Frankreich zu einem
Wesenselement der „politischen Rechten“.

In Frankreich kumulierte
wachsender Antisemitismus 1894 in der „Dreyfus-Affäre“, als dem
jüdisch-stämmigen Hauptmann Alfred Dreyfus eine Landesverratsaffäre
untergeschoben wurde. Nach einem skandalös tendenziös geführten Prozess, der
von schlimmen antisemitischen Mobilisierungen und Pressekampagnen begleitet
war, wurde Dreyfus zu lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt. Durch den Einsatz
vieler mutiger Menschen und der sozialistischen Partei wurde der Prozess immer
wieder aufgenommen, wobei Armee und Ministerien mehrfach Entlastungsbeweise
verschwinden ließen bzw. den eigentlichen Landesverräter deckten. Alle diese
Ereignisse wurden von antisemitischen Organisationen benutzt, um eine jüdische
Verschwörung gegen die Ehre der Armee zu konstruieren. Wiederum wurde
zahlreiche geheime Verbindungen „der Juden und Jüdinnen“ in Staat und Armee
gesehen, die das katholische Frankreich stürzen wollten. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass es 1899 zu einem versuchten Staatsstreich der „Ligue des
Patriotes“ (einer Vorläuferorganisation der „Action française“) kam, der
allerdings scheiterte. Dreyfus wurde 1900 begnadigt und 1902 rehabilitiert. Trotzdem
enthüllte die Affäre, wie stark mobilisierungsfähig für die politische Rechte
der Antisemitismus inzwischen geworden war. Er schuf in Frankreich allerdings
auch eine Tradition in der Linken zur eindeutigen Positionierung gegen den
Antisemitismus – führende Vertreter der Pro-Dreyfus-Kampagne waren neben dem
Dichter Émile Zola („J’Accuse…!“) die führenden sozialistischen Politiker
Jean Jaurès und Léon Blum.

Im deutschen Reich zeigte der
Berliner Antisemitismusstreik 1879 bis 1881, wie stark der Antisemitismus
inzwischen das „Bürgertum“ ergriffen hatte. Dieser wurde durch Artikel des
damals bekannten Historikers Heinrich von Treitschke losgetreten, der die
voranschreitende Herausbildung eines dem neuen Reich entsprechenden deutschen
Nationalgefühls durch „die Juden und Jüdinnen“ bedroht sah. Sie würden sich
nicht an die christlich-deutsche „Leitkultur“ anpassen, seien nicht
assimilierungsbereit und würden durch ihr Wirken das Bürgertum gemäß ihrem
„undeutschen“ Liberalismus und Geschäftssinn bedrohen. Seine Tiraden gipfelten
im Satz: „Die Juden sind unser Unglück“ (96) – er behauptete gar, dass dies
unter den „gebildeten Deutschen heute“ Gemeingut sei. Ursprünglich bezogen vor
allem nur jüdische ProfessorInnen gegen von Treitschke Stellung, während die Zentrumspartei
seine Thesen vorsichtig übernahm. Überraschend nahm dann 1880 der damals
berühmteste Historiker, Theodor Mommsen, vehement gegen „Rassenhass und
mittelalterliche Vorurteile“ Stellung und organisierte eine breite Opposition
gegen von Treitschke (97). Der intellektuellen Auseinandersetzung mit Mommsen
erwies sich von Treitschke letztlich nicht gewachsen und ruderte in
wesentlichen Punkten zurück. Der Antisemitismus war damit zwar nicht mehr
„salonfähig“, aber wirkte danach umso heftiger unter der Oberfläche der
akademischen Welt fort („Die Juden sind unser Unglück“ wurde später von den
Nazis wiederbelebt). Wichtiger als die akademische Auseinandersetzung war auf
politischer Ebene eine von von Treitschke unterstützte politische Bewegung, die
für eine „Antisemitismuspetition“ eine Viertelmillion Unterschriften im ganzen
Reich sammelte mit dem Ziel, die politische Gleichstellung (insbesondere das
Staatsbürgerschaftsrecht für eingewanderte „Ostjuden du -jüdinnen“) zu
verhindern. Der große plebiszitäre Zuspruch der Petition führte zu einer
Akzeptanz antisemitischer Politik bei den Parteien der Rechten.

1894 stellte Mommsen, der auch
einen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ mitbegründet hatte, resigniert
fest: „Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, daß man da überhaupt mit Vernunft
etwas machen kann. Ich habe das früher auch gemeint und immer wieder gegen die
ungeheure Schmach protestiert, welche Antisemitismus heißt. Aber es nutzt
nichts. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte, was man überhaupt in
dieser Sache sagen kann, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche
Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Haß
und den eigenen Neid, auf die schändlichen Instinkte“ (98). Die hilflose
Haltung des aufrechten, liberalen Professors aus dem Herzogtum Schleswig
entspricht seinem Klassenstandpunkt – von dem der Bourgeoisie aus gibt es keine
Lösung für das Phänomen des Antisemitismus.

6.2 Antisemitismus und
Sozialdemokratie

Andererseits trat in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Kraft auf, die einen
ganz anderen Lösungsweg aufzeigte (und heute in den historischen Betrachtungen
zur jüdischen Geschichte zumeist ignoriert wird): die organisierte
ArbeiterInnenbewegung. Waren es noch in der Hep-Hep-Bewegung der sich
proletarisierenden HandwerkerInnen „die Juden/Jüdinnen“ und die neuen
Maschinen, was als Verderben erschien, so kämpften jetzt nicht-jüdische und
jüdische ArbeiterInnen gemeinsam gegen ihre Ausbeutungsbedingungen. In
Gewerkschaften und den sozialistischen Parteien fanden gerade die unteren
Schichten der Juden und Jüdinnen eine neue Heimat und Bedingungen zum Kampf um
ihre Gleichberechtigung. Dazu kam, dass mit dem Marxismus eine Theorie in der
ArbeiterInnenbewegung an Einfluss gewann, die eine durchdringende
Kapitalismusanalyse jenseits verkürzter Personalisierungen lieferte und das
Klasseninteresse des Proletariats in klarem Gegensatz zu solchen Phänomenen wie
Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus herausarbeitete. Die
an Marx und Engels orientierten Führungen der sozialistischen Organisationen
stellten sich denn auch mehr oder weniger klar gegen den Antisemitismus.
Exemplarisch sei auf den konsequenten Kampf von Engels gegen Eugen Dühring
verwiesen, der den Kampf um soziale Fragen mit Nationalismus und Antisemitismus
verbinden wollte. Dagegen wurde der Slogan „Antisemitismus ist der Sozialismus
für Dumme“ (99) aufgegriffen.

Allerdings zeigt bereits die
Resolution von Bebels „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ (100) auf dem
SPD-Parteitag 1893 schwerwiegende Mängel in der Analyse des Antisemitismus.
Auch wenn der reaktionäre Charakter des Antisemitismus auf der einen Seite
aufgezeigt und betont wird, dass er den Kampf gegen die kapitalistische
Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals, die jüdischen
KapitalbesitzerInnen ablenke, dass letztlich nur der Kampf für den Sozialismus
den Antisemitismus erledigen würde, so wird doch auf der anderen Seite viel von
der antisemitischen Mythologie über „das Wesen“ der Juden und Jüdinnen in Bezug
auf Geldgeschäfte aufgegriffen und somit dem Antisemitismus auch eine
widersprüchlich „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Massen der
Mittelschichten, die von der Krise betroffen wären und sich in Folge von den
antisemitischen Parolen verführen ließen, würden letztlich erkennen, dass die
AntisemitInnen den Kampf gegen die Ursachen ihrer Verelendung nur unzureichend
führen, um dann notwendig zu den KämpferInnen gegen die wahren Gründe ihrer
Verelendung weiterzuschreiten – den SozialdemokratInnen. Hier zeigen sich
bereits die verhängnisvolle Unterschätzung der Gefährlichkeit des
Antisemitismus und der ökonomistische Irrglaube, dass durch den konsequenten
Kampf um soziale Forderungen die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die
Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen würden. Diese Fehler in der
Unterschätzung der Wirkung des Antisemitismus wie auch in der Positionierung
zum Rassismus (z. B. in der Kolonialfrage) sollten sich in der
imperialistischen Epoche noch verschärfen und letztlich grausam rächen.

6.3 Kautsky und der „Jüdische
Bund“

Allerdings hatte der
langjährige „Chef-Theoretiker“ der SPD, Karl Kautsky, eine sehr klare Position
zum Antisemitismus: „Die Antisemiten sind jetzt unser gefährlichster Gegner“
(101). Er erkannte sehr wohl die Gefahr der Spaltung und der
Aggressionspotentiale, die sich letztlich auch gegen die sozialistische
Bewegung richten könnten. Insofern kritisierte er auch diejenigen
SozialistInnen, die angesichts der antisemitischen Kampagne in Frankreich um
die „Dreyfus-Affäre“ neutral bleiben wollten, da es ja nur um einen jüdischen
Bourgeois ging. Dazu formulierte Kautsky, was Grundlage jedes sozialistischen
Programms sein müsse: dass der Kampf um die Befreiung der LohnarbeiterInnen nur
erfolgreich sein könne, wenn er sich mit dem Kampf um die Freiheit „aller, die
unterdrückt werden“, verbinde, und erwähnt neben dem Kampf um Frauenbefreiung
und koloniale/rassistische Unterdrückung eben auch den gegen den Antisemitismus
(102). Allerdings, und dies passt zum Zentrismus von Kautsky im Allgemeinen,
führte er nie einen systematischen Kampf darum, diese Position zu einer
offensiven Stellung gegen den Antisemitismus auch zur Parteilinie zu machen,
sondern sie tolerierte die Taktik der deutschen und österreichischen
Parteiführungen, nur verhalten gegen den Antisemitismus zu agieren, um keine
Wählerstimmen deswegen zu verlieren. Kautsky beschränkte sich daher stark auf
theoretische Interventionen (er ist derjenige der Klassiker des Sozialismus,
der am meisten zu Judentum und Antisemitismus geschrieben hat). Bemerkenswert
ist sein Buch „Judentum und Rasse“ (103), da es eines der ersten Bücher eines
namhaften Publizisten war, das die Rassentheorie des Antisemitismus ausführlich
und wissenschaftlich begründet zurückwies.

Zugleich war Ende des 19.
Jahrhunderts die erste große, moderne jüdische Partei entstanden: der
„Allgemeine jüdische ArbeiterInnenbund“ (kurz „Bund“ genannt). Der „Bund“ war
nicht zufällig im zaristischen Russland (und dort vor allem in den polnischen
und weißrussischen Gebieten) entstanden. Einerseits war dort z. B.
gegenüber Deutschland (in dem bürgerliches und kleinbürgerliches Judentum sehr
viel zahlreicher war) ein sehr viel zahlreicheres jüdisches Proletariat
vorhanden, andererseits nahmen die Diskriminierung und Gewaltakte gegen Juden
und Jüdinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungemein zu. So konnte
der „Bund“ nach seiner Gründung 1897 in kurzer Zeit mehrere Zehntausend
Mitglieder gewinnen und sich auch auf die polnischen Gebiete in der
Habsburgermonarchie ausdehnen (Jüdische Sozialdemokratische Partei). Kautsky
begrüßte die Organisierung der jüdischen ArbeiterInnen, weil sie die „Juden,
den Paria unter den Nationen, in eine mächtige revolutionäre Kraft“ verwandeln
würde (104). Er erkannte mehr als andere, dass die Juden und Jüdinnen hier, im
Rahmen der internationalen sozialistischen Bewegung, zum eigenständigen,
selbstorganisierten Subjekt ihrer Geschichte geworden waren (daher setzte er
sich auch für die stimmberechtigte Aufnahme des Bundes in die Zweite
Internationale ein).

Tatsächlich löste aber die
Frage des Bundes eine lange, heftige Debatte in der sozialistischen Bewegung um
die Lösung der „jüdischen Frage“ aus, in der später auch die Frage des
Zionismus eine Rolle spielte. Der Großteil der SozialistInnen lehnte es ab, in
den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen (am vehementesten übrigens
Rosa Luxemburg). Man sah, wie viele liberale Juden und Jüdinnen sich auch die
Lösung der „jüdischen Frage“ wie auch des Antisemitismus in einer möglichst
raschen „Assimilation“ in die europäischen Nationen (die „Assimilation“ war
tatsächlich auch für viele jüdische Intellektuelle und AktivistInnen eine
angestrebte „Zukunftsperspektive“) erhofften. Eine Minderheit um Kautsky, der
hierin stark vom „Bund“ als Quelle zitiert wurde, sah das Judentum als „in
Auflösung begriffene Nation“, deren Unterdrückung aber den Kampf um einige
nationale Rechte im politischen („Autonomie“) und kulturellen (Schule, Sprache,
Religion,…) Bereich rechtfertigen würde. Kautsky verband die Assimilations-
mit einer Internationalismus-Perspektive: Im Rahmen der internationalen Kämpfe
der ArbeiterInnenbewegung würde es letztlich zu einer solchen Vermischung der
Völker kommen, dass auch die Unterschiede zwischen Juden und Jüdinnen und
Nicht-Juden und -Jüdinnen auf lange Sicht verschwinden würden.

In der russischen
Sozialdemokratie führte die Frage einer „jüdischen Nation“ und der daraus
folgenden der Notwendigkeit einer eigenen jüdischen ArbeiterInnenpartei zu
heftigen Auseinandersetzungen. Lenin lehnte die Vorstellung des „Bundes“ von
getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation
zusammenarbeiten würden, ab. Er vertrat dagegen die Position einer
einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für die jüdischen
ArbeiterInnen geben müsse (105). Dies war einer der Streitpunkte, die 1903 zur
Spaltung der russischen Sozialdemokratie führten. Kautsky vertrat zwar im
Prinzip Lenins Position, akzeptierte aber letztlich inkonsequent den Bruch des
Bundes mit der Gesamtpartei. Nach der Oktoberrevolution spaltete sich der
„Bund“, und der „Kommunistische Bund“ wurde zu einer Stütze der
Sowjetherrschaft.

Die Auseinandersetzungen um die
nationale Frage in der ArbeiterInnenbewegung Anfang der 1900er Jahre führten
allerdings auch zu einer Abspaltung von einigen tausend ArbeiterInnen Richtung
Zionismus. Während der „Bund“ die zionistische Perspektive, also die Lösung der
nationalen Frage durch die Schaffung eines eigenen jüdischen Staates, ablehnte
(wie auch Kautsky), existierten bis 1901 zionistische Gruppen nur als kleine
bürgerliche Zirkel in Russland oder Europa. Mit der Entstehung der „Jüdischen
Sozialdemokratischen Partei – Poale Zion“ („ArbeiterInnen Zions“) hatte der
Zionismus zum ersten Mal eine größere Partei hinter sich, die allerdings auch
mit den bisher bürgerlichen Programmen des Zionismus in Widerspruch geriet. Ab
etwa 1909 (dem zweiten zionistischen Weltkongress) änderte Poale Zion (damals
selbst schon eine internationale Massenorganisation) den Charakter des
Zionismus grundlegend zu einem praktischen Siedlungsprojekt in Palästina – mit
„sozialistischem Anspruch“. Sie lieferte damit die Grundlage für den späteren
Awoda-Zionismus. Kautsky kritisierte (wenn auch in sehr solidarischer Weise) die
Politik von Poale Zion als „utopischen Sozialismus“, der unweigerlich an den
Realitäten der kolonialen Herrschaft in der arabischen Welt scheitern müsse.

Im polnischen Staat der
Zwischenkriegszeit war die jüdische Bevölkerung in die zionistischen Parteien und
den „Bund“, umbenannt in „Polnischer Bund“, gespalten. Im Gegensatz zur
Sowjetunion, wo viele „BundistInnen“ zum Kommunismus übergegangen waren, war
der polnische „Bund“ ein Hort des Sozialdemokratismus und beteiligte sich trotz
des grassierenden Antisemitismus staatstragend am antikommunistischen,
polnisch-nationalistischen Regime, vor allem auf der Ebene der kommunalen
Selbstverwaltung. Eine Perspektive für die Verbindung des Kampfes zwischen
Sozialismus und Lösung der „jüdischen Frage“ wurde so nicht gefunden.
Allerdings beteiligten sich die militärischen Organisationen des „Bundes“ nach
Beginn des Zweiten Weltkrieges effektiv am Widerstand gegen die deutsche
Okkupation. Insbesondere im Warschauer Aufstand spielten „BundistInnen“ eine
herausragende Rolle. Nach 1945 wurde der „Bund“ in die Etablierung der
stalinistischen Herrschaft in Polen integriert, so wie auch in der
neugegründeten KP überproportional viele Juden und Jüdinnen vertreten waren. In
paradoxer Weise wurde sowohl in den stalinistischen Säuberungen als auch in der
Phase der Entstalinisierung unter Gomulka der Antisemitismus jeweils bis zum
Exzess genutzt. Dies führte bis Ende der 1950 er Jahre zu einem endgültigen
Verschwinden der „Bund“-Tradition in Polen.

Dagegen war durch die Migration
seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa eine große Zahl von „BundistInnen“
in die USA ausgewandert. Dort entstand eine Vielzahl an jüdischen
ArbeiterInnenorganisationen in der Tradition des „jiddischen Sozialismus“.
Insbesondere die Textilindustrie war ein Zentrum jüdischer ArbeiterInnen,
ebenso wie die dort tätigen Gewerkschaften (106). So wanderte denn auch das
Zentrum des internationalen jiddischen ArbeiterInnenbundes in der
Zwischenkriegszeit in die USA. Der „Bund“ trat gegen den Teilungsplan für Palästina
ein und behielt auch nach der Gründung des Staates Israel die Position eines
binationalen jüdisch-arabischen Staates unter Bedingungen der nationalen
Gleichberechtigung bei. Die Tradition des jiddischen Sozialismus hat sich in
verschiedenen linken Strömungen, z. B. innerhalb der „Democratic
Socialists of America“ bis hin zu den jüdischen UnterstützerInnen von Bernie
Sanders, fortgesetzt.

6.4 Lenin und die jüdische
Frage

Waren die SozialdemokratInnen im Westen in ihrem öffentlichen Auftreten aus Angst vor Verlust von Wählerstimmen sehr vorsichtig in ihren Stellungnahmen gegen Antisemitismus, so blieben hier (wie in vielen anderen Dingen) die russischen Bolschewiki unter Lenins Führung glasklar und prinzipienfest. Gerade aufgrund der erstarkenden ArbeiterInnenbewegung und besonders nach der Revolution von 1905 verwendeten die Herrschenden im zaristischen Russland die Antisemitismuskarte in besonders übler Weise. Etliche Pogrome rund um angebliche Ritualmorde wurden inszeniert, Verschwörungstheorien ohne Ende fabriziert (die berühmt-berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ waren ein Produkt der zaristischen Geheimdienste und -polizei Ochrana), und allenthalben waren Presse und Universitäten voll von antisemitischer Hetze (107). In dieser Situation schrieb Lenin 1913 einen Gesetzentwurf für die sozialdemokratische Duma-Fraktion, in der er die Abschaffung aller die Juden und Jüdinnen diskriminierenden Gesetze und die Anerkennung von Minderheitenrechten (z. B. Schulunterricht auf Jiddisch) forderte. In seiner akribischen Art fügte Lenin über 100 Gesetzesstellen bei, die diskriminierenden Inhalt gegenüber Juden und Jüdinnen enthielten und geändert werden müssten. In der Erklärung an die GenossInnen zu dem Gesetzentwurf schrieb Lenin: „Keine einzige Nationalität wird in Russland so unterdrückt und verfolgt wie die jüdische. Der Antisemitismus schlägt unter den besitzenden Schichten immer tiefere Wurzeln. Die jüdischen Arbeiter stöhnen unter einem zweifachen Joch: als Arbeiter und als Juden. Die Verfolgung der Juden hat in den letzten Jahren ganz unglaubliche Ausmaße erreicht. (…) die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihre Stimme gegen die nationale Unterdrückung zu erheben“ (108). Lenin schrieb mehrere Artikel über die Bedeutung des Gesetzentwurfes und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen in der ArbeiterInnenschaft auf. Kaum eine der anderen Parteien der Zweiten Internationale hat öffentlich eine so entschiedene praktische Stellung gegen den Antisemitismus bezogen. Auch wenn der Gesetzentwurf natürlich abgeschmettert wurde, hat er doch die Stellung der Bolschewiki gegen den Antisemitismus ein für allemal klar gemacht.

6.4.1 Sozialistische Position
zum Nationalismus

Dass Lenin, anders als viele
SozialdemokratInnen im Westen, nicht darauf vertraute, dass der Antisemitismus
schon mit dem Fortschritt des Klassenkampfes verschwinden würde, hängt mit
seiner generellen Analyse der „nationalen Frage“ zusammen. In den Jahren
zwischen der Revolution 1905 und dem Ersten Weltkrieg wurde für Lenin immer
klarer, dass die nationalen Fragen in den „Vielvölkerstaaten“ (Zarenreich,
Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich), aber auch in Asien und der
kolonialisierten Welt zu einem entscheidenden Faktor der Weltpolitik werden
würden. In den Jahren 1912 bis 1914 (bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs)
hielt sich Lenin im Exil in Galizien auf, das damals (seit der dritten Teilung
Polens Ende des 18. Jahrhunderts) zu Österreich gehörte und an der Grenze zum
zaristisch beherrschten „Kongresspolen“ lag. Er war damit mittendrin in den
polnisch/jüdisch/ukrainischen Nationalitätenproblemen. In dieser Zeit hielt er
nicht nur viele Vorträge zur nationalen Frage und leitete einen Parteikongress
zu dieser Frage in der Nähe von Zakopane, er schrieb auch zwei zentrale Artikel
dazu im theoretischen Organ der Bolschewiki, der „Prosweschtschenije“
(„Aufklärung“): „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ und „Über das
Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (109).

Ausführlich geht er dort auf Marx‘ und Engels‘ Position zur Frage des irischen Unabhängigkeitskampfes ein. Beide hatten ursprünglich erwartet, dass der Fortschritt der englischen ArbeiterInnenbewegung das Problem der Befreiung Irlands lösen würde, indem der Kampf gegen das englische Kapital auch die feudalen Unterdrückungsstrukturen in Irland auflösen würde. Zwei Faktoren ließen sie jedoch ihre Position verändern: Erstens erkannten sie, dass die englische ArbeiterInnenklasse politisch-ideologisch in wichtigen Teilen durch reaktionär-chauvinistische Positionen (z. B. durch die liberale Partei) gegenüber Irland beeinflusst wurde. Zweitens führte das Ausbleiben der progressiven Anstöße durch den englischen Klassenkampf dazu, dass sich agrarrevolutionäre und nationalistische Strömungen in Irland viel schneller zu einer republikanischen Bewegung verbanden als gedacht. „Wäre der Kapitalismus in England so rasch gestürzt worden, wie Marx anfänglich erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, gesamtnationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem sie aber einmal entstanden ist, gibt Marx den englischen Arbeitern den Rat, sie zu unterstützen, ihr einen revolutionären Anstoß zu geben und sie im Interesse ihrer eigenen Freiheit zu Ende zu führen“ (110).

Lenin zieht einige
Schlussfolgerungen aus dieser Herangehensweise von Marx: Einerseits ist es für
die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein der ArbeiterInnen in
unterdrückenden Nationen entscheidend, gegen jede Form von Chauvinismus, von
Unterdrückung und Diskriminierung anderer Nationen aufzutreten. Auch wenn es
unpopulär ist, müssen SozialistInnen hier in der eigenen Klasse
unmissverständlich auftreten und, wo nötig, Gegenpropaganda betreiben.
Andererseits ist die Unterstützung von Bewegungen für nationale Unabhängigkeit
von der Gesamtlage im Klassenkampf abhängig: Während die englische
ArbeiterInnenklasse nicht in einem entscheidenden Kampf gemeinsam mit der
irischen stand, war dies z. B. nach 1905 für die polnische und russische
ArbeiterInnenklasse sehr wohl gegeben. Die Zweite Internationale stellte daher
korrekterweise nicht die Losung für ein unabhängiges Polen ins Zentrum, da die
russischen und polnischen ArbeiterInnen eben gerade im Kampf zum Sturz des
Zarismus vereint waren. Zugleich verteidigte sie das prinzipielle Recht der
PolInnen auf Lostrennung von Russland, sollte dies mehrheitlich gewollt sein.

Dies drückte sich auch in der
Spaltung der polnischen ArbeiterInnenbewegung aus, deren rechter Flügel unter
Piłsudski (Polnische Sozialistische Partei, PPS) die nationale Frage in den
Vordergrund stellte, während die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen, SDKP“
(Luxemburg, Jogiches, Marchlewski), ab 1900 „Sozialdemokratie des Königreichs
Polen und Litauens, SDKPiL“, den internationalen Klassenkampf ins Zentrum
stellte und dabei, im Gegensatz zu PPS, vor allem auch die Rechte der jüdischen
ArbeiterInnen einbezog. Gerade der immer stärker werdende Antisemitismus des
polnischen Nationalismus (auch in seiner „sozialistischen“ Form) war ein
gewichtiger Grund für die antinationale Haltung der SDKP. Nach 1905 wurde die
SDKPiL der russischen Sozialdemokratie assoziiert. Während Lenin mit Luxemburg
in der Frage der generellen Linie des Vorrangs des gemeinsamen revolutionären
Klassenkampfes übereinstimmte und klar aufseiten der SDKPiL gegenüber der PPS
stand, führte er eine harte Auseinandersetzung mit Luxemburg um die Frage der
Berechtigung und Bedeutung der Losung nach nationaler Selbstbestimmung.
Luxemburg lehnte die Position der Zweiten Internationale ab, das Recht auf
Loslösung zu verteidigen. Schon dies galt ihr als Zugeständnis an den
Nationalismus.

Um die Bedeutung dieser Differenz zu verstehen, hier einiges zur grundlegenden Herleitung der Problemstellung bei Lenin: Er geht davon aus, dass es in Bezug auf den Nationalstaat zwei widersprüchliche Tendenzen im Kapitalismus gibt. Einerseits dränge der Verwertungszwang des Kapitals zur Herausbildung eines „nationalen Marktes“, der durch einheitliche Standards, Sprache, Verwaltung, Infrastruktur, Bildungswesen und staatliche Institutionen organisiert wird. Andererseits erzeuge die Weltmarkttendenz des Kapitals ständig ein Infragestellen nationaler Grenzen und eine Ausdehnung bestimmter nationaler Kapitale zu Lasten von anderen. Beide Tendenzen kämen kombiniert und ungleichzeitig vor, auch wenn zunächst, beim Kampf gegen die feudale Zersplitterung, das erste Moment als revolutionär-demokratisches dominiere. Es gebe daher so gut wie keine Nationalstaaten, die nicht nationale Minderheiten oder ganze andere Nationen in ihre Grenzen eingeschlossen hätten. Nationalismus unterdrückter wie unterdrückender Nationen sei daher ein dem kapitalistischen System inhärentes Phänomen, das in immer neuen Formen produziert werde. Die Position der ArbeiterInnenklasse, die durch den internationalen Klassenkampf bestimmt ist, könne nur in Opposition zu und Überwindung von jeder Form des Nationalismus bestehen: „Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht‘, ‚sauber‘, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung der Nationen zu einer höheren Einheit, die vor unseren Augen wächst, mit jedem Eisenbahnkilometer, mit jedem internationalen Trust,…“ (111).

Dieses Primat von
Internationalismus und Aufhebung alles Nationalen (man sieht, wie weit weg
Stalin tatsächlich von Lenin war) müsse aber in einer Gesellschaft, die
durchzogen ist von nationaler Unterdrückung, von Unterdrückung ethnischer
Minderheiten und unvollendeten Aufgaben der demokratischen Revolution erkämpft
werden. Lenin malt das Bild einer Geschichte, die „im Westen“ Ende des 19.
Jahrhunderts die bürgerlich-demokratische Revolution in festgefügten
imperialistischen Nationalstaaten schon lange eingefroren hat, während sich
seit 1905, vom Zarenreich angefangen, eine Masse neuer demokratischer
Revolutionen an der „Peripherie“ ausbreitet: auf dem Balkan, in der Türkei, in
China, schließlich in den unterdrückten Kolonialvölkern in Asien und Afrika.
Überall dort stelle sich die Frage nach der Verbindung demokratischer
Forderungen, dem Kampf um nationale Unabhängigkeit in Verbindung mit dem
Klassenkampf des dort neu in die Kämpfe eintretenden Proletariats. In dieser
gewaltigen neuen Erschütterung gerade die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht
zu ignorieren, hieße, diese Bewegungen wiederum dem bürgerlichen Nationalismus
zu überlassen.

Wie solle sich also das Proletariat zu Bewegungen gegen nationale Unterdrückung verhalten? Das Proletariat könne die Überwindung des Kapitalismus nur erreichen, wenn es seinen Klassenkampf mit dem Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung verbinde, darunter eben auch mit dem Kampf gegen nationale Unterdrückung, für Ausdehnung von Demokratie und gegen autoritäre Herrschaft, gegen jede Form von sozialer und klassenmäßiger Unterdrückung. Und was drücke das Prinzip des Kampfes gegen nationale Unterdrückung konkreter aus als das Prinzip, jeder Nation das Recht auf Lostrennung von einem sie unterwerfenden anderen Nationalstaat zuzugestehen? Das Selbstbestimmungsrecht bleibe eine hohle Phrase, wenn es nicht auch diese letzte Konsequenz, die Möglichkeit der Auflösung eines unterdrückerischen Nationalstaates, mit einbeziehe. Andererseits heiße dies noch lange nicht, dass die Lostrennung in jedem Fall vom Klassenstandpunkt her die richtige Folgerung wäre. Auch wenn das Recht zur Lostrennung verteidigt wird, so hänge es (wie im Fall Polens nach 1905 gezeigt) von den konkreten Kampfbedingungen gegen einen bestehenden Unterdrückerstaat ab, ob die Lostrennung auch von KommunistInnen propagiert werde. Zweitens hänge es auch von der Stärke und dem Charakter der nationalen Bewegung selbst ab. Lenin macht klar, dass das Proletariat zwar den Kampf gegen nationale Unterdrückung als fortschrittliche Tendenz unterstützt, gleichzeitig aber den Nationalismus selbst auch ablehnt: „Jede Bourgeoisie will in der nationalen Frage entweder Privilegien für ihre eigene Nation oder exklusive Vorteile für sie… Theoretisch lässt sich nicht mit Sicherheit voraussagen, ob die Lostrennung einer Nation oder ihre gleichberechtigte Stellung neben einer anderen Nation die bürgerlich-demokratische Revolution abschließen wird; für das Proletariat ist in beiden Fällen wichtig, die Entwicklung der eigenen Klasse zu sichern; für die Bourgeoisie ist wichtig, diese Entwicklung zu erschweren, indem sie deren Aufgaben zugunsten der Aufgaben der ‚eigenen‘ Nation in den Hintergrund schiebt. Daher beschränkt sich das Proletariat auf die sozusagen negative Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, ohne einer Nation irgend etwas auf Kosten einer anderen Nation zu garantieren, zu gewährleisten“ (112).

Nichts könnte klarer zeigen,
dass heute in Israel-Palästina eine grundlegende Entrechtung der
palästinensischen Bevölkerung vorliegt. Auch die „palästinensische Autonomie“
in Westbank und Gaza ist nichts anderes als eine neue Form des israelischen
Besatzungsrechtes. Der Kampf um einen eigenen palästinensischen Staat ist daher
als Kampf gegen eine nationale Unterdrückung gerechtfertigt und muss von
SozialistInnen unterstützt werden. Andererseits ist der palästinensische
Nationalismus selbst nicht „an sich“ fortschrittlicher als irgendein anderer
Nationalismus. Auch wenn wir das Recht des Widerstands gegen die israelische
Besatzungspolitik bedingungslos unterstützen, heißt dies nicht, dass wir in der
Errichtung eines palästinensischen Staates unter den gegenwärtigen Führungen
eine fortschrittliche Lösung des nationalen Problems in Palästina sehen. Es gibt
für keine Ethnie in der Region irgendein „natürliches“, „historisches“ Recht
auf „nationalen Boden“. Dort lebende Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen
haben ein Recht auf gleichberechtigtes Zusammenleben. Daher lehnen
SozialistInnen alle Tendenzen im palästinensischen Nationalismus ab, die eine
Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Palästina implizieren würden. Dies steht
aber derzeit in keiner Weise im Vordergrund. Vielmehr ist es der israelische
Staat, der in brutaler und barbarischer Weise PalästinenserInnen in Massen
vertreibt und elementarer Rechte beraubt. Offenbar wäre auch ein losgetrennter
palästinensischer Staat (in welchen Grenzen, mit welchem Status von Jerusalem
und mit welcher Lösung für die Rückkehr von Flüchtlingen?) kein aussichtsreicher
Weg für ein friedliches und ökonomisch gangbares Zusammenleben beider Nationen.
Daher halten wir einen multiethnischen gemeinsamen Staat von Juden und Jüdinnen
und PalästinernserInnen auf der Basis von Gleichheit und Gleichberechtigung für
den einzig möglichen Lösungsweg für dieses Nationalitätenproblem. Nur so kann
ein Ausgleich für ein friedliches Zusammenleben geschaffen werden. Lenin führt
übrigens ausführlich als positives Beispiel die Schweiz als Beweis der
Möglichkeit eines multinationalen Staates mit vielen Sprachen und dem
Austarieren der unterschiedlichen regionalen und ethnischen Interessen an, auch
wenn dieses Lösungsmodell aus der Frühzeit der bürgerlichen Revolutionen
stammt.

6.4.2 Selbstbestimmung oder
„Autonomie“?

In Bezug auf die „jüdische
Frage“ in der Diaspora, insbesondere im damaligen Russland (in dem seinerzeit
fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung weltweit lebte), setzte sich Lenin
insbesondere mit der Politik des „Bundes“ auseinander, der sich auf die Losung
der „nationalkulturellen Autonomie“ stützte. Es ging in der Diaspora immer um
eine nationale Minderheit, die zwar in bestimmten Regionen mehr als in anderen
konzentriert war, aber nie in einem Prozentsatz, der ein eigenes nationales
Territorium definiert hätte. Die Frage der Lostrennung von oder der Schaffung
eines eigenen Staates in Russland stand also nicht auf dem Programm. Der „Bund“
griff stattdessen auf das Programm der österreichischen Sozialdemokratie
zurück, das diese ihrerseits im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat zur
Lösung der nationalen Spannungen konzipiert hatte (113). Statt in der
tschechischen, slowenischen, kroatischen etc. nationalen Frage das Recht auf
Selbstbestimmung zu vertreten, versuchten die „Austro-MarxistInnen“, die
nationalen Spannungen durch die Propagierung der „national-kulturellen
Autonomie“ zu beschwichtigen. In Territorien mit bestimmter nationaler
Zusammensetzung, in Volkszählungen erhoben, sollten die Mehrheitsnationen das
Recht auf Bestimmung über das Schulwesen, die Kulturpolitik,
Verwaltungssprachen u. ä. erlangen, während die Fragen von Haushalt,
Sicherheit und allgemeiner Gesetzgebung weiterhin von der Zentralregierung
entschieden werden sollten.

Die Grenzen dieser Politik,
gerade in Bezug auf die österreichische Sozialdemokratie, zeigten sich
beispielhaft an zwei Fällen: Einerseits waren gerade durch die kapitalistische
Expansion im späten 19. Jahrhundert viele ArbeiterInnen durch das gesamte Reich
migriert, z. B. viele TschechInnen nach Wien und Umgebung. Andererseits
zerbrach aber letztlich die Einheit der tschechischen und österreichischen
Partei im Jahr 1908 an der Forderung nach Verwendung der tschechischen Sprache
auch an Wiener Schulen und Behörden. Der zweite Problemfall für die
AustromarxistInnen war eben die jüdische Frage. In Galizien, mit über 10 %
jüdischem Bevölkerungsanteil, wurde trotzdem die national-kulturelle Autonomie
dort als ein Recht nur der polnischen Nationalität gesehen, so wie die
österreichischen SozialdemokratInnen die Juden und Jüdinnen insgesamt wegen
eines nicht vorhandenen „jüdischen Territoriums“ nicht als Nationalität
anerkannten, der eine national-kulturelle Autonomie zugestanden werden könne.
Lenin charakterisierte in der nationalen Frage das Konzept der
national-kulturellen Autonomie als eine Form des Proudhonismus (114): So wie
dieser eine Ökonomie des „gerechten Tausches“ ohne Antasten des
Produktionsmittelbesitzes von PrivateigentümerInnen durch dessen „gerechte
Verteilung“ erreichen wolle, so würden die AustromarxistInnen versuchen, einen
Nationalismus ohne dessen „ungerechte“ Seiten zu etablieren: Nationen sollten
fein säuberlich voneinander in deren „angestammten“ Territorien geschieden
werden, in denen sie in Sprache und kulturellen Eigenarten für sich sein
könnten. Sei erst einmal das nationale Problem so entschärft, würde der
Nationen übergreifende Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie wie
von selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen rücken. Der Austromarxismus
verkennt somit die über die nationalen Grenzen hinausgehenden Tendenzen des
Kapitalismus, seine Tendenz zur Vermischung von Nationalitäten und die
wesentliche Vermengung von nationalen Problemen mit allen Problemen der
Politik, insbesondere bei der Herausbildung von Unterdrückungsstrukturen.
Letztlich „entschärft“ die Losung daher nicht die nationalen Probleme, sondern
gibt der realen Unterdrückungspolitik, im Gegensatz zur Losung des
Selbstbestimmungsrechts, „sozialistische“ Rückendeckung.

Der „jüdische Bund“ im benachbarten Zarenreich griff die Position der AustromarxistInnen trotz deren Politik in der jüdischen Frage begeistert auf, indem er sie um das Element der „Exterritorialität“ erweiterte. D. h., auch ohne eigenes „nationales Territorium“ sollten in jeder Region, gemäß der nationalen Zusammensetzung, für Minderheiten eigene Schulen, Kultureinrichtungen und die Verwendung der eigenen Sprache im Verwaltungswesen eingeführt werden. Lenin setzte hier zu einer grundlegenden Kritik am Nationalismus und an dem Begriff der „nationalen Kultur“ an (115): In jeder nationalen Kultur gebe es progressive und reaktionäre Momente, gemäß ihren Beziehungen zu den Klassen, zu demokratischen, sozialistischen oder aber bürgerlichen, klerikalen etc. Elementen; denn jede nationale Kultur (auch die unterdrückter Nationen) werde letztlich von den besitzenden Klassen beherrscht. Die „internationale Kultur“, die SozialistInnen letztlich anstrebten, sei eine, die die fortschrittlichen Elemente aller nationalen Kulturen in sich aufnehme, um sie von der „Herrenkultur“ zu befreien. In diesem Sinn strebe der Sozialismus nach „Assimilierung“ aller Kulturen im Internationalismus, und zwar im Sinn einer progressiven Aufhebung im dialektischen Sinn, nicht im Sinn einer „Auslöschung“. Gerade in der jüdischen sozialistischen und demokratischen Bewegung „haben sich die universal-fortschrittlichen Züge in der jüdischen Kultur deutlich gezeigt: ihr Internationalismus, ihre Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Bewegungen des Zeitalters (der Prozentsatz der Juden in den demokratischen und proletarischen Bewegungen ist überall höher als der Prozentsatz der Juden in der Bevölkerung)“ (116). Diese jüdischen Beiträge in den fortschrittlichen Bewegungen würden überall dazu beitragen, dass die „besten Traditionen des Judentums“ in der „internationalen Kultur der ArbeiterInnenbewegung“ aufgingen.

Die Losung des Bundes würde
dagegen gerade zu Absonderung, zu Separatismus führen: eben weil z. B.
durch die getrennten Schulen, die gesonderten Kultureinrichtungen etc. in den
bestehenden jüdischen Gemeinden, die zumeist weiterhin von konservativen und
religiösen Führungen beherrscht würden, die rückständigen Elemente der
„nationalen Kultur“ gefestigt würden, statt eine gemeinsame Auseinandersetzung
gegen unterdrückerische und reaktionäre Kulturpolitik zu führen. Dies würde in
der Konsequenz z. B. sowohl den Kampf gegen den klerikalen und
militaristischen Einfluss auf die Schulen nach sich ziehen als auch die
Berücksichtigung des Jiddischen im Unterricht (bei entsprechender
SchülerInnenzahl) ermöglichen, und zwar nicht nur für jüdische Kinder.
Letztlich bedeutet diese Lenin’sche Politik auch die Ablehnung des sogenannten
Integrationsgedankens: Es gibt keine „nationale Leitkultur“, in die sich
Minderheiten zu integrieren haben. Letztlich geht es um die Gleichberechtigung
aller in einer Region vertretenen Nationalitäten, die eine gemeinsame
internationale Kultur (mit möglicherweise vielen Sprachen) entwickeln werden.
Diese Lösung von „Minderheitenfragen“ ermöglicht im Gegensatz zur
segregierenden Politik des Austro-Marxismus sowohl eine Selbstbestimmung in
Bezug auf Nationalitätenfragen als auch eine Verstärkung des Austausches und
der Verschmelzung zwischen den Kulturen.

Dies ist auch letztlich Lenins
Antwort auf die „jüdische Frage“: Es geht weder um Integration oder
Assimilation der Juden und Jüdinnen der Diaspora (wie der Diaspora jeglicher
Nationalitäten oder Ethnien), sondern, zunächst über den Weg der
Gleichberechtigung und der Bekämpfung aller Diskriminierung, letztlich um eine
internationale Kultur, eine Verschmelzung aller progressiven Elemente dieser
Teilkulturen unter Aufbewahrung der jeweiligen geschichtlichen und sozialen
Erfahrungen. Es ist klar, dass diese Perspektive der Überwindung von
Nationalismus und Unterdrückung nationaler oder ethnischer Minderheiten nur im
Zusammenhang mit einer sozialistischen Überwindung des Kapitalismus als
Weltsystem denkbar ist.

6.5 Antisemitismus und
Imperialismus

Der Erfolg des eliminatorisch
ausgerichteten Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert
lässt sich letztlich nur im Kontext des Imperialismus und des Scheiterns der
sozialistischen ArbeiterInnenbewegung im Hinblick auf die Überwindung des
Kapitalismus verstehen. Seit den 1890er Jahren hat der liberale Kapitalismus
sein Gesicht wesentlich verändert: Qualitätssprung in der Bedeutung des
Weltmarktes, Verschmelzung von Finanz- und Industriekapital, immer größere
international agierende Kapitale und darauf basierende aggressive
Großmachtpolitik, eine Weltordnung, durch wenige ImperialistInnen bestimmt.
Dies alles führte zum Aufbrechen der traditionellen nationalstaatlichen
Politik, zu wachsender Kriegsgefahr und raschem sozialen Wandel (schneller
Aufstieg und ebenso schneller sozialer Abstieg). Der Imperialismus zeigte sich
somit als ein Nährboden für Herrenmenschenideologien, die „zur Herrschaft
geborene Nationen“ von „shithole nations“ (Donald Trump) unterscheiden – und
natürlich die ideologische Konstruktion von „Parasiten-Völkern“, die sich in
„gesunde Herrenvölker“ einnisten.

Imperialismus bedeutet
einerseits verschärfte Konkurrenz der Kapitale auf dem Weltmarkt und Kampf der
Großmächte um die Aufteilung der Welt. Andererseits bedeutet er die
Mobilisierungen im Inneren dieser imperialistischen Mächte für diesen Kampf.
Zudem werden Teile der ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen durch die
imperialistischen Extraprofite in bessere soziale Positionen gebracht
(Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie). Soziale Besserstellung von
zumindest einem Teil der „eigenen“ ArbeiterInnen führt auch zu Einschränkungen
der Arbeitsmarktmigration (die bis dahin in Europa noch stark unreglementiert
war) und zum Eindringen kleinbürgerlicher Kultur und nationalistischer
Ideologie in gewisse ArbeiterInnenschichten. Mit dem Imperialismus wächst also
das Potential an chauvinistischer Mobilisierungsfähigkeit des jeweiligen
nationalen Kapitals für seine Weltmachtansprüche.

Daher erzeugt der Imperialismus
die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit, den Rassismus nach außen und innen
zu verschärfen. Die chauvinistischen Mobilisierungen zu Gunsten der „eigenen“
Besitzansprüche verbinden sich mit Begründungen über die Minderwertigkeit von
Völkern, gegen die vorgegangen werden müsse. Der Imperialismus verkauft sich
als „Volksgemeinschaft“, die um ihren „Platz an der Sonne“ oder ihren „Lebensraum“
zu kämpfen habe, und dass man, wenn man diesen Kampf nicht führt, als „Rasse“
zum Untergang verurteilt sei. Die Terminologie mag sich geändert haben, denn
heute spricht man lieber vom „Zusammenstoß der Kulturen“ und der Notwendigkeit,
unsere „Lebensweise“ zu verteidigen, aber das Prinzip der ideologischen
Verschleierung der eigentlichen imperialistischen Ziele hinter strukturell
weiterhin rassistischen Pseudobegründungen ist dasselbe.

Der Imperialismus schafft nun
die kapitalistischen Krisen, die in den Grundwidersprüchen des Kapitals
angelegt sind, keineswegs ab – im Gegenteil: Er verschärft die Heftigkeit der
Krisen, die insbesondere das Kleinbürgertum immer wieder in seiner Existenz
bedrohen und auch die scheinbaren Sicherheiten der bessergestellten Teile der
ArbeiterInnenklasse wieder zerstören. Auch dann ist die Ablenkung der folgenden
Massenverzweiflung auf die angeblich dem ganzen Volk gemeinsamen FeindInnen im
Äußeren und Inneren für das Kapital wesentlich. Der Rassismus ist dabei eine nützliche
Waffe. Für das Kleinbürgertum ist schon seit Beginn der Neuzeit das Judentum
bei jeder Krise ein Hauptverdächtiger. In der Epoche des Imperialismus, in der
Finanz- und Industriekapital zusammenwachsen, werden diese altbekannten
FeindInnen nunmehr zum „Finanzjudentum“. Schon lange hatte das Kleinbürgertum
ideologisch zwischen dem guten, gerechten Tausch der „kleinen Betriebe“ und den
bösen Aspekten der großen Industrie und Geldwirtschaft unterschieden (siehe
z. B. bei Proudhon). Nunmehr verfestigte sich der
pseudo-antikapitalistische Antisemitismus immer mehr zu einer Abspaltung des
bösartigen, „jüdischen Finanzkapitals“ von einer an sich produktiven und dem
Volk wohlgesinnten nationalen Industrie. Bei den Nazis heißt das dann: das
„raffende jüdische Kapital“ gegenüber dem „schaffenden deutschen Kapital“
(117). Nachdem andererseits sozialistische Organisationen für viele Juden und
Jüdinnen zur politischen Heimat geworden waren und sich diese Organisationen
auch mehr oder weniger gegen die „nationalen“ Agitationen wandten, war klar,
dass die bürgerliche Ideologie den ganz großen Feind am Werk sah: die jüdische
Weltverschwörung durch Finanzkapital auf der einen Seite, internationalistische
SozialistInnen auf der anderen Seite, ergänzt durch die die „Volkskultur“
zersetzenden jüdischen Intellektuellen in Kunst, Wissenschaft und Presse.

Diese Tendenz zur Verschmelzung der „feindlichen Rassen“ in einen zusammengefassten Feind hat eine zwingende Logik, wie Abraham Léon bemerkte: „Ebenso wie es nötig ist, die verschiedenen Klassen in einer Rasse aufgehen zu lassen, muss diese Rasse auch einen gemeinsamen Feind haben: den internationalen Juden. Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden. Die Rassengemeinschaft baut auf dem Hass gegen die Juden auf“ (118).

Dies ist ein entscheidender
Punkt. Die Verschärfung des Rassismus im Imperialismus bedingt, dass der
Antisemitismus tatsächlich eine neue Qualität bekommt: die Zuspitzung des
Rassismus in der Konstruktion einer Rasse, die angeblich alle anderen Rassen
als eine Art Antirasse bedroht. Natürlich können auch andere „Rassen“ wie
z. B. heute in vielen Teilen Europas „die MuslimInnen“ als Antithese zur
Evozierung der „Volksgemeinschaft“ dienen, die sich zur Verteidigung des
Abendlandes zusammenzuschließen habe. Aber hier ist der reale Gehalt der
angeblichen ökonomischen Bedrohung (Untergrabung des „Sozialstaates“ durch die
Kosten der Migration und Sicherheitsmaßnahmen) nicht von derselben Tragweite.
Beim Antisemitismus geht es um einen Protest, der einen „bösen“ Teil des
globalen Kapitalismus im Verbund mit deren angeblichen Hilfskräften in Politik
und Gesellschaft absprengen will. Er bedeutet die Schaffung einer zu
eliminatorischen Aktionen bereiten rassistischen Volksgemeinschaft (oder
„Rassegemeinschaft“, wie Léon es nennt). Er mobilisiert zum scheinbaren
Aufstand gegen das jüdische Kapital, um dies zu benutzen, die eigentlichen
GegnerInnen des Kapitals zu eliminieren – und um letztlich in Kauf zu nehmen,
dass der irrationale Pogromismus gegen die Juden und Jüdinnen aller Klassen
unkontrollierbar wird. Was auch immer die bürgerlichen Kreise, die die Nazis
1933 an die Macht brachten (mit dem Zweck der Zerschlagung von
ArbeiterInnenbewegung und parlamentarischer Demokratie) von deren
Antisemitismus hielten – ihnen musste bewusst gewesen sein, wie viele Elemente
von Adel, Bourgeoisie, Beamtenschaft, Militärs, KleinbürgerInnen etc. zur
tatsächlichen „Endlösung der Juden-/Jüdinnenfrage“ bereit waren. Der
militärisch-industrielle Apparat, der zur millionenfachen industriellen
Massentötung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen eingesetzt wurde, war
allerdings in seiner Dimension kaum vorstellbar. Die Shoa ist sicher die
grauenvollste Ausprägung der Monstrositäten des Imperialismus.

Dass neben dem „jüdischen Kapital“ auch der internationale Sozialismus und viele Aspekte der kulturellen Moderne in dieses System der Antirasse gebracht werden, hat noch einen weiteren Aspekt. Sigmund Freud hat dies in den 1930er Jahren in seinen Analysen zum Antisemitismus (119) als verallgemeinerten Hass auf den Fortschritt bezeichnet. Der „jüdische Geist“ werde mit der Infragestellung von Traditionen und überkommenen Lebensweisen identifiziert, der alles mit abstrakten Prinzipien und einem universalistischen Gerechtigkeitsbegriff auf den Prüfstand setze. Selbstinfragestellung, Triebverzicht und geforderte Ich-Stärkung des Modernisierungsprozesses würden zu Abwehrreaktionen mit großem Aggressionspotential führen. Im Wesentlichen nimmt Adorno dies in der „Dialektik der Aufklärung“ wieder auf, wenn er den Antisemitismus als tief verwurzelt im modernen Zivilisationsprozess ansieht, als Leiden an „der mit Herrschaft verknüpften Rationalität“ (120). Wieder wird „der Jude/die Jüdin“ zur Verkörperung der sehr allgemeinen und komplexen kulturellen Widersprüche des neuzeitlichen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses. Am deutlichsten wird diese „Kehrseite“ der modernen Rationalität im Judentum verkörpert bei Friedrich Nietzsche, der „den Juden und Jüdinnen“ den „Sklavenaufstand der Moral“ vorwarf (121). Das von den Zwängen und Einengungen der rationalisierenden Institutionen befreite Individuum (für das Nietzsche bei vielen Postmodernen heute so geschätzt wird) war dann damit der „vom Judentum befreite“ Herrenmensch (122).

6.6 Trotzki zu Antisemitismus,
Imperialismus und Perspektive des Judentums

Lew Bronstein, genannt Trotzki, war Kind von jüdischen Mittelbauern/-bäuerinnen in der Ukraine. Sein Vater hatte die Möglichkeit ergriffen, im jüdischen Ansiedlungsrayon in der Nähe von Odessa Land zu pachten, und hatte seinen Betrieb systematisch ausgedehnt. Trotz der Restriktionen, die nur 10 % der Juden und Jüdinnen zu höheren Schulen zuließen, konnte Trotzki sich den Weg bis zum Studium durchkämpfen. Er hatte also schon sehr früh mit den praktischen Folgen des Antisemitismus im Zarenreich Erfahrungen gemacht und war sich zeitlebens (wie er in späteren Schriften deutlich machte) der Wirksamkeit des Antisemitismus (nicht nur) in der russischen Gesellschaft bewusst. Er ging jedoch seit seinen ersten politischen Aktivitäten voll und ganz in der russischen und internationalen ArbeiterInnenbewegung auf und war nie auf den Gedanken gekommen, sich gesondert, in einer jüdischen Organisation wie dem „Bund“, zu betätigen. In einer Schrift aus dem Jahr 1937 sagt er: „Während meiner Jugend tendierte ich zu der Prognose, dass die Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Ländern mehr und mehr dort assimiliert würden und so die ‚jüdische Frage‘ praktisch automatisch verschwinden würde“ (123). Dies waren im Grunde die Auffassung der ArbeiterInnenbewegung zu Beginn des Jahrhunderts und auch die der meisten säkularen Juden und Jüdinnen. Dabei macht Trotzki klar, dass er diese „Assimilations“-Perspektive nie als einen Zwang zur Aufgabe einer Identität gesehen habe. In Bezug auf ein geplantes Ansiedlungsgebiet für Juden und Jüdinnen in der Sowjetunion (Birobidschan) bemerkte Trotzki, dass es in einer sozialistischen Gesellschaft weder einen Zwang zur Ansiedlung in einem bestimmten Gebiet noch einen Zwang zur Assimilierung geben dürfe, zwischen denen man zu wählen habe: „Ist es nicht korrekt zu sagen, dass eine sozialistische Weltföderation die Möglichkeit eines ‚Birobidschan‘ für diejenigen Juden und Jüdinnen schaffen würde, die sich in einer autonomen Republik als einer Arena für ihre eigene Kultur organisieren wollen? Es muss vorausgesetzt werden, dass die sozialistische Demokratie keine Zwangsassimilation zulässt“ (124).

In Bezug auf die Assimilationsprognose bemerkte Trotzki 1937, dass er seinen ursprünglichen Optimismus wie viele andere habe aufgeben müssen: „Die historische Erfahrung des letzten Vierteljahrhunderts hat diese Perspektive nicht bestätigt. Der niedergehende Kapitalismus hat überall einen wild gewordenen Nationalismus hervorgebracht, von dem ein Element der Antisemitismus ist. Die jüdische Frage wurde extrem gerade in einem der entwickeltsten Länder, in Deutschland, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Andererseits haben sich die Juden und Jüdinnen in verschiedenen Ländern stärker zusammengeschlossen, haben ihre eigene Presse, ihre eigene Literatur in jiddischer Sprache befestigt. Man muss daher anerkennen, dass die jüdische Nation sich für längere Zeit als eigenständig darstellen wird“ (125).

6.6.1 Trotzki über den eliminatorischen
Antisemitismus

Früher als viele andere
KommunistInnen erkannte Trotzki die extreme Gefahr, die von den Nazis ausging,
speziell auch für Juden und Jüdinnen. In den 1920er Jahren wurde er mit seinen
Mahnungen noch als Schwarzseher und Phantast verurteilt – inzwischen haben sich
seine Prognosen längst als überaus weitsichtig erwiesen. Trotzki ging nicht
davon aus, dass es sich beim Faschismus einfach um eine besondere Form der
Diktatur des Monopolkapitals handle. Er erkannte, dass Faschismus wesentlich
auf einer anti-modernistischen Massenmobilisierung beruht, die sehr aggressive
reaktionäre Momente weckt, die dann mit der Machtergreifung auch zu ständigem
Terror benutzt werden, also nicht einfach nur ein Mittel zur Errichtung einer
sonst wieder ganz „normalen“ Diktatur sind.

Im „Portrait des Nationalsozialismus“ analysiert Trotzki 1934 die Grundzüge der Nazi-Ideologie als Ausdruck eines durch die krisenhafte Entwicklung der Gegenwart verzweifelten Kleinbürgertums. Die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten suchten nach einer höheren „Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Zwangsversteigerung“ (126). Der grausamen Realität werde „der nationale Idealismus als Quelle des Heldischen entgegengestellt“ (127). In der post-religiösen Welt habe der Nationalsozialismus dieses „Höhere“ in der Rassenideologie gefunden: „Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert“ (128). Praktisch führe dies zu einer besonders aggressiven Form des Chauvinismus, einer extremen Ausgrenzungspolitik gegenüber allen als „nicht-germanisch“ Eingestuften und einer Todfeindschaft gegenüber allen Feinden von „Rassenpolitik“, also vor allem gegenüber Liberalen und SozialistInnen.

Diese rückständige Ideologie finde ihren Rückhalt in verzweifelten Teilen der Gesellschaft, da die kapitalistische Entwicklung auch nur bedingt zu einer entsprechenden geistig-sozialen Höherentwicklung geführt habe: „Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Geistern und Beschwörungen zu glauben (…). Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden müsste, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei“ (129).

Diese „unverdaute Barbarei“, dieses „Kulturexkrement“, einmal an die Macht gekommen, etabliert natürlich nicht die Herrschaft des Kleinbürgertums. Wirtschaftspolitisch unterscheidet sich der Faschismus nicht sonderlich von anderen kapitalistischen Krisenregimen – jedenfalls bleibt das Privateigentum an den Produktionsmitteln weitestgehend unangetastet. Die chauvinistisch-rassistischen Elemente der kleinbürgerlichen Massenmobilisierung werden dagegen innen- wie außenpolitisch weiterhin genutzt. Wirtschaftspolitisch trifft es natürlich auch Teile der jüdischen Besitzenden, die aber nur einen verschwindend kleinen Anteil am gesamten Kapital ausmachten. Seine wirtschaftspolitisch ohnmächtigen Handlungen muss der Faschismus durch umso heftigere antisemitische Aktionen verbergen, gepaart mit der Ideologie vom produktiven „deutschen“ Kapital, das vom „raffenden“ jüdischen befreit werden müsse. „Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat“ (130).

Einmal an die Macht gekommen, würden die kleinbürgerlichen Illusionen, die „unverdaute Barbarei“, nicht einfach abgeschafft, sondern „von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst“ (131). Das Pogrom wird aus seiner mittelalterlichen Gestalt auf die Ebene der bürokratisch organisierten Aktion moderner Massenorganisationen gehoben. Im Kern jedoch erhebe sich der Faschismus „über die Nationen als reinste Verkörperung des Imperialismus… Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus … bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung von Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Man kann ihn nur stürzen. Der politische Weg der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder Revolution“ (132).

Als die Alternative „Krieg“ immer klarer wurde, schrieb Trotzki 1938, wiederum als ungehörter „Prophet“: „Die Zahl der Länder, die Juden vertreiben, wächst ohne Unterlass. Diejenigen, die Juden aufnehmen, werden immer weniger. Dagegen wird die Verfolgung immer heftiger. Es ist ohne Schwierigkeit möglich, sich vorzustellen, was die Juden schon bei einem Ausbruch eines neuerlichen Weltkrieges erwartet. Aber auch ohne Krieg wird die nächste Entwicklung der weltweiten Reaktion zur physischen Ausrottung der Juden führen“ (133).

6.6.2 Kein Platz für jüdische
Flüchtlinge?

Gleichzeitig warnte Trotzki vor Illusionen in den „demokratischen Imperialismus“. Die Krisenregime in den USA, in Frankreich und Britannien hatten ihrerseits viele Elemente des Faschismus aufgenommen – nicht nur, was rassistische Kolonialpolitik, mörderischen Antikommunismus, autoritäre Politik betraf, sondern auch die Beförderung eines wachsenden Antisemitismus. Besonders drückte sich Letzteres in einer immer restriktiveren Abschottung gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus: „Die Frage, hundert zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, wird zu einem ‚Hauptproblem‘ für eine derartige Weltmacht wie die USA. In einer Ära der Luftfahrt, des Telefons, des Radios und des Fernsehens wird die Reise von einem Land in ein anderes durch Pässe und Visa gelähmt. Die Periode des Nachlassens des Welthandels … ist gleichzeitig eine Periode der enormen Steigerung von Chauvinismus und Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstiegs holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als Instrumente seiner Handelsexpansion. Heute bemüht sich die niedergehende kapitalistische Gesellschaft, die Juden bis zum letzten Tropfen auszupressen; 12 Millionen Menschen von den rund 2 Milliarden, die die Erde bevölkern, d. h. weniger als 1 %, können heute keinen Platz mehr auf unserem Planeten finden! Inmitten der Ausdehnung nutzbaren Landes und der Wundertaten der Technik … hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein ekelerregendes Gefängnis zu verwandeln“ (134). Mit der Tendenz zu Rassismus, Verfolgung, Krieg und den so produzierten Migrationswellen bringt der Imperialismus zugleich die Tendenz zu repressiven Grenzregimen und Konzentrationslagern hervor.

Dass die „demokratischen ImperialistInnen“ auch nach 1945 trotz der Erkenntnisse, die aus der Befreiung der KZs hätten gezogen werden können, weiterhin durch Antisemitismus geprägt waren, zeigt eine Episode, die Isaac Deutscher über die alliierte Militärverwaltung in Deutschland 1946 berichtete. Der britische Stellvertreter Eisenhowers, Generalleutnant Frederick Edgeworth Morgan, erklärte in einem Economist-Interview, es „drohe“ ein „Exodus“ von Juden und Jüdinnen aus Polen. Diese hätten „die Taschen voller Geld“. Sie würden alle „unglaubhafte“ Geschichten von Verfolgung und Gewalttaten berichten. Er vermute eine Organisation dahinter, die das alles finanziere. „Er glaube, dass eine ‚Weltorganisation der Juden im Entstehen‘ sei, die einen ‚ausgearbeiteten Plan für einen zweiten Exodus‘ hätten“ (135). Neben dem Entsetzen über einen solchen Ausbruch antisemitischer Stereotype an der Spitze der alliierten Administration (Morgan war auch noch für die Organisation der Flüchtlingsfrage verantwortlich) fragte Deutscher: „Was hat die zivilisierte Welt den Überlebenden von Bergen-Belsen, von Auschwitz, Dachau und Majdanek zu bieten? … Ist es denkbar, dass die großen demokratischen Nationen dieser Welt so hilflos geworden sind, dass sie den Juden nirgendwo auf dem Erdball einen Streifen Land anbieten können, oder einige hunderttausend Visa, um in ihre Länder einreisen zu können? Oder sind sie etwa so arm geworden, dass sie keine Geste der Barmherzigkeit mehr übrig haben für die elendsten Hinterbliebenen und Opfer dieses Krieges – die Überreste eines außergewöhnlichen, eines unglücklichen, aber nicht völlig unbedeutenden Volkes?“ (136).

6.6.3 Perspektive des jüdischen
Volkes nach der Shoa?

Diese Frage nach der Perspektive des jüdischen Volkes gerade unter den absehbaren Bedingungen der enormen Verfolgungen, die der moderne Antisemitismus in der Krise des Imperialismus hervorbringen würde, stellte auch Trotzki schon in den 1930er Jahren. Nachdem er, wie oben schon zitiert, die „Assimilations-Perspektive“ der alten ArbeiterInnenbewegung für inzwischen illusorisch erklärt hatte, hielt er zugleich weiterhin daran fest, dass eine fortschrittliche Lösung der Frage der jüdischen Nation nur im Rahmen einer globalen sozialistischen Perspektive möglich sei: „Ich weiß nicht, ob sich das Judentum je wieder als eigenständige Nation etablieren kann. Jedoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die materiellen Bedingungen für eine eigenständige jüdische Nation nur durch die proletarische Revolution hervorgebracht werden können. Es gibt auf unserem Planeten nichts, was den Anspruch einer Nation auf irgendein bestimmtes Territorium rechtfertigen würde“ (137).

Von diesem Prinzip ausgehend, beurteilte Trotzki sowohl die Massenmigration nach Palästina kritisch als auch den Versuch der UdSSR, eine autonome jüdische Region Birobidschan zu bilden. In Palästina würde die Massenmigration entweder mit Unterstützung des britischen Imperialismus durchzuführen sein oder im Widerstand gegen ihn. Und gerade als die antisemitische Verfolgung am schärfsten in Europa wütete, war das britische Einreiseregime nach Palästina am restriktivsten. Außerdem war auch Trotzki schon klar, dass ein jüdisch-arabischer Ausgleich unter den Bedingungen des britischen Mandats sehr schwierig sein würde. Er erkannte, dass in den arabischen Aufständen der 1930er Jahre berechtigter antikolonialer Widerstand mit „reaktionärem Islamismus und antisemitischem Pogromismus“ verbunden war (138). „Die Etablierung eines jüdischen Territoriums in Palästina oder irgendeinem anderen Land auf der Welt ist unvorstellbar ohne eine Einwanderung von großen Menschenmassen. Nur ein siegreicher Sozialismus könnte eine solche Aufgabe erfolgreich lösen. Dies müsste entweder auf der Grundlage einer gegenseitigen Verständigung erfolgen oder würde eine Art von internationalem proletarischem Tribunal erfordern, das die Frage aufnimmt und löst“ (139).

Tatsächlich führten die
Einwanderungsbeschränkungen in die USA (Immigration Act von 1924), ähnliche
Einschränkungen auf der ganzen Welt in den folgenden Jahren und der zunehmende
Antisemitismus in den 1930er Jahren dazu, dass die bis dahin geringen Zahlen
der zionistisch organisierten „Alija“ (der „Rückkehr“ in das gelobte Land)
stark in die Höhe schnellten: Die fünfte Alija von 1930 bis 1939 verdoppelte
die jüdische Einwohnerzahl in Palästina auf fast eine halbe Million. Danach
wurde die Einwanderung illegal als „Alija Bet“ (Ha’apala) weiterorganisiert,
was bis zur Staatsgründung Israels weitgehend über Untergrundorganisationen und
in starker Konfrontation mit den britischen Behörden geschah. Wie schon gesagt,
beinhaltete dies auch die Auseinandersetzung mit dem antijüdisch eingestellten
alliierten Besatzungsregime in Europa (sowohl im Westen als auch in den von der
Roten Armee besetzten Gebieten Osteuropas). Anders, als es Trotzki
vorhergesehen hatte, war trotz aller Widrigkeiten eine Massenmigration nach
Palästina erfolgt, die mit 650.000 Juden und Jüdinnen ein Ausmaß erreichte, das
für eine Staatsgründung reichte. Die politische Führung (insbesondere nach den
Unabhängigkeitskämpfen und der Einwanderungsorganisation) lag in den Händen des
aus der Poale Zion hervorgegangenen linken Awoda-Zionismus. Dieser mag durchaus
eine sozialistische Perspektive für das künftige Israel in seinen offiziellen
Erklärungen vertreten haben. Anders als die, in Palästina marginalen,
VertreterInnen des jüdischen Bundes trat er jedoch nicht für einen
jüdisch-arabischen Ausgleich ein, sondern für einen rein jüdischen Staat.

Insofern bleibt Trotzkis Einschätzung richtig, dass die berechtigte Perspektive einer Massenflucht nach Palästina nur dann zu einer fortschrittlichen Lösung der Frage der jüdischen Nation geführt hätte, wenn sie mit der Frage eines jüdisch-arabischen Ausgleichs verbunden worden wäre. Isaac Deutscher hat das Problem des Fehlens einer solchen Perspektive mit folgender Parabel veranschaulicht: „Einmal sprang ein Mann aus dem obersten Stock eines brennenden Hauses, in dem bereits viele seiner Familienangehörigen umgekommen waren. Er konnte sein Leben retten, aber im Herunterfallen schlug er auf jemanden auf, der unten stand, und brach diesem Mann Arme und Beine. Der Mann, der sprang, hatte keine Wahl, aber für den Mann mit gebrochenen Gliedern war er die Ursache seines Unglücks. Wenn sich beide rational verhielten, würden sie keine Feinde werden. Der Mann, der aus dem brennenden Haus entkam, würde, sobald er sich erholt hätte, versuchen, dem anderen Betroffenen zu helfen und ihn zu trösten; und jener hätte vielleicht eingesehen, dass er das Opfer von Umständen geworden war, die keiner von beiden unter Kontrolle hatte“ (140).

In Übertragung auf den Gründungsprozess Israels hätten jedoch die gerade dem Inferno Entkommenen keinen Gedanken an einen Ausgleich mit den PalästinenserInnen verschwendet. „Israel hat die Berechtigung für den Groll der Araber niemals anerkannt. Von allem Anfang an hat der Zionismus auf die Schaffung eines rein jüdischen Staates hingearbeitet und war froh, die arabischen Bewohner des Landes loszuwerden. Keine israelische Regierung hat sich je ernsthaft bemüht, das Übel aus der Welt zu schaffen oder zu mildern. Sie lehnten es sogar ab, das Schicksal der riesigen Flüchtlingsmassen in ihre Überlegungen einzubeziehen, solange die arabischen Staaten Israel nicht anerkannten, d. h., solange die Araber sich nicht politisch ergaben“ (141).

Die „jüdische Frage“ hat sich
seit 1948 sicherlich gewandelt. Heute gibt es einen Territorialstaat, in dem
eine jüdische Nation besteht. Dieser Nationalstaat hat jedoch einige Besonderheiten,
die aus der Art seiner Entstehung folgen. Aus einem Fluchtpunkt vor dem
weltweiten Antisemitismus wurde Israel zu einem Kolonialprojekt – und dies
ausgerechnet am Beginn einer Periode der (scheinbaren) Entkolonialisierung.
Nach einer Phase der Auseinandersetzung mit der in Palästina herrschenden
Kolonialmacht folgte ein Arrangement mit den alten europäischen und später mit
dem neu eingreifenden US-Imperialismus. Der entstandene jüdische Nationalstaat
beruht von Beginn an auf der Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung der Region
und einer extremen Militarisierung mit imperialistischer Unterstützung. Weder
von der Politik noch von der ökonomischen Potenz her kann Israel die jüdische
Diaspora als Ganzes aufnehmen, für diese sprechen oder gar als deren „Heimat“
angesehen werden. Israel und „das Judentum“ können deshalb weiterhin nicht in
eins gesetzt werden, auch wenn die „Diaspora“ und Israel eine komplexe
Beziehung haben.

Es ist unbestreitbar, dass es
heute eine zahlenmäßig bedeutsame jüdische Nation in Palästina gibt und als
solche auch in ihrer Existenz dort von SozialistInnen anerkannt werden muss –
ebenso wie die palästinensische. Irgendwelche historischen oder mythologischen
Ansprüche auf „unser Land“ haben für SozialistInnen keine Geltung. Die Frage
ist vielmehr, wie beide Nationalitäten in Palästina zu einem gleichberechtigten
und friedlichen Zusammenleben finden können. Wir gehen dabei wie Trotzki in den
1930er Jahren davon aus, dass dies nur in einer sozialistischen Perspektive
möglich sein wird, die die Klassenfrage vor die nationale Frage stellt und auf
diese Weise einen sozialistischen, binationalen Staat ermöglichen würde.
Gegenwärtig jedoch ist der bestehende Staat Israel durch rassistische
Ausgrenzung und Besatzung großer, von PalästinenserInnen bewohnter Gebiete
geprägt. Der Widerstand der PalästinenserInnen ist hiermit ein berechtigter
Kampf gegen die Unterdrückung nationaler Selbstbestimmung. Die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der jüdischen Nation in Palästina ist damit nicht gleichbedeutend
mit der Anerkennung Israels als „jüdischer Staat“, weil damit in seinem Kern
das nationale Selbstbestimmungsrecht anderer dort lebender Nationalitäten
negiert wird genauso wie ein unberechtigter Vertretungsanspruch für alle
weltweit lebenden Juden und Jüdinnen damit verbunden ist. Ebenfalls haben
SozialistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das „Königreich Polen und
Litauen“ nicht anerkannt und es bekämpft, weil es das Konstrukt des russischen
Imperialismus war, das die Selbstbestimmung osteuropäischer Völker,
insbesondere der PolInnen, wesentlich unterdrückt hat. Sie haben stattdessen
für die Überwindung dieses politischen Konstrukts durch eine sozialistische
Föderation der betroffenen Nationen gekämpft.

6.7 Oktoberrevolution,
Stalinismus und der Mythos vom „linken Antisemitismus“

6.7.1 Perspektive der
Weltrevolution als Überwindung des Antisemitismus

Der Sieg des Faschismus und das
mörderische Wirken des eliminatorischen Antisemitismus waren in keiner Weise
notwendig und unvermeidlich. Das lässt sich nur durch die zumindest auf
globaler Ebene ausbleibende sozialistische Antwort auf die Menschheitskrise
namens Imperialismus verstehen. Die sozialistischen Mehrheitsparteien wurden
durch die Verbürgerlichung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in den
imperialistischen Ländern und die Integration ihrer bürokratischen Apparate in
Staat und Wirtschaft letztlich zu sozialchauvinistischen Bestandteilen des
bürgerlichen Systems. Mit ihrer Kapitulation zu Beginn des Ersten Weltkriegs
gingen die sozialistischen Mehrheitsparteien praktisch in das Lager der
Konterrevolution über, um diese Rolle dann am Ende des Krieges, während der
revolutionären „roten Welle“, konkret auszufüllen. Doch mit der Abspaltung der
kommunistischen Parteien und der siegreichen Oktoberrevolution war eine
revolutionäre Alternative entstanden, die in der notwendigen Radikalität dem
imperialistischen Weltsystem die sozialistische Weltrevolution als Strategie
entgegensetzte. Auch für viele Juden und Jüdinnen war die Perspektive der Weltrevolution
mit der Hoffnung auf die Überwindung von Diskriminierung und antisemitischer
Verfolgung verbunden, doch der jüdische „Bund“ beteiligte sich an dem Regime
der Februarrevolution und glitt mehrheitlich mit den Menschewiki in das Lager
der SozialchauvinistInnen ab. In der Folge spaltete sich die Linke des Bundes
ab und unterstützte die Bolschewiki in der Oktoberrevolution und im
Bürgerkrieg. Der „Kommunistische Bund“ blieb bis Anfang der 1920er Jahre als
eigenständige, aber mit der KPR(B) verbundene, Organisation bestehen.

In der frühen Sowjetunion
wurden, entsprechend der Lenin’schen Nationalitätenpolitik, verschiedenste
Maßnahmen zur Selbstbestimmung der jüdischen Menschen ergriffen. Dies betrifft
nicht nur die Einführung des Jiddischen als Unterrichtssprache in Schulen ab
einem bestimmten Anteil jüdischer SchülerInnen und die Förderung jiddischer
Literatur, eines jüdischen Nationaltheaters und drei überregionaler Zeitungen.
Es betrifft vor allem die Abschaffung aller diskriminierenden Beschränkungen für
Juden und Jüdinnen in der traditionellen russischen Gesetzgebung sowie die
Verwendung des Jiddischen als Amtssprache, wo notwendig. Zur Durchführung
dieser Maßnahmen wurden auch jüdische MinderheitenvertreterInnen in die
entsprechenden Sowjetorgane delegiert. In der Kommunistischen Partei wurde 1918
eine jüdische Sektion, die Jewsekzija, gegründet. Der jüdische „Kommunistische
Bund“ integrierte sich 1921 in die Jewsekzija, während „Bund“ und Poale Zion
bis 1926 legal weiterbestehen konnten. Es wurde zwar wie gegen alle religiösen
und nationalistischen Strömungen (vor allem die Russisch-Orthodoxe Kirche) auch
gegen das Rabbinat vorgegangen und das Hebräische im öffentlichen Gebrauch
verboten, jedoch wurde mit dem Nationaltheater „Habimah“ (Die Bühne) das erste
bedeutende jüdische Theater in hebräischer Sprache geschaffen. Dieses Theater
migrierte 1928 nach Palästina und wurde der Kern des heutigen israelischen
Nationaltheaters.

6.7.2 Die Degeneration von
Sowjetunion und KomIntern und die Folgen

Die Niederlagen der
revolutionären Welle des europäischen Proletariats nach dem Ersten Weltkrieg,
die Isolierung der Sowjetunion, deren bürokratische Degeneration und die
folgende Gleichschaltung und der Niedergang der KomIntern bildeten
entscheidende Voraussetzungen dafür, dass Faschismus und eliminatorischer
Antisemitismus in Europa den Siegeszug antreten konnten.

Schon 1919 standen die
KomIntern und die neu gegründeten kommunistischen Parteien vor der Aufgabe, aus
den Niederlagen politische Lehren zu ziehen – auch hinsichtlich des Auftauchens
neuer militanter Formen der extremen Gegenrevolution, des Faschismus.
Angesichts der Neuartigkeit dieser Form der Konterrevolution verwundert es
nicht, dass die wichtigsten Charakteristika von Faschismus und
Nationalsozialismus als reaktionär-kleinbürgerliche und „kämpferische“
Massenbewegungen nicht oder nur unzureichend erkannt wurden. So wurden darunter
oft und geradezu inflationär einfach Formen extremer Repression der
(halb)bonapartistischen Diktatur verstanden, im Extremfall wurden bereits frühe
Versionen der „Sozialfaschismustheorie“ vertreten. Damit einher ging somit auch
immer wieder eine Unterschätzung und Verkennung der Bedeutung des
Antisemitismus als ideologisches, völkisch-nationalistisches Bindungsmoment,
vor allem im Nationalsozialismus.

In ihrer Frühphase betrachtete
die KPD den Antisemitismus und völkischen Nationalismus zweifellos als eine
bedeutende Gefahr. Nicht zuletzt waren wichtige KPD-FührerInnen, z. B.
Luxemburg, dann Leviné (der Führer in der Münchner Räterepublik), selbst
prominente Ziele antisemitischer Hetze und Verschwörungstheorien. Zu Recht
verurteilte die KPD nicht nur Anschläge der Rechten und die Hetze gegen die KPD
und die ArbeiterInnenbewegung, sondern brandmarkte auch den reaktionären
Charakter antisemitischer Angriffe gegen jüdische Intellektuelle und
Bürgerliche, darunter auch die Ermordung Walter Rathenaus.

Die Analyse des Antisemitismus,
und erst recht des Faschismus, blieb jedoch unzureichend. Dies musste
notwendigerweise nicht nur mit einer Unterschätzung der faschistischen Gefahr
einhergehen, sondern konnte unter veränderten politischen Konstellationen auch
zu einer opportunistischen Anpassung an die nationalistische Rechte oder den
Antisemitismus führen. Die Ruhr-Besetzung 1923 ging in der KPD und in der
KomIntern mit einer Anpassung an nationalistische Stimmungen einher, weil die
nationale Frage nicht den Rechten überlassen werden sollte.

Einen ersten Höhepunkt stellten
die Schlageter-Rede Radeks und die folgende Eröffnung von (nur kurze Zeit
andauernden) Diskussionen mit VertreterInnen der „nationalistisch-völkischen“
Opposition dar. Diese Abenteuer verwirrten jedoch nicht die Rechten, sondern
die eigenen AnhägerInnen, erschwerten zugleich die Gewinnung
sozialdemokratischer ArbeiterInnen und rechtfertigten im schlimmsten Falle den
Antisemitismus.

Eine extreme Anpassung diesbezüglich finden wir in der Rede Ruth Fischers an der Humboldt-Universität am 25. Juli 1923 vor kommunistischen StudentInnen, zu der auch deren völkische KommilitonInnen eingeladen waren. Dort heißt es: „Das deutsche Reich (…) kann nur gerettet werden, wenn Sie, meine Herren von der deutschen völkischen Seite, erkennen, daß sie gemeinsam mit den Massen kämpfen müssen, die in der KPD organisiert sind.“ (142)

Und weiter: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner…“ (143)

Diese abstoßenden politischen
Abenteuer stießen jedoch auch auf offene Kritik – z. B. durch Zektin –,
wobei diese Kritik eng mit den Auseinandersetzungen um die sogenannte
Offensivtheorie, die nationale Frage und die Einheitsfrontpolitik verbunden
war. Entscheidend ist jedoch, dass hier der Antisemitismus nur noch als
verwerflich gilt, wenn er sich gegen die jüdischen ArbeiterInnen richtet. Die
Hetze gegen jüdische KapitalistInnen wurde hingegen von der KDP schon recht
früh verharmlost.

Nach 1925 und dem Sturz von
Fischer/Maslow verschwinden laut Kessler die antisemitischen Ausfälle
weitgehend aus der KPD-Politik, und sie spielen auch eine weit geringere Rolle
als im Fraktionskampf in der Sowjetunion. Allerdings kommt es mit der Wende zur
ultralinken Politik erneut zu schweren politischen Fehlern und einer
systematischen Verharmlosung des Antisemitismus in der Politik der Nazis.
Dieser wird ökonomistisch als „Trick“ bezeichnet, mit dem der Faschismus das
KleinbürgerInnentum und die ArbeiterInnen täuschen wolle. Seine Hetze gegen das
jüdische Finanzkapital wäre nur Schein, in Wirklichkeit würden sie das gesamte
Kapital – auch die jüdischen UnternehmerInnen – verteidigen.

Bis 1933 vermochte die KPD also
ähnlich wie andere Parteien der KomIntern die Bedeutung des Antisemitismus für
die Politik des Nationalsozialismus nicht zu begreifen. Ihre Position
durchläuft enorme Schwankungen, einschließlich von Phasen der politischen
Anpassung und Verharmlosung.

Allerdings stellten für die
KomIntern und die KPD der nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende Faschismus und
die qualitativ gestiegene Bedeutung des Antisemitismus für die Reaktion
zweifellos neue Phänomene dar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie nicht
„sofort“ richtig verstanden wurden. In diesem Sinne waren Schwankungen
unvermeidlich. Die zunehmende politische Degeneration der Kommunistischen
Internationale und der Sowjetunion verhinderte nicht nur eine Überwindung
dieser Schwächen, sondern verschärfte diese. Erstens erstickte sie die
innerparteiliche Demokratie und damit die offene Diskussion um die theoretische
und politische Klärung. Zweitens ging der Aufstieg der stalinistischen
Bürokratie selbst notwendigerweise mit einer Rehabilitierung des Nationalismus
einher.

Trotzki hat sicher Recht, dass
mit dem Verspielen der deutschen Revolution, der Unfähigkeit, die
Machtergreifung der Nazis zu verhindern, die KomIntern auf dem Weg in das Lager
der Konterrevolution war. Der Stalinismus hatte sich spätestens mit der
Volksfrontstrategie mit dem imperialistischen Weltsystem arrangiert, wenn auch
aufgrund seiner sozialen Basis in ArbeiterInnenstaaten in widersprüchlicher
Weise darin eingegliedert.

Die sogenannte Volksfront war
nicht nur ein strategischer Fehler, durch den der proletarische
Klassenstandpunkt und die revolutionäre Perspektive einer
bürgerlich-demokratischen Zwischenetappe untergeordnet wurden. Die angestrebten
BündnispartnerInnen, vor allem im Kleinbürgertum, wurden auch unkritisch ins
„progressive“ Lager schöngeredet. Statt deren reaktionäre Tendenzen, wie sie
sich im Faschismus klar gezeigt hatten, anzugreifen und sie zum Bruch mit den
kleinbürgerlichen Illusionen zu bringen, wurden umgekehrt kleinbürgerliche
Positionen übernommen, insbesondere was Nationalismus oder „Patriotismus“
betrifft. In der Ideologie der Trennung zwischen „patriotischen, produktiven“
Teilen der bürgerlichen Gesellschaft und „aggressiven Teilen des Monopol- und
Finanzkapitals“ schlug man sogar in dieselbe Kerbe wie die Nazis. Bereits in
der Volksfrontpolitik kam es zu einem völligen Bruch mit der
revolutionär-marxistischen Ablehnung des Nationalismus, indem man angeblich
progressiven Patriotismus vom imperialistischen Chauvinismus unterschied. Den
Gipfelpunkt erreichte diese Wende im Patriotismus der „Vaterlandsverteidigung“
der Sowjetunion, in dem die gesamte russische Geschichte in eine Emanation des
Fortschritts und der Verteidigungsnotwendigkeit gegen fremde AggressorInnen umgedichtet
wurde.

Wie in vielen anderen Fragen
zeigt insbesondere die Haltung zur jüdischen Frage den totalen Bruch des
Stalinismus mit dem revolutionären Marxismus, der in der frühen Sowjetunion
durchaus noch zu sehen war. Wenn heute die Aktivitäten Stalins und seiner
NachfolgerInnen (auch im Westen) dafür verwendet werden, um zu zeigen, dass der
revolutionäre Marxismus immer schon eine antisemitische Seite hatte, ja das
Urmodell des „linken Antisemitismus“ sei, so ist dies eine völlige Verkennung
des Bruchs in der Linken, der mit dem Sieg Stalins in der frühen Sowjetunion
einherging. Die in diesem Artikel dargestellten Positionen Lenins und Trotzkis
zur nationalen Frage und ihre klare Positionierung gegen den Antisemitismus
waren von der Überzeugung bestimmt, dass die sozialistische Revolution ein
internationaler Prozess sei, in dem der proletarische Klassenstandpunkt nur ein
internationalistischer sein könne, der sich von nationalistischen und
antisemitischen Haltungen befreien müsse. Ansonsten könne es sich nicht um
einen sozialistischen Standpunkt handeln, und man werde hinter der Bourgeoisie
hertrotten. Die stalinistische Wende zum „Sozialismus in einem Lande“, zur
Wiederentdeckung von Patriotismus und völkischem Populismus, um die permanente
proletarische Revolution zugunsten patriotischer Blöcke „progressiver“ Klassen
etc. aufzugeben, bedeutete letztlich die Aufgabe des revolutionären
Internationalismus zugunsten einer nationalen Außenpolitik der
„real-sozialistischen“ Staaten. Für die linke Kritik, nicht nur durch die von
Trotzki geführte Linksopposition, an dieser Aufgabe des revolutionären
Internationalismus erfand der Stalinismus bald den Begriff des „wurzellosen
Kosmopolitismus“. Während Stalin und seine BürokratInnen angeblich aus der
„Mitte des russischen Volkes“ kämen (auch wenn Stalin selbst eigentlich
Georgier war), seien die InternationalistInnen abgehobene Intellektuelle – oder
eben Juden und Jüdinnen. Anfänglich schreckte die Bürokratie noch vor direktem
Gebrauch des Antisemitismus zurück und verbarg die AdressatInnen der Angriffe
hinter dem Schönsprech-Begriff „wurzellose KosmopolitInnen“. So wurde dieser
Begriff im „Realsozialismus“ als Kampfbegriff sowohl gegen alles Jüdische als
auch gegen die internationalistische Linke allgemein verbreitet. Wenn heute
Sahra Wagenknecht und andere LinkspopulistInnen gegen „Linksradikale“ und
BefürworterInnen offener Grenzen den Begriff des „Kosmopolitismus“ verwenden,
kann vermutet werden, dass sie mehr oder weniger bewusst an diese Tradition
anknüpfen.

6.7.3 Bürokratie und
Antisemitismus

Trotzki erwähnt in seiner
Schrift „Thermidor und Antisemitismus“ (144), dass bereits in den
Fraktionsauseinandersetzungen 1923–1926 von der Stalin-Fraktion die Karte des
Antisemitismus gespielt worden sei, indem verbreitet wurde, die AnhängerInnen
der Linksopposition wären vor allem Juden und Jüdinnen (was nicht einmal der
Wahrheit entsprach). War dies noch verdeckt geschehen, so wurde nach dem
Wechsel von Sinowjew und Kamenew zur Linksopposition 1926 ganz offen gegen „jüdische
Umtriebe“ agitiert. Als Trotzki Bucharin (damals noch ein zentraler
Unterstützer der Stalin-Fraktion) auf diese Agitation ansprach, versprach
dieser, sie zu unterbinden. Heraus kamen jedoch nur unverbindliche
Distanzierungen vom Antisemitismus (145). Tatsächlich wurden die Ausschlüsse
und Exilierungen der Linksoppositionellen mit Mobilisierungen verbunden, auf
denen Slogans wie „Weg mit den Juden und Jüdinnen, rettet Russland“ die Runde
machten. Als die Bürokratie zu den großen Säuberungen ab 1934 ansetzte, wurde
die entsprechende „Einnordung“ auf die zu eliminierenden „FeindInnen“ schon mal
dadurch vorbereitet, dass alle bisher bekannten Parteinamen von Bolschewiki wie
Trotzki, Sinowjew, Kamenew durch ihre ursprünglich jüdischen Namen ersetzt
wurden. Auch Trotzkis Sohn, Sergei Sedow (im Gegensatz zu seinem älteren Bruder
ein völlig unpolitischer Naturwissenschaftler), der sein Leben lang den
Familiennamen seiner Mutter getragen hatte, wurde plötzlich in der Presse zu
Sergei Bronstein. Man warf ihm in einer Kampagne vor, die sowjetischen
ArbeiterInnen über das Trinkwasser vergiften zu wollen (die antisemitischen
Brunnenvergiftermythen lassen grüßen) und ließ ihn wie viele andere nach den
Schauprozessen 1936 erschießen.

Trotzki erklärte dieses Wiederaufleben des Antisemitismus in der Sowjetunion erstens mit der tief sitzenden antisemitischen Kultur in Russland, die durch die kurzen Jahre des revolutionären Prozesses nach der Oktoberrevolution nur am Beginn der Auflösung stand. Mit der stalinistischen Konterrevolution und der Wiederkehr des „Patriotismus“ kam auch der alte großrussische Chauvinismus in all seinen Facetten erneut zum Vorschein, und dies beinhaltete eben auch den Antisemitismus. Zweitens aber sah Trotzki auch einen soziologischen Grund für eine neue Art des Antisemitismus: Da die Sowjetunion einen hohen Bedarf an Staatsbediensteten hatte und diese überproportional in der jüdischen Stadtbevölkerung fand, gab es in der Sowjetbürokratie einen höheren Anteil an Juden und Jüdinnen. Aufgrund der Mangelwirtschaft der frühen Sowjetunion war „der Hass auf die Bürokratie durch Bauern und Arbeiter ein fundamentaler Zug des Sowjetlebens“ (146). Insofern nutzte die Stalin-Fraktion den Antisemitismus einerseits als Ventil für den Unmut mit der Bürokratie – nach dem Motto „die Sowjetbürokratie wäre für euch da, wenn da nicht so viele Juden und Jüdinnen wären“. Andererseits wurden auf diese Weise alle anti-sowjetischen und konterrevolutionären Bestrebungen umgelenkt auf die Stärkung des „großen Führers“; Antisemitismus wurde zum ständigen Mittel innerparteilicher Säuberungen.

Trotzki charakterisiert die
Sowjetbürokratie und ihre Führung, die ihre Privilegien in widersprüchlicher
Weise weiterhin auf der Grundlage nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse
erhielten, als geprägt durch das Gefühl eines ständigen Belagerungszustandes.
Dies wurde neben der allgegenwärtigen Repression auf ideologischer Ebene im
Wesentlichen mit drei Elementen beantwortet: einer dauernden Befeuerung mit
diversen Kampagnen, die den Alltag durchzogen; der Schaffung privilegierter,
arbeiteraristokratischer Schichten, die das Regime trugen; und schließlich
einem unverhohlenen Zurückgreifen auf Nationalismus und andere reaktionäre
Vorurteile, die auch den Antisemitismus einschlossen (147).

So wundert es nicht, dass auch
die Fortschritte, die die Oktoberrevolution für das jüdische Leben gebracht
hatte, unter Stalin nach und nach verschwanden: Abschaffung des jiddischen
Schulunterrichts, Schließung der jiddischen Zeitungen, Säuberung der jüdischen Vertretungsorgane,
Verbot aller selbstständigen jüdischen Organisationen (nicht nur der
zionistischen). 1930 wurde selbst die Jewsekzija aufgelöst. Ihre FührerInnen,
wie Semen Dimenstejn, wurden während der „großen Säuberungen“ 1936 als
„TrotzkistInnen“ verfolgt und liquidiert.

6.7.4 Sowjetunion im zweiten
Weltkrieg – Bollwerk gegen den Antisemitismus?

Isaac Deutscher hat in seiner
bekannten Biographie über Stalin (148) die Schwankungen und letztlich
Steigerungen des Antisemitismus im und nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich
dargestellt. Besonders deutlich stellt Deutscher dar, wie sehr die
Sowjetbürokratie nach Beginn der Nazi-Okkupation alle Register des
Nationalismus und Chauvinismus zu ziehen begann. Der „große Vaterländische
Krieg“ wurde in eine Reihe mit allen möglichen „Freiheitskriegen“ seit Iwan IV.
(dem Schrecklichen) gesetzt. Diese „vaterländische Gesinnung“ beinhaltete die
Verbreitung von Misstrauen gegen „WestlerInnen“ und andere „nichtrussische
Elemente“.

Nach Beginn des Zweiten
Weltkriegs und der Okkupation Ostpolens durch die „Rote Armee“ kamen
beträchtliche Teile der jüdischen Bevölkerung unter sowjetische Herrschaft. Da
die kommunistische Organisation in Polen schwach war, griff die
Sowjetbürokratie notgedrungen auf die Zusammenarbeit mit dem polnischen
jüdischen „Bund“ zurück. Mit Genehmigung Stalins wurde ein „Jüdisches
Antifaschistisches Komitee“ gegründet, zu dessen Führung die bekanntesten
Persönlichkeiten des „Bundes“ gehörten: Henryk Ehrlich und Victor Alter. Nach
dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 wurde dieses Komitee
nach Moskau verlagert, während in den besetzten Gebieten bewaffnete Kräfte
verblieben. Stalin misstraute jedoch jeglicher unabhängiger Organisierung und
ließ die Führung des Komitees 1942 als „Nazi-Spione“ verhaften und liquidieren.
Während des Krieges blieb die Sowjetpropaganda zu den Gräueln gegen die Juden
und Jüdinnen unter deutscher Besatzung jedoch still, weil sie fürchtete, mit
pro-jüdischen Stellungnahmen den russischen Patriotismus zu schwächen (149).
Deutscher weist zu Recht auf den bezeichnenden Umgang mit dem Massaker von
Babij Jar (ukrainisch: Babyn Jar) hin: An diesem Ort nahe Kiew fand Ende
September 1941 eines der schrecklichsten Massaker an Juden und Jüdinnen durch
Massenexekution von mehr als 33.000 Menschen an nur zwei Tagen statt (durch
Einsatzgruppen von SS, SD und Wehrmacht). Dieser Kriegsgräuel konnte der
sowjetischen Öffentlichkeit nicht entgehen. Die Parteipresse stellte zwar das
empörende Ausmaß dar, verschwieg jedoch, dass es sich bei den Opfern
ausschließlich um Juden und Jüdinnen handelte. Auch nach der Eroberung Kiews
und in der Nachkriegszeit wurde weiterhin von Massakern an „sowjetischen
StaatsbürgerInnen“ gesprochen – es wurde bis über Chruschtschow hinaus
jegliches Mahnmahl oder jegliche Erinnerung an die Opfer als Juden und Jüdinnen
verhindert (es sollte sogar über den Ort des Geschehens ein Sportstadium gebaut
werden). In den 1960er Jahren führte diese Missachtung zu einer bedeutenden
Rebellion sowjetischer Intellektueller: Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht „Es gibt
kein Denkmal in Babij Jar“ löste eine heftige Kampagne gegen „KosmopolitInnen“
aus, die mit der Hervorhebung des speziellen jüdischen Schicksals das Leiden
der Sowjetbevölkerung herabsetzen und „Rassenhass“ schüren würden. Als der
berühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch dem entgegentrat und in seiner
Symphonie Nummer 13 das Gedicht „Babij Jar“ Jewtuschenkos vertonte, konnte die
Aufführung 1962 trotzdem nur mit äußerster Mühe durchgesetzt werden. Dieses
Werk stellt ironischerweise eines der ergreifendsten künstlerischen Monumente
zur Shoa dar – trotz oder gerade wegen des Widerstandes, gegen den das Werk
zustande kam.

Auch wenn der „Roten Armee“ das
Verdienst zufällt, Konzentrationslager wie Auschwitz befreit und viele
Millionen Juden und Jüdinnen aus den Schrecken der Nazi-Herrschaft gerettet zu
haben, so bleibt der Makel der Untätigkeit während des Warschauer Aufstandes
(August bis Oktober 1944). Den sowjetischen Streitkräften wäre es ein Leichtes
gewesen, hier (in Abänderung ihrer Offensivpläne) den jüdischen und polnischen
KämpferInnen zu Hilfe zu kommen und somit das Massaker an 200.000 Menschen zu
verhindern. Zu der Zeit wurde bereits die Nachkriegsordnung in Osteuropa
vorbereitet, in der es nur die „Rote Armee“ als einzige bewaffnete Kraft im
sowjetischen „Einflussbereich“ geben sollte. Zu dieser Nachkriegsordnung in
Polen, im Baltikum, in der Ukraine und in Weißrussland gehörte auch, dass man
gegen KollaborateurInnen bei antijüdischen Verbrechen kaum vorging und
antisemitische Ausschreitungen weiterhin duldete. So wurde die Auswanderung der
überlebenden Juden und Jüdinnen aus Osteuropa durch die sowjetische Politik
wesentlich mitbefördert.

6.7.5 Die Sowjetunion und die
Gründung des Staates Israel

In die Phase des Kriegsendes
und der Nachkriegszeit gehört auch eine kurzzeitige Annäherung von Stalinismus
und Zionismus. Durch das Bündnis mit den USA und Großbritannien und die
Verhandlungen von Teheran, Jalta und Potsdam verfielen die StalinistInnen auf
die Illusion einer Fortsetzung dieser Kooperation nach dem Krieg, wodurch die
Welt in klar abgegrenzte Einflusssphären aufgeteilt sein würde. In Osteuropa
sollten unter Kontrolle der sowjetischen Militärmacht „Volksdemokratien“
entstehen, während in Westeuropa und Griechenland, trotz großer kommunistischer
Massenparteien, die „westliche Demokratie“ vorherrschen sollte. Anfang 1947
eröffneten jedoch die USA den „Kalten Krieg“ (offiziell mit der Verkündung der
Truman-Doktrin im März dieses Jahres). Während noch in Potsdam dem britischen
Imperialismus die Kontrolle über den Nahen Osten, Nordafrika und Griechenland
überlassen worden war, erwiesen sich die BritInnen weder in Griechenland noch
in Palästina ökonomisch und militärisch fähig, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.
Dies veranlasste die USA, präventiv gegen das Vordringen des sowjetischen
Einflusses in der Region auf den Plan zu treten. Die Sowjetunion stand mit der
„Roten Armee“ im Norden des Iran und begann über nationalistische Militärs im
Irak und in Syrien, ebenfalls die Schwächephase der BritInnen auszunutzen. So
wurde auch Palästina zu einem Interventionsfeld sowohl der USA als der
Sowjetunion. Stalin setzte darauf, dass, ähnlich wie in Osteuropa, auch in
Palästina die linken ZionistInnen ein/e BündnispartnerIn für die Errichtung
einer „Volksdemokratie“ sein könnten.

Der linke Zionismus
organisierte sich vor allem um die „Hashomer Hatzair“ (Der Wächter; linke
zionistische Jugendorganisation) und linke „Poale Zion“-Organisationen, die
sich 1948 zur „Mapam – Vereinigte ArbeiterInnenpartei“ zusammenschlossen. Diese
war lange die zweitgrößte Partei in Israel nach der „Arbeitspartei“ (Mapai –
Israelische ArbeiterInnenpartei), die sich aus dem rechten Flügel der Poale
gebildet hatte. Heute hält nur noch die „Meretz“ (Energie), die aus mehreren
Umgruppierungen aus der Mapam hervorging, die Fahne des „linken Zionismus“
hoch. In der Phase um die Staatsgründung herum war Mapam eng mit dem
Stalinismus verbunden, und dies nicht nur in Palästina, sondern auch in Osteuropa.
Mapam/Hashomer-AktivistInnen waren wesentlich am Aufbau der „Haganah“ (Die
Verteidigung) beteiligt. Die Haganah war nicht nur eine militärische
Organisation in der Auseinandersetzung mit BritInnen und AraberInnen, sondern
auch wesentlich für die Fluchtwege aus Osteuropa ins Mandatsgebiet zuständig.
Diese Verbindungen wurden auch genutzt, um Waffen aus der Tschechoslowakischen
Volksrepublik nach Palästina zu befördern. Dies geschah natürlich mit voller
Unterstützung durch Stalin. Somit wurden sowohl die Haganah als auch die
„Palmach“ (Einsatztruppen) als Vorläuferinnen der israelischen Armee zentral
durch „sowjetische Geschwisterhilfe“ aufgebaut. Während die Mapam diese
Verbindung zum „volksdemokratischen Lager“ nutzte und mithilfe ihres
agrarsozialistischen Programms (sie war wesentliche Trägerin der linken
Kibbuz-Bewegung; Kibbuz: Sammlung, Versammlung, Kommune) auch die Schaffung
eines „sozialistischen“ Israel vorantreiben wollte, hatte die Mapai andere
Pläne. Nach Staatsgründung, Massenvertreibung von PalästinenserInnen aus dem
Teilungsgebiet und dem Sieg im ersten israelisch-arabischen Krieg wurde das
Bündnis mit der Sowjetunion nicht vertieft. Die neue Staatsräson eines mit
allen Mitteln zu verteidigenden „jüdischen Territoriums“ ließ eine Übereinkunft
mit Britannien und Frankreich opportuner erscheinen. Diese versprachen eine
erfolgversprechende Eindämmung des arabischen Nationalismus und seiner
antikolonialistischen Bestrebungen gegenüber Israel. Spätestens nach dem
Umsturz in Ägypten (Nasser, 1952) setzte die Sowjetunion in der Region auf die
Karte des arabischen Nationalismus und brach mit den einstigen zionistischen
Verbündeten. Endgültig wurde dies mit der Suezkrise 1956 vollzogen, mit der die
USA und die Sowjetunion die alten europäischen imperialistischen Mächte
Britannien und Frankreich großteils aus der Region verdrängten. Israel mutierte
zum engsten Verbündeten der USA in der Region (150).

6.7.6 Die „antizionistische“
Wende der Sowjetunion

Die Änderung der
Bündnisorientierung Israels nach 1948 führte auch in der Sowjetunion zu einer
anderen Haltung gegenüber dem Zionismus. Auch wenn zionistische Organisationen,
zumindest in Osteuropa, noch bis Anfang der 1950er Jahre aktiv sein konnten,
wurde die Lage für jüdische Organisationen in der Sowjetunion immer
schwieriger. Trotzdem wurde die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir als
erste Botschafterin Israels 1948 von einer spontanen Masse jüdischer
SowjetbürgerInnen in Moskau empfangen, und dies in einer innenpolitischen
Situation, in der Stalin mit äußerster Härte gegen jegliche unabhängige
politische Regung vorging. Dies mag zusammen mit der Politik Israels dazu
geführt haben, dass die sowjetische Führung Ende der 1940er Jahre mit einer
neuerlichen Welle antijüdischer Aktionen begann (151). Zunächst wurden im
Rahmen der gerade sowieso vor sich gehenden Säuberungen (Liquidierung der
Leningrader Parteiführung aus innerfraktionellen Gründen) auch gleich sämtliche
jüdischen Organisationen ausgeschaltet. Das „jüdische antifaschistische
Komitee“ wurde als „zionistisches imperialistisches Element“ diffamiert, und
alle Führungspersönlichkeiten wurden liquidiert, darunter der langjährige
sowjetische Gewerkschaftsführer Losowski. Wiederum fielen 1950 viele
„wurzellose KosmopolitInnen“, darunter prominente KünstlerInnen und
ParteifunktionärInnen, dem stalinistischen Terror zum Opfer.

Aber auch in den inzwischen aus
„Volksdemokratien“ in „sozialistische Geschwisterstaaten“ gewandelten Staaten
Osteuropas wurde der Antisemitismus zum wesentlichen Element der Politik.
Wieder trifft Trotzkis Analyse des spezifischen Antisemitismus unter den
Bedingungen der bürokratischen Herrschaft zu. Aufgrund der Geschichte der
Linken und der soziologischen Zusammensetzung der Bürokratie waren auch in
Polen und der Tschechoslowakei viele ParteifunktionärInnen jüdischer Herkunft.
Der Unmut gegen die stalinistische Bürokratie konnte so auch hier auf die
„volksfernen KosmopolitInnen“ gelenkt werden. Dies wurde Anfang der 1950er
Jahre zu einer Reihe von „Säuberungen“ genutzt. Als einer der Höhepunkte wurde
im November 1952 überraschend der Generalsekretär der KPTsch, Rudolf Slánsky,
verhaftet und einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen“ Verschwörung
angeklagt. Im Prozess wurde Israel als imperialistisches Spionagezentrum
dargestellt, das einen neuen Weltkrieg gegen die Sowjetunion vorbereiten würde.
Angeklagt wurden auch zwei Führer der Mapam, die mit Slánsky den von Stalin
angeordneten Waffendeal vor der Staatsgründung Israels organisiert hatten.
Natürlich war dies auch eine Reinwaschung Stalins für seine Fehleinschätzung in
Bezug auf die Entwicklung Israels. Slánsky spielte offenbar für Stalin (der den
Prozess persönlich angeordnet hatte) die Rolle des Sündenbocks. Andererseits
diente der kaum verhohlene Antisemitismus im Prozess der Mobilisierung der
Volksstimmung zugunsten der „volksnahen“ Teile der Bürokratie. Ironischerweise
wurden nach Stalins Tod antisemitische Kampagnen für die Säuberung von
„stalinistischen VerbrecherInnen“ genutzt, für die auch wiederum Juden und
Jüdinnen aus der Parteiführung herhalten mussten. So wurden die
jüdisch-stämmigen Politbüromitglieder Berman und Minc 1957 von Gomulka in Polen
als Verantwortliche der „Irrtümer und Fehler der Stalin-Ära“ aus der Partei
ausgeschlossen.

Noch kurz vor Stalins Tod im
März 1953 erreichten die anti-jüdischen Verfolgungen in der Sowjetunion ihren
Höhepunkt. Im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Machtkampf um die
Nachfolge Stalins fabrizierte die Fraktion um den Geheimdienstchef Beria das
sogenannte „Ärztekomplott“. Jüdische ÄrztInnen, die als
„zionistisch-trotzkistisch-titoistische“ AgentInnen entlarvt worden waren,
seien Schuld am Tod mehrerer prominenter ParteiführerInnen gewesen (die
wahrscheinlich von Beria selber umgebracht worden waren). Die darauf
einsetzende Hetze und Verfolgung gegen jüdische AkademikerInnen (nicht nur
ÄrztInnen) erinnert an die finstersten Zeiten des Zarismus. Wahrscheinlich hat
nur Stalins Tod eine Eskalation in ein massenhaftes Pogrom verhindert. Mit der
Ausschaltung Berias war auch das „Ärztekomplott“ schnell vergessen.

Auch wenn in der Sowjetunion
nach Stalin antijüdische Verfolgungen in diesem Ausmaß nicht mehr vorkamen,
blieben viele Elemente der stalinistischen Politik gegenüber den sowjetischen
Juden und Jüdinnen erhalten. Eigenständige kulturelle und nationale
Vertretungsorgane blieben weiter verboten so wie auch das kulturelle und
religiöse jüdische Leben schwer behindert wurde. Die Beschuldigung, ein/e
„ZionistIn“ zu sein, gehörte bis zum Ende der Sowjetunion neben dem
Trotzkismus-Vorwurf zu den schärfsten Waffen der Bürokratie. Damit verbunden
waren Juden und Jüdinnen beständig verdächtig, AgentInnen fremder Mächte zu
sein und wurden so an vielen Arbeitsstätten diskriminiert. Ansonsten lebten
Juden und Jüdinnen seither frei von den schlimmsten Verfolgungen im Vergleich
zum Zarenreich oder zu der Herrschaft Stalins. Die fortgesetzte Diskriminierung
führte jedoch zur ständigen Tendenz zur Auswanderung nach Israel, die nach dem
Ende der Sowjetunion zu einer Massenauswanderung wurde.

6.7.7 Ein „linker
Antisemitismus“?

Während der Antisemitismus mit
dem revolutionären Marxismus unvereinbar ist, kann von einer Unvereinbarkeit
hinsichtlich des Stalinismus keineswegs gesprochen werden. Im Gegenteil: Dass
der Stalinismus für Antisemitismus derartig anfällig ist, stellt ein Ergebnis
des Bruchs mit dem internationalistischen proletarischen Klassenstandpunkt dar.
Es resultiert aus der konterrevolutionären Abkehr von der Perspektive der
permanenten Revolution – zugunsten besonderer „nationaler Wege“, die verbunden
sind mit Konzessionen an (klein-)bürgerlichen Nationalismus und letztlich auch
Chauvinismus. Der Bruch mit der Lenin’schen Methode in der Nationalitätenfrage
(Bekämpfung des Nationalismus, verbunden mit der Anerkennung des Rechts auf
Selbstbestimmung) führt zur ideologischen Kapitulation vor
klassenübergreifender Politik für „das Volk“. Damit sind auch die Ablehnung des
„wurzellosen Kosmopolitismus“ und der Antisemitismus nicht weit. Dies zeigte
sich durchaus auch nach 1968, als speziell in Deutschland viele plötzlich
„links“ Gewordene in maoistischen Sekten dem völkischen Gedanken frönten. Eine
bezeichnende Episode liefert dazu die Geschichte des jüdischen Autors Peter
Weiss. Als einer der bedeutendsten Schriftsteller der 1960er Jahre wurde er in
der Linken allgemein geschätzt wegen seiner klaren dramaturgischen Aufbereitung
der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und ebenso wegen seiner Vietnam-Stücke. Als
er jedoch aufgrund der Revolution in Lateinamerika die stalinistische
Etappentheorie zu kritisieren begann und ein Stück zur Rehabilitierung Trotzkis
schrieb („Trotzki im Exil“), war es mit der Freude der „Linken“ vorbei. Die
Generalprobe im Düsseldorfer Schauspielhaus wurde von
stalinistisch-spontaneistischen Gruppen gestürmt. In der „linken“ Presse waren
die üblichen Anschuldigungen des „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu lesen. Eine
„orthodoxe“ stalinistische Zeitung verstieg sich sogar zu der Behauptung, bei
dem Schriftsteller sei doch wohl „das Blut“ dicker als die marxistische
Grundeinstellung (anspielend auf die gemeinsame jüdische Herkunft von Trotzki
und Weiss) (152). Wenn heute ehemalige Mitglieder stalinistischer Kampfgruppen
ihre Kritik am „linken Antisemitismus“ und an der „Spur des Antisemitismus“ im
„Traditionsmarxismus“ beschwören, so sollten sie damit aufhören, ihre eigene
konterrevolutionäre Vergangenheit als Pseudo-MarxistInnen mit der wirklichen
Tradition des revolutionären Marxismus zu verwechseln.

7 Antisemitismus und der Islam

7.1 Ist der Islam
„antisemitisch“?

Während
der religiös bestimmte Antijudaismus im Großteil der Geschichte der
muslimischen Welt im Vergleich zu der des Christentums relativ gering
ausgeprägt war, gruben die fundamentalistischen IslamistInnen alle erdenklichen
Schmähungen Mohammeds über die Juden und Jüdinnen aus dem Koran aus und
vervollständigten sie richtiggehend zum System. Daraus wird von einigen
AutorInnen und insbesondere rechtspopulistischer Propaganda geschlussfolgert,
der Islam an sich sei grundlegend antisemitisch und der islamistische Terror
nur eine konsequente Umsetzung der inhumanen Lehrsätze des Koran (153).

Tatsächlich
sind solche Verkürzungen fern jeder historisch-kritischen Analyse der Ursprünge
des Islam und der Entstehungsgeschichte des Korans. Der Koran entstand in einer
stark vom Christen- und Judentum geprägten Region und war in vielem eine
Reaktion auf gesellschaftlich-religiöse Problemstellungen, die von den
christlich-jüdischen Gesellschaften ungenügend gelöst worden waren. Der Koran
macht von Anfang an klar, dass er sich als Fortführung der jüdischen und
christlichen heiligen Schriften sieht. Er sieht Mohammed als Abschluss der
Kette der Propheten von Moses (Musa) bis Jesus (Isa) so wie er für die
AraberInnen ebenso die Abstammung von Abraham (Ibrahim) postuliert, wenn auch
von dessen Sohn Ismael (nicht wie bei den Juden und Jüdinnen von Isaak). Eine
theologisch entscheidende Stelle des Koran ist die vierte Sure ab 152: Dort
werden die Juden und Jüdinnen als die „Menschen der Schrift“ bezeichnet, mit
denen Gott (Allah) ursprünglich den Bund geschlossen habe. Sie hätten die
Gebote jedoch wiederholt gebrochen, so dass immer wieder neue Propheten gesandt
werden mussten. Mit der (versuchten) Tötung von Jesus sei dann der Bund mit den
Juden und Jüdinnen endgültig zerbrochen. Gegenüber den ChristInnen wird jedoch
behauptet, dass diese sich durch die Gestalt des Jesus insofern täuschten, als
sie seine Göttlichkeit annahmen. Das sei zwar verständlich gewesen, habe aber
zu dem Frevel geführt, nicht mehr an die Einheit Gottes zu glauben. In Zeile 157
der besagten Sure wird dann behauptet, dass Jesus nur zum Schein am Kreuz
gestorben, tatsächlich aber rechtzeitig in den Himmel zur Seite Gottes gehoben
wurde. Damit sind für MuslimInnen die Juden und Jüdinnen denn auch nicht die
Mörder Jesu.

Das
religionsgeschichtlich Entscheidende an diesem Narrativ ist, dass es allzu
offensichtlich an verschiedene christliche Sekten-Diskurse der
Koran-Entstehungszeit anknüpft, die sich genau um die Fragen des „Bundes“ mit
bestimmten Völkern und der „Göttlichkeit“/“Menschlichkeit“ Jesu bewegten (154).
Der Koran hatte gegenüber den sehr viel komplexeren christlichen und jüdischen
Religionsvorstellungen und -geboten schlicht eine viel einfachere Struktur. Es
gibt letztlich einen Gott, einen Propheten (der die Vorgeschichte abschließt),
und die Unzahl der Gebote der Halacha (der jüdischen Rechtslehre) wird in der
Scharia auf wenige Prinzipien reduziert. Es ist falsch, dass sich der Islam im
7. Jahrhundert nur militärisch in der christlich-jüdischen Welt durchsetzte. Er
brachte den Menschen viel Vertrautes und entlastete sie von unnötigem
religiösen Ballast – kurz: Auch wenn die byzantinischen und germanischen
Fürstentümer militärisch besiegt wurden, so musste nicht viel Gewalt angewandt
werden, um einen Großteil der Bevölkerung zum Übertritt zum Islam zu bewegen.
Gleichzeitig galt für die „Menschen der Schriften“, also Juden und Jüdinnen
oder ChristInnen, die nicht konvertierten, nach dem oben dargestellten Narrativ
ein Schutzstatus. Die Scharia bzw. ihre Auslegung durch Rechtsgelehrte führte
Regeln ein, nach denen die „Dhimmis“ („Schutzbefohlene“) zu behandeln seien und
welche Rechte sie haben sollten. Ähnlich wie im christlichen Mittelalter waren
Dhimmis mit einer speziellen „Schutzsteuer“ belegt.

Insgesamt
gehört also der Islam genauso zu „unserem“ Kulturkreis wie Christen- und
Judentum und hat sich, offensichtlich mit vielen Ähnlichkeiten, aus denselben
entwickelt. Wenn der Islam faschistisch oder menschenverachtend sein soll, dann
könnte man dies mit derselben Logik auch für Christentum und Judentum ableiten.
Entscheidend ist, dass sowohl im christlichen Europa als auch in der
islamischen Welt die Religion letztlich den gesellschaftlichen Verhältnissen in
der jeweiligen Region unterworfen war, d. h., dass die Entwicklung der
Produktionsverhältnisse und Klassenauseinandersetzung die jeweilige Ausprägung
und Entwicklung der Religion bestimmten – nicht umgekehrt. Die Religion wurde
nur zu einem Mittel der Politik, Herrschaftsausübung und -legitimation bzw. als
Begründung für politische Veränderungen benutzt. Die seit dem islamischen
Mittelalter stagnative Entwicklung von Ökonomie und Klassenverhältnissen führte
im Islam zu sehr viel weniger großen Veränderungen, als sie das Christentum und
Judentum durch die kapitalistische Dynamik der europäischen Neuzeit erlebt
haben. Die relative „Ruhe“ für Juden und Jüdinnen in der islamischen Welt
gegenüber Europa erklärt sich also weniger aus einer speziell „toleranteren“
Religion, sondern aus der geringen Notwendigkeit, die jüdische Nischenwirtschaft
in den islamischen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein grundlegend in Frage
zu stellen. Andererseits erklärt diese stagnative Entwicklung, dass die einst
dem „Westen“ vorauseilende, moderne islamische Religion, erstarrte und mit
ihren Rechts- und Moralvorstellungen hinter einem Christentum hinterherhinken
musste, das sich viel stärker an eine sich dynamisch verändernde neuzeitliche
Gesellschaft anpassen musste (wie z. B. in der „Reformation“ geschehen).

7.2 Geschichte des
Antisemitismus in der muslimischen Welt

Die
Geschichte radikaler islamistischer Sekten ist denn auch vor allem das Ergebnis
des Zusammenpralls der stagnativen islamischen Welt mit „dem Westen“, besonders
seit Beginn des Kolonialzeitalters. Entgegen auch vielen pragmatischen und mehr
oder weniger liberalen Rechtsschulen im Islam haben sich zwar über die
Jahrhunderte immer wieder fundamentalistische und gegenüber Nicht-MuslimInnen
unterdrückerische Strömungen entwickelt. Mit der Konfrontation mit dem Westen
begannen sie jedoch, rapide an tatsächlichem Einfluss zu gewinnen. So z. B. die
WahhabitInnen, die seit dem 18. Jahrhundert nicht nur reaktionäre
Scharia-Vorstellungen, sondern auch die These vom permanenten Dschihad gegen
Ungläubige entwickelten (die WahhabitInnen dominieren heute nicht nur das
Saudi-Regime). Die Geschichte des modernen Islamismus wird jedoch im
Allgemeinen an der Gründung der „Muslimbrüderschaft“ in Ägypten in den 1920er
Jahren festgemacht. Sie entstand einerseits aus einem anti-kolonialen Impuls,
aber gleichermaßen in Ablehnung der liberalen und sozialistischen Bewegungen,
die sich teilweise ebenso in der anti-kolonialen Opposition befanden. Insofern
ist der moderne Islamismus eine anti-westliche Utopie von einer, natürlich
unmöglichen, Rückkehr zu den „seligen Zeiten islamischer Größe“, zur Einheit
des Islam im legendären Kalifat.

Es
ist auch sicher richtig, dass die Führer der Muslimbrüderschaft die Nazis und
italienischen FaschistInnen als ihre Verbündeten im Kampf gegen die britischen
Kolonialherren sahen und auch ungefiltert wesentliche Teile von deren
antisemitischen Hetzschriften übernommen haben (155). Unsäglicherweise ist
seitdem „Mein Kampf“, aber besonders das Fake der „Protokolle der Weisen von
Zion“, auf Arabisch übersetzt. Die Charta der Hamas (die aus dem Ableger der
Muslimbrüderschaft in Palästina entstand) zitiert immer wieder aus den
„Protokollen der Weisen von Zion“, um zu begründen, warum „die Juden und
Jüdinnen“ die Wurzel allen Übels seien und aus Palästina vertrieben werden
müssen. Bekanntlich suchte der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini,
Unterstützung bei den Nazis und fand nach seiner Flucht aus Palästina in
Nazi-Deutschland Unterschlupf, von wo er den arabischen Aufstand mit
antisemitischer Hetze zu befeuern versuchte. All das hat sicher dazu
beigetragen, dass der moderne Islamismus einen primitiven
Weltverschwörungs-Antisemitismus als eines seiner Kernelemente enthält. Teile
dieses Islamismus wie z. B. der sog. Islamische Staat, die sich gewalttätig
organisieren und auch alle anderen Strömungen im antiimperialistischen Kampf
bis aufs Messer bekämpfen, müssen inzwischen sicherlich als ein neuer Typus
eines (islamistischen) Faschismus bezeichnet und bekämpft werden.

Dies
kann jedoch nicht von allen IslamistInnen gesagt werden, wie der Hamas oder den
ägyptischen Muslimbrüdern – also von Gruppen, von denen sich die radikalen
IslamistInnen zumeist abgespalten haben. Der Islamismus konnte in den letzten
Jahrzehnten ja nur durch das Versagen und die Niederlagen von säkularen
Bewegungen wie dem pan-arabischen Nationalismus groß werden. Von daher wurden
viele „zivile“ Elemente von diesen Bewegungen übernommen und zum Teil
pragmatische Übereinkommen mit ihnen getroffen. So hat die Hamas die
„Protokolle der Weisen von Zion“ aus ihrer Charta gestrichen (156), hat mit
säkularen Palästinenser-Organisationen Abkommen geschlossen und sich in einigen
Bereichen zivile Strukturen gegeben. Hamas oder andere Sektionen der
Muslimbrüderschaft haben sich auch mit bestimmten Regimen in den Golfstaaten
bzw. dem AKP-Regime verbündet, die von radikalen IslamistInnen bekämpft werden.
Insofern haben sich diese Teile des Islamismus in eine mehr
bürgerlich-nationalistische Richtung entwickelt – ohne ihre Gefährlichkeit für
demokratische und linke Kräfte zu verlieren und weiterhin antisemitische
Grundorientierungen aufrechtzuerhalten. Genauer auf die Einschätzung der Hamas
und unsere Haltung gegenüber der von ihr geführten Bewegung in Gaza gehen wir
in Kapitel 9.3 ein.

8 Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen in Europa

Seit einiger Zeit mehren sich
die Berichte und Meldungen, die einen wachsenden Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen behaupten. Auf die politischen Konsequenzen, die
daraus folgen, wurde schon hingewiesen. Der israelische Politikwissenschaftler
David Ranan (der derzeit am Forschungszentrum für Antisemitismusforschung an
der TU Berlin arbeitet) veröffentlichte im Frühjahr 2018 eine Studie zu diesem
Thema, die die Diskussion zumindest versachlichen kann (157).

8.1 Zur Problematik von Antisemitismusstudien

Es gibt inzwischen natürlich eine Unzahl an Studien zum Thema „Antisemitismus“. Zunächst stellt sich die Frage, welche Definition von „Antisemitismus“ überhaupt verwendet wird, wenn in diesen Studien von „wachsendem Antisemitismus“ die Rede ist. Wie wir bereits ausgeführt haben, sind diese Definitionen selbst ein Feld starker politischer Interessenskonflikte geworden. Man kann von Minimaldefinitionen ausgehen, die Antisemitismus als „Hass gegen Juden und Jüdinnen“ definieren, die diese zu Sündenböcken für die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugten Krisenphänomene machen, was sich in hohem Aggressionspotential bis hin zum Auslöschungswunsch äußert. Doch wie soll ein solcher „Hass“ gesellschaftlich festgestellt, gar „gemessen“ werden? Ranan (158) stellt mehrere der üblichen Untersuchungsmethoden vor, etwa die schon sehr lange (seit 1913) durchgeführten Befragungen der Anti-Defamation-League (Anti-Diffamierungs-Liga, ADL). Die ADL stellt im Wesentlichen 11 Fragen, die typische antijüdische Stereotype enthalten. Werden 6 dieser Fragen gemäß dem Stereotyp beantwortet, gilt der/die Befragte als „antisemitisch“. Typische dieser Sätze sind „Juden verfügen über zu viel Macht in den internationalen Finanzmärkten“ oder „Juden haben zuviel Kontrolle über die US-Regierung“. Zu Recht meint Ranan dazu, dass mit diesen Fragen zwar klar werde, dass der/die Befragte starke Vorurteile und Verschwörungstheorien gegenüber Juden und Jüdinnen hegt, aber deswegen nicht notwendigerweise einen mit Aggressionen aufgeladenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen haben muss, der zu heftigen Aktionen bis hin zu Ausrottungsphantasien führen müsse. Sprich: Die Schlussfolgerung auf Antisemitismus ist stark hypothetisch. Für Deutschland etwa kommt die ADL zu dem Ergebnis, dass 56 % der Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund antisemitisch seien, gegenüber 16 % der sonstigen Bevölkerung. Über den Grad der reaktionären Einstellungen, die hinter den Antworten auf die Stereotypen-Fragen steckt, sagt dies aber wenig aus. Es kann durchaus sein, dass unter der geringeren Zahl der Deutschen (die seit ihrer Schulzeit gelernt haben, wie man solche Fragen „korrekt“ beantwortet) trotzdem weitaus mehr Menschen mit klassischer Sündenbock-Aggression gegenüber Juden und Jüdinnen stehen als bei den Befragten mit muslimischem Migrationshintergrund. Bei diesen – und dies ist die zentrale These von Ranans Untersuchung – ergibt sich die Bereitschaft, unsinnige Stereotype über Juden und Jüdinnen anzunehmen, aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen und dem Kurzschluss daraus, dass auf „den Juden/die Jüdin“ allgemein zu beziehen. „Wenn Muslime über Israel sprechen, meinen sie auch Israel. … Ohne Zweifel lässt sich festhalten, dass antizionistische Äußerungen bei den meisten Muslimen keine Ersatzkommunikation darstellen, um verborgene antijüdische Haltungen zu kaschieren“ (159). D. h. während bei Muslimen im Allgemeinen die Empörung über die Politik Israels das Primäre ist, was bei einigen dann sekundär mit antijüdischen Vorurteilen begleitet wird, sind bei einigen Deutschen (und anderen EuropäerInnen) die antisemitischen Einstellungen das Primäre, um sich dann tatsächlich hinter „Israelkritik“ zu verbergen.

Es gilt also, unterschiedliche
Formen des Antisemitismus tatsächlich zu differenzieren und nicht alles in
einen strukturellen und universellen Antisemitismus ohne Unterschiede
einzupassen. Schließlich müssen die Kontexte für die Entstehung des jeweiligen
Antisemitismus verstanden werden, um auch die unterschiedlichen Ursachen und
Handlungsdispositionen zu erfassen. Nur so kann er in seiner jeweiligen Form
auch wirksam bekämpft werden.

Aber auch Studien, die
unterschiedliche „Antisemitismen“ zu untersuchen vorgeben, sind letztlich von
derselben Methode gekennzeichnet. So unterscheidet die für Deutschland sehr
prominente Bielefelder „Mitte“-Studie (160) von 2016 zwischen „klassischem“,
„sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Im Unterschied zu
klassischem Antisemitismus stellt der sekundäre Antisemitismus eine „Wiederkehr
des Verdrängten“ in unterschwelliger, verkleideter Form dar. Er ist eine
Abwehrleistung gegen die Wucht der Erinnerung und eine Verschiebung der
Schuldgefühle auf andere. Exemplarisch geht es um „Schlussstrich“-Forderungen,
um Verharmlosungen der Shoa, um Erklärungen, die die Juden und Jüdinnen
implizit mitschuldig an den Verbrechen der Nazis machen etc.. Offensichtlich
findet man solchen sekundären Antisemitismus zuhauf bei der AfD. Bemerkungen
über das „Denkmal der Schande“ oder die Nazi-Zeit als „Fliegenschiss“ der
ansonsten so großartigen Geschichte der Deutschen (die eben auch eine
Jahrhunderte lange Geschichte des pogromistischen Antisemitismus ist, die in
der Shoa einen durchaus folgerichtigen Abschluss fand) brauchen nicht weiter
kommentiert zu werden. Dieser offenkundige strukturell verschobene, sekundäre
Antisemitismus wird aber mit weitaus weniger öffentlichem Protest begleitet als
der sogenannte „israelbezogene Antisemitismus“.

Problematisch auch an der Bielefelder Studie ist die Verwischung der Unterschiede zwischen Israel-Kritik, wie sie aus migrantischen Milieus kommt, und dem sekundären Antisemitismus. Ja, in der Studie wird der Eindruck erweckt, dass israelbezogener Antisemitismus das viel größere Problem sei. Mit den Methoden der ADL wird auch hier wieder mit Suggestivfragen gearbeitet – und man kommt zu dem Ergebnis, dass der klassische Antisemitismus nur bei 6 % liege, der sekundäre bei 26 %, der israelbezogene jedoch sogar bei 40 %. Dabei werden so „entlarvende“ Fragen gestellt wie: „Stimmen sie dem Satz zu: Ich werde wütend, wenn ich sehe, wie Israel die Palästinenser behandelt…“ (161).

Die AutorInnen der Studie gehen in ihren Erklärungen davon aus, dass eine „‘neutrale Kritik‘ an Israel zwar möglich sei, aber äußerst selten vorkomme. In der Regel werde Kritik an Israel antisemitisch unterfüttert bzw. scheine sie antisemitische Assoziationen zu evozieren“ (162). Offenkundig stehen also die Ergebnisse der Studie schon fest, bevor eine Untersuchung stattfindet. Mit Schnellschlüssen von Antworten auf Suggestivfragen, Postulaten über „typische antisemitische Argumentationen“ (dazu zählen auch strukturell durchaus sinnvolle Vergleiche der israelischen Besatzungspolitik mit der Apartheidpolitik in Südafrika), Fehlen an Differenziertheit zwischen migrantischer, linker und rechtsextremer Israel-Kritik wird pauschal ein massiver Anstieg von „israelbezogenem Antisemitismus“ scheinbar „objektiv gemessen“. Dabei wird übersehen, dass der latente, mit aggressivem Verdrängungspotential belastete sekundäre Antisemitismus die langfristig weitaus gefährlichste Form von aktuellem Antisemitismus in Deutschland ist. Er hat sich in der Mitte der Gesellschaft eingenistet und kann aggressiv jederzeit wieder in klassischen Formen eskalieren (siehe den Angriff auf ein jüdisches Restaurant während der Hetzjagd in Chemnitz im Herbst 2018).

Da rechtspopulistische Organisationen wie die AfD oder die FPÖ inzwischen gelernt haben, ihren latenten Antisemitismus mit einer extrem affirmativen Haltung gegenüber den rechten Regierungen in Israel zu verbinden (und es auch tatsächlich Verbindungen mit der radikal-nationalistischen „Israel Beitenu“-Partei (Unser Zuhause Israel) des israelischen Rechtspopulisten und aktuellen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman gibt), erscheinen sie heute als die geringere Gefahr als „das muslimische Milieu“. So weit kann die Verblendung führen, wenn die Frage des Antisemitismus in Deutschland hauptsächlich an der Stellung zur aktuellen israelischen Politik festgemacht wird. So werden denn bei der Zeitschrift „Bahamas“, bezeichnend für die sogenannte anti-deutsche Linke, die AfD zur „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie zur Verharmlosung des Holocaust, weil ja unterstellt werde, die AfD plane einen „Holocaust gegen die Muslime“ (163).

8.2 Antijudaismus unter
muslimischen MigrantInnen

Es wäre natürlich falsch zu
leugnen, dass es einen muslimischen Antijudaismus gibt. In der Studie von David
Ranan wurden 70 Tiefeninterviews geführt – also im Gegensatz zu pauschalen
Suggestivfragen wurde mit zufällig ausgewählten MigrantInnen auch tatsächlich
gesprochen und nach Hintergründen der Auffassungen nachgefragt. Im Unterschied
zum Nonsens der tendenziösen „empirischen Sozialforschung“ kann es bei dieser
Methode auch zu tatsächlichen Erkenntnissen kommen. Dagegen herrscht auch bei
großen Teilen der „anti-deutschen Linken“ ein naiver Glaube an „objektive“
empirische Erfassungsmethoden des Antisemitismus vor, wie etwa der
lächerlich-naive „3D-Test“ (164) – ein Zeichen, wie tief inzwischen die „Kritik
an der bürgerlichen Wissenschaft“ bei der „Linken“ gesunken ist.

 Zusammenfassend kommt Ranan zu folgenden Schlüssen:

Einerseits ist ein
„muslimischer Antisemitismus“, der sich direkt aus dem Koran speist (gemäß der
Theorie vom grundlegend antisemitischen oder faschistischen Charakter des
Islam) kaum feststellbar. Soweit die berüchtigten Zitate im Koran überhaupt
bekannt waren, spielten sie keine Rolle. Man kann davon ausgehen, dass dies nur
bei dem sehr kleinen Teil der MigrantInnen eine Rolle spielt, die tatsächlich
dem fundamentalistischen oder radikalisierten Islamismus zugehörig sind.

Andererseits sind Stereotype
über Juden und Jüdinnen (über ihre Geldmacht und ihren weltpolitischen
Einfluss) tatsächlich weit verbreitet. Dabei wurden diese Stereotype aber
zumeist als Begründungen für den Erfolg der israelischen Politik genannt.
D. h. die zentrale Ursache für die Hartnäckigkeit der Weitergabe dieser
Stereotype ist die Situation in Nahost. Auffällig ist auch, dass, je weiter die
Entfernung von Palästina, desto ungenauer auch das konkrete Wissen um Israel.
Hier wird dann deutlich, dass der Israel/Palästina-Konflikt zur allgemeinen
Chiffre für rassistische und kolonialistische Unterdrückung wird, wie sie
MigrantInnen mit muslimischem Hintergrund erleben. Gerade MigrantInnen aus
Palästina machen einen viel klareren Unterschied zwischen Israel/Zionismus und
„den Juden und Jüdinnen“ im Allgemeinen.

Es sollte klar sein, dass man Antisemitismus
von deutschen Rechtsextremen und den Antijudaismus unterschiedlicher
Schattierungen von MigrantInnen nicht auf derselben Ebene behandeln kann. Es
wäre falsch, wenn man gegenüber diesen MigrantInnen eine gleichartige
Ausgrenzung und Konfrontation betreiben würde. Eine Missachtung der
eigentlichen Ursachen ihres Antijudaismus kann schnell in überheblichen
imperialen Rassismus umschlagen. Das heißt, der Antijudaismus muss natürlich
einerseits auch in dieser Form bekämpft, aber die Unterscheidung zwischen dem
„Jüdischen“ im Allgemeinen und der Politik Israels auf der anderen Seite klar
betont werden – ebenso die Bedeutung und Tragweite des Antisemitismus und
seiner eliminatorischen Konsequenzen in der Shoa (womit auch der Verzicht auf
solche Slogans wie „Kindermörder Israel“ erklärt werden muss – auch wenn dies
für Betroffene von israelischen Bombenangriffen eine andere Bedeutung hat, ist
klar, dass im Kontext deutscher Politik und Geschichte solche Slogans ganz
andere Wirkung haben). Auch wenn linke Organisationen aus der Region, mit denen
wir zusammenarbeiten, klare Unterscheidungen zwischen Zionismus und Judentum im
Allgemeinen machen, können wir nicht ausschließen, dass an gemeinsamen Aktionen
auch migrantische Menschen teilnehmen, die solche antijudaistischen
Kurzschlüsse lautstark kundtun. Während Organisationen wie „[‚solid]“ in der
Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ (165) diese Gefahr bereits als Grund
sehen, dass man sich an solchen Aktionen nicht beteiligen könne, sehen wir es
gerade als Gelegenheit an, an der Überwindung solcher Einstellungen zu
arbeiten. Der gemeinsame Kampf um gerechte, tatsächliche Anliegen, das Eingehen
auf sie und die geduldige Überzeugungsarbeit sind hier wirksamer, als auf
Ausgrenzung und Denunziation zu setzen. Unser Ausgangspunkt besteht in der
Solidarität mit den Unterdrückten, selbst wenn sie reaktionäre Vorurteile und
Einstellungen haben mögen – nur so können sie für eine internationalistische
Perspektive gewonnen werden.

8.3 Zur politischen Bedeutung
des Antisemitismus-Vorwurfs

Abschließend soll nochmals auf die sehr spezielle und sich verändernde Bedeutung des Antisemitismusvorwurfs für die aktuell Regierenden in Israel eingegangen werden. David Ranan, als ein in Israel aufgewachsener Mensch, sagt zu Recht: „Mit Antisemitismus wird Politik gemacht. Nach vielen Jahren, in denen mit Antisemitismus gegen Juden Politik gemacht wurde, wird jetzt mit Antisemitismus von jüdischer und israelischer Seite Politik gemacht. Die israelische Regierung bezeichnet externe Kritiker und Gegner gern als Antisemiten oder antisemitisch“ (166). Dies habe sich mit der extremen Rechtsentwicklung der israelischen Politik in den letzten Jahren verschärft. Es war schon früher üblich, dass die israelische Rechte Antizionismus als Folge eines den AraberInnen inhärenten Antisemitismus gesehen habe, während „die Linke“ den Antizionismus als eigenständig anerkannte. Inzwischen würde an einem Narrativ eines „muslimischen Antisemitismus“ gearbeitet, der „die Juden“ mit einer neuerlichen Shoa bedrohe, damit die israelische Gesellschaft in einer Art dauernder Mobilisierung gehalten werden könne. „Im Januar 2014 sagte Israels Justizministerin „Tzipi“ Livni, dass die Behauptung, Kritik an Israel wegen seiner Siedlungspolitik sei antisemitisch, ein Argument ist, in das sich diejenigen flüchten, die gar kein Abkommen mit den Palästinensern haben wollen“ (167). Ohne sich in irgendeiner Weise mit der Politik Livnis oder anderen VertreterInnen des „Friedensprozesses“ in ein Boot zu setzen – an dieser Stelle traf Livni absolut den Punkt: Der „Kampf gegen den Antisemitismus“ ist für die israelische Rechte (und ihre neo-konservativen Verbündeten in den USA) zur Chiffre für eine extrem aggressive Neuordnung im Nahen Osten geworden, die Abkommen oder Friedensregelungen mit den PalästinenserInnen für ebenso unmöglich erklärt, wie es mit den AntisemitInnen damals in München 1938 tatsächlich unmöglich war. Es ist klar, dass die Linke einen derart gewendeten Antisemitismusbegriff, der zur Legitimation eines neokolonialistischen Projekts wird, nicht akzeptieren kann, sondern aufs Schärfste bekämpfen muss. Der Kampf gegen jeden Antisemitismus kann nur ein antiimperialistischer sein – oder er wird dessen Wurzeln nicht wirklich überwinden können!

9 Antizionismus und Antisemitismus

Seit der Gründung des Staates
Israel 1948 kann die Bestimmung dessen, was Antisemitismus heute bedeutet,
nicht ohne die Frage des Verhaltens gegenüber Israel oder dem Zionismus (als
der Bewegung zur Gründung als Staat der Juden/Jüdinnen und heute der Erhaltung
Israels als Heimat und Rückzugsort für alle Juden und Jüdinnen) geleistet
werden. Bei den Auseinandersetzungen um die heutigen offiziellen Definitionen
des Antisemitismus bei der UNO, der EU, der deutschen Bundesregierung etc.
intervenieren israelische Institutionen oft sehr heftig, um die Frage des
„israelbezogenen Antisemitismus“ angemessen einfließen zu lassen. Dabei stellt
sich natürlich die Frage, was tatsächlich das Verhältnis von Antisemitismus und
möglichen Formen des Antizionismus sein kann. Am radikalsten hat es in diesen
Diskussionen ein Brigadegeneral der israelischen Streitkräfte (Yossi
Kuperwasser) so zusammengefasst:

„Antisemitismus und Antizionismus sind im Grunde die gleiche Idee, nur anders verkleidet. Deren gemeinsame Motivation ist Hass auf Juden und das gemeinsame Ziel ist, ihnen die Rechte, die andere Völker und andere Menschen genießen, zu entziehen.“ (168)

Daher erstmal hier kurz gefasst
unsere Einschätzung des Zionismus, bevor wir auf die Frage eingehen, inwiefern
ein Antizionismus, der sich klar vom Antisemitismus abgrenzt, berechtigt und
möglich ist.

9.1 Der Zionismus – eine
bürgerlich-nationalistische Ideologie

Es war unvermeidlich, dass der
ansteigende Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Reaktionen
in der jüdischen Bevölkerung führen musste. Und entsprechend ihrer
Klassenspaltung fielen die Antworten unterschiedlich aus.

Dem jüdischen Großbürgertum
ging es anfangs vor allem darum, die armen, in prekären Verhältnissen lebenden
ostjüdischen EinwanderInnen möglichst „kostengünstig“ loszuwerden, und es
förderte aus dieser Motivlage heraus die Auswanderung nach Palästina.

Die jüdische
ArbeiterInnenbewegung in Osteuropa (insbesondere „Der Bund“) war in ihrer
großen Mehrheit für die Befreiung von Unterdrückung durch Erkämpfung einer
sozialistischen Gesellschaft und schon von daher entschieden antizionistisch.

Der Zionismus war zunächst im
Wesentlichen eine kleinbürgerlich-nationalistische Strömung. Auf dem ersten
„zionistischen Weltkongress“ 1897 in Basel trafen sich gerade einmal 204
Abgesandte, die weder über Verankerung in der ArbeiterInnenbewegung noch
bedeutende Unterstützung durch die Bourgeoisie verfügten. Im „Basler Programm“
wurde als Ziel formuliert: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer
öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden,
die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen“. Zum ideologischen und
organisatorischen Führer des entstehenden Zionismus wurde der Wiener Journalist
Theodor Herzl gewählt, dessen Werk „Der Judenstaat“ (169) zur „Bibel“ des
Zionismus wurde.

Die Angst vor der Auflösung
einer „jüdischen Identität“ einerseits und andererseits davor, dass die
jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa den Antisemitismus in West- und Mitteleuropa
neu entfachen bzw. verstärken würden, bildeten wesentliche Triebfedern bei der
Entstehung des Zionismus. Als Lösung strebte der Zionismus einen „eigenen“
Nationalstaat an. Aber abgesehen davon, dass mit dem Aufkommen des
Imperialismus der bürgerliche Nationalstaat in Europa seine progressive Rolle
weitgehend ausgespielt hatte, fehlten dafür auch alle Voraussetzungen
(z. B. gemeinsames Territorium, gemeinsame Hochsprache etc.).

Deshalb ist es nicht
verwunderlich, dass die zionistische Ideologie von Anfang an von tiefen
Widersprüchen durchzogen war:

Erster Widerspruch: Der damals entstandene jüdische Nationalismus (Zionismus), darauf hat schon Roman Rosdolsky hingewiesen, stellt dabei eine Art umgekehrten Antisemitismus dar, indem er die gesamte Welt zum Feind der Juden und Jüdinnen erklärt. Der Zionismus will die Juden und Jüdinnen vor Verfolgung retten, aber nicht einfach aus jüdischer Solidarität, sondern ausschließlich im Rahmen des Projekts eines jüdischen Nationalstaates. Dabei schreckte der Vater des Zionismus, Herzl, auch nicht vor einer ausgesprochen zynischen Gedankenführung zurück, denn er brauchte den Antisemitismus, wollte er sein politisches Projekt verwirklichen. Und so wünscht er auch folgerichtig: „Aber wir müssten noch tiefer hinuntersteigen, wir müssten noch tiefer fallen, noch mehr Beleidigungen ertragen müssen, wir müssten noch mehr geschlagen werden, verachtet geplündert und misshandelt als das noch heute mit uns geschieht, damit wir reif werden für die Idee…“ (170). Er konnte nicht ahnen, in welch katastrophaler Weise diese Gedanken Realität werden würden.

Die Auflösung und Beendigung
der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen über die ganze Welt (Diaspora) ist bis
heute ein Kernelement der zionistischen Ideologie. Erst mit der vollständigen Beendigung
der Diaspora im Staat Israel sei das Staatsziel erreicht. Doch die Auflösung
der Diaspora hat die Existenz eines militanten und massenhaften Antisemitismus
geradezu als Voraussetzung – nur so wäre garantiert, dass die Juden und
Jüdinnen der Welt nach Israel kommen würden.

Zweiter Widerspruch: Über zwei Jahrtausende war der Bezug auf „Eretz Israel“, auf Jerusalem rein religiös und spirituell. Nun wird er vom Zionismus nationalistisch aufgeladen und somit zugleich säkularisiert. Da aber im Staat Israel die eingewanderte Bevölkerung äußerst heterogen ist, bleibt als einzige Gemeinsamkeit die Religionszugehörigkeit. „Religion sedimentierte sich, so besehen, von Anfang an als unsichtbarer, gleichwohl integraler Bestandteil der säkularen zionistischen Ideologie.“ (171) Nationalismus und Religion sind hier, entgegen allen säkularen Beteuerungen, untrennbar miteinander verwoben.

Der dritte Widerspruch besteht darin, dass die „Befreiung“ der einen die Unterdrückung der anderen bedeutet. Die „Befreiung“ der Juden und Jüdinnen wird von Beginn an, zumindest von Herzl, als kolonialistisches Projekt gesehen. Herzl: „Wenn seine Majestät der Sultan (des Osmanischen Reiches) uns Palästina gibt, werden wir… dann (für Europa) ein Bestandteil des Walls gegen Asien sein. Wir werden Pioniere gegen die Barbarei sein.“ (172) Die Schaffung Israels als einen kolonialistischen Siedlerstaat ist von vornherein intendiert und angelegt. Wollten die ZionistInnen ihren Traum verwirklichen, waren sie von Beginn an auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen.

Nach 1918 war es dann vor allem der britische Imperialismus, dem man sich andiente, nach 1956 dem der USA. In den Worten des ersten Ministerpräsidenten Israels, Ben Gurion: „Ich für meinen Teil habe nicht mehr daran gezweifelt, dass das Gravitationszentrum unserer politischen Arbeit sich von Großbritannien nach Amerika verlagerte, das sich als Großmacht in der Welt den ersten Platz gesichert hat.“ (173)

Die vierte Ungereimtheit
besteht in der Behauptung, dass die Juden und Jüdinnen schon immer in ihre
„ursprüngliche und ihnen daher zustehende Heimat“ zurückgewollt hätten. Einmal
abgesehen davon, dass diese Behauptungen einer historischen Überprüfung in
keiner Weise standhalten, so ist dies, auch wenn die Behauptungen wahr wären,
eine erbärmliche Begründung. Ansprüche, die sich auf eine (vorgebliche)
Realität beziehen, die zweitausend Jahre zurückliegt, Ansprüche, die dann noch
religiös aufgeladen werden, sind nicht nur anachronistisch, sondern würden,
verallgemeinert, die Welt in ein einziges blutiges Gemetzel versinken lassen!

Neben der absurden Behauptung,
die Nichtjuden/-jüdinnen bzw. AraberInnen seien (seit 2000 Jahren!!!) zu
Unrecht in Palästina, schwankt die Haltung des Zionismus in seiner Haltung zur
arabischen Bevölkerung zwischen Ignoranz und Rassismus. Die Argumentation
wechselt nach Bedarf:

a) Nichtthematisierung: John
Rose (174) weist darauf hin, dass Herzl in seinem Werk „Der Judenstaat“ die
AraberInnen nicht einmal erwähnt. b) Leugnung: Das Land sei weitgehend leer,
d. h. „ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land“. c) Offener Rassismus:
Die AraberInnen seien unfähig, das Land richtig zu bearbeiten (so Ben Gurion
und Schimon Peres).

Angesichts dieser ideologischen Ausrichtung (und natürlich auch praktischen Umsetzung) kann man nur dem jüdischen Wissenschaftler Uri Davis beipflichten: „Anti-Zionist zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisation abzulehnen. Anti-jüdisch zu sein, bedeutet, rassistisch zu sein. Anti-Zionismus ist nicht Antisemitismus, ebenso wie es in Südafrika nicht bedeutete, gegen die Weißen zu sein, wenn man gegen die Apartheid war.“ (175) Dass in Deutschland das proisraelische Bürgertum eine demagogische Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus vornimmt, ist politisch nachvollziehbar. Wenn aber Linke diese Gleichsetzung nachäffen, so kann man wohl nur von ideologischer Verblendung ausgehen.

9.2 Entstehung des Staates
Israel

Als
am Ende des Ersten Weltkriegs klar wurde, dass Palästina künftig von Britannien
kontrolliert würde, machte der britische Außenminister Balfour der
zionistischen Bewegung das Angebot, dort eine „Heimstätte“ zu finden. Schon
lange vorher hatten die KolonialstrategInnen des Vereinigten Königreichs
erkannt, dass eine Kontrolle Palästinas ohne ein verstärktes jüdisches
Siedlungsprojekt dort schwer möglich sei. Einige KolonialbeamtInnen sahen sogar
vor, dass man die dort bisher lebende Bevölkerung in Reservate umsiedeln müsse,
ähnlich wie in Nordamerika.

Das
britische Mandatsgebiet Palästina wurde so nach einer ersten (größeren)
Einwanderungswelle Anfang der 1920er Jahre zu einer typischen britischen
Siedlerkolonie. Linke ZionistInnen kritisierten zwar sehr wohl die Behandlung
der arabischen Bevölkerung und die schleichend vor sich gehende Okkupation, die
damit begann. Mehrheitlich war der Zionismus jedoch auch in seiner
labouristischen Form von Anfang an nicht auf eine friedliche Koexistenz oder
gar multi-ethnische Gesellschaft in Palästina ausgerichtet. Die arabischen Aufstände
in den 1920er und 1930er Jahren waren eine logische Konsequenz der
Kolonialpolitik und folgten dem überall in der Welt zu beobachtenden Muster von
anti-kolonialistischen nationalen Aufständen. Heute werden daraus häufig
antisemitische Pogromversuche gemacht, da sich die Aufstände auch zu
Übergriffen auf jüdische SiedlerInnen ausweiteten. Damit soll auch
gerechtfertigt werden, dass sich der Zionismus schon von Anfang an stark
militarisiert hat mit der klaren Zielrichtung, jederzeit gegen „arabische UnruhestifterInnen“
vorgehen zu können. Wie andere weiße Siedlerbewegungen in Kolonialgebieten auch
entwickelte der Zionismus ein System der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und letztlich auch repressiven Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung in der Region.

Mit
der Entstehung des Staates Israel 1948 wurden drei wesentliche Grundpfeiler in
dessen politische Architektur eingebaut:

Erstens waren die führenden politischen Kräfte der Staatsgründung, insbesondere die „Mapai“ (Arbeiterpartei Israels), entschlossen, einen rein jüdischen Staat zu gründen, und lehnten einen gemischten jüdisch-arabischen Staat grundsätzlich ab. Angesichts der arabischen Mehrheitsbevölkerung in Palästina war die Perspektive dieser Kräfte von Anfang an „Aufteilung des Landes“ (176). Sowohl die Verhandlungen um den UN-Teilungsplan im November 1947 als auch die Friedensverhandlungen nach dem „Unabhängigkeitskrieg“ (tatsächlich kam es bis 1949 nur zu einigen Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen NachbarInnen und für lange Zeit zu keinen Friedensverträgen) wurden von der israelischen Führung mit dem Ziel einer Aufteilung des ursprünglichen Palästina, und somit eines möglichst großen rein jüdischen Staates in diesem Palästina, geführt. Von rechts erhob dagegen die „Cherut“ (Freiheitsbewegung; Vorläuferin des heutigen „Likud“; Zusammenschluss) den Vorwurf, „jüdisches Kernland“ zugunsten eines „falschen Friedens“ aufzugeben. Die „Mapam“ dagegen trat für die Besetzung von ganz Palästina ein, um dort ein Regime „fortschrittlicher PalästinenserInnen“ zu errichten, mit dem es einen jüdisch-arabischen Ausgleich geben könne. Ben Gurion erteilte diesen „Einstaaten-Ideen“ von rechts und links eine klare Absage: Ein jüdischer Staat in ganz Palästina sei unmöglich, da es dann dort mehr AraberInnen als Juden und Jüdinnen geben würde, wenn man gleichzeitig ein „demokratisches“ Israel errichten wolle. „Wollen Sie im Jahr 1949 einen demokratischen Staat Israel im ganzen Land, oder wollen Sie, dass wir alle Araber vertreiben; oder wollen Sie Demokratie in diesem Staat?“, fragte Ben Gurion die Opposition (177); er jedenfalls wolle einen demokratischen jüdischen Staat, auch wenn dieser nicht das ganze Land besitze.

Diese Fragestellung beherrscht natürlich die israelische Politik bis heute – und umso mehr, seit nach 1967 tatsächlich Westjordanland und Gaza von Israel besetzt sind. Auch trotz „Oslo-Abkommens“ gibt es in Palästina bis heute praktisch eine „Einstaatenlösung“, unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer Aufteilung des Landes. Gleichzeitig, und dies ist der zweite bestimmende Faktor der israelischen Politik, gibt es von Beginn an eine diskriminierende Stellung gegenüber den sich im israelischen Herrschaftsgebiet befindenden AraberInnen. Schon die Fiktion einer „gerechten Teilung“ des Landes beinhaltete von vornherein unausgesprochen die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem „jüdischen Anteil“ an Palästina. Während und in Folge des Unabhängigkeitskrieges mag diese Vertreibung Hunderttausender noch mehr oder weniger ungeplant vor sich gegangen sein. Doch schon während der Waffenstillstandsverhandlungen machte die israelische Politik klar, dass sie eine Rückkehr der Flüchtlinge als eine „existenzielle Gefahr“ ansehen würde. So erklärte der damalige israelische Außenminister Mosche Scharet: „Das spektakulärste Ereignis der jüngeren Geschichte Palästinas, gewissermaßen spektakulärer als die Gründung des jüdischen Staates, ist die massenhafte Evakuierung (sic!) seiner arabischen Bevölkerung… Die Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Realität für eine dauerhafte Lösung des quälenden Problems des jüdischen Staates ergeben, sind (…) weitreichend (…). Die Wiederherstellung des Status quo ante ist undenkbar“ (178). Die AraberInnen, die es trotzdem geschafft hatten, im Staat Israel zu bleiben (179), sollten sich „integrieren“ bzw. unter strenger Kontrolle stehen. Die Fiktion des „demokratischen jüdischen Staates“ beruht darauf, dass die unter Kontrolle Israels lebenden AraberInnen wie „Fremde“ (Flüchtlinge im eigenen Land) behandelt werden, die dort nur „geduldet“ sind. Durch die Teilung in israelische AraberInnen, PalästinenserInnen in de facto besetzten Gebieten und palästinensische Diaspora wurden die PalästinenserInnen praktisch zur „Minderheit“, wenn man jeweils die anderen Teile je nach Bedarf weglässt. Die Kombination von israelisch beherrschtem Einstaatensystem und „Teile und Herrsche“ gegenüber den PalästineserInnen bedeutet zugleich, dass sich Israel notwendigerweise wie ein Apartheidstaat aufführen muss. Jegliche Bewegung Richtung eines tatsächlich demokratischen Gesamt-Palästina, das jüdische und arabische BewohnerInnen gleichberechtigt, wird von den Herrschenden in Israel grundsätzlich als Infragestellung des jüdischen Charakters Israels abgewehrt.

Die
lange wie eine Heilslösung dagegen gesetzte Zweistaatenlösung, also die
Umwandlung des Teilungs-Provisoriums in eine staatliche Form, scheitert an den
Widersprüchen des ursprünglichen Teilungsprinzips: Zum einen ignoriert es das
Rückkehrrecht der Flüchtlinge und sanktioniert das Prinzip der Bevölkerungssegregation.
Weiterhin beschränkt es die PalästinenserInnen auf einen kleinen und ökonomisch
ungünstigen Teil von Palästina, der auch noch zu einem beträchtlichen Teil von
der jüdischen Bevölkerung als „Siedlungsgebiet“ beansprucht wird. Schließlich
bleibt die Frage von Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und deren
multiethnischer Charakter immer ungelöst. Die mit den Oslo-Verträgen versuchte
Zweistaatenlösung ist seit mehreren Jahren gescheitert und durch ein
intermediäres israelisches Besatzungsregime ersetzt worden. Mauer, Siedlungen,
Grenzregime, Befugnisse des israelischen Militärs und die Kooperation mit der
„Palästinensischen Autonomie“ (180) (die großteils von ausländischer
Finanzhilfe abhängig ist) machen aus dem Westjordanland ein koloniales
Anhängsel Israels, das seinerseits in 3 Zonen aufgespalten ist. Die
PalästinenserInnen in Zone C leben de facto unter dauerndem Ausnahmezustand,
belagert von israelischer Armee und militanten SiedlerInnen. Seit dem Abzug
Israels aus dem Gaza-Streifen vegetiert dieser weiterhin auf der Grundlage
einer israelisch-ägyptischen Blockade vor sich hin, ohne jegliche
Entwicklungsperspektive. Diese Form von kolonialem Regime im Westjordanland und
Gaza könnte zur Erfüllung der Perspektive der israelischen Rechten, eines
rein-jüdischen Gesamt-Palästina, führen. Dies würde allerdings mit einer
humanitären Katastrophe einhergehen, die Israel in der gesamten arabischen Welt
noch mehr zum Feindbild machen würde und zu vielen weiteren blutigen Konflikten
genügend Anlass geben wird. Daher kann eine vernünftige Perspektive nur in der
Überwindung der Teilungspolitik hin zu einer wirklich demokratischen
Einstaatenlösung für Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen liegen.

Der
dritte entscheidende Faktor, der mit der Gründung des Staates Israels
entschieden wurde, ist dessen kapitalistischer Charakter. Trotz der
„sozialistischen“ Programme der staatsgründenden Parteien Mapai und Mapam und
der starken sozialistischen Tendenzen der nach Palästina flüchtenden Juden und
Jüdinnen wurden die Auseinandersetzungen um die Wirtschaftsorganisation in den
Gründungsjahren eindeutig in Richtung Privateigentum entschieden. Daran
änderten auch die Experimente im Genossenschaftswesen (z. B. die Kibbuzim)
und der große Einfluss der Gewerkschaften (vor allem der Histadrut;
Zusammenschluss, Allgemeiner Verband der ArbeiterInnen im Lande Israel) nichts.
Aufteilung des „eroberten“ Landes, Bauarbeiten für die großen Zuwanderungen und
die militärische Aufrüstung wurden im Wesentlichen nach kapitalistischen
Prinzipien organisiert und für die ursprüngliche Akkumulation eines
israelischen Privatkapitals genutzt, das sich anfänglich stark im Windschatten
eines von der Histadrut organisierten Staatskapitalismus entwickelte. Natürlich
hängt diese Entscheidung auch mit der Weichenstellung in Richtung Konfrontation
mit der arabischen Umgebung zusammen, die man aufseiten Israels nur durch
Unterstützung durch die verbündeten ImperialistInnen meinte bestehen zu können.
Nach der Episode der Zusammenarbeit mit den traditionell in der Region aktiven
britisch-französischen KolonialistInnen konnte man nach deren Debakel in der
Suez-Krise die USA als neuen Verbündeten in der „postkolonialen“ arabischen
Welt gewinnen. Diese „Westintegration“ bedeutete in Kombination mit den extrem
hohen Ausgaben für das Militär, dass israelischer Staat und Ökonomie von Anfang
an stark abhängig vom Finanzzufluss aus den imperialistischen Zentren waren –
und bis heute sind. Die durchaus mögliche Perspektive einer Integration in eine
sich vom Kolonialismus befreiende arabische Welt wurde also von Anfang an
ersetzt durch die Abhängigkeit vom Imperialismus und die Bereitschaft, diesem
der verlässlichste Bündnispartner in der Region zu sein. Die
staatskapitalistische Periode ist seit der neoliberalen Wende der 1990er Jahre
längst vorbei. Heute sind israelische Privatkonzerne weltweit bedeutsam, vor
allem in IT- und Rüstungsindustrie. Damit hat sich auch die extreme soziale
Spaltung der israelischen Gesellschaft, zusätzlich zur arabischen Segregation,
zu einer Gefährdung der „Einheit des jüdischen Staates“ entwickelt. Die
nationalistische Karte ist für die Herrschenden deshalb umso wichtiger, um die
tatsächlich wachsende Klassenspaltung Israels zu bändigen.

Tatsächlich
bildet nur eine sozialistische Perspektive die Möglichkeit für eine
demokratische Einstaatenlösung. Wie anders als durch Kollektivwirtschaft sollte
eine gerechte Aufteilung des urbaren Bodens, der Wasserreserven, der
landwirtschaftlichen Maschinen etc. unter Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen
gleichberechtigt möglich sein? Wie anders sollte ein Brechen der Macht des
israelischen Kapitals möglich sein als durch den gemeinsamen Klassenkampf? Und
wie kann die Abhängigkeit Israels vom US-Imperialismus überwunden werden, wenn
nicht durch eine revolutionäre transnationale Bewegung zur Zerschlagung des
bestehenden nationalistischen Unterdrückungsapparates? Doch ist eine solche
Perspektive nur denkbar, wenn sich die politischen und sozialen Kräfte in
Israel, die aus den Klassenkämpfen entstehen, von der zionistischen Ideologie
und der Akzeptanz der permanenten Entrechtung des arabischen Teils der
Bevölkerung in ganz Palästina verabschieden. Der palästinensische Widerstand
ist seit Jahrzehnten durch nationalistische und islamistische Führungen in die
Sackgasse geführt worden. Auch für ihn zeigt deshalb nur die sozialistische
Perspektive einen Weg aus der permanenten Niederlage und die Möglichkeit, durch
eine gemeinsame jüdisch-arabische Bewegung aus der Falle der nationalistischen
Scheinlösungen entkommen zu können.

9.3 Antizionismus ist legitim!

Die
AraberInnen und PalästinenserInnen tragen keine Verantwortung für die Shoa,
Pogrome, industriellen Massenmord und die Vertreibung von Millionen
europäischer Juden und Jüdinnen durch die Nazis. Dass die große
Einwanderungswelle nach 1945 in Palästina die demographischen Verhältnisse
wesentlich verändert hat, hätte an sich noch nicht zu der Zuspitzung der
Situation 1948 führen müssen. Aber die konstanten Vertreibungen von
PalästinenserInnen, die Umsiedlungspläne, die mit dem Teilungsplan von 1947
einhergingen, und die Etablierung eines eigenen hochgerüsteten jüdischen
Staates mussten in der arabischen Welt als weiteres Projekt für ihre koloniale
Unterdrückung gesehen werden. Der Widerstand dagegen war berechtigt und kein
antisemitischer Akt in Verleugnung des großen Leidens der jüdischen
EinwanderInnen. Die Niederlage der arabischen Armeen, die Etablierung eines
zionistischen Staates auf der Grundlage einer Vertreibung von 750.000
PalästinenserInnen und seine enge militärisch-politische Anbindung an die USA
machten Israel von Anfang an zu einem eindeutig rassistischen und
imperialistischen Projekt. Es basiert einerseits auf der systematischen
Ausgrenzung der in seinem Staatsgebiet lebenden arabischen Bevölkerung (ob mit
israelischer Staatsangehörigkeit oder in den besetzten Gebieten), andererseits
auf einem gewaltigen Militarismus.

Angesichts
der Bedeutung des Nahen Ostens für Weltwirtschaft und Weltpolitik ist es klar,
dass der Vorposten Israel für die imperialistische Kontrolle der Region von
unschätzbarem Wert war und ist. Noch jeder US-Präsident hat vorgerechnet, wie
viel mehr Israel für US-Interessen wert sei als die jährlichen Haushaltsmittel
speziell für US-Militärhilfe (4,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr und noch viel
mehr, laut Donald Trump). Wie jedoch schon ausgeführt, hat sich Israel zwar
weit über eine ökonomisch subventionierte „Siedlerkolonie“ hinausentwickelt.
Weiterhin bleibt aber die zionistische Unterdrückungspolitik gegenüber der arabischen
Bevölkerung auf israelischem Territorium und in den besetzten Gebieten
bestimmend für den Charakter des Staates.

Antizionismus,
der sich gegen die Rolle Israels in der Region, die systematische Ausgrenzung
der arabischen Bevölkerung und die Besatzungspolitik richtet, ist legitim und
notwendig. Wie dargelegt, sind diese drei Elemente keine „Zufälligkeiten“ oder
„Nebenerscheinungen“, sondern gehören seit der Gründung des Staates Israel zu
seinen bestimmenden Merkmalen. Sie sind in der Politik der ethnischen Teilung
Palästinas und dem Anspruch, einen „rein jüdischen Staat“ in dem für sich
reklamierten Teil Palästinas zu bilden, inhärent gegeben. Israel in seiner
jetzigen Verfassung und Form ist daher notwendigerweise ein Apartheidstaat und
Vorposten des Neokolonialismus. Ein konsequenter Antizionismus kann aber nicht
bei der Kritik am Staat Israel stehenbleiben, sondern muss eine
fortschrittliche Lösung für die Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen in
der Überwindung des bestehenden Staates Israel aufzeigen. Die
„Einstaatenlösung“ bedeutet nicht die Ersetzung des dominierenden „jüdischen
Staates“ durch einen „arabischen Staat“. Eine fortschrittliche Lösung kann nur
ein binationaler Staat, mit gleichberechtigten jüdischen und palästinensischen
Bevölkerungen sein, der entsprechende Minderheitenrechte in allen Gebieten
garantiert.

Die
Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h., die Berechtigung von
Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von
SozialistInnen zu verteidigen. Jeder „Antizionismus“, der dies leugnet und
Juden und Jüdinnen aus Palästina vertreiben will, ist daher in unseren Augen
reaktionär. Aufgrund des Niedergangs des arabischen Nationalismus und
Stalinismus sind heute Teile des palästinensischen Widerstands unter der
Führung antisemitischer Organisationen wie der „Hamas“. Die Hamas-Ideologie ist
offenkundig nicht auf einen binationalen Staat in Palästina ausgerichtet, ganz
abgesehen von den reaktionären sozialen und ökonomischen Zielsetzungen für ein islamisches
Palästina. SozialistInnen können diese Organisation politisch natürlich nur
ablehnen und bekämpfen. denn deren „Antizionismus“ ist tatsächlich verkappter
Antisemitismus.

Dies
bedeutet jedoch nicht, dass die Tausenden AktivistInnen in Gaza, die sich gegen
die israelische Blockade und Zermürbungsstrategie zur Wehr setzen, im Unrecht
wären, nur weil Hamas in Gaza politisch dominiert. Diese Dominanz ist Ausdruck
der Perspektivlosigkeit als Folge des permanenten Verrats der korrupten Fatah
(Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas) und der fehlenden sonstigen
relevanten politischen Alternativen. Die Strategie der Hamas, durch
Zusammenarbeit mit bestimmten reaktionären Golfstaaten und durch militärische
Kraftmeierei, ohne entsprechende Mittel, die Verhandlungsposition gegenüber
Israel verbessern zu wollen, unterscheidet sich letztlich kaum von der ebenso
erfolglosen Fatah. Letztlich kann der palästinensische Widerstand nur gegen
diese Führungen erfolgreich sein.

Trotzdem
müssen wir anerkennen, dass die Mehrheit der mutigen und verzweifelten
AktivistInnen gegen die israelische Besatzungspolitik weiterhin Hamas und Fatah
als ihre Führungen anerkennt und ihren Aufrufen folgt. Sofern es sich dabei um
berechtigte Akte der Selbstverteidigung, des Protestes gegen den
unterdrückerischen Militärapparat und des Widerstandes gegen das
Besatzungsregime handelt, werden wir diese Aktionen unterstützen, auch wenn wir
die Führung durch die Hamas und deren politische Ziele gleichzeitig
kritisieren. SozialistInnen können nicht passiv beiseitestehen, wenn die
israelische Armee massive Schläge gegen Gaza setzt, und zu den
palästinensischen KämpferInnen sagen, dass wir neutral blieben, solange sie
sich nicht von der Führung der Hamas entfernt hätten. Uns ist bewusst, dass der
Antisemitismus der Hamas dabei ein besonderes Problem ist, das auch offen
benannt werden muss. Aber es muss klar sein, dass der militärische Apparat der
Hamas ein lächerlicher Zwerg gegenüber der riesenhaften israelischen Armee ist.
Eine Umdeutung dieser Auseinandersetzung in „jüdischen Widerstand“ gegen eine
„Hamas-SS“ (wie das bei anti-deutschen Linken durchscheint) ist daher völlig
deplatziert. Natürlich würde eine tatsächlich für die jüdische Existenz in
Palästina bedrohliche Hamas eine ganz andere Positionierung für SozialistInnen
ergeben. Doch geht es derzeit nicht um eine ausgemalte Situation, sondern um
die gegenwärtige (und wohl noch längere Zeit zu erwartende) Verteilung der
Kräfte und das aktuelle Unterdrückungsverhältnis.

Kein
ernsthafter Mensch kann natürlich garantieren, dass die heute Unterdrückten
(nicht nur in Palästina), sollten sie ihre UnterdrückterInnen besiegen, in
Zukunft nie repressiv und unterdrückerisch handeln können. Doch wenn dies ein
Argument gegen einen Befreiungskampf sein soll, wird damit jeder demokratische
Kampf gegen nationale oder rassistische Unterdrückung in Frage gestellt, ja in
gewisser Weise selbst der für die sozialistische Revolution. Auch diese kann
unter Umständen degenerieren und – siehe Stalinismus – zu einer bürokratischen
Diktatur werden. Doch worin besteht die Lösung des Problems? Offenkundig darin,
eine revolutionäre, internationalistische Führung des Kampfes aufzubauen, die
sich als konsequenteste Vertreterin der Unterdrückten in der Praxis erweist und
so andere Klassenkräfte politisch zurückdrängen kann. Eine solche Politik setzt
aber die Solidarität mit dem Befreiungskampf voraus, auch wenn er von
reaktionären Kräften dominiert wird. Alles andere bedeutet, die Unterdrückten
im Stich und den UnterdrückerInnen freie Hand zu lassen.

Hamas
und Co. sind zudem nicht nur meilenweit davon entfernt, ihre reaktionären Ziele
in die Tat umsetzen zu können. Sie haben sich auch als politisch unfähige
Führung erwiesen. Unsere Unterstützung gilt nicht den proklamierten Zielen der
nationalistischen oder islamistischen Führungen des Widerstands, wohl aber dem
Befreiungskampf, der legitimen Selbstverteidigung und dem Streben nach
Selbstbestimmung der PalästinenserInnen, unter welcher Führung sie derzeit auch
stehen mögen.

9.4 Israel – ein Schutz gegen
Antisemitismus?

Auch
die Auffassung, dass Israel endlich das Instrument sei, mit dem Juden und
Jüdinnen eine langfristige Garantie für Selbstverteidigung vor antijüdischer
Verfolgung haben würden, ist sehr fragwürdig. Ein Staat von 6 Millionen Juden
und Jüdinnen, der auf der Unterdrückung von (die palästinensische Diaspora
mitgerechnet) 9 Millionen PalästinenserInnen beruht, mit denen sich etwa 350
Millionen AraberInnen solidarisch fühlen, bedarf eines beträchtlichen
militärischen Aufwands, um sich unter Bedingungen kompromissloser
Nicht-Friedenspolitik in der Region behaupten zu können. Sollte, aus welchen
weltpolitischen Gründen auch immer, das Interesse der Großmächte an Israel
verlorengehen, kann dies für die dort lebenden Juden und Jüdinnen rasch zu
einer sehr bedrohlichen Situation führen. Jedenfalls führt die kompromisslose
zionistische Apartheidpolitik der letzten Jahrzehnte zu einer schiefen Ebene
Richtung Rechtspopulismus und immer extremer werdendem anti-arabischen Rassismus.
Inzwischen hören sich die Pläne der Regierungsparteien immer mehr nach
denjenigen der Reservatspläne der vormaligen britischen KolonialbeamtInnen an.
Die unbegrenzte Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und das Agieren der
israelischen Sicherheitskräfte mitsamt der Beerdigung jeglichen
Friedensprozesses lässt unweigerlich eine nächste Vertreibungswelle befürchten.
Dies deutete sich auch bei der jüngsten Knessetwahl 2019 an, bei der Netanjahu
unter anderem mit dem Versprechen gewann, Teile der Westbank zu annektieren.
Außerdem hat sich die extreme Rechte weiter etabliert und wurde sogar zur
„Königsmacherin“. Die „Union der rechten Parteien“ (Listenverbindung dreier
religiöser Rechtsparteien), nunmehr eine wichtige Koalitionspartnerin, enthält
auch die „Vereinigte Nationalpartei“ (Tkuma; Wiedergeburt) des Bezalel
Smotrich, der Frieden in Palästina nur für möglich hält, wenn alle
Nicht-Juden/-Jüdinnen es „verlassen“ haben (181).

Der
arabische Anti-Zionismus ist also an sich eine gerechtfertigte Reaktion auf
nationale Unterdrückung und das imperialistische Ausbeutungsregime im Nahen
Osten. Er hat an sich nichts zu tun mit einer Herrenvolkideologie, die mit der
Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung ihre eigenen imperialen Abenteuer
und Pogrome zu rechtfertigen versucht. Auch nach Deutschland geflüchtete
PalästinenserInnen und AraberInnen haben natürlich das Recht, diese
Protesthaltung zu zeigen, und nicht die Verpflichtung, die Schuld des
eliminatorischen deutschen Antisemitismus als eine Art „Integrationsleistung“
mit auf sich zu nehmen. Daher ist auch die Verbrennung einer Nationalfahne (und
eine solche ist auch die Fahne des Staates Israel vornehmlich, so sehr der
Davidstern auch religiös interpretierbar ist) in einer großen Demonstration an
sich kein Zeichen des Antisemitismus, sofern dies nicht mit der Herabwürdigung
sonstiger Symbole des Judentums und pauschalisierender antijüdischer Hetze
verbunden ist. Auch das Verbrennen türkischer Fahnen auf kurdischen
Demonstrationen ist ja keine anti-muslimische oder generell gegen alle
TürkInnen gerichtete Symbolik, sondern veranschaulicht nur die Entschlossenheit
zum Widerstand gegen die Politik des türkischen Staates.

Ebenso
ist auch die beliebte Zuschreibung von „sekundärem Antisemitismus“
(Schuldentlastung über: „Die Juden und Jüdinnen sind ja auch RassistInnen und
FaschistInnen“) für diejenigen Deutschen, die sich mit palästinensischem
Protest solidarisieren, verallgemeinernd und falsch. Natürlich ist es für die
deutsche Solidaritätsbewegung notwendig, klarzumachen, dass sich die Kritik
gegen die Politik des israelischen Staates richtet, und jegliche
generalisierende Behauptung in Bezug auf „die Juden und Jüdinnen“ und ihre
Verantwortung für diese Politik zurückzuweisen. Schließlich kommt es ja auch auf
die israelische Linke, die sozialen Bewegungen und letztlich die israelische
ArbeiterInnenklasse an, den Irrweg des Zionismus zu überwinden und gemeinsam
mit den PalästinenserInnen eine Gesellschaft des gleichberechtigten
Miteinanders von AraberInnen und Juden und Jüdinnen in Palästina, das
Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und einen gemeinsamen multi-ethnischen
Staat zu erkämpfen.

Gleichzeitig
ist nicht zu leugnen, dass der „Antizionismus“ als Cover für den Antisemitismus
dienen kann. Wir haben dies z. B. an der Politik stalinistischer
Organisationen schon dargestellt. Auch rechte Gruppierungen nutzen Israel gern
als Instrument für ihren Geschichtsrevisionismus. Schließlich ist auch bei
arabischen NationalistInnen und bei IslamistInnen eine taktische Verkleidung
ihres Antisemitismus durch die Benutzung des Antizionismus anzutreffen. Ein
erfolgreicher internationalistischer Kampf, der den Antizionismus beinhaltet,
muss sich dringend von allen solchen Formen des verkleideten Antisemitismus
distanzieren, ihn entlarven und politisch bekämpfen.

9.5 Internationalismus und
Anti-Zionismus

Vollkommen
falsch ist es jedoch, arabischen und palästinensischen Menschen im Allgemeinen
den Antisemitismus der IslamistInnen als Allgemeingut zu unterstellen. Die
Muslimbrüder waren lange in den arabischen Ländern eine verschwindende
Minderheit. Erst mit der Erfolglosigkeit der anderen „westlichen“ Konzepte kam
die Stunde der IslamistInnen. Der Aufstieg der Hamas begann erst in den 1990er
Jahren, zunächst sogar von der israelischen Regierung als Gegengewicht zur PLO
gefördert.

Der
teilweise Erfolg solcher Gruppen bedeutet nicht automatisch, dass ihr Programm
und ihre Ideologie tatsächlich tiefe Verbreitung haben. Auch die Strategie der
Hamas und ihrer korrupten Führung hat zu weitgehender Desillusionierung ihr
gegenüber geführt. Zu behaupten, weil die Hamas (noch) eine Führungsposition in
Gaza einnimmt, seien alle EinwohnerInnen Gazas eliminatorische AntisemitInnen
und deswegen ihre Zerbombung durch die IDF gerechtfertigt, ist nicht nur
zynisch, sondern auch direkt rassistisch und pro-imperialistisch.

Der
Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, wie notwendig eine alternative,
sozialistische Führung jenseits des Islamismus und der vom Westen abhängigen
korrupten Herrschaftsapparate in der arabischen Welt ist. Mit der Niederlage
der Revolutionen sind viele damals aktiv Gewordene und oftmals zur Flucht
Gezwungene jetzt auf der Suche nach neuer Orientierung. Für viele gehört der
Protest gegen die neuen/alten Diktaturen, die sich radikalisierenden
IslamistInnen genauso zur Grundorientierung wie der Protest gegen die für die
Region immer unheilvoller werdende Politik des rassistischen israelischen
Staates. Der Kampf gegen antisemitische und faschistische Strömungen im
Islamismus muss von den MigrantInnen selbst geführt und von uns unterstützt
werden. Die Instrumentalisierung des pauschalen Antisemitismusvorwurfes gegen
alle muslimischen MigrantInnen und sein Verwenden als Repressionsmittel ist
dabei nicht nur nicht hilfreich. Er ist im Kern selbst rassistisch, dient zur
Diffamierung und Stigmatisierung von MigrantInnen und MuslimInnen, die gegen
die Unterdrückung ihre Stimme erheben, und somit zur Rechtfertigung der Politik
des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte. Und natürlich wird
er vor allem gegen politisch aktive linke MigrantInnen verwendet werden –
gerade um jede fortschrittliche Perspektive mundtot zu machen. Der Kampf gegen
den Antisemitismus beinhaltet daher die Einbeziehung eines gerechtfertigten und
antiimperialistischen Antizionismus, der jede Form des Antijudaismus ablehnt.
Wie schon in Lenins und Trotzkis Perspektive werden sich das Problem des
Antisemitismus und der „Nah-Ost Konflikt“ nur im Rahmen einer
antiimperialistischen, proletarischen, internationalistischen Revolution lösen
lassen. Jede nationalistische bzw. national-religiöse Antwort wie Zionismus,
Islamismus oder arabischer Nationalismus stellt nur einen sicheren Wege in die
nächste Katastrophe dar.

Endnoten

(1) Aus Jewgeni Jewtuschenkos
Gedicht „Nad Babim Jarom pamjatnikov njet“ („In Babi Jar steht kein Denkmal“),
das 1961 in der Sowjetunion an das fehlende Gedenken zum Massaker an mehr als
33.000 Juden und Jüdinnen durch die deutsche Wehrmacht 1941 erinnerte.

(2) Für den
industriellen Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen werden generell
unterschiedliche Begriffe verwendet. „Holocaust“ ist eigentlich ein
griechisches Wort, das sich auf Brandopfer bezieht und seit mehreren
Jahrhunderten in der englischsprachigen Literatur für verschiedene Völkermorde
verwendet wurde. Nach 1945 verschob sich die Verwendung dieses Begriffs vor
allem in den USA zu einer Bezeichnung des NS-Vernichtungswerkes. Wegen seiner
Hintergründe in religiösen Ritualen, seiner allgemeinen Verwendung für
verschiedene Völkermorde als auch wegen der Kommerzialisierung in der
US-Holocaust-Gedenkkultur ist der Begriff allerdings nicht unumstritten. Daher
haben wir uns hier entschieden, den allgemein im Hebräischen üblichen Begriff
„Shoa“ („das große Unglück“), der auch im entsprechenden jüdischen Gedenktag
Namen gebend ist, zu verwenden.

(3) IHRA:
Working Definition of Antisemitism. Beschlossen auf dem Plenum in Budapest
2016: https://www.holocaustremembrance.com/node/196.

(4)
„Diaspora“ kommt aus dem Griechischen (das Verb „diaspeiro“ bedeutet
„zerstreuen“, „entsenden“) und wird im griechischen Neuen Testament zur
Bezeichnung der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen in alle Welt verwendet bzw.
zur Bezeichnung der Länder, in die Juden und Jüdinnen zerstreut wurden.
Interessant ist, dass „Diaspora“ im Neuen Testament (das ursprünglich auf
Griechisch geschrieben wurde) für die „Entsendung“ der ChristInnen in alle Welt
steht (aus: Wilhelm Gemoll, „Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch“,
Wien/Leipzig 1908).

(5) Die römischen Quellen zum
Aufstand finden sich in: Cassius Dio: „Römische Geschichte“; Eusebius:
„Kirchengeschichte“. Archäologische Belege für die bei Cassius Dio
beschriebenen Zerstörungen finden sich u. a. durch die Inschriften an zu
dieser Zeit neu gebauten Gebäuden, die als Grund des Neubaus den „tumultus
iudaicus“ nennen.

(6) Ein
gemeinsames kanaanitisches Wort ist „El“, das gemeinhin mit „Gott“ übersetzt
wird und in vielen Formen (z. B. „El …“ = „Gott von….“, „Elochim“ =
„Göttlichkeit“) vorkommt. So bedeutet „Isra-El“ eigentlich „Kämpfer für Gott“
(der Beiname für Jakob, laut Bibel der Stammvater der zwölf jüdischen Stämme,
die damit „Kinder Israels“ genannt werden). Israelis sind also wörtlich übersetzt
DschihadistInnen, denn im Koran ist allgemein vom „dschihad Fi sabili Llah“
(„Kampf um Gottes willen“) die Rede.

(7) Shlomo Sand, „Die Erfindung
des Landes Israel“, Berlin 2016 (im Hebräischen Original 2012 erschienen).
Siehe vor allem das Kapitel II, „Mytherritorium“, ebd., S. 91 ff.

(8) Die
Konfrontation mit dem Baalkult wird z. B. sehr ausführlich in der
Geschichte des Propheten Elias erzählt. Besonders schockierend für das
patriarchale Judentum war, dass es sich um eine Zwei-Gottheit handelte: eine männliche
und weibliche, verbunden in einer Geschwisterehe. Im Judentum wurde die
Schwester eliminiert, und es wurde darüber getobt, dass trotzdem selbst im
„Tempel“ immer noch die Statue der weiblichen Gottheit in Nacktheit aufgestellt
war. Die Verunglimpfung der Baalreligion als zügellos, götzenhaft und
blutrünstig wurde später vom religiösen Antijudaismus gegen das Judentum selbst
gerichtet: siehe im Kapitel zum mittelalterlichen Antijudaismus.

(9) So geht
Shlomo Sand (a. a. O., S. 103 f.) davon aus, dass der jüdische
Monotheismus in Babylon stark durch die Auseinandersetzung mit dem persischen
Zoroastrismus/Zarathustrismus geprägt wurde. Das persische Reich begründete
seinen universalistischen Anspruch durch die Allmacht des einen Gottes, Ahura
Mazda, der allerdings im ewigen Kampf gegen sein duales Gegenteil (Gut-Böse),
Ahriman, begriffen ist. Die PerserInnen wiederum nutzten die Spaltung der
kanaanitischen Gesellschaft in die mit ihnen verbundenen monotheistischen Juden
und Jüdinnen und die „heidnische“ Normalbevölkerung („Teile und Herrsche“).
Allerdings lehnte der jüdische Monotheismus den Dualismus konsequent ab (und
unterscheidet sich dadurch auch wesentlich vom Christentum, der dem Satan
wieder eine göttliche Qualität gab).

(10) Die
Transformation der ökonomischen Rolle der PhönizierInnen in Richtung Judentum
wurde schon im 19. Jahrhundert von dem Historiker und Rabbiner Levi Herzfeld
ausführlich dargestellt, in: „Handelsgeschichte der Juden des Alterthums“,
Braunschweig, 1879.

(11) So
wurde die Erstürmung von Jerusalem im Jahr 70 u. Z. durch 3 Elite-Legionen
durchgeführt, unter ihnen die berüchtigte Legio Decima Fretensis. Nachdem es
sich um eine der größten Städte der damaligen Welt handelte, führte das
rücksichtslose Vorgehen der Legionäre zu einem Massenmord an Zehntausenden
Menschen. Auch der Brand des zentralen Heiligtums, des jüdischen Tempels, und
seine Zerstörung (bis auf den bekannten Mauerrest, der heute die Klagemauer
darstellt) war für die Legionäre ein (nicht unbedingt beabsichtigter) Kollateralschaden.
Auch die Kreuzritter gingen später bei ihrer Erstürmung von Jerusalem nach dem
Motto „Der Herr erkennt die Seinen“ vor – der Kampf um die „Heilige Stadt“
wurde zum Fanal des Vernichtungskrieges.

(12) Neben
dem Tanach, der „jüdischen Bibel“ (die als zentrale Lehre die Tora, die fünf
Bücher Mose, enthält, die in die hellenistische „Pentateuch“-Übersetzung
eingingen), ihrer Auslegung im Talmud (der eine babylonische und eine
jerusalemische Version kennt), Midrasch und Tosofat (die rabbinischen Lehren)
ist die Befolgung der 613 Mitzwot (der religiösen Gebote, zu denen die
bekannten 10 mosaischen Gebote gehören) zentral für den jüdischen Glauben. Von
Moses Maimonides stammt die Auflistung aller 613 Mitzwot. Mit ihrem 13.
Geburtstag gelten mit dem Ritus Bar/Bat Mitzwa alle Mitzwot für den Jungen/das
Mädchen.

(13) Siehe dazu Abraham Léon, „Judenfrage und Kapitalismus“, München 1971 (auch unter: „Die jüdische Frage – Eine marxistische Darstellung“, 1946). Auch wenn im Einzelnen richtige Kritikpunkte an Léon geäußert wurden und er seine These von den Juden und Jüdinnen als „Volksklasse“ geografisch und zeitlich überdehnt, so teilen wir doch die zentralen Aussagen dieses bahnbrechenden Werkes.

(14) Zur
Bedeutung der jüdischen FernhändlerInnen im Frühmittelalter siehe z. B.:
Gene W. Heck, „Charlemagne, Muhammad and the Arabic Roots of Capitalism“, De
Gruyter, Berlin, New York 2006. Arabische AutorInnen hatten einen eigenen Namen
für die jüdischen FernhändlerInnen: RadhanitInnen. Eine Primärquelle ist die
Schrift von Ibn Chordadbeh, „Buch der Wege und Länder“ (um 847 u. Z.), in
dem er ausführlich die Handelsrouten und –güter der Radhaniten beschreibt
(Ibn-Khordadbeh, „Le Livre des Routes et des Provinces“, Französische
Übersetzung: C. Barbier de Meynard, Journal Asiatique, Januar/Februar 1865). In
Westeuropa endete ihre Route in Spanien bzw. Südfrankreich. Es gab aber wohl
auch eine Ostroute über das Chasarenreich. Umstritten unter HistorikerInnen ist
vor allem die Bedeutung des Sklavenhandels in diesen frühmittelalterlichen
Handelsbeziehungen zwischen „Ost“ und „West“ bzw. der Umfang, in dem die
RadhanitInnen tatsächlich Juden und Jüdinnen waren. Erwiesen ist auch, dass die
Herrscher der ChasarInnen im 8. Jahrhundert zum Judentum übergetreten sind.

(15) Die
hebräische Bezeichnung „SeFaRD“ war eine im Tanach gebrauchte Bezeichnung für
eine mythische Gegend, die später als geographische Bezeichnung auf die
iberische Halbinsel übertragen wurde. Die Geschichte und Bedeutung der
Sephardim für das Judentum im Mittelalter ist einer der Gründe, warum Léons
Volksklassen-Theorie ihre Grenzen hat, da es hiermit eine zentrale Region gab,
in der die jüdische Gesellschaft sozial sehr differenziert war.

(16)
„Aschkenas“ ist ein im Tanach vorkommender Personenname. Aus ungeklärten
Gründen wurde er im Mittelalter von in das deutsche Reich eingewanderten Juden
und Jüdinnen als Stammvater der Germanen angesehen. Später wurden mit
„aschkenasisch“ alle im Mittelalter in Mitteleuropa lebenden Juden und Jüdinnen
(mit Deutschland als Zentrum) bezeichnet. Durch die spätere Migration nach
Osteuropa hat sich die geografische Ausdehnung der Aschkenasim stark
verbreitert. Inwiefern und in welchem Umfang sich auch nach Osteuropa
geflüchtete ChasareInnen nach der Niederlage gegen die Rus dazufügten, ist
umstritten.

(17) siehe
Léon, a. a. O. S. 81 f.

(18) ebd.,
S. 84 f.

(19) In
Frankreich führte Philipp II. (1198) den „produit des juifs“ (Judenertrag) ein
und stellte sie unter seinen „Schutz“ – und vor allem seine Kontrolle; 1394
unter Karl VI. wurden die Juden und Jüdinnen endgültig aus Frankreich
vertrieben. In England wurden die Juden und Jüdinnen bereits seit der
normannischen Eroberung mit einer königlichen Steuer belegt; zur Begleichung
der Schulden diverser Kriege wurden 1290 durch Eduard I. die Juden und Jüdinnen
des Landes verwiesen (sprich enteignet) und ab dann nicht mehr geduldet. In
Deutschland führte Kaiser Friedrich II. 1236 die „Kammerknechtschaft“ für alle
Juden und Jüdinnen ein. Sie waren zwar damit unmittelbar dem kaiserlichen
Schutz unterstellt, gleichzeitig als quasi Leibeigene auch zu willkürlicher
Steuerleistung verpflichtet. Dies wurde von den HabsburgerInnen bis ins
18.Jahrhundert fortgesetzt.

(20) Zur
besonderen Situation der Juden und Jüdinnen in Polen-Litauen und im Zarenreich
bis zum 19. Jahrhundert siehe: Léon, a. a. O., S. 120 ff.

(21) Siehe
Bericht in „Der Standard“ über eine Studie, die im „Journal of Human Genetics“
veröffentlicht wurde: https://derstandard.at/1227287822229/Genetische-Ueberraschung-fuer-spanische-Maenner.

(22) Siehe
dazu: Max Sebastián Hering Torres, „Rassismus in der Vormoderne, Die ,Reinheit
des Blutes’ im Spanien der Frühen Neuzeit“, Frankfurt am Main 2006.

(23) Siehe
dazu: Rena Molho, „Der Holocaust der griechischen Juden“, Bonn 2016. Hier wird
auch auf die nicht gerade rühmliche Geschichte des griechischen Umgangs mit
diesen Ereignissen und Antisemitismus im Allgemeinen eingegangen.

(24) Vom
hebräischen Wort „MiZRaCH“ für „Osten“.

(25) Zur
Bedeutung des „Reformjudentums“ als Projekt der Integration in die entstehenden
bürgerlich-liberalen Nationalstaaten im starken Gegensatz zum später
aufkommenden Zionismus siehe: S. Sand, a. a. O., S. 229 f.

(26) Moses
Hess, Ausgewählte Schriften, „Rom und Jerusalem“, hrsg. von Horst Lademacher,
Wiesbaden 1981, S. 259. Natürlich ist die Ähnlichkeit zu der schon
geschilderten Position von Moses Maimonides überdeutlich.

(27) Karl
Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin/O. 1974. Es muss bemerkt werden, dass der
erste Teil dieser Schrift eine sehr richtige Kritik am bürgerlichen
Emanzipationsbegriff und seiner Voraussetzung, der Spaltung des Menschen in
den/die „BürgerIn“ und den „Privatmenschen“, entwickelt („gleiches Recht“ gilt
nur für Ersteren). Im zweiten Teil der Schrift wird allerdings eine Definition
vom Begriff des Judentums als „Wucherertum“ geliefert, die zeigt, dass Marx zu
diesem Zeitpunkt von einer dialektisch-materialistischen Analyse noch entfernt
war. Die Emanzipation der Juden und Jüdinnen als „Vernichtung des Judentums“
kann also nicht als Position des „entwickelten Marxismus“ angesehen werden.

(28)
Zitiert nach: August Thalheimer, „Spinozas Einwirkung auf die deutsche
Literatur“: http://www.mxks.de/files/klasse/Thalheimer.KlassenverhSpinoza.part3.html

(29)
Bericht von Deutschlandradio-Kultur: „Ungläubig in Jerusalem“, 12.8.2016: https://www.deutschlandfunkkultur.de/saekulare-juden-unglaeubig-in-jerusalem.1079.de.html?dram:article_id=362953.

(30) Siehe
die Berichte des israelischen „Central Bureau of Statistics“. Die Zahlen für
z. B. 2015: 16.700 AuswanderInnen gegenüber 8.500 EinwanderInnen.

(31) Siehe
zu den Motiven von schon Ausgewanderten: https://www.deutschlandfunk.de/israelische-einwanderer-wunschland-deutschland.886.de.html?dram:article_id=385476.
In der Zeitung Haaretz wurde eine Umfrage veröffentlicht, nach der sogar
40 % der Israelis über Auswanderung nachdenken: https://www.heise.de/tp/features/Auswanderung-aus-Israel-politische-und-soziale-Klaustrophobie-3369692.html.

(32) Shlomo
Sand, How Israel went from Atheist Zionism to a Jewish State, Haaretz,
21.1.2017.

(33)
“haAwoda” ist die „Partei der Arbeit”, die aus der sich sozialistisch nennenden
Mapai-Partei hervorgegangen ist. Mapai war die führende politische Kraft in der
Gründungsperiode Israels (z. B. unter ihrem Führer Ben Gurion). Sie hat
bei den letzten Wahlen 2015 18 % der Stimmen bekommen, während sie Anfang
der 1990er Jahre noch weit über 30 % lag. Sie ist heute im Wahlbündnis
„Zionistische Union“ zusammen mit der national-liberalen Ha Tnu’a (Die
Bewegung) von „Tzipi“ Livni.

(34) Shlomo
Sand, „Israel isn’t fascist, but it still needs the world to save it“. Haaretz,
13.8.2016.

(35) Karl
Marx, „Konfidentielle Mitteilung, 5. Die Resolution des Generalrats über die
irische Amnestie“, in: MEW 16, Berlin/O. 1973, S. 417.

(36) Siehe die Stellungnahme
der „Jewish Voice for Labour“ gegen die Kampagne, die israelbezogenen Beispiele
der IHRA-Definition in der Labour-Party anzuerkennen: https://www.jewishvoiceforlabour.org.uk/blog/mischievous-and-malicious-attack-on-labour/.

(37) Holger
Schatz/Andrea Woeldike, „Freiheit und Wahn deutscher Arbeit“, Hamburg 2001, S.
16. Grob vereinfacht und verkürzt könnte man sagen, dass das Alte Testament für
beide, Juden/Jüdinnen und ChristInnen, religiöse Gültigkeit hat, während das
Neue Testament nur von den ChristInnen „anerkannt“ wird.

(38)
zitiert nach Gerhard Scheit, „Verborgener Staat, lebendiges Geld“, Freiburg
(Brsg.) 1999, S. 65. Siehe dazu auch Mord- und Gewaltphantasien Martin Luthers
in seiner Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“, Hrsg.: Karl-Heinz
Büchner/Bernd P. Kammermeier/Reinhold Schlotz/Robert Zwilling, Aschaffenburg
2016.

(39)
Scheit, a. a. O., S. 18.

(40) Ebd.,
S. 28 f.

(41) Saul
Friedländer, „Das Dritte Reich und die Juden“, München 2000, S. 98.

(42) Ebd.,
S. 98.

(43) Ebd.,
S. 101.

(44)
Scheit, a. a. O., S. 558 f.

(45) Philip
Zeidler, „Die Ritualmordlegende um Simon von Trient“, Erfurt 2013.

(46) siehe
Bericht über eine aktuelle „Judenstein“-Wallfahrt: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/antisemitismus-1/kult-um-anderl-von-rinn-totgesagte-leben-laenger/Sabine%20Wallinger-%20Totgesagte_leben_laenger.pdf.

(47) Mario
Erdheim, „Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit“. Frankfurt am Main
1984, S. 222.

(48) Ebd,
S. 258

(49) Ebd.,
S. 389 f.

(50) Leo
Trotzki, „Schriften über Deutschland“, Hrsg: Helmut Dahhmer, EVA, Frankfurt am
Main 1969, S. 234.

(51) Ebd.,
S. 231.

(52) Dieser
Artikel findet sich wie viele andere grundlegende Artikel aus dem Umkreis der
Frankfurter Schule, soweit sie sich vor allem auf die Psychoanalyse beziehen,
im zweibändigen Sammelband „Analytische Sozialpsychologie“, herausgegeben von
Helmut Dahmer, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 (hier zitiert nach dem
Reprint von 1992). Hier: Theodor W. Adorno, „Die Freudsche Theorie und die
Struktur faschistischer Propaganda“, Band 1, S. 318. Ersterscheinung: 1951.

(53) Siehe:
Ernst Simmel, „Antisemitismus und Massenpsychopathologie“ (1946), in:
„Analytische Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 282; Max
Horkheimer, „Autorität und Familie in der Gegenwart“ (1949), in: „Analytische
Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 343.

(54)
Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), in: „Analytische
Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 38. Zitierte Stelle: S. 49.

(55)
Adorno, a. a. O., S. 328.

(56)
Simmel, a. a. O., S. 296.

(57)
Adorno, a. a. O., S. 328.

(58) Georg
Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, in:
„Geschichte und Klassenbewusstsein“, Amsterdam 1967, S. 94–228; Erstausgabe:
Berlin 1923. Ein zentrales Werk der marxistischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts!

(59) Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (1979). Hier zitiert nach der Ausgabe von: Initiative Sozialistisches Forum, „Kritik & Krise“, Nr. 4/5, Freiburg 1991, Übersetzung Schumacher/Diner.

(60) Ebd.,
S. 1.

(61) Ebd.,
S. 3.

(62) Ebd.,
S. 4.

(63) Ebd.,
S. 6.

(64) Ebd.,
S. 7.

(65) Ebd.,
S. 7.

(66)
[‚solid], Gegen jeden Antisemitismus, Bundeskongress 2015, https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/.

(67) Moshe
Zuckermann, „Der allgegenwärtige Antisemit“, Frankfurt am Main 2018, S. 83 f.

(68) H. G.
Wells, 1901, zitiert nach: Richard Dawkins, „Geschichten vom Ursprung des
Lebens“, Berlin 2008, S. 567

(69) Joseph Arthur de Gobineau,
„Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“, 4 Bände, Paris 1853–1855.

(70)
Houston Stewart Chamberlain, „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“,
München 1899.

(71) Alfred
Rosenberg, „Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“, München 1930.

(72)
Dawkins, a. a. O., S. 568. Bemerkung: Hier und im Folgenden verwenden
wir rein naturwissenschaftliche Darstellungen von Richard Dawkins, der
allerdings nicht nur Biologe, sondern auch ein bekannter Religionskritiker ist.
Wir folgen anderen Methoden der Religionskritik – aber das ist hier kein Thema.

(73) Siehe
einen Bericht dazu in der New Your Times: http://www.humanitas-international.org/perezites/news/jewish-dna-nytimes.htm.

(74) Siehe
einen Bericht dazu in der Wiener „Presse“: https://diepresse.com/home/science/1333528/Dejavu_Woher-stammen-die-Aschkenasim?_vl_backlink=/home/science/index.do.

(75)
Dawkins, a. a. O., S. 90.

(76) Genaueres zur Geschichte und Verteilung von Haplogruppen, siehe z. B.: „Die Ursprünge des Menschen“, Spektrum (der Wissenschaften) Kompakt, Mai 2013 bzw. April 2014: https://www.spektrum.de/shop/spektrum-kompakt/.

(77) Nach
Shlomo Sands oben zitierten Artikel in der Haaretz, 21.1.2017. Mit der
fortschreitenden Kolonisierung von Palästina „vergaß“ Ben Gurion diese Position
allerdings gründlich und ging von einer Unmöglichkeit des Zusammenlebens von
AraberInnen und Juden/Jüdinnen in einem Staat aus.

(78) Stuart
Hall, „Das verhängnisvolle Dreieck – Rasse, Nation, Ethnie“, Berlin 2018.
Basierend auf einer Vorlesungsreihe zu diesem Thema 1994 in der Harvard
University.

(79) Eric
Hobsbawm war einer der bedeutendsten jüdischen Intellektuellen im von ihm als
das „kurze zwanzigste Jahrhundert“ bezeichneten Zeitabschnitt (1917–1991). In
Alexandria als Sohn einer britisch-österreichischen Familie geborener Jude
wuchs er in Wien auf, wurde in Belin der frühen 1930er Jahre kommunistisch
politisiert und machte in London akademische Karriere als Historiker. In seiner
Gesamtschau folgte dem Zivilisationsbruch zwischen Erstem Weltkrieg und der
Shoa eine von kaum jemandem erwartete, als „goldenes Zeitalter“ verklärte
Atempause von „Wirtschaftswunder“, „Postkolonialismus“ und „friedlicher
Koexistenz“, die aber zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder in eine
Krisenperiode überging.

(80) Zur
Kritik von Mouffe und Laclau siehe: Martin Suchanek, „Sackgasse
Linksreformismus“, in: Revolutionärer Marxismus 50, Berlin 2018, S. 172–235.

(81) Siehe
dazu: Alex Callinicos, Stuart Hall in perspective, Nachruf vom April 2014,
International Socialism, Issue 142, S. 139 f., online: http://isj.org.uk/stuart-hall-in-perspective/.

(82) Siehe
z. B. in „Modell Oktoberrevolution“, RM 49, Berlin März 2017, wo wir
Gramsci, Althusser und die zeitgenössische Transformationslinke auf der
Grundlage der Tradition des revolutionären Marxismus kritisch bearbeitet haben.

(83) Stuart
Hall (unter Mitwirkung von Brian Roberts und John Clarke), „Policing the
Crisis: Mugging, the State, and Law and Order“, London 1978.

(84) Die
Hautfarbe steht hier für eine Reihe „grober körperlicher Merkmale“ wie
Haarfarbe, Körperbau, Gesichtsform, etc. Wie Autoren wie Appiah, Du Bois, Fanon
feststellen, geht es weniger um die angeblich dahinterliegenden genetischen
Unterschiede als vielmehr darum, dass Klassifizierung ermöglicht wird, da diese
Unterschiede durch das Auge so gut sichtbar seien. Bestimmte soziale Rollen
werden so „in die Haut eingeschrieben“, werden den Betroffenen selbst zur
„zweiten Haut“. Fanon spricht vom Prozess der „Epidermisierung“. Siehe: Hall,
Das verhängnisvolle Dreieck (siehe oben), S. 82 f.).

(85) Stuart
Hall, Das verhängnisvolle Dreieck, a. a. O., S. 79 ff.

(86) Ebd.,
S. 94.

(87) Der
Artikel „Wer ist Jude“ wurde auf Deutsch veröffentlicht in: Isaac Deutscher,
Die ungelöste Judenfrage – Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus,
Berlin/W. 1977. Letztere Aufsatzsammlung wurde im englischen Original 1968
veröffentlicht.

(88) Ebd.,
S. 68.

(89) Dieses
Narrativ wurde spätestens 2003 durch Benjamin Netanjahu zum Standardrepertoire
israelischer Politik, siehe: https://www.haaretz.com/1.4802179.

(90)
Deutscher, a. a. O., S. 33.

(91) Hall,
Das verhängnisvolle Dreieck a. a. O., S. 174 ff.

(92) Ebd.,
S. 174

(93)
Wahlspruch des antizionistischen jüdischen Bundes, siehe mehr dazu im Kapitel
über die ArbeiterInnenbewegung.

(94) Die
genannten Gründe für den Unterschied von Antisemitismus in seinen Grundlagen
und der besonderen Schärfe seines Vernichtungspotentials können dafür
ausschlaggebend sein, dass man Antisemitismus und Rassismus begrifflich trennt.
Da allerdings auch der Antisemitismus selbst sehr verschiedene Formen annehmen
kann, von denen die meisten strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Rassismen
haben, verwenden wir, wenn auch im Bewusstsein seiner Grenzen, den Begriff des
„Rassismus sui generis“.

(95) siehe:
Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer, „Deutsch-Jüdische
Geschichte in der Neuzeit“, Band 2, „Emanzipation und Akkulturation 1780–1871“,
München 1996, S. 43 ff.

(96) In
diesem Satz gipfelten die Tiraden von Treitschkes in dessen großmannssüchtigem
Weltpolitik-Überblick „Unsere Aussichten“, Preußische Jahrbücher, Band 44,
Berlin 1879, S. 559–576. Er bemerkt darin eine Flut an antisemitischen
Aktivitäten „im Volk“, die er dann als „gesunden Volksinstinkt“ erkennt, der in
richtige Bahnen gelenkt werden müsse. Seine Ausführungen gipfeln in der
Warnung, dass auf die „Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter
deutsch-jüdischer Mischkultur“ folgen könnte. Dagegen müsse von „unseren
israelitischen Mitbürgern“ verlangt werden, „sie sollen Deutsche werden und
sich schlicht und recht als Deutsche fühlen“ (S. 573).

(97) Siehe
vor allem Theodor Mommsens mehrfach aufgelegtes Büchlein „Auch ein Wort über
unser Judenthum“, Weidmann, Berlin Dezember 1880 (https://digital.ub.uni-potsdam.de/content/titleinfo/171289).
Darin weist er den Mythos der „Jahrtausende alten“ germanischen Abstammung
zurück, betont die Vermischung verschiedener Kulturen, die sich in Mitteleuropa
schon immer abgespielt hat, und fragt, ob man sich als Berliner seinen
jüdischen Nachbarn tatsächlich fremder fühle als einem Sachsen oder Pommern.
Schließlich bemerkt er, dass es alles andere als ein Unglück sei, dass die
jüdischen Beiträge zur neuren deutschen Kultur die alten landsmannschaftlichen
Verknöcherungen aufbrechen würden.

(98) Aus den „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, Berlin 1894, https://periodika.digitale-sammlungen.de/abwehr/Band_bsb00000898.html.

(99) Anders als vielfach
wiedergegeben, stammt der Ausspruch nicht von August Bebel, sondern vom
liberalen österreichischen Abgeordneten Ferdinand Kronawetter, der mit der
österreichischen Sozialdemokratie eng verbunden war. Er wurde von vielen
SozialdemokraInnten weltweit verwendet. Leider hat sich Bebel sogar davon
distanziert, wird aber absurderweise als ihr Urheber bezeichnet: http://falschzitate.blogspot.com/2017/12/der-antisemitismus-ist-der-sozialismus.html

(100)
August Bebel, Antisemitismus und Sozialdemokratie, Protokoll über die
Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Köln
a. Rh. 1893“, Dietz, Berlin/Bonn 1978 (Reprint) S. 223 f. http://www.archive.org/stream/protokollderverh1893soziuoft#page/222/mode/2up

(101) Karl
Kautsky, zitiert nach: Jack Jacobs, „Sozialisten und die ‚Jüdische Frage‘ nach
Marx“, Mainz 1994. S. 22.

(102) Karl
Kautsky, zitiert nach Jacobs, a. a. O., S. 48.

(103) Karl
Kautsky, „Judentum und Rasse“, Stuttgart 1914; Neue Zeit-Ergänzungsheft.

(104)
Jacobs, a. a. O., S. 121.

(105)
Lenin, Die Stellung des ‚„Bund“‘ in der Partei, Lenin Werke Band 7, Berlin/O.
1976, S. 82 ff.

(106) Der
Mitbegründer und langjährige Präsident der AFL (der „American Federation of
Labor“) war der jüdische Zigarrenarbeiter Samuel Gompers. Die
Textilarbeitergewerkschaften in der AFL waren lange eine Domäne jüdischer
EinwanderInnen. Dies sind nur Beispiele der bedeutenden Beiträge jüdischer
EinwanderInnen für den Aufbau der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung.

(107)
Tatsächlich war die 1905 entstandene Organisation „Bund des russischen Volkes“
die weitaus mitgliederstärkste politische Organisation im Zarenreich und hatte
neben extrem reaktionären klerikal-konservativen und chauvinistischen
Positionen auch einen aktionsbereiten antisemitischen Kern. Die Verlage des
„Bundes“ druckten die „Protokolle der Weisen von Zion“ und waren so wesentlich
für ihre Verbreitung. Im Rahmen der „Schwarzen Hundert“ beteiligten sich
paramilitärische UnterstützerInnen des „Bundes“ auch an der Vorbereitung von
Pogromen. Es ist bezeichnend für die Situation im heutigen Russland, dass es zu
einer positiven Umwertung dieser Organisation kommt und sich neue
„national-patriotische“ Parteien auf deren Tradition berufen. Selbst in der
Sowjetunion eckte 1961 Jewgenij Jewtuschenko bei der Staatsführung an, als er
im Gedicht „Babi Jar“ an die Geschichte des russischen „Bundes“ erinnerte und
darin betonte, dass mit dessen Untergang der Antisemitismus in Russland nicht
verschwunden ist.

(108) Lenin
Werke, Band 20, Berlin/O. 1961, S. 166.

(109) Lenin
Werke, Band 20, a. a. O., S. 1–37, S. 395–461.

(110) Ebd.,
S. 446.

(111) Ebd., S. 19.

(112) Ebd.,
S. 413.

(113) Siehe
insbesondere: Otto Bauer, „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“,
Wien 1907. Siehe insbesondere das Kapitel „Nationale Autonomie der Juden“, in
der der Jude Otto Bauer vom baldigen Verschwinden der „jüdischen Frage“ durch
Assimilation ausgeht.

(114) Lenin
Werke, Band 20, a. a. O., S. 19.

(115) Ebd.,
S. 7 ff.

(116) Ebd.,
S. 10.

(117) Ein
Hauptmotiv in der „Analyse“ von Hitlers „Mein Kampf“ zur Definition seines
„nationalen Sozialismus“.

(118)
Abraham Léon, „Judenfrage…“, a. a. O., S. 172 f..

(119)
Sigmund Freud, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion – Schriften zur
Religion“, Frankfurt am Main 1975, S. 116 f.

(120) Max
Horkheimer/Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, Frankfurt am Main
1969, S. 71.

(121)
Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“. In: Gesammelte Werke, Köln
2012, S. 631.

(122)
Nietzsches großer Heros, der Gesamtkunstwerkschöpfer Richard Wagner, hat nicht
nur eine fürchterliche antisemitische Schrift über „Das Judentum in der Musik“
verfasst, das zur Blaupause für kleinbürgerlichen Antijudaismus in der Kunst
wurde. Er hat insbesondere im „Der Ring des Nibelungen“ ganz im Nietzsche’schen
Sinn das Unbehagen an der Moderne in starke mythologische Bilder gefasst des
vergeblich sich gegen die „naturwidrige“ Gesetzlichkeit erhebenden Helden.

(123) In:
Interview with Jewish correspondents in Mexico (18.1.1937), erschienen
u. a. in den jiddischen Zeitungen „Der Tog“ und „Forwaerts“ (24.1.1937) in
den USA. Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, Pathfinder
Press, New York 1970, S. 28. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(124) In:
Thermidor and Anti-Semitism, Artikel erschienen in „New International“, 1940.
Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O.,
S. 40. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(125) Ebd.,
S. 28.

(126) Leo
Trotzki, „Porträt des Nationalsozialismus“, zuerst erschienen in „Die neue
Weltbühne“, Juli 1933 [Die „Weltbühne“, die vor allem mit den Namen Tucholsky
und von Ossietzky verbunden ist, war eine der bekanntesten intellektuellen
Zeitschriften des „Linksbürgertums“ der Weimarer Republik. Speziell Tucholsky
schätzte Artikel von Trotzki besonders und ließ sich durch Anfeindungen von
sozialdemokratischer und stalinistischer Seite nicht beeindrucken. Nach der
Machtergreifung wurde die „Weltbühne“ verboten und erschien aus dem Exil –
zunächst aus Wien – als „Neue Weltbühne“ in kleiner Auflage weiter. Dort wurde
Trotzkis „Porträt“, das er im Juni 1933 in seinem Exil in Prinkipo geschrieben
hatte, veröffentlicht. Tucholsky staunte, wie jemand aus soviel Entfernung eine
viel klarere Sicht auf die Ereignisse in Deutschland haben könne als die vor
Ort Lebenden, hier zitiert aus: „Schriften über Deutschland“,
a. a. O., S. 575.

(127) Ebd.,
S. 575.

(128) Ebd.,
S. 575 f.

(129) Ebd.,
S. 578

(130) Ebd.,
S. 577.

(131) Ebd.,
S. 579.

(132) Ebd.,
S. 579

(133)
„Appeal to American Jews menaced by fascism and Anti-Semitism, Dezember 1938,
zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O., S.
41. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(134) In:
„Manifest der 4. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur
proletarischen Weltrevolution“ (1940). Zitiert nach: Leo Trotzki, „Schriften
zum imperialistischen Krieg“, Frankfurt am Main 1978, S. 139.

(135) In:
Isaac Deutscher, „Überreste einer Rasse“, veröffentlicht im „Economist“,
12.1.1946. Zitat von Generalleutnant Morgan aus „The Times“, 3.1.1946. Zitiert
nach: Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage, a. a. O., S. 53.

(136) Ebd.,
S. 57.

(137) In:
„On the ,Jewish Problem’“, Interview mit der Zeitschrift „Class Struggle“,
Februar 1934. Zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“,
a. a. O., S. 25.

(138) Ebd.,
S. 25.

(139) Ebd.,
S. 25 f.

(140) In:
Isaac Deutscher, „Der israelisch-arabische Krieg vom Juni 1967“, New Left
Review. Zitiert aus: Isaac Deutscher, „Die ungelöste Judenfrage“,
a. a. O., S. 91 f.

(141) Ebd.,
S. 92.

(142) Ossip
K. Flechtheim, „Die KPD in der Weimarer Republik“, EVA, Frankfurt am Main 1973,
S. 173.

(143) Mario Keßler, „Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik“, UTOPIE kreativ, H. 173, März 2005, S. 226; < https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/173/173_Kessler.pdf.

(144)
Trotsky, „Thermidor and Anti-Semitism“, The New International, 1937; zitiert
nach: ders., „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 31 ff.
Übersetzung von Zitaten aus dem Englischen durch den Autor.

(145) Ebd.,
S. 37.

(146) Ebd.,
S. 32.

(147) Ebd.,
S. 37.

(148) Isaac
Deutscher, „Stalin – eine politische Biographie“, Reinbek bei Hamburg 1992
(rororo-Reprint; Die Originalausgabe erschien 1949 auf englisch bei Oxford
University Press)

(149) Ebd.,
S. 761.

(150) Siehe
ausführlich: Wiebke Bachmann, „Die UdSSR und der Nahe Osten: Zionismus,
ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956“, München
2011.

(151) Zu
den genannten Verfolgungen in dieser Zeit siehe: Deutscher, „Stalin…“,
a. a. O., S. 763 f.

(152)
Siehe: Werner Schmidt, „Peter Weiss – Biografie“, Berlin 2016. Die Anfeindungen
gegen Weiss vom „Realsozialismus“ bis in die „Sponti-Bewegung“ wird ausführlich
dargestellt im Kapitel „Persona non grata“. Das Zitat mit dem „dicken Blut“
stammt aus dem Organ der „orthodoxen“ Kommunistischen Partei Schwedens dieser
Zeit, „Norrskensflamman“ (Weiss war im zweiten Weltkrieg ins schwedische Exil
geflüchtet und Mitglied des „eurokommunistischen“ Flügels der schwedischen
KommunistInnen). Siehe dazu: S. 276f.

(153) Siehe
z. B.: Hamed Abdel-Samad, „Der islamische Faschismus“, München 2014.

(154) Siehe
dazu die 7-teilige Dokumentation „Jesus und der Islam“, arte, 2015 (Dezember).

(155) Siehe
z. B.: Abdel-Samad, a. a. O., S. 34 ff. (Kapitel „Die
Muslimbrüder und die Nazis“).

(156)
Siehe: David Ranan, „Muslimischer Antisemitismus“, Bonn 2018, S. 171. Liest man
jedoch die Charta, wird klar, dass zwar der Bezug auf die „Protokolle“
gestrichen wurde, die Weltverschwörungstheorien gegenüber den „FeindInnen“ (das
dort verwendete Wort für „Juden/Jüdinnen“) unvermindert enthalten sind.

(157)
A. a. O.

(158) Ebd.,
S. 62 f.

(159) Ebd.,
S. 43.

(160)
Gespaltene Mitte – feindselige Zustände, rechtsextreme Einstellungen in
Deutschland, IKG Bielefeld (in Zusammenarbeit mit der Friedrich Ebert
Stiftung), 2016.

(161)
Ranan, a. a. O., S. 71.

(162) Zitat
von den Bielefelder Autoren, Ranan, a. a. O., S. 77.

(163) http://redaktion-bahamas.org/artikel/2016/73-die-volkspartei-des-gesunden-menschenverstandes

(164)
Ranan, a. a. O., S .41.

(165) Die Linksjugend [`solid], „Gegen jeden Antisemitismus“, Beschluss des Bundeskongresses 2015: https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/

(166)
Ranan, a. a. O., S. 21.

(167) Ebd.,
S. 25.

(168) David
Ranan, a. a. O., S. 39, Zitat von Y. Kuperwasser aus Flashpoint 27.

(169)
Theodor Herzl, „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“,
Leipzig und Wien, 1896.

(170)
Zitiert nach Eli Lobel, „Die Juden und Palästina“, in: Sabri Geries/Eli Lobel,
„Die Araber in Israel“, München 1970, S. 66.

(171) Moshe
Zuckermann, „Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt“,
Wien 2014, S. 49.

(172)
zitiert nach Ehud Adiv, „Politik und Identität“, in: Ilan Pappe/Jamil Hilal (Hrsg.),
„Zu beiden Seiten der Mauer“, Hamburg 2013, S. 32.

(173)
Lobel, a. a. O., S. 36.

(174) John
Rose, „Mythen des Zionismus – Stolpersteine auf dem Weg zu Frieden“, Zürich
2006, S. 147.

(175) Uri
Davis, „Die Kolonialherren im geographischen Palästina beim Namen genannt“, in;
Pappe/Hilal, a. a. O., S. 397.

(176) Man
muss bei der Frage von Teilung (und auch Zweistaatenlösungen) immer bedenken,
dass es um eine im Vergleich sehr kleine Fläche geht. Das heutige Israel ist
etwa so groß wie das Bundesland Hessen, die Hälfte davon nimmt aber die Wüste
Negev ein. Die Bevölkerungsdichte und die Konkurrenz um die fruchtbaren Böden
sind daher sehr groß.

(177)
Zitiert nach: Tom Segev, „Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen
Staates“, München 2010, S. 52.

(178) Ebd.,
S. 63.

(179)
Tatsächlich war dieses „Verbleiben“ zum Teil Resultat der
Waffenstillstandsverhandlungen und des Drucks der britischen „Schutzmacht“, die
das „Flüchtlingsproblem“, das sich ihnen für ihre arabischen „Verbündeten“
aufgetan hatte, durch „Rücknahmekontigente“ für Israel zu mildern suchte.

(180) Im
Zuge der Oslo-Verträge wurde 1994 die „Palästinensische Autonomiebehörde“
eingerichtet, die de facto Regierungsfunktionen in den „palästinensischen
Autonomiegebieten“ ausübt. Sie hat offiziell in der sogenannten Zone A
öffentliche und sicherheitspolitische Kontrolle, in Zone B nur
Verwaltungsfunktion und ist in Zone C der israelischen Verwaltung
untergeordnet. Wenn auch die israelische Armee offiziell nur die Zone C
kontrolliert, ist sie die einzige wirkliche militärische Macht in der ganzen
Region. Zusätzlich ist die palästinensische „Autonomie“ noch durch die Teilung
zwischen Gaza (unter Kontrolle der Hamas) und Westjordanland (unter Kontrolle
der Fatah) gespalten, so dass die PA im Wesentlichen nur im Westjordanland ihre
beschränkten Funktionen erfüllen kann. Da die Zone C nicht nur 62 % des
Westjordanlandes, sondern auch landwirtschaftlich wertvolle Gebiete umfasst,
leben dort fast 200.000 PlästinenserInnen in Nachbarschaft zu jüdischen Siedlungen
unter fast ständiger militärischer Besatzungskontrolle.

(181) Siehe z. B.:
Haaretz, Radical Settler, Proud ‚Homophobe‘ and Wunderkind: Meet the new leader
of Israel’s Far Right; 15.Januar 2019. https://www.haaretz.com/israel-news/elections/.premium-radical-settler-proud-homophobe-and-wunderkind-new-leader-of-israel-s-far-right-1.6846001




Umwelt und Kapitalismus

Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und der kapitalistischen Produktionsweise

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Capitalism kills, Imperialismus, Kapitalismus und die Zerstörung von Mensch und Natur, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Juni 2019

Inhalt

Einführung

Seit 1987 der berühmte Bericht „Our Common Future“ der Weltkommission für
Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (auch bekannt als
Brundtland-Kommission) veröffentlicht wurde, hat der Begriff der Nachhaltigkeit
einen Siegeszug angetreten. Die UN-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 (Earth
Summit) benannte nach Jahrzehnten wichtiger außerparlamentarischer
Auseinandersetzungen die Umweltfrage als globales Problem und erklärte eine
„nachhaltige Entwicklung“ zum politischen und ökonomischen Ziel.

Seitdem hat die Bedeutung von Nachhaltigkeit und Umwelt-/Naturschutz im
politischen Diskurs weltweit an Bedeutung gewonnen und auch Eingang in die
bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Heute gibt es kaum noch eine Regierung,
kaum ein Unternehmen oder eine Institution, die nicht von sich behaupten,
„nachhaltig“ zu sein oder zumindest dieses Ziel anzustreben. Produkte, Konsum,
Politik, Entwicklung – alles bekommt heute den Stempel der Nachhaltigkeit.
Nachhaltigkeit ist heutzutage im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.

Damit einhergehend gab und gibt es unzählige Gipfel, Konferenzen,
Initiativen etc., die sich mit dem Thema auf verschiedensten Ebenen
auseinandersetzen. Seit nunmehr über 20 Jahren – 1997 wurde das Kyoto-Protokoll
zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen verabschiedet – wird auf
globaler, regionaler und nationaler Ebene auch versucht, wissenschaftliche
Erkenntnisse in praktische Politik umzusetzen.

Trotz all dieser Anstrengungen und Beteuerungen verschärft sich das Problem
der Umweltzerstörung, das mit der Entwicklung des Kapitalismus globale Ausmaße
erreicht und deren menschheitsbedrohende Folgen während der sogenannten
Globalisierung immer dramatischer hervortreten. Umweltprobleme können allgemein
in zwei große Kategorien eingeteilt werden: die Übernutzung von (erneuerbaren
oder nicht erneuerbaren) Ressourcen einerseits und die Überlastung von Senken
andererseits. Unter die erste Kategorie fällt z. B. der Raubbau an
Ressourcen wie Boden, (Grund-) Wasser, Bodenschätzen oder Holz. Unter die
zweite Kategorie fallen z. B. die zunehmende Verschmutzung von Flüssen, Seen
und Meeren sowie die Übernutzung der Atmosphäre als Senke für Treibhausgase.
Alle diese Umweltprobleme nehmen heute nie gekannte Ausmaße an, mit
dramatischen Folgen. Dazu zählen z. B. der Verlust von Biodiversität, die
Auslaugung, Versalzung und Versandung von Böden, der Zusammenbruch von
Fischpopulationen, die Akkumulation von Schadstoffen in den Nahrungsketten, die
Überdüngung, Vergiftung und Erschöpfung von Oberflächen- und
Grundwasserressourcen und nicht zuletzt die globale Klimaerwärmung. Die
Menschheit fördert nicht nur spürbare negative Einflüsse auf die globale
Umwelt, diese drohen mittlerweile auch, ihre eigenen Reproduktionsbedingungen
zu zerstören. Deshalb kann zusammenfassend von Umweltzerstörung gesprochen
werden, definiert als die Überausbeutung von Ressourcen und/oder die
Überlastung von Senken. Zusammenhängend mit der fortschreitenden
Umweltzerstörung steigt auch die Anzahl an Konflikten und Kämpfen, die durch
diese Entwicklung verursacht werden.

Trotz aller Beteuerungen, Werbung und Propaganda: Von „nachhaltiger Entwicklung“ kann keine Rede sein – weder in Deutschland, der EU, noch weltweit. Die tatsächliche Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu den Beteuerungen und erklärten Absichten der herrschenden Eliten. Es bestehen offensichtlich tiefgründigere Ursachen, die einen „Politikwechsel“ in Richtung „nachhaltige Entwicklung“ und eine Lösung der Probleme verhindern. Diese liegen in der aktuellen Wirtschaftsform der Menschheit begründet – dem Kapitalismus.

Green Economy – die falschen Antworten des Kapitalismus

In dem Brundtland-Bericht wurde nachhaltige Entwicklung folgendermaßen definiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ (WCED 1987, S. 41)

Diese Definition lässt die soziale Frage weitgehend offen und stellt die
Frage zukünftiger Generationen (Generationengerechtigkeit) in den Mittelpunkt.
Sie impliziert zugleich, dass es ein weitgehend einheitliches, allgemeines
Interesse „der Menschheit“ – unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung
und ihren sozialen Interessen – gäbe. Die Definition war und ist deshalb zu Recht
Gegenstand vieler Kritik. Dass sie sich dennoch durchsetzte und einen so hohen
Stellenwert im politischen Diskurs erhielt, liegt nicht in erster Linie an
einem steigenden, abstrakten Umweltbewusstsein der Bevölkerung und/oder der
PolitikerInnen, sondern daran, dass die Grundlagen der Kapitalakkumulation
selbst langfristig durch die zunehmende Umweltzerstörung gefährdet werden und
zugleich Massenkämpfe und Bewegungen die Stabilität des bürgerlichen Systems
unterminieren könnten. Diese Besorgnis von Teilen der herrschenden Klassen
wurde bereits 1972 in dem berühmten Bericht „The Limits to Growth“ („Die
Grenzen des Wachstums“; Meadows et al. 1972) von dem elitären Club of Rome
zusammengefasst. Die zentrale Besorgnis der Eliten ist dabei nicht die Integrität
der Umwelt an sich oder die Auswirkungen der zunehmenden Umweltzerstörung auf
arme oder weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen, sondern die
Aufrechterhaltung und Fortführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise und
Kapitalakkumulation.

In diesem Sinne wurden und werden im Rahmen des Diskurses der nachhaltigen
Entwicklung nicht nur die Probleme im Zusammenhang mit Umwelt definiert,
sondern auch deren Lösungen: „Green Economy“ und „Green Growth“ sind hier die
wichtigsten Schlagworte. Sie umschreiben die Vorstellung, dass die Grundlagen
unserer Gesellschaft und Ökonomie – die kapitalistische Wirtschaftsordnung – weiter
bestehen und ihre negativen Umweltauswirkungen reduziert und/oder schließlich
ganz überwunden werden könnten bei gleichzeitiger Beibehaltung des Wachstums,
der kapitalistischen Akkumulation. Diese Konzepte sind heute im öffentlichen
Umweltdiskurs vorherrschend. Sie werden nur selten hinterfragt, geschweige denn
in Frage gestellt, sondern meistens als völlig selbstverständlich
vorausgesetzt.

Eine Schlüsselrolle tragen in diesen Konzepten neue, sog. „grüne“
Technologien. Kern der Vorstellung ist, dass der Kapitalismus weiter, wenn auch
nicht unbegrenzt, so doch „reguliert“ und zum Wohle von Mensch und Umwelt
wachsen könne, wenn er nur auf grüne Technologien umgestellt würde. Diese
müssten nur in „vernünftige“ staatliche und globale „Rahmenbedingungen“ eingebettet
werden, die die Interessen der verschiedenen Klassen, von Armen und Reichen,
zwischen den „reichen“ Nationen und der sog. „Dritten Welt“ zum Wohle aller
ausgleichen würden. Deshalb wird die Umwelt-Frage im vorherrschenden Diskurs
immer und vordergründig im Zusammenhang mit technologischen Aufgaben
diskutiert. Wo politische und gesellschaftliche Fragestellungen auftauchen,
werden diese gewissermaßen sozialtechnisch betrachtet, die im Rahmen eines
„Green New Deal“ prinzipiell lösbar wären. Die Frage, ob auf Basis der
kapitalistischen Produktionsweise, also der grundlegenden Verfasstheit der
gegenwärtigen Ökonomie und Politik, eine ökologische Nachhaltigkeit etabliert
werden kann, wird systematisch ausgeblendet.

Am deutlichsten wird dieser Ansatz im Bereich der Energiegewinnung und
-versorgung. Die Energieversorgung ist nicht nur für die kapitalistische,
sondern für jede Art von Ökonomie von zentraler Bedeutung. Die Entwicklung des
Kapitalismus ist aufs Engste mit der Erschließung und Nutzung von fossilen
Brennstoffen – Kohle, Öl und Gas – verbunden. Die gesamte moderne,
kapitalistische Gesellschaft ist auf diesen Energieträgern aufgebaut, ihre
ganze Infrastruktur darauf ausgelegt und danach geformt. Wie Marx im „Kapital“
im Kapitel über die relative Mehrwertproduktion zeigt, erfordert die
kapitalistische Produktionsweise eine Antriebsmaschinerie und ein
Energiesystem, das permanent, ohne Schwankungen und im großen Stil, Energie für
das Fabriksystem und die dazu passende allgemeine Infrastruktur bereitstellt.
Daher historisch die enorme Bedeutung der Dampfmaschine bei der Durchsetzung
der großen Industrie, als der dem Kapitalismus angemessenen technischen
Grundlage. Diese – und mit ihr die auf fossilen Brennstoffen entstandene
Energieversorgung – ist von Beginn an auf den Weltmarkt und die Expansion über
nationale Schranken hinaus angelegt, formt daher notwendigerweise auch die
technologische Basis der Weltwirtschaft. Mit den fossilen Energieträgern und
der dazu gehörigen Maschinerie (Dampfkraft, später Elektrizität) konnte die
kapitalistische Logik der permanenten Beschleunigung und Expansion etabliert
werden, die, im Kapital begrifflich schon vorausgesetzt, zur Wirklichkeit in
jedem Land wird. Die zunehmenden Erkenntnisse über die Auswirkungen des steigenden
Treibhausgasausstoßes bei ihrer Verbrennung hat die Einstellung gegenüber
fossilen Brennstoffen jedoch grundlegend geändert. Wurden sie während eines
Großteils des 20. Jahrhunderts als Grundlage von Entwicklung, Wachstum und
Reichtum verherrlicht, werden sie heute zunehmend als Problem angesehen.
Interessanterweise – und vom Mainstream der ökologischen Bewegung
totgeschwiegen – stellten Autoren wie Marx und Engels schon im 19. Jahrhundert
die unvermeidlichen negativen, gesellschafts- und naturzerstörenden
Auswirkungen des Kapitalismus dar und verwiesen auf die widersprüchliche Natur
des Fortschritts. Dieser kritische, der Marxschen Kapitalismustheorie
innewohnende Blick auf die ökologischen Folgen ging jedoch in der
ArbeiterInnenbewegung aufgrund der Vorherrschaft des sozialdemokratischen und
stalinistischen Reformismus verloren.

Doch zurück zum „grünen Kapitalismus“. In seiner Logik ist die Lösung für
dieses Problem schon in Sicht, schon lange sogar: erneuerbare Energien. Wind,
Sonne, Biomasse und Wasser (in etlichen Ländern auch Uran) sollen Öl, Gas und
Kohle ersetzen. Damit könne der Treibhausgasausstoß gesenkt werden, bei
gleichzeitigem Beibehalten der sog. „Versorgungssicherheit“ und
wirtschaftlichem Wachstum – sprich der stetigen, wenn auch ökologisch regulierten
Kapitalakkumulation.

Auch ein bedeutender Teil der klassischen Umweltbewegung, vor allem in den
reichen, imperialistischen Ländern, ist inzwischen auf diese Linie
eingeschwenkt. Dabei kann alles im Wesentlichen so bleiben wie heute, nur eben
mit erneuerbaren Energien versorgt. Die Umwelt- und sozialen Auswirkungen von
erneuerbaren Energien im Kapitalismus werden oft unterschätzt, übersehen oder
sogar ignoriert.

Der massive Anbau von Biomasse für die Produktion von Treibstoffen hat in
vielen Ländern zur Vertreibung der Landbevölkerung und der Konzentration von
Ackerland in der Hand von mächtigen Unternehmen und Konzernen geführt. Die mit
dem Anbau verbundenen Monokulturen verursachen die Übernutzung von Böden, den
massiven Einsatz von Kunstdüngern und Pestiziden und einen hohen Artenverlust.
Darüber hinaus trug die gestiegene Produktion von Biotreibstoffen zu einer
Erhöhung der Preise von Nahrungsmitteln, welche auf dem Weltmarkt gehandelt
werden, bei und damit auch zu den negativen Auswirkungen auf die
Nahrungsmittelsicherheit von Millionen Menschen. Noch heute werden native Wälder
für den Anbau von Biotreibstoffpflanzen gerodet z. B. in Kolumbien,
Indonesien oder Malaysia. Biotreibstoff aus diesen Quellen führt oft
absurderweise zu höheren Treibhausgasemissionen als fossile Brennstoffe
(Transport and Environment o. D.).

Auch Wind- und Sonnenenergie sind – anders als oft suggeriert – nicht frei
von negativen Auswirkungen. Beide Energieformen benötigen Rohstoffe zur
Herstellung der Turbinen bzw. Solarzellen und haben je nach Anwendung einen
hohen Landbedarf. In ihrer Produktion werden viele Materialien eingesetzt, die
teilweise unter schwer umweltschädigenden Bedingungen gefördert werden. Das
gilt z. B. für die „seltenen Erden“, die zu überwiegendem Teil in China
gewonnen werden, und für Coltan aus dem Kongo (zu den heftigen
Umweltauswirkungen der Gewinnung v. a.r Erden in China siehe z. B.
den Bericht von Maughan [2015]). Aber auch soziale Konflikte, die durch
erneuerbare Energien verursacht werden, zeichnen sich zunehmend ab. Z. B. hat
die Errichtung großer Windparks von ausländischen InvestorInnen in Oaxaca, Mexiko,
zu heftigen Konflikten mit der lokalen, kleinbäuerlichen Bevölkerung geführt,
die durch die Windparks massiv beeinträchtigt werden (siehe z. B. Schenk 2012,
oder – auf Spanisch – Castillo Jara 2011). Auch hier werden im Interesse des
Profits der KapitalistInnen die negativen Auswirkungen auf die lokale, weniger
privilegierte (Land-)Bevölkerung abgewälzt – dasselbe Prinzip wie bei fossilen Energieträgern,
auch wenn die Auswirkungen andere sind.

Wasserkraft, vor allem große Staudämme, hat durch die Förderung
erneuerbarer Energien eine Renaissance erlebt. Im Gegensatz zu den anderen
zitierten Energieformen ist ihre Nutzung schon lange im Kapitalismus etabliert.
2015 hatte sie einen Anteil von 16 % der weltweiten Stromerzeugung und
repräsentierte damit 70 % der weltweit erzeugten erneuerbaren Energien
(IEA 2017). Die heftigen sozio-ökonomischen Auswirkungen von Staudämmen, die
viel studiert und dokumentiert wurden und zu großen sozio-ökologischen
Konflikten geführt haben (siehe z. B. Hess et al. 2016 oder Hess und
Fenrich 2017), haben bis zur Jahrtausendwende zu einer abfallenden Dynamik des
Wasserkraftsektors beigetragen, zumindest bei den großen Projekten. Seitdem
haben sie aber vor dem Hintergrund der Treibhausgas-Diskussionen wieder an
Fahrt aufgenommen. Staudämme sind als (angeblich) treibhausgasarme Technologie
in dem Clean Development Mechanism (CDM) der UN anerkannt und können darüber
gefördert werden. Dabei sind die Auswirkungen oft gigantisch: von der
Umsiedelung bzw. Vertreibung von tausenden bis zu hunderttausenden von
Menschen, über die Zerstörung von Fischpopulationen und der Ökologie ganzer
Flusssysteme bis zu der Verletzung von Arbeitsrechten, offener Gewalt und
struktureller Korruption. Und selbst die angeblich niedrigen
Treibhausgasemissionen sind inzwischen widerlegt, da Stauseen enorme Mengen an
Kohlendioxid und Methan ausstoßen können (Mendonça et al. 2012).

Die Politik der Umstellung auf erneuerbare Energien, in Deutschland als
„Energiewende“ bekannt, suggeriert geradezu eine technologische Verengung des
Problems. Die neue grüne Ökonomie nimmt dies als eine ihrer ideologischen
Grundlagen. Auch in anderen Bereichen kann diese Logik beobachtet werden. So
werden die intensive Landwirtschaft und Gentechnik von der Agrarlobby als
Antworten auf Klimawandel und wachsende Bevölkerung propagiert – als wären die
massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern und die Überausbeutung
von Böden und Wasserressourcen nicht gerade auf sie zurückzuführen. Das
Elektroauto gilt als neue Hoffnung für die Aufrechterhaltung nicht nur der
wirtschaftlichen Bedeutung der Autokonzerne und ihrer Profite, sondern auch der
Fixierung der Ober- und Mittelschichten, aber auch großer Teile der
ArbeiterInnenklassen auf den Individualverkehr. Selbstredend unterliegt auch
der Ökolandbau der Profitlogik und wird heute teilweise bereits in einer
ökologisch wie sozial schädigenden Art und Weise betrieben.

Neben dem Einsatz neuer, umweltfreundlicherer Technologien ist die
effizientere Nutzung von Ressourcen im Produktionsprozess das zweite
technologische Standbein der Green Economy. In der Tat konnte der Kapitalismus
in vielen Prozessen die Effizienz massiv steigern. Das führt aber keineswegs
automatisch zu einem geringeren tatsächlichen Verbrauch der betroffenen
Rohstoffe. Wird ein Produktionsprozess effizienter – im Sinne von der
benötigten Menge an Input von Energie und Rohstoffen zur Erstellung eines
bestimmten Produktes – so sinkt damit natürlich der Wert der einzelnen Ware,
weil weniger Rohstoff und/oder Energie zu ihrer Herstellung verbraucht werden
muss. Das günstiger produzierende Unternehmen erzielt damit einen Vorteil
gegenüber seinen Konkurrenten, da es die von ihm produzierten Waren billiger
oder mit mehr Gewinn verkaufen kann. Diese Situation dauert aber
notwendigerweise nur begrenzt an, nämlich solange, bis die KonkurrentInnen
ebenfalls billigere Rohstoffe oder Energie einsetzen. So unterliegt die technische
Basis der Produktion im Kapitalismus einem permanenten Druck zur
„Revolutionierung“, zur Umwälzung.

Darüber hinaus drängt die Konkurrenz auch zur Ausweitung der Produktion,
zum ständigen Wachstum, zur Erschließung neuer Märkte (damit auch zur Vernichtung
weniger effektiver Unternehmen), zur Überproduktion über den Bedarf, zur Krise
und auch zur Vernichtung „überschüssiger“ Produkte, also solcher, die auf keine
kaufkräftige Nachfrage treffen.

Daher kann die Verringerung des Verbrauchs an Rohstoffen und Energie für
das einzelne Produkt durchaus mit der Steigerung des Gesamtverbrauchs
einhergehen, gerade in Phasen massiven Wachstums und ungebremster Akkumulation.

Dieses Phänomen war auch im 19. Jahrhundert nicht unbekannt und lässt sich
im Übrigen, wenn auch in weitaus geringeren Zeitperioden, auch bei der
menschlichen Arbeitskraft beobachten, namentlich dann, wenn die Expansion eines
bestimmten Sektors so groß ist, dass trotz einer steigenden
Arbeitsproduktivität mehr Lohnabhängige in die Produktion gezogen werden. Da
die industrielle Produktion jedoch mit einer regelmäßigen Ersetzung
menschlicher Arbeitskraft durch Maschinerie einhergeht, ist eine solche
„paradoxe“ Entwicklung bei Rohstoffen und Energie ausgeprägter.

Der britische Ökonom William Stanley Jevons beschrieb diesen Effekt bereits
im 19. Jahrhundert an dem Beispiel des Verbrauchs von Kohle in Großbritannien
und führte diesen 1865 in seinem Buch „The Coal Question“ aus. Deshalb wird
dieser Effekt als das Jevons-Paradoxon bezeichnet (siehe z. B. Foster et
al. 2010, S. 169 ff.). Jevons verkennt, ja verklärt geradezu die Ursachen des
Paradoxons, das auf Grundlage der Marxschen Kapitalismusanalyse leicht
erklärbar ist. Jevons selbst war Malthusianer. Malthus bestritt, dass die
„Überbevölkerung“ (also die Masse von Armen, die ihre Arbeitskraft nicht
verkaufen können und als „Überschussbevölkerung“ kein Auskommen finden) als
Folge der kapitalistischen Akkumulation entsteht und erklärte sie zu einem
unabänderlichen Naturgesetz. In derselben Weise erklärt Jevons das Paradox
nicht aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise,
sondern er behauptet, dass es als Naturgesetz jeder industriellen
Großproduktion eigen wäre.

Heute wird dieses „Paradoxon“ auch oft unter dem Stichwort Rebound-Effekt
zusammengefasst. In der Autoindustrie führt es z. B. dazu, dass die
Automodelle größer und schwerer anstatt sparsamer werden. Das Ziel ist hierbei
nicht, möglichst sparsame und preiswerte Autos für KäuferInnen mit begrenzter
Kaufkraft herzustellen, sondern neue attraktive Angebote für die kaufkräftigen
Mittelschichten und ArbeiterInnenaristokratie zu schaffen (siehe hierzu z. B.
Brand und Wissen 2017, S. 125 ff.).

Die im Mainstream der „Green Economy“ vorherrschende Reduktion der
ökologischen Folgen des Kapitalismus wird hier zwar kritisiert, tendenziell
jedoch bloß umgekehrt. Während den bürgerlichen IdeologInnen alles technisch
lösbar erscheint, so wird die Technik oder eine bestimmte Produktionsform als
Ursache benannt, nicht die Produktionsweise. Der Zusammenhang von Produktion
und individuellem Konsum wird auf den Kopf gestellt. Wenn sich Autokonzerne in
den imperialistischen Ländern stärker auf höherpreisige Produkte fokussieren,
folgt dies aus keiner Präferenz gegenüber einkommensstärkeren KäuferInnen,
sondern einfach aus der Tatsache, dass die Einkommen der mittleren und unteren
Schichten der ArbeiterInnenklasse stagnieren, wenn nicht sinken. Höhere
Gewinnmargen lassen sich daher nur in den Premiumsegmenten erzielen.

Auch im institutionellen und ökonomischen Bereich hat die hohe Bedeutung
der Umweltfrage zu neuen Entwicklungen geführt. Diese sind allerdings, wie
bereits erwähnt, in der Regel den technologischen Innovationen untergeordnet.
Ein zentrales Beispiel hierfür ist der berühmte Emissionshandel, der mit dem
Kyoto-Protokoll geboren wurde. Hintergrund ist die Förderung der
Konkurrenzfähigkeit erneuerbarer Energien gegenüber fossilen Energieträgern.
Das Prinzip folgt der Logik, dass eines der zentralen Probleme des Kapitalismus
in Bezug auf Umwelt sei, dass viele Umweltfaktoren sich gar nicht oder nur
unzureichend in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln –
Auswirkungen auf die Umwelt werden von kapitalistischen Unternehmen, die einzig
und alleine den Profit als Antrieb kennen, externalisiert.

Die „Externalisierung“ gesellschaftlicher Kosten prägt die kapitalistische Produktionsweise von Beginn an. Marx selbst diskutiert im „Kapital“ eine Reihe dieser Phänomene. So weist er auf ein ganz allgemeines hin: „Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat.“ (MEW 23, S. 630/631)

So erfordert beispielsweise die extraktive Industrie kaum Ausgaben für den
Rohstoff, dieses Naturprodukt wird einfach „nur“ abgebaut. Der Wert, der dem
Produkt zugesetzt wird, besteht fast ausschließlich aus Arbeitskraft, Nutzung
von Arbeitsmitteln und Transport. Dasselbe trifft auch auf die Kooperation von
Arbeitenden zu, deren kombinierte Produktivkraft und planmäßiger Einsatz werden
vom Kapital während des Arbeitsprozesses einfach verwandt – da es sich die
Arbeitskraft selbst einverleibt, diese als Teil des Kapitals fungiert. Wie sich
die Arbeitskraft umgekehrt produziert, wie Lebensmittel hergestellt, Kinder
versorgt werden, ob es eine Schule gibt oder nicht, stellt sich dem/r
individuellen KapitalistIn als außerhalb ihrer/seiner Verantwortung, außerhalb ihrer/seiner
Interessen liegende „Naturbedingung“ dar. Sie/Er nutzt diese Verhältnisse
einfach, um so die Arbeitskraft möglichst effektiv und schrankenlos
auszubeuten.

Dasselbe gilt auch für die ohne sein Zutun vorgefundenen oder neu geschaffenen gesellschaftlichen Entwicklungen, Infrastruktur, Kommunikationsmittel. Diese eignet sich das einzelne Kapital „gratis“ mit jeder Umwälzung des Kapitals an. So wird der „gesellschaftliche Fortschritt“, den z. B. Wissenschaft, öffentliche Universitäten, … verkörpern, „in seine neue Form einverleibt“ (MEW 23, S. 632).

Diese „externalisierten“ Kosten umfassen also drei Elemente: erstens die
Erde (Rohstoffe, Wassser, Luft, „Natur“…), zweitens die Arbeitskraft, deren
private Reproduktion der „Familie“, also v. a. der Frau im Haushalt
überlassen wird, und drittens allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der
Produktivkraft der Arbeit (Wissenschaft, Bildung, Infrastruktur, öffentlicher
Transport, …).

Auf die Umweltproblematik übertragen bedeutet Externalisierung, dass
Unternehmen umweltbezogene Kosten (z. B. Wasser- und Luftverschmutzung,
die Extraktion von Wasser und anderen Ressourcen als Produktionsmittel, der Ausstoß
von Treibhausgasen etc.) nicht in ihre Bilanzen mit einbeziehen und diese
Kosten deshalb auf die Allgemeinheit bzw. die Gesellschaft abwälzen. Es ist
allerdings keineswegs so, dass die Auswirkungen gleichmäßig auf die
Gesellschaft bzw. Gesellschaften (verschiedener Länder) verteilt würden. Dabei
können zwei grundlegende Praxen unter dem Begriff zusammengefasst werden: erstens
die Externalisierung von diffusen Umweltauswirkungen, die in ihren Auswirkungen
nicht oder nur schwer eindeutig örtlich und räumlich zugeordnet werden können (z. B.
Treibhausgasemissionen, die zu einem globalen Klimawandel mit vielfältigen
Auswirkungen führen), und zweitens die bewusste Auslagerung umweltschädlicher
Produktion in andere, meist ärmere Länder.

Im Falle von Treibhausgasemissionen wird die Atmosphäre der Erde als Senke
für Treibhausgase in Anspruch genommen – lange Zeit völlig sorgen- und
kostenlos. Kapitalistische Unternehmen ändern dieses Verhalten nur, wenn sie durch
gesellschaftliche Kämpfe und Bewegungen, vom Staat oder supra-staatlichen
Institutionen durch Regelungen und Gesetze gezwungen werden oder attraktive
finanzielle Anreize erhalten. Bei Treibhausgasen ist der Weg über staatliche
Regulierungen aus mehreren Gründen schwierig bis unmöglich – schließlich ist die
Verbrennung von fossilen Treibstoffen eng mit der vorherrschenden Ökonomie
verzahnt und kann nicht einfach per Gesetz beschränkt werden, ohne massive
Auswirkungen auf das Kerngeschäft der kapitalistischen Ökonomie, der
Kapitalakkumulation, zu haben. Die kapitalistische Lösung ist der
Emissionshandel. Treibhausgase sollen über Zertifikate einen Preis erhalten und
damit in die Bilanzen der Unternehmen einfließen. Unternehmen, die viel
Treibhausgas ausstoßen, müssen sich Zertifikate von anderen kaufen, die wenig
ausstoßen. Darüber soll die Förderung von treibausgasarmen Technologien und
Innovationen gefördert werden.

Während der Ansatz der Internalisierung von umweltbezogenen Kosten in die
Bilanzen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen durchaus positiv und
richtig sein kann, wird er im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise oft
in sein Gegenteil verkehrt. Der Emissionshandel hat in der Praxis bislang nicht
zu einer Senkung von Treibhausgasemissionen geführt, dafür aber zu einer neuen
lukrativen Quelle von Profiten für große Konzerne. Die Europäische Union war
bisher die führende Institution bei dem Versuch, einen flächendeckenden Handel
mit Emissionsrechten einzuführen. Die Zertifikate wurden aber über Jahre hinweg
viel zu billig verkauft, was dazu geführt hat, dass sie im Überfluss gerade für
die Unternehmen und Konzerne zur Verfügung standen, die am meisten
Treibhausgase ausstoßen. Dadurch konnten sie sich billig Zertifikate erwerben,
ohne jedoch irgend etwas zu verändern, und diese auch noch weiterverkaufen, um
daran zu verdienen. Schließlich kann der Zertifikathandel grundsätzlich auch
spekulative Züge annehmen, sobald Emissionsrechte selbst zu einer Ware werden,
die auf eigenen Börsen gehandelt werden können. Die Treibhausgasemissionen steigen
derweil weiter an und der Emissionshandel ist als Instrument zur Reduzierung
von Treibhausgasemissionen in der Krise.

Wie bereits erklärt liegt der „Grünen Ökonomie“ die Vorstellung zu Grunde,
dass die Herausforderungen im Bereich von Umwelt und Klima im Wesentlichen
durch die Umstellung auf neue Technologien und regulative wirtschaftliche
Eingriffe bei gleichzeitiger Beibehaltung und sogar Intensivierung der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu meistern seien. So schafft der
Emissionshandel einen riesigen neuen Markt. Im Rahmen seiner anhängenden
Instrumente, wie z. B. des „Clean Development Mechanism“ (CDM), erschließt
er sogleich neue Märkte, Ressourcen und Flächen im globalen Süden zur
Ausbeutung (Energieprojekte) und/oder Rechtfertigung von umweltschädigenden
Aktivitäten anderswo (sog. Ausgleichsflächen). Das Prinzip der „Einpreisung“
von Umwelt-Faktoren („getting the prices right“) wird von vielen
internationalen Entwicklungsinstitutionen wie z. B. der GIZ (Deutsche
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, „Entwicklungshilfe“) als
Rechtfertigung für die (Teil-) Privatisierung von Umweltgütern oder -dienstleitungen
propagiert. In derselben Logik arbeitet das REDD (Reducing Emissions from
Deforestation and Forest Degradation)-Programm der Vereinten Nationen. Während
dessen löbliches Ziel die Reduzierung von Entwaldung (und den damit
zusammenhängenden Treibhausgasemissionen) ist, führt es in der Praxis oft dazu,
dass traditionelle Gemeinschaften die Kontrolle über ihr Territorium verlieren
und neue Gebiete für global agierende Konzerne erschlossen werden (Fatheuer et
al. 2015, S. 81). Im Bereich der Landwirtschaft ist gemäß der vorherrschenden
neoliberalen Logik nicht die massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern,
die zunehmende Konzentration von Böden in der Hand multinationaler Konzerne
und/oder lokaler Eliten und die zunehmende Orientierung auf kapital-, wasser-
und pestizidintensive Cashcrops (Anbau von Feldfrüchten für den Export) das
Problem, sondern – ganz im Sinne der global agierenden Konzerne – die fehlende
Klarheit der privaten Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden (Fritz 2010,
S.115 f.).

Sicher spielen neue, weniger umweltschädigende Technologien eine
Schlüsselrolle in der Überwindung der aktuellen, ausbeuterischen und räuberischen
Wirtschaftsweise. Die Umstellung auf erneuerbare, emissionsarme Energien und
ressourcenschonende, effizientere Produktionsformen ist angesichts der
Erkenntnisse zu Klimawandel und dessen möglicher Folgen richtig und notwendig.
Jedoch zeigen die Erfahrungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre deutlich, dass
eine rein technologische Umstellung im Rahmen der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse nicht die erhofften Resultate und/oder neue Probleme
hervorbringt.

Technologien und deren Auswirkungen sind immer abhängig von ihrer
Verwendung, ihrer Einbettung in bestimmte sozio-ökonomische Verhältnisse und
welchen bzw. wessen gesellschaftlichen Interessen sie entsprechen. Im
Kapitalismus geht die technologische Entwicklung immer mit der Ersetzung menschlicher
Arbeitskraft durch Maschinerie einher. Dies würde in einer zukünftigen,
nachkapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Quelle des gesellschaftlichen
Fortschritts und der Ausweitung freier Zeit für alle bedeuten. Im Kapitalismus
geht sie unvermeidlich mit der Festigung der Herrschaft des Kapitals über die
Arbeit, mit der Verschärfung der Ausbeutung der Beschäftigten und der
Freisetzung der „überflüssig“ gemachten Lohnabhängigen einher.

Und so werden auch erneuerbare Energien und andere neue Technologien oder Ansätze (wie z. B. auch der Ökolandbau) im Interesse des Kapitals eingeführt und eingesetzt und unterliegen der Logik der Profitmaximierung um (fast) jeden Preis. Und in dieser Logik gehen sie mit Vertreibung, Landraub, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung einher, anstatt diese „Kollateralschäden“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu überwinden. Mittlerweile sind erneuerbare Energien ein etablierter, florierender Wirtschaftszweig und für Teile des Kapitals von hohem Interesse. Das zeigt nicht zuletzt der Protest von Teilen des US-amerikanischen Kapitals (inklusive großer Energiekonzerne wie Exxon) gegen die Entscheidung von Präsident Trump, das Pariser Klimaschutzabkommen zu verlassen. Anderseits verdeutlicht dieser Schritt auch, dass in der globalen Konkurrenz und im Kampf um die Neuaufteilung der Welt selbst halbherzige, zu wenig bis nichts verpflichtenden Abkommen keinen Bestand haben werden, wenn es darum geht, wem die Kosten der Zerstörung der Umwelt aufgebürdet werden sollen.

Das „Umweltparadoxon“

Obwohl sich die globalen Umweltprobleme weiter verschärfen und zuspitzen,
ist die direkte Umweltverschmutzung und -zerstörung in den reichen,
imperialistischen Ländern (im Wesentlichen in West-Europa, USA, Kanada,
Australien und Japan) seit den 1970er Jahren in einigen Bereichen
zurückgegangen. Das mag angesichts von Dieselskandal und zunehmender
Grundwasserverschmutzung mit Nitrat in Zweifel gezogen werden, betrifft aber z.
B. die Wasserverschmutzung durch häusliches und industrielles Abwasser, die
Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid und Stickoxide, die heftigen
Auswirkungen auf Boden und (Grund-) Wasser durch offene Mülldeponien oder
direkte industrielle Umweltbelastungen durch das Freisetzen von toxischen
Stoffen. In den meisten imperialistischen Ländern existieren heute umfangreiche
Umweltvorschriften und -gesetze und in vielen gibt oder gab es auch (mehr oder
weniger) bedeutende Umweltbewegungen und Parteien, die sich auf diese
Bewegungen stützen. Darüber hinaus führten v. a. die ArbeiterInnenbewegung
und die Gewerkschaften über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einen
erbitterten Kampf um einigermaßen menschenwürdige Lebensbedingungen, also
solche, die eine dauerhafte Reproduktion der Arbeitskraft ermöglichen. Im
Frühkapitalismus war deren Existenz oft durch absolute Verelendung
gekennzeichnet. Die neu entstehende Industrie setzte sie in Fabrik und
Wohnviertel unerträglichen Bedingungen aus (fehlende oder schlechte
Kanalisation, kein Schutz vor gesundheitsgefährdenden Gasen und Chemikalien,
fehlende Kranken- und Altersvorsorge, Kinderarbeit, …), die in den Ländern
der sog. Dritten Welt bis heute fortbestehen.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, dass sich die reichen Länder
auf einem guten Weg befänden, während Umweltverschmutzung und –zerstörung heute
vor allem ein Problem der armen Länder im globalen Süden seien. Bei näherem
Hinschauen zeigt sich hier allerdings ein Paradoxon: In den Ländern, in denen
der Verbrauch von Ressourcen (total und vor allem pro Kopf) besonders hoch ist
(imperialistische Länder), scheint die Umweltzerstörung niedriger zu sein als
in den Ländern, in denen der Ressourcenverbrauch weitaus geringer ist. Dieser
Umstand wird in der bürgerlichen Soziologie als „environmental degradation
paradox“ (Jorgensen and Rice 2005) oder „ökologisches Paradoxon“ (vgl.
Lessenich 2016, S. 96 ff.) bzw. Umweltparadoxon bezeichnet.

Um dieses zu erklären, erweitert der Soziologe Stephan Lessenich das Prinzip der Externalisierung auf das Verhältnis zwischen Ländern. Mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes konnten die reichen Länder dazu übergehen, systematisch energieintensive, besonders umweltschädigende und auch sozial schädliche Produktionsbereiche in andere Länder zu verlagern. Lessenich (2016, S. 96 ff.) fasst zusammen, „dass die reichen Industriegesellschaften in der Lage sind, die Voraussetzungen und Folgen ihres ,überbordenden Konsums‘ systematisch in andere Weltregionen, nämlich an die Gesellschaften der ärmeren, rohstoffexportierenden Länder, auszulagern. Auf diese Weise säubern sie konsequent ihre eigene Umwelt- und Sozialbilanz – und überlassen das schmutzige Geschäft anderen. Bis auf die ökonomischen Profite natürlich, die daraus zu ziehen sind.“

Diese Verlagerung hat besonders in drei Bereichen stattgefunden: (i)
Auslagerung naturzerstörender Rohstoffförderung (Energieträger wie Öl, Kohle
und Uran und Rohstoffe wie Eisen, Aluminium, Kobalt, Kupfer und viele andere
Metalle etc.); (ii) Auslagerung umweltschädlicher Industrieproduktion (z. B.
Stahlproduktion, Textilsektor, Zement- und Papierherstellung,
Elektronikindustrie); (iii) Auslagerung Land vernutzender Agrarwirtschaft (z. B.
Soja, Getreide, Fleisch, nachwachsende Rohstoffe wie Zuckerrohr oder ölhaltige
Pflanzen) und intensiver Aquakultur (Fisch und Garnelen). Diese Entwicklung
wurde in den vergangenen Jahrzehnten, während des Neoliberalismus, nochmals
verschärft und beschleunigt. Ein großer Teil der Umweltzerstörung der reichen
kapitalistischen Ökonomien wird somit auf dritte, ärmere Staaten abgewälzt. Das
bedeutet auch, dass die negativen wie positiven Umweltauswirkungen eines Landes
nicht alleine anhand interner Kenndaten beurteilt werden können (z. B. inländischer
Strom- oder Ressourcenverbrauch), sondern die Material- und Energieflüsse an
Ressourcen und Abfallprodukten mit anderen Ländern mit einbezogen werden
müssen.

An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass für viele der genannten
Auslagerungen nicht laxere Umweltauflagen, sondern niedrigere Lohnkosten die
Hauptmotivation waren und sind. Diese Faktoren widersprechen sich jedoch nicht,
sondern ergänzen sich. Die Motivation der KapitalistInnen für die Auslagerung
ist die Senkung der Produktionskosten und die Steigerung der Profite sowie der
Profitrate – dazu können sowohl niedrigere Löhne als auch laxere Umweltauflagen
beitragen. Das Verhältnis zwischen diesen Faktoren mag von Branche zu Branche
oder auch von Firma zu Firma unterschiedlich sein, die systematische
Externalisierung sozio-ökologischer negativer Auswirkungen in ärmere, halbkoloniale
Länder ist jedoch das Resultat.

Zweitens könnte eingewendet werden, dass manche natürlichen Rohstoffe wie
Agrarprodukte nur in bestimmten Weltregionen ab- bzw. angebaut werden können
und deshalb in den entsprechenden Ländern produziert werden. Oftmals hat die
billige Verfügbarkeit dieser Ressourcen (aufgrund niedrigerer Löhne und
Umweltauflagen in den Herkunftsländern) jedoch systematisch dazu beigetragen,
einheimische Produkte zu ersetzen oder bestimmte technische Entwicklungen und
Innovationen erst für das Kapital attraktiv zu machen. Ersteres gilt z. B.
für den Import von Zucker als Nahrungs- oder von Soja als Futtermittel.
Letzteres gilt z. B. für die billige, ständige Verfügbarkeit von Öl als
Vorraussetzung des öl-basierten, Individualverkehrssystems.

Die Ökonomie von Europa bzw. vor allem der EU ist dafür beispielhaft. Im
Vergleich zu den USA, Kanada oder Australien verfügen die europäischen Staaten
über weit weniger Flächen. Die Bedeutung der Landwirtschaft ist in den
westlichen europäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich
gesunken. In Deutschland arbeiten heute nur noch ca. 2 % der Arbeitskräfte
in der Landwirtschaft (ca. 940.000 von 44,7 Mio. Beschäftigten, siehe
Statistisches Bundesamt 2017). Trotzdem hat sich die Ernährungssicherheit stark
gesteigert. Ein Grund hierfür liegt zweifellos in der gestiegenen Produktivität
der Landwirtschaft, ein anderer aber auch in der erfolgreichen Externalisierung
des Flächenverbrauchs für landwirtschaftliche Produktion. Heute deckt
Deutschland nur ca. 50 % seines Agrarflächen-, 25 % seines
Waldflächen- und ca. 35 % seines Grünlandbedarfs durch die Produktion im
eigenen Land (Umweltbundesamt 2017a). Für die EU sind die Anteile der
Eigenbedarfsdeckung 77 %, 74 % und 60 % (Fischer et al. 2017).
Auch bei der Bilanz von Energieträgern und metallischen Rohstoffen kann dieses
Verhältnis festgestellt werden. Obwohl die EU – und hier vor allem die
sogenannten Kernländer Deutschland, Frankreich sowie (noch) Großbritannien –
nach wie führend in der weltweiten Industrieproduktion ist, verfügt sie über
sehr wenige eigene Ressourcen. Eisen, Aluminium, Zement, Kupfer, Kobalt,
Seltene Erden, Kohle, Uran und Gas – viele der für die Produktion notwendigen
Ressourcen werden in anderen Teilen der Welt hergestellt und in die EU
importiert. Mit Ausnahme von Großbritannien und Norwegen gibt es in West- und
Zentraleuropa auch keine bedeutenden Erdölförderländer. Dazu kommt der
massenweise Import von Textilien und Konsumgütern (vor allem
Elektronikartikel), die in der EU verbraucht werden. Auf der Kehrseite steht
dann der massenhafte Export von erzeugten Abfallprodukten wie z. B. der
von Elektronikschrott in afrikanische Länder oder Plastik- und anderen Abfällen
nach China. Im Jahr 2016 hat die EU 1,6 Mio. Tonnen Plastikmüll, davon
Deutschland alleine 560.000 Tonnen, nach China exportiert (Tagesschau 2018).
Mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht verschieben sich freilich
die Gewichte. Ende 2018 verbot das Land die Einfuhr stark verschmutzenden und
schlecht sortierten Altmülls – der Dreck soll zukünftig in andere asiatische
Ländern verfrachtet werden. Gleichzeitig beginnt China, selbst Müll zu
exportieren.

Die Externalisierung von negativen Umweltauswirkungen hat allerdings ihre
Grenzen. Auch in den reichen Ländern ist sie natürlich nicht vollständig
gelungen und kann es auch nicht. Nach wie vor gibt es auch in diesen Ländern
viele gravierende alte und neue Umweltprobleme, die sich weiter zuspitzen oder
neu auftreten wie z. B. die Verschmutzung von Grundwasser mit Nitrat, Arten-
und Biodiversitätsverlust, Degradierung von Böden, Luftverschmutzung durch
Auto-, Kraftwerks- und Industrieabgase und Eintrag in die Umwelt von
schädlichen Chemikalien oder solchen, deren Auswirkungen unbekannt sind. In der
EU sind zehntausende von Chemikalien in der Industrie im Einsatz und gelangen
in die Umwelt und laufend kommen neue dazu. Nur die wenigsten (einige Hundert)
sind reglementiert und von einem Großteil gibt es überhaupt keine gesicherten
Erkenntnisse über ihre (Langzeit-)Wirkungen in der Umwelt. Darüber hinaus kommt
es bei der Externalisierung der negativen Auswirkungen von
Treibhausgasemissionen zu natürlichen Grenzen und die Konsequenzen fallen durch
den Klimawandel teilweise auch auf die reichen Länder zurück – wenn auch vermutlich
in geringerem Ausmaß.

Des Weiteren gibt es gegenläufige Tendenzen und Interessen. Die hohe
Subventionierung der Agrarproduktion in der EU ist z. B. ein Faktor, um weitere
Auslagerung zu verhindern oder abzubremsen und damit erstens nicht noch
abhängiger von Importen zu werden und zweitens selbst hochindustrialisierte
Agrarprodukte international gewinnbringend verkaufen zu können und damit die
importierenden Länder wiederum in Abhängigkeiten zu halten. Ein weiteres
Beispiel ist der Fracking-Boom in den USA. Dieser führt zu einer Verringerung
der Abhängigkeit von Erdölimporten zum Preis von sozio-ökologischen
Auswirkungen innerhalb der eigenen Grenzen (das sind jedoch neue, teilweise
unbekannte und/oder in ihrer Tragweite noch nicht bekannten Auswirkungen, die
bisher noch nicht in großen Ausmaß „an die Oberfläche“ gekommen sind und
deshalb noch nicht zu großen Konflikten geführt haben). Donald Trump hat als
Präsident eine aggressive Agenda der Re-Internalisierung von externalisierten
Umweltauswirkungen wie z. B. die Wiederansiedelung und Stärkung der Kohle-
und Erdölförderung zugesagt. Er verspricht der US-amerikanischen
ArbeiterInnenklasse dadurch Arbeitsplätze, verschweigt aber die
sozio-ökologischen Auswirkungen, die damit einhergehen.

Natürlich geht es dabei nicht um die Interessen der Lohnabhängigen. Auch
die kurzfristigen Gewinne, die die US-Ölindustrie daraus schöpfen kann und
wird, erklären diesen Kurs nur bedingt. Vielmehr bildet die Krise der
Globalisierung, die verschärfe Konkurrenz zwischen den alten und neuen
Großmächten den Hintergrund, vor dem solche Wendungen verstanden werden müssen.
Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Hauptmächten USA und China, aber
auch Japan, Russland und Führungsmächten der EU (insbes. Deutschland und
Frankreich) nimmt eine immer größere Schärfe an, was auch bedeutet, dass der
exklusive Zugang zu Märkten und ganzen Kontinenten umkämpft ist. So haben sich
die USA unter Trump von multilateralen Übereinkünften wie dem Pariser
Klima-Abkommen verschiedet, weil sie – durchaus nicht unrealistisch – davon
ausgehen, dass sie einzelnen Staaten politisch und wirtschaftlich (und
natürlich auch in Klimafragen) viel leichter und umfassender ihre Bedingungen
diktieren können als in multilateralen Verhandlungen und Abkommen. China vorfolgt
in dieser Konkurrenz ein eigenes Projekt aufgelegt – die „Neue Seidenstraße“.
Für Deutschland fungiert die EU auch als imperialer Herrschaftsraum, in den die
Länder Süd- und Osteuropas als halbkoloniale Gebiete inkorporiert sind.

All dies verdeutlicht, dass die Verschärfung der ökologischen Probleme untrennbar mit dem imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus verbunden ist – und die ökologischen Fragen ohne Sturz des imperialistischen Weltsystems und dessen Ersetzung durch eine sozialistische Planwirtschaft nicht lösbar sind.

Umwelt-Imperialismus

Die Externalisierung von negativen sozio-ökologischen Auswirkungen entsteht
naturwüchsig in allen Ländern, wo kapitalistische Produktionsweise vorherrscht.
Die Expansion des Weltmarktes, die Abschaffung von Regulierungen und die
Durchsetzung des Neoliberalismus verschärfen diesen Prozess nur. Im Rahmen der
imperialistischen Weltordnung geht er notwendigerweise mit einer Abwälzung und
Auslagerung der Kosten der reichen, imperialistischen Länder auf die
halbkolonialen einher. Hierbei ist – wie in der Kapitalanalyse generell – immer
zwischen der stofflichen und der Wert-Seite dieser Transfers zu unterscheiden.

Die Stellung der „armen“, also halbkolonialen Länder innerhalb der
internationalen Arbeitsteilung reflektiert das. Die reichen Länder importieren
energie-, flächen- und umweltintensive Rohstoffe und Konsumgüter und
exportieren kapital- und mehrwertintensive Industrieprodukte und
Dienstleistungen.

Die armen Länder hingegen orientieren sich auf die Produktion für den
Export von entsprechenden Rohstoffen oder Gütern, wodurch ihre
sozio-ökologischen Probleme ständig verschärft werden. Grundlage hierfür ist
die sich immer weiter verstärkende Konzentration von Kapital in den
imperialistischen Zentren (USA, Kanada, West- und Mitteleuropa, Japan, China
und Russland). Die großen Kapitale kontrollieren einerseits die jeweils gerade
entscheidenden Technologien, die durch überlegene Produktivität Kosten- und
Preisvorteile ermöglichen. Dadurch sind sie in der Lage, sich immer mehr Wert
anzueignen, der von kleineren, unproduktiveren Kapitalen hergestellt wird (und
letztere sind zumeist in den nicht-imperialistischen Ländern angesiedelt).
Andererseits bestimmen die großen Kapitale auch durch massiven Kapitalexport
die für die abhängigen Länder ungünstige ökonomische Struktur. Dieser
Kapitalexport kann sich sowohl in direkten Investitionen und dem Aufbau von
Zulieferketten als auch in wachsender öffentlicher und privater Verschuldung
ausdrücken.

In der bürgerlichen ökonomischen Theorie wird von einer „Senke der
Wertschöpfungskette“ gesprochen: Die „wertvollsten“ Tätigkeiten bei der
Herstellung eines Produkts wie Erfindung, Design, Marketing und Verkauf werden
den „minderwertigen“ Tätigkeiten der Rohstoffextraktion und der nötigen
Handarbeit bei der Produktion gegenübergestellt. Hier werden die wahren Quellen
des Wertes, die Verausgabung von notwendiger menschlicher Arbeitskraft und
natürlicher Ressourcen, verschleiert. Es wird aber auch klar, dass sich diese
„Senken der Wertschöpfung“ immer mehr in die abhängigen Länder verschieben. Je
ausbeuterischer, ressourcenverbrauchender und umweltschädlicher, umso mehr
werden die Industrien und zugehörige Bereiche in die halbkoloniale Welt
ausgelagert. Energie-, flächen- und umweltintensive ebenso wie
arbeitsintensive, monotone und gefährliche Produktion verschwindet immer mehr
in diese Länder, während in den imperialistischen Zentren die „sauberen“
Dienstleistungen, die Steuerungstätigkeiten und immer weniger werdende Endfertigungen
verbleiben.

Dieser Prozess darf nicht einfach mit einer „Deindustrialisierung“ der
imperialistischen Länder verwechselt werden, sondern bedeutet vielmehr, dass
wir es mit einer internationalen Arbeitsteilung zu tun haben, die zu einer bloß
selektiven und abhängigen Industrialisierung der restlichen Welt unter der
Kontrolle durch die Großmächte führt. Daher gehen die Investitionen und
kapitalistischen Projekte in den „armen“ Ländern notwendigerweise mit einer
extremen Verschärfung der Ungleichheit einher – wie sich gerade in den „Schwellenländern“
wie Indien, Brasilien oder Südafrika zeigt. Diese ungleichzeitige und
kombinierte Entwicklung, bei der wichtige moderne Produktionsstätten mit
extremer Rückständigkeit und Armut einhergehen, stellt ein Kennzeichen der
gesamten imperialistischen Epoche dar, wie es heute handgreiflich in allen
„Mega-Cities“ des Südens hervortritt. Alle diese extreme Ungleichzeitigkeit der
Entwicklung verschärft die ökologische Frage im Verhältnis von Stadt und Land
wie auch im Rahmen der Urbanisierung.

Die ökonomische Entwicklung der semikolonialen Länder verharrt aufgrund der
Dominanz des Finanzkapitals, das institutionell, politisch und militärisch
durch die Großmächte abgesichert wird, in struktureller Abhängigkeit. Die Profite
werden von den international operierenden Konzernen und Unternehmen angeeignet,
deren Zentralen sich in den imperialistischen Ländern befinden, weshalb die
Profite kontinuierlich in diese abfließen – womit der Kreislauf von vorne
beginnt. Während zu Beginn der imperialistischen Epoche die kapitalarmen Länder
vor allem Lieferanten billiger Rohstoffe im Austausch gegen Industrieprodukte
aus den imperialistischen Zentren waren, so wurde dies inzwischen durch eine
neue Form der Arbeitsteilung ergänzt. Im Zuge einer immer globaleren Produktion
werden inzwischen auch die Endpunkte von globalen Wertschöpfungsketten in
halbkolonialen Ländern angesiedelt wie z. B. in der Elektronik- und
Textilindustrie. Die Hälfte des Welthandels besteht heute aus Zwischenprodukten.
Neben Rohstoffen und Konsumgütern sind die halbkolonialen Länder für die
Zentren auch als Standorte billiger Zulieferindustrien interessant. Dabei wird
nicht nur Ausbeutung und Umweltzerstörung in die halbkoloniale Welt
externalisiert – die zum Teil absurde Verteilung von Produktionsketten auf die
ganze Welt und die damit verbundenen riesigen Transportflotten in der Luft, auf
dem Wasser, der Straße etc. sind selbst schon eine massive Form ökologischer
Verschwendung im Interesse kurzfristiger Kostenvorteile der großen Konzerne.

Die Handelsbeziehungen zwischen armen, halbkolonialen Ländern einer- und
imperialistischen Ländern andererseits basieren auf einem Werttransfer, der
Aneignung eines großen Teils des geschaffenen Reichtums durch die
imperialistischen Zentren, wo nach wie vor der größte Teil des Kapitalstocks
konzentriert bleibt. Dieser Werttransfer spiegelt sich in einer Arbeitsteilung
wider, die mit der Fixierung der von den Zentren dominierten Ökonomien auf
bestimmte Produkte einhergeht. Der Werttransfer zugunsten des globalen
Finanzkapitals bestimmt wesentlich die Entwicklungsrichtung dieser Länder und
reproduziert, ja verstärkt beständig deren Abhängigkeit.

Diese Strukturen drücken sich in einem ökonomisch wie ökologisch „ungleichen“
Tausch aus. Die (verschiedenen) Theorien des ökonomischen ungleichen Tausch
beziehen sich auf ein quantitatives Problem im Austausch von Wert und gehen von
einem systemischen Werttransfer von den halbkolonialen zu den imperialistischen
Ländern aus, was sich einigen dieser Theorien zufolge auf den Tausch von mehr
Arbeitskraft für weniger zurückzuführen lässt.

Das Konzept des ökologisch ungleichen Tauschs hat analog dazu den Austausch von mehr ökologischem Gebrauchswert (oder Naturprodukten) gegen weniger als Grundlage und bezieht sich somit auf die qualitativen Aspekte von Gebrauchswert (vgl. Foster und Hollemann 2014, S. 205 und 207). Foster und Hollemann (2014, S. 227) definieren ökologisch ungleichen Tausch als „den disproportionalen und unterkompensierten Transfer von Materialien und Energie von der Peripherie zu den Zentren, und die Ausbeutung von Umweltraum innerhalb der Peripherie für intensive Produktion und Müllentsorgung.“

Während klassische marxistische Theoretiker wie Otto Bauer von den
Unterschieden in der organischen Zusammensetzung des Kapitals von
kapitalistisch fortgeschrittenen und rückständigeren Ländern als Ursache für
ökonomisch ungleichen Tausch ausgehen, haben spätere Autoren wie Emmanuel
argumentiert, dass die hohen Lohnunterschiede zwischen den Ländern die Ursache
seien (vgl. Howard und King 1992, S. 190). Aus diesen Theorien wurden
reformistische Konzepte abgeleitet, die zumeist davon ausgehen, dass durch
regulative Eingriffe und „Import-Substitution“ in den halbkolonialen Ländern
ein gerechter, freier Welthandel erreicht werden könne. Sie tragen den Fehler
in sich, dass sie ein Symptom (die ungleichen Bedingungen auf dem Weltmarkt)
für die (kurierbare) Ursache verkennen. Die ungerechten Weltmarktbedingungen
sind jedoch nur die Folge: Nicht die Organisation der Warenzirkulation ist das
Entscheidende, sondern die Form der Kapitalakkumulation, die ihren
Bewegungsschwerpunkt in den imperialistischen Zentren hat. Nur der
international koordinierte Kampf gegen die Macht der Konzerne und gegen die mit
ihnen verbundenen politischen Mächte kann diese strukturell bedingte
Abwärtsspirale der armen Länder brechen. Zu diesem koordinierten Kampf ist nur
die international organisierte ArbeiterInnenklasse in der Lage, die sich auch
mit denjenigen verbinden muss, die gegen die ökologischen und agrarischen
Zerstörungen dieses Systems aufstehen.

Die internationale Arbeitsteilung zu Gunsten der reichen Länder hat eine
extreme sozio-ökologische Ungleichheit zwischen den reichen und den armen
Ländern hervorgebracht. Diese unbestreitbare Tatsache ist auf dem Boden des
Kapitalismus selbst ein Resultat der von den imperialistischen Zentren
bestimmten Kapitalbewegung. Die Problematik bei den Theorien des ökologischen
ungleichen Tausches besteht freilich darin, dass sie in der stofflichen Seite
des Transfers die Ursache, wenn nicht den Kern des Problems erblicken, daher
die begriffliche Scheidung von Gebrauchswert und Wert/Tauschwert verwässern und
verwirren und damit einen Schritt zurück hinter die Errungenschaften der
Marxschen Theorie darstellen. Dies trifft auch auf die Arbeiten von Foster und
Hollman (2014) zu, wie ihre oben zitierte Definition des ökologisch ungleichen
Tausches und ihr positiver Bezug auf Howard Odums Konzept von „emergy“
verdeutlichen. Dieses Konzept soll ein gemeinsames energetisches Maß zur
Messung von realem Reichtum und Gebrauchswert darstellen, so dass ungleicher
Transfer von Gebrauchswert anhand ungleicher Energiebilanzen dargestellt wird.
Damit wird freilich selbst ein willkürliches und strittiges Moment zum
Vergleich von Gebrauchswerten eingeführt, das Odum und seine SchülerInnen
letztlich dazu führt, auf Geld als Maß des Gebrauchswerts zurückzugreifen (und
zu einem Streit darum, wie weit und ob das zulässig sei). Die ganze Konfusion
ergibt sich jedoch nicht zufällig, sondern daraus, dass versucht wird, eine
alternative, gemeinsame Substanz der Werte außerhalb der in den Waren
vergegenständlichten gesellschaftlichen Arbeit zu finden.

Typisch für diese Theorien ist dann, ein Hauptaugenmerk auf die Verteilung
von Einkommen und Ressourcen zu legen, nicht auf die Bewegung der
Kapitalakkumulation. So verweist Lessenich darauf, dass die Ungleichheit im
Weltmaßstab noch größer als die Ungleichheit zwischen den Reichsten und Ärmsten
innerhalb einzelner Länder sei. Solche Verweise haben eine Berechtigung, wenn
es darum geht, auf Unrecht und Ungleichheit hinzuweisen. Der Verweis auf „arm“
und „reich“ bezieht sich jedoch nur auf das Verhältnis von
EinkommensbezieherInnen. Die ihr zugrunde liegenden Klassenverhältnisse werden
ausgeblendet oder tendenziell als nachrangig betrachtet, womit die Ausbeutung
von Arbeitskraft in den imperialistischen wie in den halb-kolonialen Ländern
nicht mehr im Zentrum der Analyse steht.

Lessenich (2016) umschreibt diese Verhältnisse mit dem Begriff
„Externalisierungsgesellschaft“, Brandt und Wissen (2017) sprechen von
„imperialer Lebensweise“. Beide Begrifflichkeiten verfehlen den Kern der
kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie lassen die
Machtverhältnisse und die Möglichkeiten, die herrschende Ordnung zu gestalten
und zu verändern, außen vor oder räumen ihr einen untergeordneten Stellenwert
ein. Denn die herrschende Gesellschaftsordnung ist im Wesentlichen eine Ordnung
im Sinne der herrschenden Klasse, im Kapitalismus eine des Kapitals. Ob die
herrschende Klasse mehr oder minder erfolgreich darin ist, untergeordnete,
subalterne und ausgebeutete Klassen und Schichten dabei mit einzubeziehen und
ihre Ordnung damit zu stabilisieren oder nicht, ändert dieses grundlegende
Verhältnis nicht.

Wie Thomas Sablowski (2018) zeigt, blendet die These der „imperialen
Lebensweise“ die Klassenfrage letztlich aus. Die meisten Menschen in den
imperialistischen Ländern würden Bandt/Wissen zufolge „auf Kosten der Natur und
der Arbeitskräfte anderer Weltregionen“ leben. Alle Gesellschaftsmitglieder –
von der/dem superreichen KapitalbesitzerIn bis zum prekär Beschäftigten oder
Langzeitarbeitslosen – wären in eine gemeinsame „Lebensweise“ oder
„einheitliche Konsumnormen“ eingebunden, der Unterschied wäre letztlich bloß
quantitativ. So problematisch es schon ist, den Armen und Reichen eine
gemeinsame „imperiale Lebensweise“ zu unterschieben, so enthält die ganze
Theorie eine Reihe falsche politischer Konsequenzen. Erstens wird der Blick auf
den individuellen Konsum und weg von der Produktion gelenkt. Zweitens
unterstellt die Theorie ein gemeinsames Interesse von AusbeuterInnen und
Ausgebeuteten, dem gegenüber der Klassengegensatz in den Hintergrund tritt –
und zwar nicht nur in den Zentren, sondern spiegelbildlich natürlich auch in
den „peripheren Ländern“. Nicht die Klasse der Lohnabhängigen und deren
gemeinsamer internationaler Kampf, sondern entweder individuelles „Ausscheren“
aus der „imperialen Lebensweise“ (z. B. durch Kauf von regionalen Bioprodukten)
oder klassenübergreifende und letztlich nationalistische Allianzen in den
abhängigen Ländern bilden die politisch fatale, aber logische Folge aus dieser
Theorie.

So sehr diese Erklärungen auch das Verdienst haben mögen, den Blick auf
wichtige Erscheinungsformen der ökologischen Verheerungen zu werfen, so greifen
sie theoretisch zu kurz und führen politisch in eine Sackgasse, ja im
Extremfall zu reaktionären Schlussfolgerungen.

Die Ganzheit dieses globalen kapitalistischen Regimes kann treffender als
Imperialismus, bezogen auf die ökologische Frage als umweltbezogener
Imperialismus oder Umweltimperialismus bezeichnet werden. Der Begriff des
Imperialismus wurde und wird in der bürgerlichen Theorie heute oft als
geopolitischer Begriff verstanden, als Umschreibung des Kolonialismus der
europäischen Mächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (auch wenn z. B.
der Schöpfer des Begriffs, der britische linksliberale Ökonom Hobson die Wurzel
des Imperialismus im ökonomischen Expansionsstreben des Kapitals ortete).

Lenin hat in seiner berühmten Schrift über Imperialismus den Begriff
weiterentwickelt und marxistisch interpretiert. Der Imperialismus beschreibt
ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem sich Finanz- und
Industriekapital zu großen Kapitalgruppen vereinen – wobei ersteres die
Oberhand über letzteres gewinnt –, die ganze Welt der kapitalistischen
Verwertung erschlossen wird und der Kapitalexport der reichen,
imperialistischen Länder die Verhältnisse auf den Weltmärkten bestimmt (Lenin
1975 [Original: geschrieben 1916, zuerst veröffentlicht 1917]). Der Imperialismus
geht mit einer Aufteilung der Welt unter einige wenige Großmächte einher, die
auf einer gewaltigen Konzentration des Kapitals in den imperialistischen
Zentren beruht und zu deren Sicherung dient. Die politische Ordnung des
Imperialismus schafft Institutionen, die die weltweiten Geschäfte der großen
Kapitalgruppen absichern. War dies zu Beginn der imperialistischen Epoche der
Kolonialismus, so kann der Imperialismus heute zumeist auf direkte koloniale
Verwaltung verzichten. Die weltweiten Verschuldungs-, Währungs- und
Investitionsstrukturen erzeugen über Institutionen wie den Internationalen
Währungsfonds, die Weltbank, die internationalen Handelsorganisationen etc.
zusammen mit bilateralen Kredit- und Handelsabkommen zumeist genug Druck zur
indirekten Herrschaftssicherung. Sollte es dennoch Abweichungen geben, existieren
immer noch genug Mittel für militärische, para-militärische oder politische
Interventionen, die zur Unterwerfung führen. Oft genügt aber schon die
Androhung von Kapitalabzug oder von Handelssanktionen, verbunden mit Währungs-
und Börsenturbulenzen, um das Einlenken ungehorsamer Regierungen zu bewirken.
Die Form der Beherrschung hat sich zwar liberalisiert, aber dafür ist die
Ausbeutung umso intensiver geworden und hat die ganze Welt in eine immer
stärker vernetzte globale Arbeitsteilung eingebunden, die im Interesse der in
den imperialistischen Zentren konzentrierten Kapitale funktioniert. Der
koloniale Status für die armen Länder wurde daher durch einen halbkolonialen
ersetzt.

In seiner Imperialismustheorie verweist Lenin auch schon darauf, dass die
imperialistische Ausbeutung mit bestimmten Formen des materiellen Transfers von
Kolonie/Halbkolonie zu den imperialistischen Zentren einhergeht; vor allem aber
hebt er gegenüber dem Kolonialismus die zentrale Bedeutung des Kapitalexportes
hervor.

Um die ökologische Dynamik des Kapitalismus zu verstehen, muss an diesem
Verständnis angeknüpft werden und müssen die Material- und Energieflüsse
zwischen den imperialistischen und halbkolonialen Nationen als Teil des
imperialistischen Gesamtsystems begriffen werden.

Diese hat notwendigerweise auch Folgewirkungen auf die Klassenstruktur in
den imperialistischen Zentren – nicht nur hinsichtlich der Bereicherung der
herrschenden Klasse, der oberen Schichten des KleinbürgerInnentums und der
Mittelschichten, sondern auch für die ArbeiterInnenklasse. Ein bedeutender Teil
der Lohnabhängigen kann über einen Anteil an der Ausbeutung der „Dritten Welt“
integriert werden, kann über längere Perioden Einkommen erkämpfen, die über den
Reproduktionskosten liegen, die eine dem KleinbürgerInnentum ähnliche
Lebensweise erlauben, wenn auch oft mit enorm hoher Ausbeutung verbunden (was
sich z. B. in der enormen Arbeitsproduktivität und Intensität der Beschäftigen
in der Exportindustrie zeigt).

Der Kapitalismus kann sich das nur unter drei Bedingungen leisten: (i) eine
ständige Expansion der Kapitalakkumulation, (ii) die Extraktion von Extraprofiten
aus armen Ländern und (iii) die systematische Externalisierung seiner
sozio-ökonomischen Auswirkungen. Die soziale Stabilisierung „zu Hause“ durch
die Externalisierung negativer sozialer und ökologischer Folgen des
Kapitalismus bildet somit ein zentrales, herrschaftsstabilisierendes Element
dieses Systems. In den halbkolonialen Ländern werden dafür Rohstoffe
geplündert, Landstriche und Wasserressourcen zerstört, Bevölkerungen entwurzelt
und zwangsumgesiedelt, Kleinbäuerinnen und -bauern von ihren Felder vertrieben,
Wälder gerodet und geplündert. Das kennzeichnet das System des
Umweltimperialismus und erklärt das „Umweltparadoxon“.

Der Imperialismus hatte für die imperialisierte Welt immer schon
verheerende sozio-ökologische Auswirkungen. Die Art der imperialistischen
Ausbeutung hat sich jedoch verändert: Anfänglich waren Kolonialgesellschaften,
Aktiengesellschaften für bestimmte Ausbeutungsprojekte, große
Schuldverschreibungen an bestimmte Staaten etc. vor allem an der extensiven
Ausbeutung ganz bestimmter Reichtümer ausgerichtet. In der Epoche nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde dies durch direkte Investitionen und Zweigstellen der großen
Kapitale in der halbkolonialen Welt ergänzt. Inzwischen wurde die extensive
Ausbeutung durch ein System der intensiven Ausbeutung in einer von den großen
Kapitalen global ausgerichteten Arbeitsteilung weiterentwickelt. Flexible
Finanzströme erlauben die rasche Verlagerung von Produktions- und
Handelsströmen gemäß den Ausbeutungsbedingungen. Direkte Zweigstellen wurden
durch Ketten von indirekt abhängigen Zulieferbetrieben abgelöst. Immer größer
konzentrierte Kapitalgruppen kontrollieren unüberschaubare Netze von
untergeordneten Firmengruppen, die weltweit vernetzt sind.

So wird der weltweite Agrarmarkt für Sojaöl, -mehl, -bohnen, Palm- und Rapsöl,
Mais, Weizen, Grobgetreide und Zucker heute von fünf Großkonzernen aus den USA,
den Niederlanden und China kontrolliert, die allein auf sich 70 % des
Weltmarktes konzentrieren (Herre 2017, S. 26). Diese beherrschen nicht nur die
Marktbedingungen für ZulieferInnen und AbnehmerInnen, sondern können sich auch
über Warenterminbörsen und ihre Derivate gegen Marktschwankungen absichern,
ganz im Gegensatz zu den von Preisschwankungen betroffenen Bevölkerungen. Dabei
sind die Rohprodukte nur noch das grundsätzliche Standbein der Konzerne,
während die Weiterverarbeitung nicht nur für Lebensmittel zur viel
interessanteren Gewinnquelle geworden ist (z. B. wird Palmöl auch für
Reinigungsmittel, Kosmetik und zur Energiegewinnung genutzt). Ähnliche Konzentrationsprozesse
finden sich auch bei der Fleischindustrie, Agrartechnologie und
Lebensmittelkonzernen. Darüber hinaus wird die Agrarproduktion immer stärker
von Pharmaunternehmen (Saatgutindustrie) und Chemiekonzernen (Pestizide,
Gentechnik) bestimmt. Mit der Fusion von Bayer und Monsanto wird der Weltmarkt
für Saatgut und Pestizide unter nur mehr 4 Großkonzerne aufgeteilt. Insgesamt
führt diese Konzentration und globale Ausrichtung von Agrar- und
Lebensmittelindustrie zu einer katastrophalen sozio-ökologischen Schieflage. Z. B.
hat die globale Konzentration der Agroproduktion zu einer Vernichtung der
agrarischen Selbstversorgung ganzer Regionen u. a. in Lateinamerika und Afrika
geführt, die abhängig von den Importen billiger Agrarprodukte der weltweiten
Agroindustrie geworden sind. Erschütterungen der Weltagrarmärkte – wie z. B.
nach 2009, als alle wesentlichen Agrarpreise sich in kurzer Zeit verdoppelten –
führen sofort zu massiven Versorgungsproblemen und Hungerkatastrophen.

Diese Aufzählung von Konzentrationsprozessen lässt sich auch in Bezug auf
die extraktiven Industrien wie z. B. Bergbau und Energie fortführen. Mit
ihren Großplantagen zum Anbau von Pflanzen für Energiegewinnung oder als
Rohstoffe für die verarbeitende Industrie überschneiden sich Agroindustrie und
klassische Industrie auch zunehmend. Ob durch die Agroindustrie, Energie- und
Bergbau oder Fleischindustrie – die von wenigen großen Konzernen für ihre
Kapitalverwertung beherrschten und vernutzten Flächen steigen jährlich in
atemberaubendem Tempo.

Alle Proteste der Betroffenen in den Halbkolonien gegen die Projekte der
großen Agro-, Saatgut-, Bergbau-, Energieunternehmen etc. führen sofort zum
Auftreten der internationalen GeldgeberInnen und Institutionen, die die
Regierungen vor Ort dann meist als willige Vollzugsorgane vorfinden. Ob
Proteste gegen Staudammprojekte, Landvertreibungen, Preis- und Abnahmediktaten
bei Saatgut oder Düngemitteln oder Lebensmitteln, gegen massive Rodungen z. B.
im Interesse der Fleischindustrie etc. – überall hier zeigt der
Umweltimperialismus sein wahres, brutales und repressives Gesicht. In den
imperialistischen Zentren wird die tatsächlich betriebene Raubbau-Politik dann
mit zynischen Kampagnen über angeblich „nachhaltige“ und für die Menschen vor
Ort gerechte Produktion verbunden. Öko-Siegel und Alibi-Öko-Projekte der
Großkonzerne sind zumeist nichts anderes als „green-washing“ für
imperialistische Ausbeutung und Zerstörung. Nur eine Zerschlagung der Macht der
großen internationalen Konzerne könnte es den Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen
in der semikolonialen Welt ermöglichen, zu einem Ausgleich zwischen notwendiger
Selbstversorgung der einheimischen Bevölkerung und den inzwischen erreichbaren
Standards für ökologisch nachhaltige Landwirtschaft zu kommen (z. B. durch
regional selbst erzeugtes und gemeinschaftlich verwaltetes Saatgut).

Lenin hat im Zusammenhang mit seiner Imperialismustheorie auch auf die
Bildung einer privilegierten Schicht in den imperialistischen Ländern innerhalb
der ArbeiterInnenklasse, der sog. Arbeiteraristokratie, hingewiesen. Diese
ArbeiterInnenaristokratie wird in besonderem Maße in das weltweite System des
Imperialismus einbezogen und profitiert von guten, sich verbessernden
Arbeitsbedingungen und steigenden Löhnen. Sie ist die Basis für einen
weitverbreiteten Reformismus und eine ArbeiterInnenbürokratie in den
imperialistischen Ländern und einigen entwickelteren Halbkolonien. Die
ArbeiterInnenbewegung kann sich nicht internationalisieren und ihr
revolutionäres Potential entfalten, solange sie von diesen reformistischen
Strömungen dominiert ist.

Grundsätzlich unterminiert die Entwicklung des Kapitalismus heute die
Stellung der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Zentren, was
einerseits den Nährboden für Konflikte und Klassenkampf, andererseits auch für
reaktionäre populistische und nationalistische Lösungen bilden kann. Um diese
Schichten wie die ArbeiterInnenklasse überhaupt für den Kampf um ihre
unmittelbaren Interessen wie für eine Lösung der ökologischen Fragen zu gewinnen,
muss freilich der sich objektiv verschärfende Klassenwiderspruch auch politisch
zugespitzt werden.

An dieser Stelle müssen wir auf unsere Kritik des Konzepts der imperialen Lebensweise zurückkommen. Diese TheoretikerInnen behaupten, dass auch die unteren Schichten in den reichen Ländern von der Verschiebung gewaltiger Ausbeutungs- und Umweltprobleme erfolgreich z. B. durch die günstigen Preise von Konsumgütern aller Art profitieren würden. Dadurch könnten die Ärmeren in den reichen Ländern ihren Lebensstandard – bzw. genauer gesagt: Konsumstandard – steigern. „So wäre es ohne die auf Kosten von Mensch und Natur andernorts hergestellten und ebendeshalb billigen Lebensmittel womöglich weitaus schwieriger gewesen, die Reproduktion der unteren Gesellschaftsschichten des globalen Nordens auch angesichts der tiefen Wirtschaftskrise seit 2007 zu gewährleisten.“ (Brand und Wissen 2017, S. 13)

Natürlich hat die Senkung der Lebenshaltungskosten durch günstigere
Konsumgüter auch einen stabilisierenden Aspekt. Vor allem aber erlaubte diese
(und zwar nicht erst seit 2007), sondern während der gesamten
Globalisierungsperiode, eine Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft in den
imperialistischen Ländern. Diese hatte die Ausweitung des Billiglohnsektors
sozial erleichtert, mit zur Schaffung eines Millionenheeres von Working Poor
beigetragen und zur Steigerung der Ausbeutungsrate in den imperialistischen
Ländern!

Hier zeigen sich die reaktionären und antiproletarischen Seiten der
„Theorie“ von der imperialen Lebensweise, indem die Erhöhung der
Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu einem „Transfer“, nicht zugunsten des
Kapitals, sondern der ArbeiterInnenklasse umgedichtet wird. Denken wir diese
Annahme logisch zu Ende, so wäre jeder Lohnkampf, jeder Kampf gegen Hartz IV
usw. letztlich ein Kampf für einen höheren Anteil an der Ausbeutung der
halbkolonialen Welt und bloß ein Streit unter allen, die einer „imperialen
Lebensweise“ frönen würden.

Der Begriff „imperiale Lebensweise“ von Brand und Wissen (2017) suggeriert, dass die ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern selbst zu einem Teil der herrschenden Klasse geworden sei. Das ist sie aber nicht. Sie stellt bloß einen im internationalen Kontext des globalen Kapitalismus relativ privilegierten Teil der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse dar. Um den Kapitalismus zu bekämpfen, ist es zentral, diese Zusammenhänge und Mechanismen des Imperialismus und deren Wirkungen auf die ArbeiterInnenklassen sowohl in den imperialistischen, in den sog. Schwellenländern als auch in den Halbkolonien zu verstehen. Die ArbeiterInnenklasse des Nordens muss den Kampf gegen den sozio-ökologischen Raubbau im Süden als ihren aufgreifen, bei dem es letztlich um das Überleben der gesamten Menschheit geht. Wenn Menschen zu tausenden aufgrund dieses Raubbaus aus dem Süden in den Norden fliehen, heißt es schnell: „Fluchtursachen bekämpfen“ – tatsächlich bildet die eigentliche Ursache der Imperialismus und solche Phänomene, bei denen die Auswirkungen dieses imperialistischen Systems vor aller Augen sichtbar werden, müssen zu der Schlussfolgerung führen, dass dieses insgesamt bekämpft werden muss. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss daher von den Betroffenen und den globalen Interessen der ArbeiterInnenklasse ausgehend auch zentral Forderungen zum Kampf gegen den weltumspannenden ökologischen Raubbau zu Lasten vor allem der Halbkolonien entwickeln.

Der grundlegende Widerspruch zwischen Kapitalismus und der Umwelt

Eine nachhaltige Wirtschaftsweise ist im Kapitalismus unmöglich. Jede/r
einzelne KapitalistIn sowie das Gesamtsystem ist zu der permanenten Steigerung
der Kapitalakkumulation gezwungen. Foster et al. (2010, S. 201) bezeichnen
diesen Zwang als „Tretmühle der Akkumulation“. Im herrschenden Diskurs wird
Akkumulation allgemein als Wachstum bzw. Wirtschaftswachstum bezeichnet.
Dahinter verbirgt sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchswert
und Tauschwert. Im Kapitalismus werden Waren, Güter und Dienstleistungen nicht
primär hergestellt, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Wert anzueignen.
Der in einer Ware vergegenständlichte Wert (Tauschwert) ergibt sich aus der
gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion notwendig
ist. Das bedeutet, dass dieser Wert abhängig von der sich gesellschaftlich
durchsetzenden Produktivität von Arbeit ist. Die Natur geht in die Bestimmung
des Tauschwertes nur insofern als „Kostenfaktor“ ein, wenn menschliche
Arbeitskraft notwendig ist, um sie nutzbar zu machen (z. B. die notwendige
Arbeit zur Extraktion eines Rohstoffes). Die von menschlicher Arbeitskraft
unabhängige Natur wird im Kapitalismus als Quelle von Wert ausgeschlossen (vgl.
Foster und Hollemann 2014, S. 216). Die Reproduktion von Arbeitskraft oder
Natur ist dieser Frage der möglichst günstigen Produktion der Waren
untergeordnet. Die Produktion dient nicht der Reproduktion, sondern umgekehrt:
Die Reproduktion der ArbeiterInnen und der Natur wird nur anerkannt, insofern
sie der Produktion von Mehrwert für das Kapital dient.

Darüber hinaus besteht im Kapitalismus als der Produktionsweise der
verallgemeinerten Warenproduktion (vgl. Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23
[Original: 1867]) der Hauptzweck der Produktion nicht mehr nur in der
Produktion von Wert an sich, sondern vor allem von Mehrwert. Die Mehrarbeit
über die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit hinaus
vergegenständlicht sich in diesem Mehrwert, der zur Quelle des Profits für das
investierte Kapital wird. Damit wird für das Kapital der Produktionsprozess zum
Verwertungsprozess. Dies bestimmt das Wesen der Entwicklung der Produktivkräfte
im Kapitalismus. Produktivitätsfortschritt aus Sicht des Kapitals bedeutet,
weniger Arbeitskraft für dieselbe Produktionsmenge einsetzen zu müssen als die
Konkurrenz. Dies erlaubt es, entweder (a) bei gleichbleibenden Preisen einen
größeren Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts anzueignen
(Werttransfer in Richtung produktiveres Kapital), oder (b) durch niedrigere
Preise die Konkurrenz aus dem Markt zu drängen (Konzentration des Kapitals).
Pro Stück wird durch die Reduktion eingesetzter Arbeitskraft gegenüber dem
notwendigen Einsatz von Maschinen und Rohstoffen dabei jedoch immer weniger
Mehrwert erzielt, was zu einem tendenziellen Fall der Profitrate führt. Als
Folge ist das Kapital zur ständigen Ausweitung der Produktion gezwungen, um den
relativen Fall der Profitrate mit einem absoluten Wachstum der Profitmasse
auszugleichen. Daher ist das Kapital aus seinem Wesen als Verwertungs„maschine“
heraus zu beständigem Wirtschaftswachstum gezwungen. Durch jeden Einbruch des
Wachstums muss die Tendenz zum Fall der Profitrate sofort in eine
Verwertungskrise des Kapitals umschlagen.

Das Kapital muss beständig Auswege aus dem Fall der Profitrate suchen.
Neben der Tendenz zur Kapitalkonzentration und der Erschließung billiger
Finanzierungsquellen (z. B. Aktienkapital), zählen hierzu u. a.
Methoden der Intensivierung von Arbeit und zur Einsparung bei den materiellen
Grundlagen der Produktion („konstantes Kapital“, z. B. Energie- und
Rohstoffquellen). Das Kapital ist daher auch zur rücksichtslosen Ausnutzung
möglichst kostengünstig anzueignender Umweltressourcen gezwungen, um
Verwertungskrisen zu vermeiden – und wälzt somit seine Verwertungsprobleme als
langfristige Kosten von Umweltzerstörung auf „die Allgemeinheit“ ab.

Die kapitalistische Wirtschaft, die sogenannte Marktwirtschaft, ist auf
globaler Ebene ineffizient, was die Verteilung von Waren und Dienstleistungen
anbelangt. Gerne wird auf die sehr viel höhere Effizienz einer Marktwirtschaft
im Vergleich zu den bürokratischen Planwirtschaften des „real existierenden
Sozialismus“ hingewiesen. Im globalen Maßstab allerdings – und der Kapitalismus
kann nur global verstanden und beurteilt werden – funktioniert die Verteilung
extrem schlecht und ungerecht: Diejenigen, die bereits sehr viel haben,
bekommen ständig mehr, während diejenigen, die fast nichts haben, nach wie vor
am Existenzminimum und oft auch darunter verharren. Die kapitalistische
Wirtschaft – und mit ihr der Großteil des produktiven und kreativen Potentials
der ArbeiterInnen – ist weit mehr damit beschäftigt, ständig neue Feinheiten
für die zahlungskräftigen Mittel- und Oberschichten zu entwickeln und zu
vermarkten, als die grundlegenden Probleme der Welt zu lösen. Und selbst in den
imperialistischen Zentren nimmt der Lebensstandard großer Teile der ArbeiterInnenklassen
seit Jahrzehnten tendenziell ab.

An diesem grundlegenden Verhältnis ändert auch der wirtschaftliche
„Aufstieg“ der sog. Schwellenländer nichts. Länder wie Brasilien, Mexiko oder
Indien können ihre strukturelle Abhängigkeit und Unterordnung innerhalb der
globalen Ökonomie nicht überwinden. Mit einer Änderung der wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen schlittern diese Länder schnell wieder in eine heftige Krise
und die bescheidenen Verbesserungen für die ArbeiterInnenklassen und das
KleinbürgerInnentum, die in Zeiten des Exportbooms tendenziell erreicht werden
können, stehen damit ständig auf dem Spiel (während die gewaltigen Privilegien der
Eliten geschützt werden). Zur Überwindung der Krise greifen die Regierungen
dieser Länder dann zu den altbewährten Mitteln: einer Intensivierung der
Ausbeutung und der Exporte zulasten der ArbeiterInnen, Kleinbauern/-bäuerinnen,
der traditionellen Bevölkerungen und – nicht zuletzt und damit zusammenhängend
– der Umwelt.

Die große Ausnahme in diesem Szenario stellt China dar. Das Land hat es
aufgrund spezieller politischer und ökonomischer Konstellationen geschafft,
selbst in den erwählten Kreis der imperialistischen Länder aufzusteigen. China
hat systematisch daran gearbeitet, produktive Sektoren und die industrielle
Entwicklung im eigenen Land zu verankern, zu festigen und zu fördern.
Gleichzeitig ging mit der Entwicklung des chinesischen Kapitalismus eine
Umweltzerstörung und –inwertsetzung einher, deren Ausmaß in der Kürze der Zeit
in der Geschichte der Menschheit vermutlich einzigartig ist. Heute hat China
begonnen, selbst daran zu arbeiten, Kapital und negative sozio-ökologische
Auswirkungen in andere Länder und Regionen zu exportieren, auch wenn es das diesbezügliche
Niveau der klassischen imperialistischen Länder noch nicht erreicht hat.

Der Zwang zur permanenten Steigerung der Kapitalakkumulation bewirkt, dass sich der Kapitalismus ständig einerseits revolutionieren und andererseits ausdehnen muss. Nie wurde das besser auf den Punkt gebracht als im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“ (Marx und Engels 1988 [Original: 1848], S. 48 f.) Wie Lessenich (2016, S. 41 f.) anmerkt, gilt dieses Bedürfnis nicht nur für neue Territorien, sondern auch für weitere Möglichkeiten, die Verwertung des Kapitals auszuweiten wie z. B. die Ausdehnung auf neue Wirtschaftszweige (Privatisierung), für neue Personengruppen und -kategorien, die als Arbeitskräfte in (weltweite) Produktionsketten eingegliedert werden, für Fähigkeiten und Eigenschaften dieser Arbeitskräfte oder für neu zu erschließende profitable Geschäftsfelder (z. B. Gentechnik oder Biotechnologie).

Die Intensivierung der Ausbeutung, zu der das Kapital als entgegenwirkende
Ursache zum Profitratenfall drängt, bedeutet aber auch, dass es den
Produktionsprozess immer mehr selbst nach seinen Prinzipien umstrukturiert.
Setzt sich das Kapital zunächst als Käufer von Produktionsmitteln und
Arbeitskraft am Anfang und als Verkäufer von Waren ans Ende des
Produktionsprozesses, so erfordert der kapitalimmanente Produktivitätssteigerungszwang
ein intensives Durchdringen des Arbeitsprozesses und damit auch des
Stoffwechselprozesses mit der Natur selbst („Subsumtion des unmittelbaren
Produktionsprozesses“). Der Arbeitsprozess wird zergliedert, mit (im
kapitalistischen Rahmen gesteuerter) Wissenschaft und Technik verknüpft und
nach dem Verwertungsprinzip neu zusammengesetzt. So wird eine umfassende
Wertschöpfungskette geschaffen von der kostengünstigen Rohstoffaneignung, über
ausbeuterische Zulieferbetriebe, logistischer Optimierung von Endfertigung und
dazwischen liegendem Transport bis zu ebenso ausbeuterischen Verkaufs- und
Auslieferbetrieben hin zu den EndkundInnen. In dieser Intensivierung und
Verwissenschaftlichung der Verwertungsprozesse kommen natürliche
Reproduktionssysteme im Wesentlichen als zu minimierende Kostenfaktoren und
verwertungskonform zu erschließende Quellen für die Expansion der Produktion
vor. Wenn hier von „Nachhaltigkeit“ die Rede ist, dann nur, insofern sie die
Kostenziele insgesamt nicht wesentlich berührt und dann als billige
Marketingstrategie verwendet werden kann. Natürlich können Umweltgesetzgebungen
und Imageprobleme dazu führen, dass KapitalistInnen reagieren müssen. In diesem
Fall fällt eine bestimmte Form von Produktivitätssteigerung auch für die
Konkurrenz zeitweise aus – bis man entsprechende Schlupflöcher durch
Produktionsverlagerung oder Gesetzesänderungen durch Lobbyarbeit etc. gefunden
oder erreicht hat.

Auch wenn es den Kapitalismus historisch kennzeichnet, dass er nicht
erschlossene Territorien oder Bereiche der Kapitalverwertung unterordnet, so
sollte diese „Inwertsetzung“ von bisher nicht genutzten Ressourcen für die
Kapitalverwertung nicht absolut gesetzt werden: Mit Bezug auf Rosa Luxemburg
behaupten (vor allem feministische) ReproduktionstheoretikerInnen, die
fortgesetzte Kapitalakkumulation würde ein beständiges nicht-kapitalistisches
„Außen“ erfordern, das erst die Kapitalreproduktion auf immer erweiterter
Stufenleiter ermögliche. Marx hat dagegen im zweiten Band des „Kapital“ im
Schema der erweiterten Reproduktion (Das Kapital, Band 2, MEW 24, S. 485–520) gezeigt,
dass das Kapital, sobald es an die Grenzen des rein expansiven Wachstums stößt,
durch Wechsel zu intensivem sogar zu beschleunigtem fortschreitet. Durch
Investieren in die Ausweitung der Produktion mithilfe der geschilderten
Methoden der Subsumtion unter Verwertungsprinzipien schafft sich das Kapital
gleichzeitig die Nachfrage für die steigende Kapitalakkumulation selbst.
Dadurch werden auch neue, nicht-kapitalistische Bereiche für die Inwertsetzung
und damit für extensive Akkumulation erschlossen (z. B. Rohstoffe,
Arbeitsbereiche, Techniken etc., die bisher für die Kapitalverwertung nicht von
Interesse waren). Damit verschiebt sich die „Grenze“ der Kapitalexpansion in
jedem Kapitalverwertungszyklus neu, der Kapitalismus definiert sich sein
„Außen“ immer wieder von Neuem selbst.

Die Steigerung der Kapitalakkumulation ist historisch eindeutig mit dem
Verbrauch einer immer größeren Material- und Energiemenge gekoppelt. Zwar gibt
es Diskussionen, wonach es für hoch-entwickelte kapitalistische Ökonomien
möglich sei, das Wirtschaftswachstum – sprich die Kapitalakkumulation – von dem
steigenden Verbrauch von Ressourcen und Energie zu entkoppeln. Die Mechanismen
des Umweltimperialismus lassen es auf den ersten Blick sogar so erscheinen, als
sei eine solche Entkoppelung für einige fortgeschrittene Ökonomien tatsächlich
gelungen. So sinkt in Deutschland z. B. der Primärenergieverbrauch sowie der
direkte Ressourcenverbrauch, der sog. abiotische direkte Materialeinsatz, seit
1990, während das Bruttoinlandsprodukt ansteigt. Der abiotische direkte
Materialeinsatz erfasst jedoch nicht die Ressourcen, die im Ausland gewonnen
und verarbeitet werden, um nach Deutschland importierte Halb- oder Fertigwaren
zu produzieren. Werden diese miteinbezogen, dann ergibt sich ein anderes Bild.
Zwischen den Jahren 1994 und 2015 stiegen die Einfuhren an Fertigwaren um 109 %,
während die von Halbwaren um lediglich 12 % zunahmen. Die Importe von
Rohstoffen erhöhten sich um 23 %. Im selben Zeitraum sank die Gewinnung
von Energieträgern in Deutschland um 30 %, während die Importe um 43 %
anstiegen. Auch die Importe von Erzen und ihren Erzeugnissen (überwiegend
Metallwaren) stiegen um 46 % an, während z. B. die inländische
Gewinnung von mineralischen Baurohstoffen um 34 % sank (Umweltbundesamt
2017b). Das Umweltbundesamt schlussfolgert: „Die starken Anstiege der
Fertigwaren gelten gleichermaßen für metallische Güter wie auch für Produkte
aus fossilen Energieträgern, etwa Kunststoffe. Mit dem zunehmenden Import von
Fertigwaren werden rohstoffintensive Herstellungsprozesse mitsamt den meist
erheblichen Umwelteinwirkungen der Rohstoffgewinnung und -aufbereitung
verstärkt ins Ausland verlagert.“ (Ebenda) Werden die Importe und Exporte in
die Statistik mit einbezogen, was in dem Indikator Rohstoffverbrauch der Fall
ist, dann ist dieser für Deutschland nicht nur deutlich höher als der direkte
Materialeinsatz, sondern hat auch zwischen 2000 und 2011 um ca. 2 %
zugenommen. Da das BIP im selben Zeitraum deutlich stärker zunahm, stieg die
sog. Gesamtrohstoffproduktivität (relative Entkopplung), es konnte jedoch keine
absolute Entkopplung erreicht werden. Für den Energieverbrauch stellt das UBA
keine analoge Statistik, unter Berücksichtigung der Im- und Exporte, für
Deutschland zur Verfügung.

Die Natur erscheint im Kapitalismus als reine Ressource zur Vermehrung von Kapital, als notwendige Variable im Akkumulationsprozess. In der klassischen bürgerlichen Ökonomie sowie in der Neoklassik werden natürliche Ressourcen und Senken als „kostenfreie Geschenke“ angenommen, die es auszubeuten gilt (Foster et al. 2010. S. 61). Auch Marx wurde oft vorgeworfen, dass er mit seiner ökonomischen Theorie den Wert einer Ware rein auf die in ihr enthaltene menschliche Arbeit reduziert und deshalb die ökologische Basis der Ökonomie außer Acht gelassen habe. Foster et al. (2010, S. 61 f.) haben gezeigt, dass dieser Vorwurf auf einer Verwechslung von Wert und Reichtum basiert, die in der bürgerlichen Ökonomie als Synonyme verwendet werden. Nicht so jedoch bei Marx: „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ (MEW 23, S. 57 f.) In diesem Sinne kritisiert Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD die Behauptung, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums sei: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (MEW 19, S. 15, Hervorhebungen im Original).

Ohne Zweifel war der Kapitalismus sehr erfolgreich darin, Gebrauchswerte in
großer Masse zu produzieren und in diesem Sinne ein großer historischer
Fortschritt gegenüber vorkapitalistischen Produktionsformen. Er hat die
Grundlage dafür gelegt, materiellen Mangel und Not auf der Welt für alle
Menschen zu überwinden. Doch mit zunehmender Entwicklung des Kapitalismus hat
sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten
eingestellt. Letztere werden zunehmend auf Kosten ersterer produziert und
hergestellt. So führt z. B. die zunehmend massenhafte Produktion von
Fleisch für eine kaufkräftige Minderheit auf der Welt zu einer enormen
Profitmasse für die immer mehr monopolisierten ProduzentInnen, richtet
gesamtgesellschaftlich gesehen jedoch immensen Schaden an, da sie mit
zunehmender Umweltzerstörung und extremer Ausbeutung von Mensch und Tier
einhergeht und dabei den Hunger eines großen Teils der Menschheit nicht
verringert oder sogar verschärft. Noch offensichtlicher ist dieses inverse
Verhältnis zwischen Gebrauchs- und Tauschwert z. B. bei der
Rüstungsproduktion.

Dieses Missverhältnis ändert sich auch nicht in der neuen, grünen Ökonomie.
Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu erreichen, ist aber genau seine
Überwindung notwendig. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Durch die permanente
Steigerung der Kapitalakkumulation wird erstens sichergestellt, dass sich die
Profite des Kapitals allgemein ständig vermehren können (auch wenn natürlich
einzelne KapitalistInnen immer auf der Strecke bleiben). Zweitens werden
dadurch die Mechanismen des Umweltimperialismus aufrechterhalten. Die sog.
„Post-Wachstum-Theorien“ gehen fälschlich davon aus, dass der Zwang zur
Kapitalakkumulation innerhalb des Kapitalismus überwunden werden könne. Was sie
dabei ausblenden oder ignorieren, ist dass ohne permanente Steigerung der
Kapitalakkumulation der Kapitalismus noch vermehrt Massenarbeitslosigkeit und
-armut verursachen würde, auch und vor allem in den imperialistischen Zentren. So
kann im Kapitalismus selbst bei steigender
Kapitalakkumulation Arbeitslosigkeit entstehen oder zunehmen, z. B. durch
Automatisierung und Rationalisierung. Wachstum ist also keine hinreichende
Bedingung oder Garantie dafür, dass sich Arbeitslosigkeit verringert, jedoch
eine notwendige Voraussetzung im Rahmen des Systems.

Damit im Zusammenhang steht, dass im Kapitalismus als einzige Möglichkeit
zur Steigerung der Lebensqualität der Menschen die Steigerung ihrer
Konsumfähigkeit erscheint. Während die steigende Produktion von
Massenkonsumgütern zunächst ein bedeutender Fortschritt gegenüber
vorkapitalistischen Produktionsweisen war, um z. B. die Ernährungssicherheit
der Bevölkerung sicherzustellen und deren Lebensstandard zu erhöhen, hat sich
diese mittlerweile auch in einen absurden Fetisch verkehrt. Während z. B.
Bildung, Gesundheitsversorgung und Kultur entweder vernachlässigt werden
(Bildung), degenerieren (Kultur) oder selbst zu großen Teilen privatisiert
werden (Gesundheit), sprießen Einkaufstempel in vielen Ländern geradezu aus dem
Boden und werden als Inbegriff des Fortschritts verherrlicht.

Der Zwang zur permanenten Kapitalakkumulation ist ein struktureller Grund, warum im Kapitalismus keine nachhaltige Produktionsweise möglich ist. „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“, stellte bereits der antike Philosoph Epikur von Samos im 4. Jahrhundert vor unserer Zeit fest. Dieser Zwang führt aber nicht nur zu einem immer größer werdenden Verbrauch von Material und Energie, während gleichzeitig elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden, sondern auch zu grundlegenden Brüchen in den natürlichen und gesellschaftlichen Stoffkreisläufen. Marx, inspiriert durch die Arbeiten des deutschen Chemikers Justus von Liebig, hatte bereits erkannt, dass die kapitalistische Landwirtschaft nicht nachhaltig ist: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Das Kapital, Band 1, S. 529 f.) In früheren Gesellschaften wurden die Nährstoffe aus der Landwirtschaft zu einem großen Teil den Böden wieder zugeführt. Im Kapitalismus jedoch ist ein „Riss“ in diesem Kreislauf entstanden: „Auf der anderen Seite reduziert das große Grundeigentum die agrikole Bevölkerung auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen; es erzeugt dadurch Bedingungen, die einen unheilbaren Riß hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinausgetragen wird.“ (Marx, Das Kapital, Band 3, S. 821)

Der steigenden Auslaugung und dem Verlust an Fruchtbarkeit der Böden wurde mit der Erfindung des Kunstdüngers im Haber-Bosch-Verfahren (technische Synthese von Ammoniak als Ausgangsstoff) begegnet, der endgültig das Zeitalter der Expansion der kapitalistischen Landwirtschaft einläutete. Viele KritikerInnen aus der neo-klassischen Ökonomie argumentieren deshalb, dass das Argument des „unheilbaren Risses“ in der Landwirtschaft überholt sei. Die Realität hat die KritikerInnen aber inzwischen eingeholt. Die industrielle Landwirtschaft hat zwar kurz- und mittelfristig Produktionssteigerungen erzielt, führt aber langfristig durch die permanente Überdüngung der Böden, verursacht durch industrielle Düngemittel und die Konzentration tierischer Extremente in industriellen Großbetrieben, die stets steigende Anwendung von Pestiziden im Ackerbau und Antibiotika in der Tierhaltung sowie die durch die Herstellung von industriellen Düngemitteln verursachten Treibhausgasemissionen zu vielen, enormen ökologischen und sozialen Problemen. Der Verlust an fruchtbaren Böden ist heute ein zunehmendes sozio-ökologisches Problem in vielen Teilen der Welt (vgl. Fritz 2010). Foster et al. (2010, S. 78) argumentieren, dass der „Riss“ im Nährstoffkreislauf der Landwirtschaft nicht überwunden, sondern verlagert wurde – in diesem Fall durch die massenhafte Verwendung und die daraus resultierende Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die notwendig sind, um die Düngemittel zu produzieren. Sie weisen auch darauf hin, dass dieses Prinzip nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die gesamte kapitalistische Produktionsweise gilt, und sprechen in Anlehnung an Marx von einem ökologischen Riss im Kapitalismus. Die Logik des Kapitals und die permanente Konkurrenz und Expansion „[…] führen zu einer Reihe von Rissen und Verlagerungen, wobei Risse im Stoffwechsel kontinuierlich erzeugt werden und ihnen durch die Verlagerung auf andere Risse begegnet wird – typischerweise erst nachdem sie das Ausmaß einer Krise erreicht haben. Einem kurzsichtigen Beobachter mag es erscheinen, dass der Kapitalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt einige Umweltprobleme erfolgreich bearbeitet, da in diesem Moment eine Krise gemindert wird. Ein weitsichtigerer Beobachter wird jedoch erkennen, dass neue Krisen entstehen wo alte vermeintlich gelöst wurden. Das ist unvermeidlich, da das Kapital zu einer konstanten Expansion gezwungen ist.“

Deshalb ist die Lösung der ökologischen Frage aufs Engste mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden. Die Schaffung einer Perspektive für eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die in der Lage ist, diese grundlegende Widersprüche zwischen der menschlichen Ökonomie und den natürlichen Bedingungen zu überwinden, bei gleichzeitiger Befriedigung der materiellen und immateriellen Bedürfnisse aller Menschen, ist die zentrale Herausforderung für RevolutionärInnen im 21. Jahrhundert.

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EU-Wahlen 2019: Vor der nächsten Krise

Tobi Hansen, Neue Internationale 2019, Juni 2019

Wie beim parlamentarischen
Schauspiel üblich freuten sich zunächst alle SpitzenkandidatInnen und Parteien
über die gestiegene Wahlbeteiligung. Erstmals seit 1994 ging mit 50,97 %
europaweit mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten an die Urne. Kein Wunder,
denn verschiedenste gesellschaftliche Kräfte stilisierten die Europawahlen zu
einer „Schicksalswahl“ – seien es die „europaskeptischen“ und
rechtspopulistischen AkteurInnen, welche schon 2014 einige Erfolge feiern
konnten, seien es die VertreterInnen des „Mainstreams“ um die Konservativen und
SozialdemokraInnen, seien es Liberale oder Grüne.

Allesamt betrachteten die Wahlen
als eine Art „Kampfabstimmung“ über die Zukunft Europas – selbst wenn sie
natürlich nur diese keineswegs entscheiden. Ihr Ausgang verdeutlicht jedoch
nicht nur, dass eine größere Zahl politischer Kräfte wie auch der Bevölkerung
den Urnengang als eine wichtige politische Auseinandersetzung betrachteten – er
brachte auch, wenn auch nur wenig überraschende, Verschiebungen des
Kräfteverhältnisses in der EU bzw. in den einzelnen Staaten zum Ausdruck.

Weitere Zersplitterung des
bürgerlichen Lagers

Die sogenannten „Volksparteien“,
die etablierten Regierungskräfte aus Europäischer Volkspartei (EVP) und S&D
(Fraktion der Progressiven Allianz der SozialdemokratInnen) haben wieder Wahlen
verloren. Dies ist weder national noch europäisch eine Überraschung derzeit.
Die EVP erhielt gerade noch 178 Sitze, verlor also gegenüber 2014 39, also gut 20
Prozent. Besonders dramatisch fielen die Verlust der Konservativen in
Deutschland aus. Die Niederlage der Tories reiht sich darin ein, auch wenn die
britischen Konservativen der EVP-Fraktion seit längerem nicht mehr angehören
und deren Niederlage durch das Brexit-Desaster extrem verschärft wurde.

Auf der Ebene des EU-Parlaments
haben Christ- und SozialdemokratInnen zusammen keine Mehrheit. Sie sind
angewiesen auf die Unterstützung von Liberalen und/oder Grünen für die nächste
Kommission. Die ehemalige „Große Koalition“ in der EU stellte die klare
Wahlverliererin.

Angesichts der gleichzeitigen
Stärkung der rechtspopulistischen Parteien setzt sich die Fragmentierung des
bürgerlichen Lagers weiter fort. Es ist „zersplittert“. Dies zeigt auch die
unterschiedliche Orientierung der bürgerlichen Kräfte in der EU auf und einen
eindeutigen Verlust der Hegemonie der konservativen Parteien im bürgerlichen
Lager.

Klare Verliererinnen sind auch die
bürgerlichen ArbeiterInnenparteien der Sozialdemokratie und der europäischen Linkspartei.
Zusammen stellen sie weniger als 200 von 751 Abgeordneten.

Die S&D-Fraktion errang nur
noch 153 Mandate und verlor 32 Sitze gegenüber den vorherigen Wahlen. Die
Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke stellt zukünftig 38
ParlamentarierInnen – 14 weniger als in der letzten Periode.

Gegensätze

Dieser Wahlausgang verdeutlicht
die Krise der EU, des bürgerlichen Lagers wie auch der ArbeiterInnenbewegung.
Was die bürgerlichen Klassen betrifft, so finden die herrschenden
Kapitalfraktionen der EU-Mitgliedsstaaten immer weniger zu einer gemeinsamen
Perspektive und Zielsetzung für die Union. Dies kommt auch beim Streit um
den/die nächste/n KommissionschefIn zum Ausdruck. Die EVP und damit die
Christliche Union schicken den CSUler Weber ins Rennen, den der französische
Präsident Macron offen ablehnt. Er fürchtet zu viel „deutschen Einfluss“, zumal
die Neubesetzung des EZB-Chefs durch Bundesbankchef Weidmann nur schwer
verhinderbar erscheint. Diese und andere Personalfragen werden vor dem Hintergrund
des Kampfes um die zukünftige Ausrichtung der EU erst verständlich – und
bewegen sich daher nicht zufällig zwischen heftiger Zuspitzung und
Postenschacher hinter den Kulissen. Während alle – von den Konservativen,
Liberalen, Grünen bis zu den SozialdemokratInnen – nicht müde werden, sich zu
„Europa zu bekennen“, so fürchtet doch jede/r, von den „PartnerInnen“ über den
Tisch gezogen zu werden. Darüber hinaus darf niemand vergessen, dass gerade die
größeren bürgerlichen Fraktionen eben keine „europäischen Parteien“, sondern
letztlich immer die herrschende Klasse oder eine Fraktion ebendieser aus einem
europäischen Nationalstaat repräsentieren. Dementsprechend werden auch die
Verhandlungen der nächsten Wochen geführt. Nur eines scheint sicher – Neoliberalismus,
Rassismus nach außen und nach innen, Aufrüstung und Verschärfung der
Repressionen werden auch durch die neue Kommission forciert.

Stärkung von Liberalen und Grünen

Während die Grünen speziell in
Deutschland stark zulegten, die SPD überrundeten und zweitstärkste Kraft
wurden, konnten die Liberalen von der neuen französischen Regierungspartei La
République en Marche, aber auch neue Parteien aus Osteuropa wie die
tschechische Regierungspartei ANO 2011 des Populisten und Oligarchen Babis
ebenso punkten. Die gestiegene Wahlbeteiligung, besonders unter Erst- und
JungwählerInnen, kam dem liberalen und grünen Spektrum zu Gute. Die Fraktion
der Allianz der Liberalen und DemokratInnen für Europa (ALDE) stellt nunmehr
105 Abgeordnete (gegenüber 69 in der letzten Periode), die europäischen Grünen
69 (plus 17).

Speziell ErstwählerInnen wurden
über die Klimafrage und die „Fridays-for-Future“-Bewegung mobilisiert. Dort
stellen grüne Parteien und Organisationen wie auch linksbürgerliche NGOs einen
entscheidenden Faktor für die Mobilisierung auf der Straße dar, was sich auch
bei den Wahlen widerspiegelt. Während manches vor den Wahlen über die
Einflussnahme Russlands via soziale Medien spekuliert wurde, lässt sich nun
feststellen, dass vor allem die grüne Mobilisierung viele WählerInnenstimmen
gebracht hat. Dadurch wurden auch Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit Schlagworte
des Wahlkampfes, dort hatten sowohl Christ- als auch SozialdemokratInnen eher
wenig zu bieten.

Die Rechte konsolidiert sich

Derzeit ist noch nicht klar, wie
die neue gemeinsame Fraktion der RechtspopulistInnen und NationalistInnen
aussehen wird. Ziel soll es sein, die drittstärkste Fraktion zu stellen.
Symbolhaft für die Krise der EU lässt sich feststellen, dass bei den größten
Konkurrenten zum deutschen Imperialismus, in Frankreich und Italien, die
Rechten die stärkste Kraft geworden sind. Le Pen konnte auch mit dem
umbenannten RN (Rassemblement National – Nationale Sammlungsbewegung) das
Ergebnis von 2014 wiederholen und liegt einen Prozentpunkt vor der Macron
Partei La République en Marche (23 % zu 22 %), wie auch die italienische Lega
jetzt führende Kraft der europäischen Rechten ist. Mit Innenminister Salvini
als Spitzenkandidat holte sie 33 % und ließ den Koalitionspartner Fünf Sterne
mit 16 % klar hinter sich. Dies bestätigt auch den Trend der letzten
Regionalwahlen. In der bisherigen ENF-Fraktion (Europa der Nationen und der
Freiheit) sind die AfD und die FPÖ bislang sichere Partnerinnen. Wer dazu
kommen soll, gilt als unsicher.

Einheitliche Rechte?

Inwieweit sich die
SchwedendemokratInnen, die polnische Regierungspartei PiS, die „Brexit Party“
von Farage oder verschiedene flämische NationalistInnen (Nieuw-Vlaamse
Alliantie und Vlaams Belang), neue spanische FranquistInnen (Vox) einfangen
lassen, ist fraglich.

Mit Salvini versucht sich auch der
ehemalige US-Präsidentschaftsberater Bannon als Strippenzieher im EU-Parlament
zu beweisen. Der ehemalige „Breitbart-News“-Chef gründete eine Stiftung in
Brüssel und eine Akademie in Rom. Ziel ist es, möglichst viele Parteien aus den
Fraktionen der EKR (Europäische Konservative und ReformerInnen) und der EFDD
(Europa der Freiheit und der direkten Demokratie) zur ENF hinüberzuziehen.

Realistisch scheint eine „neue“
ENF-Fraktion, welche die Grünen und die Liberalen (ALDE) hinter sich lässt.
Damit hätte sich über die Wahlen 2014 und 2019 eine neue rechtspopulistische
Fraktion etabliert. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
RassistInnen und NationalistInnen durch innere Gegensätze zerrissen sind – sei
es bei der Finanzpolitik wie auch bei dem Verhältnis zu Russland, was speziell
für osteuropäische Parteien einen Knackpunkt darstellt.

Die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien

Auf der Iberischen Halbinsel
erschien die Farbe Rot auf der Wahlkarte. Gemeinsam mit den Niederlanden waren
Portugal und Spanien die einzigen Staaten, in denen die etablierte
Sozialdemokratie Siege einfahren konnte, zum Teil auch auf Kosten dortiger
Linksparteien wie Podemos. In Portugal vermochten auch der Linksblock und die KP
zuzulegen.

Auf der Pyrenäenhalbinsel konnte
sich die Sozialdemokratie als soziale Kraft für die EU und als soziale,
demokratische und fortschrittliche Alternative zu den Rechten präsentieren und
im Gegensatz zu fast allen anderen Staaten Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse
auf sich ziehen. Jetzt kann sie noch als „Zünglein an der Waage“ auftreten, mit
den iberischen Regierungschefs ein gutes Ergebnis für die Kommission
aushandeln. Zu mehr wird es nicht reichen.

Verloren hat nicht nur die
Sozialdemokratie, sondern auch die europäische Linkspartei. Sie verlor  10 Sitze, speziell aufgrund der
Verluste der deutschen Linkspartei und von Podemos. Doch auch die geschwächte
Fraktion vermag keine gemeinsame europäische Strategie zu formulieren. Zwischen
einer nationalstaatlich orientierten Ablehnung der EU wie bei FI (La France
insoumise), welche auch von Podemos, der schwedischen Linkspartei und vom
portugiesischen Linksblock mitgetragen wird, und Reformhoffnungen wie sie z. B.
von Syriza und der Linkspartei in die EU transportiert werden, war und ist die
europäische Linkspartei nicht in der Lage, eine antikapitalistische Alternative
zur EU zu vertreten, geschweige denn dafür zu mobilisieren.

Zusammen mit den europäischen
Gewerkschaften waren diese reformistischen Kräfte nicht in der Lage, auch nur
zu einer ihrer Forderungen zu mobilisieren oder gar sichtbar zu werden. Die
Demonstrationen unter dem Motto „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen
Nationalismus!“ wurden eben nicht durch Forderungen und Aktionen der ArbeiterInnenbewegung
begleitet bzw. aufgewertet, sondern hier wurde das Feld vielerorts NGOs wie den
Grünen überlassen.

Große Teil der ArbeiterInnenklasse
haben sich von „ihren“ Parteien abgewandt und werden von diesen Mobilisierungen
mitgerissen. Sei es durch die rechtspopulistische und nationalistische Rhetorik
gegen die EU oder durch die linksliberalen und grünen Versprechungen in die
Reformierbarkeit der EU wie auch die ökologische Frage. Das Versagen der
Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und der Linksparteien führt dazu, dass
sich auch jener Teil der Lohnabhängigen und der Jugend, die Nationalismus und
Rechtsruck entgegentreten, den Grünen und anderen links-bürgerlichen Kräften
zuwenden.

Was tun?

Für eine radikale,
antikapitalistische und/oder sozialistische Linke ist dies eine immense
Herausforderung. Wir müssen eine klare klassenkämpferische Alternative zu
dieser EU präsentieren, dürfen weder den populistischen wie reformistischen
Illusionen hinterherlaufen, sondern brauchen eine Orientierung auf europäischen
Klassenkampf.

Wenn „wir“ real Rechtsruck,
Austerität, Neoliberalismus dieser EU die Stirn bieten wollen, dann brauchen
wir eine Perspektive für ein sozialistisches Europa und müssen mit den
reformistischen und populistischen AkteurInnen brechen. Dies ist die Aufgabe,
unabhängig von den Wahlergebnissen. Um eine solche revolutionäre Alternative
aufzubauen, braucht es freilich nicht nur Kampf und Bewegung – es bedarf vor
allem eines Aktionsprogramms, um die Lohnabhängigen europaweit zu mobilisieren.

Anhang: Krise der Großen Koalition setzt
sich fort

In Deutschland haben die Grünen
mit 20,5 % die SPD deutlich auf Platz 3 verwiesen (15,5 %) und damit
die nächste Krise der GroKo losgetreten. Während sich die Union noch über Platz
1 freuen darf und bei den Wahlen in Bremen die SPD als stärkste Partei ablösen
könnte, werden in der Sozialdemokratie wiederum Personaldebatten geführt.
Partei- und Fraktionsvorsitzende Nahles stellt die Vertrauensfrage in der
Fraktion. Dies kann die geschwächte SPD in ihre nächste existenzielle Krise
stürzen und somit auch die GroKo erneut gefährden.

Dass die CDU-Vorsitzende „AKK“
gleichzeitig eine Zensurdebatte aufgrund eines Youtube-Videos losstößt, zeigt
den krisenhaften Moment dieser Koalition auf.

Dass die Linkspartei viele ihrer
Stimmen an die Satire-Partei „Die Partei“ verloren hat, ist schon nicht mehr
lustig, sondern zeigt, dass diese „Partei“ teilweise sehr deutlich und
provokant sich für die Seenotrettung eingesetzt hat, während die Linkspartei
das Thema Antirassismus und Migration eher beiseitelegte.

Die AfD hat deutlich weniger
zugelegt als selbst erhofft (von 7 auf 10 %), dafür allerdings in
Brandenburg und Sachsen die Wahl vor der Union gewonnen. Dies sind die
Vorzeichen für die Landtagswahlen im Herbst in diesen beiden Ländern und
Thüringen.




Sri Lanka: Regierungskrise gelöst, aber nur vorerst

Peter Main, Infomail 1037, 9. Januar 2019

Die Verfassungskrise Sri Lankas, in der es scheinbar zu
einem Zeitpunkt zwei Regierungen und zu einem anderen überhaupt keine gab, ist
zumindest formell gelöst worden. Am 16. Dezember entschied der Oberste
Gerichtshof des Landes einstimmig, dass Präsident Maithripala Sirisena
verfassungswidrig gehandelt hatte, als er den damaligen Premierminister Ranil Wickremesinghe
entließ und ihn durch Mahinda Rajapaksa ersetzte, dann das Parlament auflöste und
vorgezogene Wahlen für Januar einberief. Nachdem er zuvor gesagt hatte, dass er
Wickremesinghe nie wieder zum Premierminister ernennen würde, auch wenn jedeR
Abgeordnete für ihn stimmte, hat Sirisena ihn nun wieder eingesetzt.

Während diese Entscheidung das politische Duell zwischen
Wickremesinghe und Rajapaksa hinsichtlich dessen, wer wirklich der
Premierminister ist, beendet, werden die politischen Nachwirkungen dieser
Ereignisse die Insel im kommenden Jahr weiter erschüttern. Ganz abgesehen von
den rechtlichen Verwicklungen, die sein Vorgehen gegen die Verfassung mit sich
bringen wird, ist Sirisena als politische Gestalt stark geschwächt worden. Alle
Hoffnungen, die er auf eine zweite Amtszeit hatte, sind nun definitiv zunichte
gemacht worden. Ebenso sind die Aussichten für die Sri-lankische
Freiheitspartei (Sri Lanka Freedom Party, SLFP), deren Vorsitzender er ist, bei
den kommenden Parlamentswahlen, die innerhalb dieses Jahres abgehalten werden
müssen, nicht gut. Schon jetzt hat sie Mitglieder an die Sri-lankische
Volkspartei (Sri Lanka People’s Party, SLPP) von Rajapaksa verloren.

Auch Rajapaksa selbst ist nicht gut aus der Krise gekommen.
Anfang des Jahres erschien er als ein aufsteigender Stern, da die SLPP bei den
Kommunalwahlen stattliche Gewinne einfuhr. Jetzt ist er jedoch eindeutig in der
Volksmeinung mit der hinterhältigen und verfassungswidrigen Verschwörung von
Sirisena assoziiert. Zudem wird seine eigene Position als Abgeordneter
wahrscheinlich angefochten werden, da er als Mitglied der Vereinigten
Volksfreiheitsallianz (United People’s Freedom Alliance, UPFA) gewählt wurde,
sich aber später der SLPP angeschlossen hat. Die Verfassung verlangt aber, dass
Abgeordnete zurücktreten, die ihre Partei gewechselt haben.

Da die Unpopularität von Ranil Wickremesinghe wahrscheinlich
einer der Hauptfaktoren war, um Sirisena davon zu überzeugen, ihn zu entlassen,
ist es ziemlich ironisch, dass ausgerechnet er von dem ganzen Debakel am
meisten profitierte. Mit seiner Weigerung, seine Amtsenthebung anzuerkennen,
der Organisation einer parlamentarischen Mehrheit zu seiner Verteidigung sowie
der Mobilisierung signifikanter Massendemonstrationen zu seiner Unterstützung
hat er viel getan, um sich vor dem Gericht der „öffentlichen Meinung“ zu
rehabilitieren.

Aussichten

Die formale Rückkehr zum „business as usual“ kann jedoch das
tiefe Unbehagen innerhalb des gesamten politischen Systems Sri Lankas nicht
verbergen. Es kann im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Vorfälle nicht
ungeschehen machen, dass Rajapaks Abgeordnete Möbel auf den
Parlamentspräsidenten schleuderten und mit Chilipulver gefärbtes Wasser auf andere
Abgeordnete warfen, um ein Vertrauensvotum zu verhindern, welches Wickremesinghe
bestätigen sollte.

Am wichtigsten ist vielleicht, dass es die Politik, die Wickremesinghe
so unbeliebt gemacht hat, nicht verändern wird. Der Vorteil, aus einer Krise als
Sieger hervorzugehen, mag von kurzer Dauer sein und es mangelt nicht an RivalInnen,
die der/die nächste PräsidentschaftskandidatIn der Vereinten Nationalpartei
(United National Party, UNP) sein könnten. Der hierbei am häufigsten genannte
ist sein derzeitiger Stellvertreter, Sajith Premadasa. Angesichts der schweren
volkswirtschaftlichen Schäden durch die Krise, die zu einem Zusammenbruch des
Tourismus, einer Abwertung der Rupie und einer Anhebung der Zinssätze führte, als
alle Rating-Agenturen den Status des Landes herabstuften, ist die
wirtschaftliche Situation heute weitaus schlechter. Das Finanzministerium soll
berechnet haben, dass die Krise 102 Milliarden Rupien (ca. 566 Millionen Euro)
gekostet hat.

Die öffentliche Desillusionierung mit Politikern und
Parteien ist natürlich völlig gerechtfertigt, aber, wie wir in vielen anderen
Ländern gesehen haben, kann sie in sehr reaktionäre Bewegungen münden. Dies war
zweifellos die Strategie von Mahinda Rajapaksa in der Vergangenheit und ihm
wird wahrscheinlich immer noch die Stimme der chauvinistischen SinghalesInnen
garantiert sein. Zusätzlich zur Unterstützung eines Großteils der buddhistischen
Geistlichen und Gruppen wie den klerikalen FaschistInnen von Bodu Bala Sena
(Buddhistische Streitmacht, BBS). Um jedoch eine Präsidentschaftswahl zu
gewinnen, muss er möglicherweise eine breitere Unterstützung finden und sein
Schwerpunkt liegt jetzt auf „Maßnahmen zum Wohle aller Sri LankesInnen“. Wenn
nicht Mahinda, dann hat er zwei Brüder, Gotabhaya und Basil Rohana, die seinen
Platz einnehmen könnten.

Während die Rechten versuchen, die Übel des Landes auf eine
Kombination aus ihren politischen GegnerInnen und unterdrückten Minderheiten
zurückzuführen, muss die Linke die wahren Lehren aus der Krise ziehen. Die
Unzufriedenheit der Bevölkerung wurzelt letztlich im Sinne des Verrats an
demokratischen Prinzipien und das ist die Frage, auf die die Linke ihre
Mobilisierungen konzentrieren sollte. Sirisena ist vielleicht nicht mit seinem
fast diktatorischen Plan durchgekommen, die Regierung zu stürzen und das
Parlament zu schließen, aber das Volk hatte dabei nichts zu sagen ebenso wenig,
wie es ein Mitspracherecht bei der Wirtschaftspolitik Wickremesinghes hatte
oder bei einer ernsthaften Aufarbeitung der Versäumnisse wie der
Kriegsverbrechen gegen die tamilische Bevölkerung oder der Korruptionsskandale.
Aber auch bei einfachen Fragen wie der Festsetzung des Termins der kommenden
Parlamentswahlen hat es nichts zu melden.

Demokratie

Wenn die Leute sagen, dass das ganze System verfault ist,
haben sie Recht – und die Antwort darauf lautet, das ganze System zu verändern.
Für uns SozialistInnen muss der Wandel einer sein, welcher den bestehenden
Staatsapparat beseitigt und durch ein System demokratisch gewählter
ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenräte ersetzt, die eine Regierung
unterstützen, die alle wichtigen Wirtschaftssektoren sozialisiert und dann ihre
Nutzung plant, um die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und nicht privater
Gewinne zu maximieren.

Obwohl dies unser strategisches Ziel ist, können wir uns
nicht direkt darauf zubewegen. Es erfordert die Unterstützung durch die
Mehrheit der ArbeiterInnen, welche durch die Anwendung von Taktiken gewonnen
werden muss, die von der Mehrheit unterstützt werden und zu diesem Ziel führen
können. Die parlamentarische Demokratie wird immer durch die Realität begrenzt,
dass die wirtschaftliche Macht in der Gesellschaft in den Händen einer kleinen
Klasse von KapitalistInnen liegt.

Dennoch sind wir für die radikalsten Formen von Demokratie
innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft. Wir wollen gleiche Stimmen für
alle ab 16 Jahren. Wir wollen, dass alle Regierungszweige, sowohl die Justiz
als auch die Sicherheitskräfte, gewählten Behörden gegenüber
rechenschaftspflichtig sind. Wir wollen die Abschaffung des gesamten
Präsidialsystems, das nur dazu dient, die Macht der gewählten Abgeordneten zu
begrenzen. Wir wollen, dass alle gewählten VertreterInnen von ihren WählerInnen
abberufen werden können und einen Durchschnittslohn erhalten. Wir wollen, dass
die Rechte der Minderheiten, einschließlich dessen auf nationale
Selbstbestimmung, garantiert werden.

Die Liste könnte natürlich weitergehen, aber der springende
Punkt ist, dass die meisten dieser Rechte, obwohl demokratisch, nicht in die
bestehende Verfassung aufgenommen wurden. Wir brauchen eine neue Verfassung und
deshalb eine demokratisch gewählte verfassunggebende Versammlung. Das ist eine
Forderung, die weit über die Reihen der engagierten SozialistInnen und sogar der
ArbeiterInnenklasse hinausgehen kann. Das ist eine potenzielle Stärke. Obwohl
wir unsere eigenen, sozialistischen Ziele nicht verbergen, können wir Kampagnen
und Aktionen vorschlagen, die von anderen unterstützt werden können, die diese
Ziele nicht teilen.

Die bestehenden HerrscherInnen werden einer solchen Reform
nicht zustimmen – selbst sie würde an die Wurzeln ihrer Macht gehen. Sie muss
daher erkämpft werden und wir werden Kampagnen- und Aktionsformen der
ArbeiterInnenklasse vorschlagen, um sie dazu zu zwingen, unsere Forderungen zu
erfüllen. Im Zuge einer solchen Kampagne können wir nicht nur die Forderung
nach einer verfassunggebenden Versammlung popularisieren, sondern auch den
Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse vorschlagen, in denen ihre
besonderen ArbeiterInnenforderungen wie Gewerkschaftsrechte, gleiches Entgelt,
Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften, Krankenversicherung, die Offenlegung
der Geschäftskonten usw. ausgemacht und formuliert werden können.

Längerfristig würden solche Organisationen wie Aktionskomitees
am Arbeitsplatz, Gewerkschaftsbetriebs- und -ortsgruppen,
Arbeiterinnenorganisationen, MieterInnenbünde, Gruppen junger ArbeiterInnen
zweifellos ihre Rollen erweitern, um in schwierigen Zeiten die OrganisatorInnen
von Aktionen der ArbeiterInnenklasse in größerem Umfang zu werden. Sie würden
schließlich die Mobilisierung der gesamten ArbeiterInnenklasse ermöglichen, um
den bestehenden Staat zu stürzen und eine ArbeiterInnenregierung einzusetzen.
Es ist heute die Aufgabe von RevolutionärInnen, solche Taktiken zu entwickeln
und zu verbreiten, die die heutigen Themen wie die jüngste Verfassungskrise mit
der Strategie des revolutionären Sturzes des Kapitalismus und des Aufbaus des
Sozialismus verbinden können.




Politische und ökonomische Lage in Österreich: Eine rechts-konservative Melange

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 50, Oktober 2018

Vorwort

In dem folgenden Beitrag bieten wir eine Analyse der jüngsten politisch-ökonomischen Entwicklung Österreichs. Das erscheint uns notwendig, denn mit den Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 ging eine bedeutende Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses einher. Die im Dezember gebildete Koalition aus ÖVP unter Sebastian Kurz und FPÖ unter Heinz-Christian Strache befindet sich in einer neoliberalen, rassistischen und antidemokratischen Offensive gegen die Rechte der ArbeiterInnenklasse. Ein korrektes Verständnis der politisch-ökonomischen Verhältnisse und der österreichischen ArbeiterInnenbewegung ist notwendig für erfolgreiche linke Strategie und Taktik. Dabei werden wir uns auf die aktuelle Lage und die Agenda der Regierung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) beschränken müssen. Eine umfassendere Analyse der politischen Ökonomie Österreichs (1), die auch eine historische Betrachtung und eine Analyse der ArbeiterInnenklasse in Österreich einschließen muss, wird allerdings für die Zukunft notwendig sein, um ein klares Fundament für ein kommunistisches Programm in diesem Land zu legen. Denn aktuell erweist sich die Linke abseits der Sozialdemokratie organisatorisch, methodisch und programmatisch als zu schwach und zu zersplittert, um die Angriffe von Schwarz-Blau abzuwehren. Diese Feststellung soll aber nicht einen Defätismus gegenüber den herrschenden Verhältnissen bestärken, sondern die Bedeutung der Frage nach den politischen Aufgaben betonen.

Einleitung

Mit der Übernahme der schwarz-blauen Regierung in Österreich beginnt eine Phase des verschärften Klassenkampfs von oben. Alle Schichten der arbeitenden Klasse im weiteren Sinne sind von den Angriffsplänen der neuen Rechtsregierung betroffen. ArbeiterInnen und Angestellte, die übergroße Mehrheit an Frauen, MigrantInnen, Jugendlichen und PensionistInnen werden unter der neoliberalen und rassistischen Politik von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache leiden.

Was sind die zentralen Projekte dieser Regierung, was sind ihre Beweggründe und wie wird sich das auf die genannten Betroffenen auswirken? Antworten auf diese Fragen sind notwendig, denn um zielführend zu handeln (gegen die Angriffe der Regierung), muss man zuallererst verstehen. Einen Teil der Antworten gibt uns die Regierung selbst. So teilt sie uns in der Präambel des Regierungsprogramms ihre Sorgen mit:

Auch wenn Österreich grundsätzlich gut dasteht, haben wir in manchen Bereichen den Anschluss an die Spitze in Europa verloren. Wir können uns auf ein starkes Sozialsystem verlassen, das aber nicht mehr treffsicher und effizient ist. Wir haben einen guten Wirtschaftsstandort, der aber im Vergleich mit unseren Nachbarn nicht mehr wettbewerbsfähig genug ist. Und wir leben in einer freien und solidarischen Gesellschaft, die aber immer mehr herausgefordert ist durch die Verfehlungen in der Migrationspolitik in den vergangenen Jahren.“ (2)

Österreich ist gegenüber seinen Nachbarn nicht mehr wettbewerbsfähig genug, sagen sie. Im Vorwort, noch vor der Präambel, benennt die Regierung auch die „großen Herausforderungen“:

Obwohl Österreich eine der höchsten Steuer- und Abgabenquoten im internationalen Vergleich aufweist, decken unsere Staatseinnahmen nicht die Staatsausgaben, der Schuldenberg wächst jedes Jahr weiter. Wir sind Weltmeister im Regulieren und im Einschränken von Freiheit und Selbstverantwortung. Und unser Sozialsystem ist in eine Schieflage geraten, weil der Einkommensunterschied zwischen arbeitenden und nichtarbeitenden Menschen so gering ist, dass es nur noch wenige Anreize gibt zu arbeiten. Außerdem können sich viele Menschen von ihrem Lohn das Leben nicht mehr leisten und immer mehr Menschen wandern in unser Sozialsystem zu.“ (3)

In dieser Auflistung stecken schon die abzuleitenden „Reformen“, nämlich die Senkung der Abgabenquote, damit verbunden Einsparungen bei den Staatsausgaben, Abschaffung von Regulierungen, Einsparungen im Sozialsystem, Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung und die Ausgrenzung von MigrantInnen aus Sozialleistungen. Tatsächlich war die Senkung der Abgabenquote auf 40 % des BIP ein zentrales Thema im Wahlkampf von Sebastian Kurz und wurde auch von der FPÖ gefordert. Trotzdem ist die Regierung sehr bemüht, in den nächsten Jahren ein ausgeglichenes Budget herzustellen, und wird dabei vermutlich sogar erfolgreich sein. Auch Einsparungen im Sozialsystem, insbesondere bei den Krankenkassen, befinden sich in Umsetzung. In Bezug auf die Arbeitslosenversicherung hat die Regierung Pläne für ein System vorgelegt, das Hartz-IV in Deutschland ähnlich ist. Und was die Sozialleistungen für MigrantInnen angeht, hat die Regierung mit ihrer Reform der Mindestsicherung die Ansprüche für Asylberechtigte dramatisch gekürzt. Und das ist längt nicht alles. Doch bevor wir die Pläne und schon getätigten Maßnahmen genauer untersuchen und der Frage nachgehen, welche Auswirkungen diese auf die Verhältnisse zwischen den Klassen haben, müssen wir untersuchen, ob die Regierung denn überhaupt mit ihrer „Analyse“ recht hat.

Die wirtschaftliche Lage

Die Konjunkturentwicklung

Oberflächlich betrachtet, nämlich rein auf der Ebende der Konjunktur, scheinen die Worte und Taten der Regierung in einem Missverhältnis zur wirtschaftlichen Lage zu stehen. Immerhin wird derzeit von einer Hochkonjunktur gesprochen, die die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit zurückdränge. Trotzdem soll gespart, die Abgabenquote reduziert, das Kapital entlastet und die Ausbeutungsrate durch Verschlechterungen für Arbeitende und Arbeitslose erhöht werden.

Tatsächlich wuchs das BIP 2017 um 3,1 % während es noch 2016 nur 1,5 % waren. Die Österreichische Nationalbank (OeNB) hat im Juni 2018 ihre Prognose für das aktuelle Jahr um 0,3 Prozentpunkte ebenfalls auf 3,1 % nach oben korrigiert. Das Wirtschaftswachstum liegt sogar über dem des Euroraums mit 2,4 % im Jahr 2017 und prognostizierten 2,1 % für das Jahr 2018. (4)

Haben ÖVP und FPÖ den Aufschwung schlichtweg nicht bemerkt? Tatsächlich war schon vor dem Wahlkampf klar, dass sich die Weltwirtschaft und mit ihr auch der Euro-Raum erholte. Und schon vor der Regierungsbildung wurden die verschiedenen Wirtschaftsprognosen für Österreich kräftig angehoben, obgleich sie immer noch hinter den realen Entwicklungen zurückblieben. Aber noch im Juni 2017 prognostizierte die OeNB für jenes Jahr ein BIP-Wachstum von 2,2 % und für das Folgejahr 1,7 %. (5)

Die Frage nach der Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums ist natürlich von besonderer Bedeutung, denn davon hängen die Möglichkeiten von Zugeständnissen der UnternehmerInnen ab, die soziale Stabilität durch Zugeständnisse an die ArbeiterInnen zu sichern, worauf jede bürgerlich-demokratische Regierung letztendlich baut.

Die Österreichische Nationalbank (OeNB) erklärt die positive konjunkturelle Dynamik durch zwei wesentliche Faktoren. (6) Auf der einen Seite profitiert die österreichische Wirtschaft mit starkem Anteil des Außenhandels von der guten internationalen Konkunkturentwicklung, auf der anderen Seite von einem Investitionszyklus, der die Inlandsnachfrage bedeutend steigert. Mit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 waren die globalen Wachstumsraten rasant gefallen, von 5,6 % im Jahr 2007 auf -0,2 % im Jahr 2009. Nach einer ausgedehnten Stagnationsphase erlebte die Weltwirtschaft nun einen kleinen Wachstumsschub auf 3,8 % im Jahr 2017 und weiter auf prognostizierte 3,9 % für dieses Jahr. (7) Einen Überblick über das Weltwirtschaftswachstum bietet Abbildung 1.

Abbildung 1: Wachstumsraten des Bruttoweltproduks von der Weltwirtschaftskrise bis heute.

Besonders die Exporte konnten im Rahmen der guten internationalen Entwicklung stärker anziehen, im Jahr 2017 um reale 5,6 %, sodass sich die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen gegenüber dem Vorjahr sogar verdoppelte. (8) Die Warenausfuhren erreichten Ende 2017 die stärkste Dynamik, aber schon in den ersten vier Monaten des Jahres 2018 ging der Exportanstieg zurück, wobei er auch in den nächsten Jahren über 4 % bleiben soll.

Die zweite Konkunkturstütze, der Investitionszyklus, begann im zweiten Halbjahr 2015 und dauert verhältnismäßig lange. Die Bruttoanlageinvestitionen stiegen von 1 % im Jahr 2015 auf 3,8 % im Jahr 2016 und weiter auf 4,9 % im Jahr 2017. Besonders bedeutend dafür waren die Ausrüstungsinvestitionen, das sind Investitionen z. B. in Maschinen, Geräte und Fahrzeuge. Die Zuwachsraten dafür liegen bei 1,3 % (2015), 8,6 % (2016) und 8,8 % (2017). Die OeNB schreibt, dass die Unternehmen ab Jahresmitte 2015 nach längerer Investitionszurückhaltung in den Ersatz veralteter Anlagen investierten und später in die Ausweitung ihrer Produktionskapazitäten, sodass die Auslastungen sich zu Jahresbeginn 2018 auf einem historischen Höchststand befanden. Aber dieses Jahr soll mit dem Rückgang des Wachstums der Exportnachfrage auch der Zyklus der Ausrüstungsinvestitionen zu Ende gehen.

  2017 2018 2019 2020
Wirtschaftswachstum + 3,1 % + 3,1 % + 2,1 % + 1,7 %
Arbeitslosigkeit 5,5 % 5,0 % 4,9 % 4,9 %
Unselbstständig Beschäftigte + 1,9 % + 2,2 % + 1,4 % + 1,1 %
Arbeitsvolumen + 2,3 % + 2,4 % + 1,3 % + 1,0 %
Inflation + 2,2 % + 2,2 % + 2,0 % + 1,9 %
Löhne nominal + 1,5 % + 2,6 % + 2,5 % + 2,2 %
Exporte real + 5,6 % + 4,9 % + 4,2 % + 3,9 %
Ausrüstungsinvestitionen > + 8 % + 4,2 % + 2 % + 2 %
Bruttoanlageinvestitionen gesamt + 4,9 % + 3,5 % + 2,3 % + 2,0 %
Konsum + 1,5 % + 1,6 % + 1,4 % + 1,2 %
Schuldenquote 78,4 % 74,1 % 70,6 % 67,5 %
Tabelle 1: Ausgewählte Daten der Wirtschaftsprognose der Österreichischen Nationalbank.

Angesichts der Bedeutung der Investitionen für das Wirtschaftswachstum kann in Österreich von einem zyklischen Konjunkturaufschwung nach einer längeren Stagnationsphase im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise geredet werden. Der Höhepunkt scheint schon vorüber zu sein und auch die Prognosen sprechen dafür, dass der Aufschwung nicht mehr lange andauern wird. Gemäß den Daten der OeNB wird sich das Wachstum schon nächstes Jahr auf 2,1 % abkühlen, im Folgejahr weiter auf 1,7 %. Aber auch die globale Konjunktur hat laut OeNB bereits ihren Höhepunkt erlebt. Außerdem sind die Risiken für das Weltwirtschaftswachstum weiter gestiegen, insbesondere durch die protektionistischen Maßnahmen der USA, Chinas, der EU und Kanadas. Unlängst warnte die Weltbank vor einer Zuspitzung der Handelsstreitigkeiten, denn dadurch drohe ein Einbruch des Welthandels wie in der Krise 2008. (9) Zusätzlich zu dieser Bedrohung geht man auch von einem zyklischen Charakter von Krisen im Abstand von ca. 10 Jahren aus.

Der Wirtschaftsstandort

Viele bürgerliche „ExpertInnen“ (so z. B. aus der Wirtschaftskammer) sahen die Wirtschaft in den letzten Jahren im europäischen Vergleich zurückfallen. ÖVP und FPÖ haben diese Ängste aufgegriffen, damit Wahlkampf getrieben und in ihrem Regierungsprogramm darüber argumentiert. Wer sich bei den Nationalratswahlen das Wahlprogramm der „Liste Kurz“ gegönnt hat, dem ist unweigerlich eine dementsprechende kleine Feinheit aufgefallen. „Der neue Weg“, wie das Programm genannt wird, steht durchgängig unter dem Motto „Zurück an die Spitze“. Aufschluss über den Slogan findet man im zweiten Programmteil „Aufbruch & Wohlstand“:

„( … ) Österreich hat in den letzten Jahren einiges verschlafen. Während Deutschland und andere Länder kräftig gewachsen und an uns vorbeigezogen sind, hat man davon bei uns nur wenig mitbekommen. Auch wenn sich in den letzten Monaten erste Anzeichen einer Verbesserung gezeigt haben, so sind wir in den strukturellen Fragen immer noch weit von der Position entfernt, die wir schon einmal innehatten. Im bekannten Standort-Ranking der renommierten Hochschule IMD (Internationales Institut für Management-Entwicklung) belegen wir im Jahr 2017 nur mehr den 25. Platz. 2007 waren wir noch auf Platz 11. Im Bereich der Fiskalpolitik sind wir im Jahr 2017 sogar auf Platz 61 von 63 Staaten abgerutscht. Unser Ziel muss sein, es wieder an die Spitze zu schaffen – und da liegt noch ein langer Weg vor uns.“ (10)

Wie steht es bei der Koalitionspartnerin, der FPÖ? Im August 2017 hatten die Freiheitlichen ein neues Wirtschaftsprogramm präsentiert. Schon im ersten Satz des Vorworts von Heinz-Christian Strache erkennt man die Übereinstimmung mit Sebastian Kurz: „Ohne jeden Zweifel muss in Österreich viel getan werden, um unser Land wieder auf die Überholspur zu bringen.“ (11) Aufschlussreich ist Kapitel 1 „Zuerst: Die traurige Bilanz“:

Etwas mehr als zwölf Jahre später (gegenüber 2005, Anm. d. A.) hat Österreich nicht nur seinen gesamten Vorsprung eingebüßt, es ist in allen wichtigen internationalen Rankings weit zurückgefallen, also wirklich ‚abgesandelt‘. ( … ) Mit wenigen Ausnahmen lag Österreich in den vergangenen 10 Jahren nicht nur hinter Deutschland, sondern auch hinter dem Durchschnitt der OECD-Mitglieder, also den 35 bedeutendsten Industriestaaten der Welt. Und auch wenn nun, im Sommer 2017, sich Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit vorübergehend besser entwickeln, ist leider kein Grund zur Euphorie gegeben. Denn die weitere Entwicklung der wichtigsten Wirtschaftsdaten kann bestenfalls als schleppend bezeichnet werden. ( … ) Österreich hat einen beispiellosen Abstieg hinter sich. ( … ) Es wird Zeit, Österreich wieder zur Spitze (!) zu führen.“

Auch die FPÖ zitiert das „International Institute for Management Development“ (IMD), eine private Wirtschaftshochschule in der Schweiz zur Herausbildung von Unternehmensführungskräften, die eben auch Untersuchungen zur Wettbewerbsfähigkeit anstellt. Eine Analyse darüber, was denn die Wettbewerbsprobleme wirklich seien, wird in den Publikationen nicht präsentiert, stattdessen werden ausgewählte Faktoren wie „Education“ oder „Public Finance“ rangiert. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf die benannten Herausforderungen für das Jahr 2018 (in dem Österreich nebenbei sieben Plätze auf Rang 18 vorgerückt ist) zu werfen. Nicht weil sich Kurz und Strache davon offenbar beeindrucken lassen, sondern weil diese zeigen, wo aus Sicht dieser bürgerlichen Intellektuellen der Schuh drückt: „Early retirement age to be adressed“, „Administrative reform and fiscal consolidation must also be pursued at provincial (Länder) and local level (Gemeinden)“, „Shortage of qualified labour to be adressed“, „Reduce tax burden (for companies)“ und „Digital economy to be developed“. (12) Besonders drastisch stuft das IMD die Steuerpolitik („Tax policy“) auf Platz 60 von 63 ein.

Ausführlicher und somit für ein Gesamtbild aufschlussreicher ist das Wettbewerbsranking des Weltwirtschaftsforums, das ebenfalls als prokapitalistischer Thinktank die Bedürfnisse des Kapitals artikuliert, indem es mehrheitlich auf der Grundlage von Meinungsforschung Faktoren bildet, die die Produktivität eines Landes charakterisieren. Für die Jahre 2017–2018 wird Österreich auf Rang 18 von 137 platziert (wobei sich hier die Schlüsselindikatoren auf das Jahr 2016 beziehen). (13) Interessant ist es, die Veränderungen in den letzten 12 Jahren zu betrachten (siehe Abbildung 2). Dabei kann man erkennen, dass Österreich in den letzten Jahren vor der Krise aufgeholt hat und dann in der Krise (ab 2008) zurückgefallen ist, insbesondere in den Jahren 2013–2015, um 2017 im internationalen Vergleich wieder auf dem Niveau von 2006 zu landen.

Interessant sind auch die zahlreichen Bewertungsfaktoren, denn sie veranschaulichen die konkreteren Bedürfnisse der KapitalistInnen, in deren Kontext das Regierungsprogramm klarer zu verstehen ist. (14) So erhält Österreich beispielsweise bei „Nature of competitive advantage“ eine Spitzenbewertung (6,3 auf einer Skala von 1–7), was bedeuten soll, dass der Wettbewerbsvorteil österreichischer Unternehmen am internationalen Markt primär auf besonderen Produkten und Prozessen beruht, im Gegensatz zu niedrigen Arbeits- oder Ressourcenkosten. Nur Japan und die Schweiz werden hier besser bewertet. Ähnlich ist es beim Faktor „Production process sophistication“, (6,1 auf einer Skala von 1–7), was bedeutet, dass die Produktionsprozesse hochtechnologisiert sind statt arbeitskräftelastig. Der ganze Bereich „Innovation“ (z. B. Innovationskapazität, die Qualität der Forschungsinstitutionen, Unternehmensausgaben für Forschung und Entwicklung) ist gut bewertet, wenn auch nicht spitzenmäßig. Relativ gut schneidet Österreich auch in den Bereichen „Infrastructure“, „Higher education and training“ und „Technological readiness“ (Technologische Anpassungsfähigkeit zur Produktivitätssteigerung) ab. Besonders schlecht bewertet ist hingegen der Bereich „Flexibilität“ (Rang 103). Folgende Faktoren spielen hier besonders hinein: „Flexibility of wage determination“, soll heißen die Löhne sind stark durch einen zentalisierten Verhandlungsprozess bestimmt statt durch einen individuellen; „Hiring and firing practices“, soll heißen die Anstellungs- und Entlassungsmöglichkeiten sind den Unternehmen nicht flexibel genug; „Effect of taxation on incentives to work“, soll heißen Steuern und Sozialabgaben mindern den Arbeitsanreiz (wohl besser die Motivation der Unternehmen, Arbeitskräfte einzustellen).

Das Regierungsprogramm

Wie wir sehen werden, ist das Regierungsprogramm im Großen und Ganzen ein Umverteilungsprogramm von unten nach oben, insbesondere von der ArbeiterInnenklasse zur KapitalistInnenklasse. Dass die konjunkturelle Entwicklung besser ist als im Wahlkampf geahnt und dass Österreich in den Standortrankings wieder Plätze gutmacht, veranlasst die neue Regierung natürlich keineswegs dazu, ihre im Regierungsprogramm geplanten Maßnahmen zu überdenken. Aus der Perspektive des Kapitals bedeutet das Regierungsprogramm vor dem Hintergrund der positiveren wirtschaftlichen Entwicklungen schlichtweg eine zukünftig bessere Position als erwartet. Aber die Bürgerlichen, ihre PolitikerInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen sind sich auch darüber bewusst, dass der Aufschwung bald sein Ende hat, dass das Weltwirtschaftswachstum gefährdet ist und sich die Konkurrenz auf dem Weltmarkt verschärft. Es geht der österreichischen Bourgeoisie also vor allem darum, gestärkt in die zukünftigen Auseinandersetzungen zu gehen. Deshalb das ständige Gerede vom Standort, der nun durch ein Bundesverfassungsgesetz zur Staatszielbestimmung erhoben werden soll (was nebenbei schon von der rot-schwarzen Koalition begonnen wurde).

Wie in der Einleitung argumentiert ist die Stärkung des Wirtschaftstandorts das zentrale Projekt der schwarz-blauen Regierung. In der Präambel des Regierungsprogramms wird das so formuliert:

Mit unserer Politik fördern wir unternehmerische Initiative, belohnen die Fleißigen und sichern einen sozialen Ausgleich unter allen Gesellschaftsschichten. Wir setzen uns als Ziel, die Steuer- und Abgabenlast nachhaltig zu senken und mittelfristig keine neuen Schulden mehr zu machen. Wir schützen unseren Sozialstaat vor Missbrauch und werden die illegale Migration nach Österreich stoppen.“ (15)

 Steuersenkungen

Die Senkung der Steuer- und Abgabenlast war schon ein zentrales Thema von ÖVP und FPÖ im Nationalratswahlkampf. Kurz und Strache wollen die Abgabenquote, d. h. den Anteil von Steuern und Sozialabgaben am BIP, auf 40 % senken. Im Jahr 2016 lag die Abgabenquote in Österreich bei 42,7 % und damit um einiges höher als der OECD-Durchschnitt von 34,3 %. (16) Allerdings muss man die Aussagekraft des internationalen Vergleichs dieser Zahlen relativieren, denn es stellt sich zusätzlich die Frage, was an Förderungen und Sozialausgaben in Form von Geldern und Leistungen wieder an die Bevölkerung zurückgeht. Mit den Einnahmen aus Steuern und Abgaben werden die Ausgaben finanziert, die zu einem großen Teil für das staatliche Sozialsystem bestimmt sind. Eine Kürzung der Abgabenquote bedeutet dementsprechend weniger Einnahmen für den Staat und damit Ausgabenkürzungen und mitunter weniger Sozialausgaben.

Ein „Prestigeprojekt“ der Regierung ist im Rahmen der Steuerentlastungen der „Familienbonus plus“, der auch schon am 4. Juli 2018 im Nationalrat gegen die Stimmen von SPÖ und Liste Pilz beschlossen wurde und mit 1. Jänner 2019 in Kraft tritt. (17) Die Reform sieht für die Einkommenssteuer einen Absetzbetrag von jährlich bis zu 1.500 Euro pro Kind unter 18 Jahren vor. Der Familienbonus ist vor allem eine Entlastungsmaßnahme für mittlere und hohe Einkommen. Personen mit Einkommen unter 1.260 Euro profitieren überhaupt nicht, weil sie keine Einkommenssteuer bezahlen (das ist ein Drittel aller unselbstständig Beschäftigten). Das gilt ebenso für Arbeitslose und EmpfängerInnen der Mindestsicherung. Damit der Bonus im vollen Ausmaß beansprucht werden kann, muss man mehr als 1.700 Euro verdienen. Veranschaulicht man das mit dem jährlichen Bruttomedianeinkommen unselbstständig Erwerbstätiger, errechnet sich für die Werte von 2016 eine jährliche Einkommenssteuerleistung von 1.866 Euro. Somit könnte für eine unselbstständige Person mit diesem Einkommen (hätte sie ein Kind) fast die gesamte Einkommenssteuer wegfallen. In diesem Fall wäre das also eine durchaus beträchtliche Entlastung, von der eben auch viele proletarische Familien profitieren können.

Brutto-Einkommen 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder
> 3.000 Euro 1.500 Euro 3.000 Euro 4.500 Euro
2.300 Euro 1.500 Euro 3.000 Euro 3.292 Euro
2.000 Euro 1.500 Euro 2.261 Euro 2.261 Euro
1.750 Euro 1.500 Euro 1.606 Euro 1.606 Euro
1.500 Euro 1.022 Euro 1.022 Euro 1.022 Euro
1.200 Euro 258 Euro 258 Euro 258 Euro
Tabelle 2: Steuerentlastung durch den Familienbonus plus nach Einkomen und Anzahl an Kindern.

Wie ist die Reform aber gesamtgesellschaftlich zu bewerten? Laut Finanzminister Hartwig Löger soll die Maßnahme jenen Personen zugutekommen, die den Sozialstaat aufrechterhielten. (18) Das klingt im ersten Moment natürlich gerecht: Wer mehr an den Staat zahlt, hat eher eine Entlastung verdient. Tatsächlich gibt es nur einen geringen relativen Unterschied der gesamten Abgabenbelastung über die Höhe des Einkommens. (19) Angesichts dieser Tatsache und der Tatsache, dass der Familienbonus Geringverdienende nicht betrifft, dagegen Gutverdienende mit vielen Kindern am meisten profitieren, hat die Reform einen Umverteilungseffekt von unten nach oben.

Weiters geplant im Regierungsprogramm ist die Senkung der Körperschaftssteuer (KöSt), die gewerbetreibende juristische Personen und damit vor allem Unternehmen entrichten müssen. Mit der KöSt werden die Unternehmensgewinne besteuert, derzeit mit 25 %. Werden diese Gewinne an natürliche Personen, z. B. AktionärInnen, ausgeschüttet, wird zusätzlich die Kapitalertragssteuer mit 27,5 % fällig. Im Regierungsprogramm ist von der Senkung der KöSt auf nicht entnommene Gewinne die Rede „sowie im Hinblick auf die Mindest-KöSt“ (die unabhängig vom Unternehmensgewinn entrichtet wird). Wirtschaftsministerin Margarete Schrammböck hat das Vorhaben im März konkretisiert und zwar mit einer Halbierung der Körperschaftssteuer auf 12,5 % ab dem Jahr 2020. (20) Laut eigener Berechnung der Industriellenvereinigung (IV) entfallen bei der Halbierung jährlich zwei Milliarden Euro an Einnahmen für den Staat.

In eine ähnliche Richtung geht das Vorhaben einer „deutlichen“ Senkung der Lohnnebenkosten. Hierbei wird beteuert „ohne Leistungsreduktion“. Als Beispiele für Abstriche werden der Dienstgeberbeitrag und die Unfallversicherung genannt. Bei ersterem ist wohl der Dienstgeberbeitrag zum Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) gemeint, aus dem beispielsweise die Familienbeihilfe bezahlt wird. Bei letzerer will man den Beitrag von 1,3 % auf 0,8 % der Löhne reduzieren und damit 500 Millionen Euro einsparen, was finanziell nichts anderes als die Auflösung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) bedeutet. (21) Wenn der Staat nicht mit Budgetmitteln diese entfallenden Gelder ersetzt, wovon bisher nie die Rede war, dann bedeutet die Senkung der Lohnnebenkosten im Allgemeinen den Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften.

Abseits von weiteren Abgabenkürzungen wie vermehrten Abschreibungsmöglichkeiten bei Investitionen von Unternehmen oder der Senkung der Mehrwertsteuer für Übernachtungen ist ein zentrales Versprechen der Regierung eine Reform der Einkommenssteuer im Jahr 2020 „zur Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen“ mit Abschaffung der kalten Progression, „aber mit dem Ziel, den Unternehmensstandort Österreich, den Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen“. (22) Das kann eigentlich nur bedeuten, über eine Reduzierung der Einkommenssteuer den Spielraum für Lohnkürzungen zu erhöhen bzw. für -erhöhungen zu senken. Auch die Rede von einer „Modernisierung und massiven Vereinfachung des Steuerrechts“ klingt in Hinblick auf das Ausmaß der Steuerprogression zumindest alarmierend.

Zusammengefasst laufen die Steuersenkungen der schwarz-blauen Regierung auf enorme Entlastungen für das Kapital und die mittleren bis oberen Einkommensschichten hinaus. Der Rest, insbesondere große Teile der ArbeiterInnenklasse, kann davon verhältnismäßig wenig oder auch gar nicht profitieren, sondern muss sich vielmehr auf Einsparungen bei Sozialleistungen gefasst machen. Das gilt umso mehr, als die Regierung kein Konzept vorgelegt hat, wie die abgängigen Einnahmen in der Höhe von etwa 12–14 Mrd. Euro jährlich zukünftig kompensiert werden sollen.

Einsparungen

Im Regierungsprogramm finden sich einige Sparmaßnahmen, auch mit ungefähren Beträgen, aufgelistet. Weiter konkretisiert wurde das im Doppelbudget 2018/19, das für nächstes Jahr nicht nur ein Nulldefizit einplant, sondern sogar einen Überschuss von einer halben Milliarde beinhalten soll. Insgesamt wird laut dem Finanzministerium der Schuldenstand von 74,5 % des BIP im Jahr 2018 (2017 noch 83,6 % bzw. 290 Mrd. Euro) auf 62,2 % im Jahr 2022 sinken. (23) Geringere Schulden wären natürlich gut, die Frage ist aber, auf wessen Kosten.

Wie ist ein ausgeglichenes Budget trotz Senkung der Abgabenquote möglich? Einerseits steigen angesichts der guten Konkunktur derzeit (!) die Staatseinnahmen. Wesentlich ist aber auch, dass 2018 die Kosten der Bankenrettungen im Zuge der Wirtschaftskrise (Hypo Alpe Adria, Kommunalkredit, ÖVAG) ausgelaufen sind, die im Jahr 2017 noch 4,9 Mrd. Euro betrugen.

Beim allergrößten Ausgabenposten, den Pensionen (fast 19 Mrd. Euro), sind derzeit noch keine großen Reformen geplant. Aber der Finanzminister hat in seiner Budgetrede klargemacht, dass die schwarz-blaue Regierung noch etwas vorbereiten wird: „Wer bestreitet, dass hier Reformschritte vonnöten sind, der weiß, dass er den Menschen Sand in die Augen streut – gefährlichen Sand. (…) Die nächsten Jahre werden wir für umsichtige Änderungen nützen müssen“. Nachdem kaum zu erwarten ist, dass Einsparungen in diesem Bereich ausschließlich Spitzen- und Luxuspensionen umfassen, sondern allgemeiner Natur sein werden, kann man davon ausgehen, dass davon am meisten die arbeitende Bevölkerung getroffen wird, insbesondere da immer wieder das Pensionseintrittsalter kritisiert wird. Kleinere Einschnitte wurden aber dennoch schon beschlossen, und zwar steigt das Eintrittsalter bei Altersteilzeit in zwei Schritten um zwei Jahre.

Größere Einsparungen gibt es auf dem Arbeitsmarkt zulasten der Arbeitslosen. Recht bald nach der Regierungsangelobung war klar, dass es die zwei großen Beschäftigungsfördermaßnahmen der Vorgängerregierung bzw. „Prestigeprojekte“ der SPÖ treffen wird. (24) Der größere Budgetposten davon ist der „Beschäftigungsbonus“, eine Subvention der Lohnnebenkosten für die UnternehmerInnen im Ausmaß von 50 % auf Kosten der Allgemeinheit. Dafür waren zwei Milliarden Euro budgetiert, 900 Mio. wurden schon beantragt, sodass sich die Regierung etwa eine Milliarde ersparen wird. Die zweite Beschäftigungsfördermaßnahme war die „Aktion 20.000“, die Förderung der gesamten Lohn- und Lohnnebenkosten für Langzeitarbeitslose über 50 in Gemeinden und im öffentlichen Dienst, im Ausmaß von 780 Mio. Euro. Argumentiert wird mit der guten Konjunktur, in der man solche Maßnahmen nicht brauche. Dabei zeigen die Wirtschaftsprognosen, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren nur schwach zurückgehen wird.

Ein weiterer Angriff auf Arbeitslose und Menschen ohne Beschäftigung, insbesondere auf Asylberechtigte, ist die Kürzung der Mindestsicherung, die im Herbst beschlossen werden soll. (25) Der Anspruch wird de facto gedeckelt, indem die Zuschläge für jedes weitere Kind geringer ausfallen. Die „bundeseinheitliche“ Regelung sieht einen maximalen Grundbetrag von 863 Euro vor, niedrigere Grenzen in den einzelnen Bundesländern sind aber möglich. Vor allem anerkannte Flüchtlinge sowie auch Zugewanderte mit schlechten Deutschkenntnissen werden um einen „Arbeitsqualifizierungsbonus“ von 300 Euro benachteiligt. Wer hier keinen Anspruch hat, erhält eben nur 563 Euro. Um qualifiziert zu sein, muss man entweder einen Pflichtschulabschluss oder Deutschkenntnise auf Sprachniveau B1 (alternativ Englisch C1), eine „Integrationsvereinbarung“ und einen absolvierten „Wertekurs“ vorweisen können. Wer aus der EU zuwandert, wird sich erst einmal fünf Jahre in Österreich aufhalten müssen, um überhaupt Mindestsicherung beziehen zu können. Mit dieser „Mindestsicherung neu“ werden die Ärmsten in der Gesellschaft noch weiter benachteiligt und die MigrantInnen an ihren Rand gedrängt.

Obwohl ÖVP und FPÖ bevorzugt über integrationsunwillige ZuwanderInnen sprechen, womit ihre fehlende bedingungslose Anpassung an die vermeintlich vorherrschende Kultur gemeint ist, wollen sie von staatlicher Seite dafür weniger leisten. Mit Verweis auf weniger werdende AsylwerberInnen wurde beschlossen, die Förderungsmittel für Integration im Arbeitsmarktservice (AMS) von 180 auf 110 Mio. Euro zu kürzen. (26) Tatsächlich hat die Zahl der beim AMS registrierten Asylberechtigten aber in den letzten Jahren weiterhin zugenommen. Davon werden insbesondere etliche Deutschkurse betroffen sein. Während die Regierungsparteien ständig das Erlernen der deutschen Sprache von Flüchtlingen einfordern, verringern sie das vorhandene Angebot dafür. Man kann hier ruhig unterstellen, dass Kurz und Strache für die Beibehaltung nicht vermittelbarer Flüchtlinge arbeiten, um im nächstbesten Moment mit rassistischen Maßnahmen auf Stimmenfang zu gehen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kürzung des Integrationstopfs für Schulen bei gleichzeitiger Einführung von separaten „Deutschförderklassen“.

Auch für Frauen hat die rechts-konservative Regierung erwartungsgemäß wenig übrig. Das drückt sich beispielsweise durch Förderkürzungen für Frauenvereine aus. So wurde das Förderbudget 2018 um 179.000 Euro gekürzt, 2019 werden es noch mal 230.000 Euro weniger. (27) In makaberer Manier wird das mit Umschichtungen für Gewaltschutzzentren argumentiert. Tatsächlich handelt es sich aber bei letzteren nur um eine Inflationsabgeltung.

Entrechtung der ArbeiterInnen

Einer der größten Schläge gegen die Rechte der arbeitenden Bevölkerung ist die Ausweitung der Höchstarbeitszeit, die Anfang Juli im Nationalrat beschlossen wurde und schon im September in Kraft tritt. Damit wird die zulässige Höchstarbeitszeit auf täglich 12 und wöchentlich 60 Stunden angehoben, womit 20 Überstunden pro Woche möglich werden. Von der Regierung als auch den Unternehmensverbänden wie der Wirtschaftskammer oder der Industriellenvereinigung wird dabei mit Flexibilität im Sinne der Arbeitenden argumentiert. Für das Kapital geht es vor allem um die Arbeitsverdichtung zur schnelleren Abarbeitung von Aufträgen und Projekten. Von Freiwilligkeit wird zwar viel geredet, tatsächlich werden Überstunden aber gemacht, wann es den Chefs am besten passt, sodass „Arbeitszeitflexibilität“ im Allgemeinen vor allem jene für die KapitalistInnen bedeutet. Noch dazu wird das zulässige jährliche Ausmaß an Überstunden von 320 auf 416 erhöht. (28) Bei Gleitzeitregelungen wird das in der Praxis sogar zum Entfall von Überstundenzuschlägen führen. Auch ist es eine anerkannte Tatsache, dass eine längere Arbeitszeit gesundheitsschädigend ist und das Unfallrisiko am Arbeitsplatz erhöht.

Auch der Abbau anderer Arbeitsschutzbestimmungen ist geplant, wenn auch noch nicht konkretisiert. So heißt es im Regierungsprogramm: „Wir werden generell die Bestimmungen für den Arbeitnehmerschutz durchforsten und auf ihre Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit überprüfen. Um der betrieblichen Ebene wieder mehr Freiheit für die Gestaltung des Arbeitsalltags zu geben, braucht es eine umfassende (!) Reduktion der Regulierungslast.“ Das kann man auch als Unterminierung des Kollektivvertragssystems durch Betriebsvereinbarungen o. ä. lesen. Fatal ist auch das „Prinzip ‚Beraten statt strafen‘ beim Arbeitsinspektorat effektiv umsetzen, Arbeitsinspektorat stärker als Serviceeinrichtung etablieren“. Nachdem in der Regel Mängel bei der Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen innerhalb einer vereinbarten Frist behoben werden müssen, bevor bestraft wird, geht es der Regierung wohl darum, Mängel in Zukunft zu tolerieren – auf Kosten der Gesundheit der ArbeiterInnen. Ähnlich fatal ist das Vorhaben, das Kumulationsprinzip in Verwaltungsstrafverfahren ab 2020 aufzuheben. Das Kumulationsprinzip besagt, dass bei Verwaltungsdelikten jedes Vergehen einzeln bestraft wird. (29) Mit dessen Abschaffung wäre der Bruch von Arbeitschutzbestimmungen eine äußerst rentable Sache für die KapitalistInnen.

Eine Schwächung der Interessenvertretung der ArbeiterInnenklasse erwartet sich die Regierung zusätzlich mit einem Vorstoß gegen die Arbeiterkammer (AK). Die AK ist (anders als die Gewerkschaften) die gesetzliche Interessenvertretung der unselbstständig Beschäftigten in Österreich. Ihre Aufgaben umfassen Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen, wissenschaftliche Erhebungen zur Lage der sogenannten ArbeitnehmerInnen, Beratung und Rechtsschutz für die Mitglieder sowie die Überwachung von Arbeitsbedingungen. Offiziell geht es der Regierung darum, die Beiträge („Umlage“, bei der AK max. 14,44 Euro im Monat) der Pflichtmitglieder der Arbeiterkammer und der Wirtschaftskammer zu senken, um die Mitglieder zu entlasten. Natürlich ist der eigentliche Zweck die finanzielle Beschneidung der Interessenvertretung und damit die Schwächung der österreichischen ArbeiterInnenklasse. Die Kammern wurden von der Regierung aufgefordert, bis Ende Juni ein Reformkonzept vorzustellen, das den geringeren Einnahmen entspreche. Die AK hat ein Papier abgeliefert, aber keine Einsparpläne formuliert. Im nächsten Schritt wird die Regierung also über den Gesetzesweg die Umlage der Arbeiterkammer senken müssen.

Sehr substantiell ist das Vorhaben eines „Arbeitslosengeld neu“, das bis Jahresende umgesetzt werden soll. Demnach soll das Arbeitslosengeld mit steigender Bezugsdauer sinken und die Notstandshilfe abgeschafft werden. Wer dann den Anspruch auf das Arbeitslosengeld verliert, rutscht zukünftig in die Mindestsicherung, Voraussetzung dafür ist aber, das eigene Vermögen weitgehend aufgebraucht zu haben. Durch die Reform wird also der Druck auf Arbeitslose enorm erhöht, Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen anzunehmen, was den KapitalistInnen diese Verschlechterung enorm vereinfacht.

Eine der „größten Reformen“, ebenfalls zuungunsten der arbeitenden Bevölkerung, bedeuten die Pläne der Regierung in Bezug auf die Sozialversicherung (vor allem Krankenversicherung). Schon lange besteht in Österreich die Debatte, ob die große Anzahl an verschiedenen Trägern reduziert und die Leistungen vereinheitlicht werden sollen. Dagegen wäre auch gar nichts einzuwenden, wenn es nicht mit Leistungsreduktionen für die einfache Bevölkerung verbunden wäre. Die Regierung will nun 21 Träger auf 4 bis 5 zusammenlegen und damit bis 2023 eine Milliarde Euro einsparen. (30) Dass das ohne Leistungsreduktionen einhergehen wird, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen. Besonders brisant ist dabei die drohende Schließung der Unfallversicherungsanstalt (AUVA), die mit den Sparvorgaben der Regierung schlichtweg nicht mehr finanzierbar wäre. Wichtig ist im Zusammenhang mit der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse, dass die Selbstverwaltungsgremien, die mehrheitlich durch die Arbeiterkammer kontrolliert sind, durch einen von AK und Wirtschaftskammer paritätisch besetzten Verwaltungsrat ersetzt werden sollen.

Einen speziellen Anschlag plant Schwarz-Blau auf junge ArbeiterInnen und Lehrlinge. (31) Für sie soll die gesetzliche Interessenvertretung im Betrieb, der Jugendvertrauensrat (JRV) (Pendant zum Betriebsrat), ersatzlos gestrichen werden. Über den JVR können Jugendliche ihre eigenen Interessen unabhängig gegenüber Geschäftsführung und Betriebsrat vertreten. Dadurch wird es für die KapitalistInnen noch einfacher, die Rechte von jugendlichen ArbeiterInnen und Lehrlingen zu umgehen. In diesem Kontext muss auch die Kürzung der sogenannten „Lehrlingsbeihilfe“ für Lehrlinge in der überbetrieblichen Lehrausbildung von 753 auf 325,80 Euro genannt werden. (32)

Rassismus als sozialer Kitt

Es wäre nicht die Regierung von Kurz und Strache, wenn sie ihre Angriffe auf die lohnarbeitende Bevölkerung nicht mit permanenten rassistischen Angriffen auf MigrantInnen zu überspielen versuchte. In diesem Sinn werden unterschiedliche Herkunft, Sprache, Kultur und Lebensstandards von Schwarz-Blau als Spaltungslinien der internationalen ArbeiterInnenklasse ausgenutzt. Die Flüchtlinge dienen dabei als Schreckgespenster, um die Konkurrenzangst in der ArbeiterInnenklasse anzufachen und mittels geschürter rassistischer Vorurteile die „österreichischen“ ArbeiterInnen gegen die zugewanderten auszuspielen und in ein klassenübergreifendes, nationalistisches Programm einzubinden. Das ist aber nur die eine Seite, die vor allem diejenigen MigrantInnen trifft, für die das Kapital derzeit keinen Gebrauch hat. Denn dort wo Nachfrage an (qualifizierter) Arbeitskraft besteht, soll es Erleichterungen geben. Auch für die Zuwanderung gilt also, dass sie unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverwertung reguliert wird. Dass die wenigen Glücklichen aber auch gleiche Rechte über die StaatsbürgerInnenschaft bekommen, wird erschwert. AsylwerberInnen wird weiter das Leben zur Hölle gemacht, um sie abzuschrecken, überhaupt ins Land zu kommen. Deshalb soll ihnen gleich zu Beginn das Bargeld abgenommen werden und sie sollen nur noch Sachleistungen erhalten. Auch das Handy muss mitsamt den darauf gespeicherten privaten Daten zur Verfügung gestellt werden, damit die Identität, die Fluchtroute u. ä. der geflüchteten Person kontrolliert werden kann. Wer dann eine Asylberechtigung erhält, aber keinen Job findet, bekommt zukünftig nur eine extra für Asylberechtigte reduzierte Mindestsicherung. Damit werden diese nicht nur noch mehr zu Menschen zweiter Klasse degradiert, sie werden auch in die Armut und besonders unattraktive Jobs gedrängt. Die sogenannte Integration ist nichts anderes als die erzwungene Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. Das wird exekutiert durch eine Kopplung finanzieller Leistungen an Deutsch- und Wertekurse. Dabei wird allerdings noch die Absonderung von der Mehrheitsgesellschaft vorangetrieben. Deutschkurse sollen bald in sogenannten Brückenklassen im Asylheim stattfinden und statt mehrsprachigen Unterrichts bzw. forcierter Förderung von Deutschkenntnissen dort heißt es nun „Deutsch vor Regelunterricht“ oder gar „eigene Deutschklassen“.

Festigung der Staatsgewalt

Der ArbeiterInnenklasse werden von der rechts-konservativen Regierung zentrale Rechte und soziale Errungenschaften beschnitten, um die Ausbeutungsrate im Interesse des Kapitals zu erhöhen. Nicht die KapitalistInnen und ihre Regierung sollen die Feindbilder sein, sondern die Flüchtlinge. Aber um die Herrschaft der Reichen und Besitzenden abzusichern, wird der staatliche Gewaltapparat von der Regierung verstärkt. Nebenbei wird das so dargestellt, als ginge es darum, die einfache Bevölkerung vor Kriminalität, angeblich befördert durch die Zuwanderung, zu schützen. Der Kriminalität der KapitalistInnen (Stichwort Arbeitsinspektorat) wird hingegen Tür und Tor geöffnet. Vor allem der Polizeiapparat wird ausgebaut werden. 2.100 neue Planstellen sollen geschaffen werden sowie 2.000 zusätzliche Ausbildungsplätze. Innenminister Herbert Kickl hat sich sogar mit der Anschaffung von Polizeipferden durchsetzen können. Polizeipferde eignen sich, abseits von ihrer Geländegängigkeit, im Unterschied zu Fahrrädern und Motorrädern vor allem zum Auseinandertreiben von Menschenmassen wie etwa bei Demonstrationen. Ebenso soll es auch wieder, vor allem ab 2020, mehr Geld für das Bundesheer geben.

Weiters wird die staatliche Überwachung ausgebaut. (33) Das Regierungsprogramm sieht eine Schließung der „Lücke bei der Überwachung internetbasierter Telekommunikation“ vor. Konkret bedeutet das die Einführung eines Bundestrojaners, also einer Schadsoftware, um elektronische Inhalte von Kommunikationsgeräten wie Smartphones auslesen zu können. Damit will man vor allem die Verschlüsselungen von Chatdiensten wie Whatsapp umgehen. Weiters will man sich Gesichtsfelderkennung und Big-Data-Analysen bedienen plus den Einsatz unbemannter Objekte wie Drohnen steigern. Mit „Quick Freeze“ wird ein erneuter Anlauf zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung (allerdings in abgeschwächter Form) genommen. All das wird nicht einfach nur gegen islamistische TerroristInnen oder zur Abwehr ausländischer Geheimdienste eingesetzt werden, sondern dient dem Staat vor allem als Waffe gegen die arbeitende Klasse, die sich in zugespitzen Situationen des Klassenkampfes gegen die herrschende KapitalistInnenklasse auflehnen könnte.

Widerstand

Widerstand gegen die Angriffe von Schwarz-Blau findet statt. Was fehlt, sind richtige Strategien und Taktiken, sodass selbst kleine Erfolge bisher ausblieben. Dabei gab es durchaus relevante Bewegungen. Schon am Wahlabend gab es eine Demonstration gegen die drohende schwarz-blaue Regierung. Darauf folgend gab es große Mobilisierungen in Linz gegen das Sparpaket der schwarz-blauen Landesregierung mit mehreren tausend Menschen. Gegen die Angelobung wurden dann breite Proteste von unterschiedlichen Bündnissen und Initiativen (Offensive gegen Rechts, Österreichische HochschülerInnenschaft, Plattform radikale Linke, Jugendorganisationen, …) organisiert, die es schafften, an einem Montagvormittag bei schlechtem Wetter, tausende Menschen auf die Straße zu bringen und sogar einen Schulstreik zu organisieren. Die darauf folgende Entwicklung, insbesondere die Großdemonstration am 13. Jänner mit bis zu 50.000 TeilnehmerInnen, hätte den Startschuss für effektiven Widerstand abgeben können. Dass das nicht passiert ist, liegt an der Tatsache, dass sich die Linke nicht dazu überwinden konnte, ihre Kräfte in einer schlagkräftigen Einheitsfront (34) gegen die Regierung zu bündeln. Somit hätte man sich auf gemeinsame Aktionen gegen die zentralsten Angriffe verständigen können. Stattdessen ist der Widerstand in Einzelinitiativen und beschränkte Bündnisse (z. B. im Bereich der Flüchtlingssolidarität) zersplittert. Abseits davon gab es wiederum keine relevante politische Kraft, die eine ernsthafte Führung im Kampf gegen die Regierung hätte stellen und eine politische Perspektive aufzeigen können. Somit richten sich viele Augen wieder auf die Sozialdemokratische Partei, die sich als einzige (sichtbare) Oppositionskraft inszenieren kann.

Die Rolle der Sozialdemokratie

Anders als in den vergangenen zehn Jahren hat die SPÖ nun die Gelegenheit, sich in der Opposition wieder zu festigen und ihrem Niedergang einen einstweiligen Aufschub zu verleihen. Freilich ist die Sozialdemokratische Partei nicht das geeignete Instrument der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen die Regierung. Das zeigt sich schon alleine in der Flüchtlingsfrage, wo die SPÖ bestenfalls unmenschliche und offensichtlich rassistische Vorstöße kritisiert, nicht aber die immer weiter gehenden Verschlechterungen für Geflüchtete generell. Das liegt auch daran, dass die SPÖ WählerInnenstimmen von der FPÖ zurückgewinnen möchte und dafür selbst die Spaltung der ArbeiterInnenklasse in Inländisch und Ausländisch mitmacht (so z. B. geschehen bei der Ausweitung der Mangelberufsliste). Aber allgemeiner betrachtet, dort wo sie aus fortschrittlicher Perspektive gegen die Regierung auftritt, führt sie die ArbeiterInnenklasse in eine reformistische (35) Sackgasse. Das nicht nur dadurch, dass sie sich selbst letztlich auf parlamentarischen Widerstand beschränkt, obwohl die Regierung eine klare Abgeordnetenmehrheit besitzt. Die reformistische Bürokratie, die auch den Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) beherrscht, scheut die offene Konfrontation mit der herrschenden kapitalistischen Klasse, mit der sie ja strategische Kompromisse sucht.

Was das in der Praxis bedeutet, wurde zuletzt in der Auseinandersetzung um den 12-Stundentag offensichtlich. Obwohl die allgemeinen Pläne dazu schon seit Angelobung der Regierung bekannt waren, hat der ÖGB auf eine Mobilisierung der ArbeiterInnen gegen den Angriff verzichtet. Erst als ein konkreter Gesetzentwurf kurz vor der Beschlussfassung im Nationalrat vorlag, rief man zum öffentlichen Protest auf. Mehr als 700 Betriebsversammlungen wurden in ganz Österreich durchgeführt und über 100.000 Menschen am 30. Juni in Wien auf die Straßen mobilisiert. Das Potential der ArbeiterInnenklasse war damit offensichtlich und eine Streikbewegung gegen die Ausweitung der Höchstarbeitszeit realistisch. Forderungen nach einem Streik waren auf der Demonstration überall sichtbar und ein solcher hätte sogar auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung bauen können (59 % hielten Streiks für gerechtfertigt), wie eine Umfrage des „Profil“ aufzeigte. (36) Ein Streikaufruf des ÖGB blieb aber aus. Stattdessen stellte ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian eine Volksabstimmung in den Raum, obwohl eine Beschlussfassung dafür eine parlamentarische Mehrheit gebraucht hätte. Im nächsten Schritt wurde auf die ausstehende Abstimmung im Bundesrat verwiesen. Als das auch nichts half, vertröstete die Gewerkschaftsführung auf Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst (das Gesetz tritt mit 1. September in Kraft). Die mobilisierte ArbeiterInnenklasse wurde demobilisiert, auf illusorische Alternativen zu einem Generalstreik vertröstet. Der ÖGB kapitulierte also de facto kampflos vor der reaktionären Mehrheit im Parlament. Die Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung kann somit als nichts anderes als bewusster Verrat an den Interessen der ArbeiterInnen bezeichnet werden.

Neuformierung der ArbeiterInnenbewegung

Es wurde gezeigt, dass die Agenda der schwarz-blauen Regierung einen Generalangriff auf die ArbeiterInnenklasse darstellt. Insbesondere die Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit, die Reform der Arbeitslosenversicherung hin zu einem Hartz-IV-Modell als auch die Schwächung der Arbeiterkammer drohen zu strategischen Niederlagen für die ArbeiterInnenklasse zu werden, was sich in einer bedeutsamen Schwächung der Organisationen der ArbeiterInnenbewegung (der Gewerkschaften, der AK, der politischen Organisationen inklusive Sozialdemokratie) und einem weiteren Rückgang des Klassenbewusstseins ausdrücken würde. Aufgrund der Dominanz der Sozialdemokratie über die ArbeiterInnenbewegung wäre das zwar gleichbedeutend mit einem Verlust des sozialdemokratischen Einflusses, dieser würde sich aber nicht automatisch auf fortschrittliche Weise ausdrücken. Die drohenden Niederlagen zeigen allerdings auf, dass die ArbeiterInnenbewegung in ihrer bestehenden Form, mit ihrer aktuellen Politik des sozialpartnerschaftlichen Ausgleichs und ihrer bestehenden reformistischen Führung nicht den Erfordernissen des Klassenkampfniveaus entspricht. Die Angriffe von ÖVP und FPÖ drängen auf die Notwendigkeit ihrer Erneuerung!

Diese kann jedoch nicht stattfinden ohne eine bewusste politische Kraft, die einen fortschrittlichen Bruch mit der sozialdemokratischen Dominanz über die ArbeiterInnenbewegung vorantreibt. Es ist die Aufgabe einer kommunistischen Organisation, die notwendigen Maßnahmen dafür in die ArbeiterInnenbewegung zu tragen. Das bedeutet vor allem zwei Dinge: Auf der einen Seite ist das der Kampf für eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften gegen die Bürokratie. Auf der anderen Seite ist das der um den Aufbau einer wahrhaftigen ArbeiterInnenpartei in Österreich, was untrennbar ist vom Eintreten für ein revolutionär-marxistisches Übergangsprogramm (37) durch eine kommunistische Parteiaufbauorganisation. Den Schlüssel dafür sehen wir heute im Aufbau einer breiten Einheitsfront der Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung inklusive Sozialdemokratie und Gewerkschaften gegen die Angriffe der Regierung. Eine solche schweißt nicht nur die größtmögliche Einheit im Widerstand zusammen, sie kann AktivistInnen mit unterschiedlichen politischen Hintergründen in Basisorganen (Aktionskomitees, gewerkschaftliche Basisgruppen etc.) versammeln und ermöglicht eine Debatte über die politischen Aufgaben im Klassenkampf. Nur auf diese Weise können die fortschrittlichsten und kämpferischsten Teile der Bewegung gegen Schwarz-Blau für ein Programm vom Widerstand zur ArbeiterInnenmacht gewonnen werden.

Endnoten

(1) An dieser Stelle sei auf zwei ältere Beiträge unserer Strömung verwiesen:
(i) Michael Gatter: Österreichischer Kapitalismus. Gestärkt, aber nicht stark genug. In: Revolutionärer Marxismus 10, Winter 1993/94
(ii) Michael Pröbsting: Vier Jahre Bürgerblock. Kapitalismus und Klassenkampf in Österreich. In: Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004
(2) Regierungsprogramm 2017–2022
(3) ebenda
(4) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(5) Österreichische Nationalbank: Konjunktur aktuell; Berichte und Analysen zur wirtschaftlichen Lage; Juni 2017
(6) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(7) https://knoema.com/tbocwag/gdp-by-country-statistics-from-imf-1980-2022?country=World
(8) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(9) http://orf.at/stories/2444585/2444582/
(10) Programm der Liste Kurz – die neue Volkspartei zur Nationalratswahl 2017: Der neue Weg. Aufbruch & Wohlstand
(11) FPÖ Bildungsinstitut: Das freiheitliche Wirtschaftsprogramm. Fairness. Freiheit. Fortschritt.
(12) IMD: World Competitiveness Ranking 2018 Country Profile Austria
(13) Siehe „https://knoema.com/atlas/Austria/topics/World-Rankings/World-Rankings/Global-competitiveness-rank
(14) WEF: The Global Competitiveness Index 2017–2018 edition, Austria
(15) Regierungsprogramm 2017–2022
(16) OECD: Revenue Statistics 2017
(17) https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5458237/Heute-beschlossen_Was-ist-der-Familienbonus-und-wem-steht-er-zu
(18) https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2018/PK0816/
(19) https://www.steuernzahlen.at/pdf/INEQ_Gesamtabgabenstatistik_Final.pdf
(20) http://orf.at/stories/2429747/
(21) https://derstandard.at/2000077361937/Hartinger-Klein-rechnet-mit-Aufloesung-der-Allgemeinen-Unfallversicherungsanstalt
(22) http://www.oe24.at/oesterreich/politik/2020-naechste-Steuerreform/327117532
(23) https://diepresse.com/home/innenpolitik/5392775/Das-tuerkisblaue-Budget-im-Detail
(24) https://derstandard.at/2000071308023/Regierung-stellte-Beschaeftigungsbonus-und-Aktion-20-000-ein
(25) https://kurier.at/politik/inland/regierungsklausur-koalition-bei-mindestsicherung-einig/400041913
(26) https://derstandard.at/2000076583552/Budget-Wo-der-Guertel-enger-wo-er-lockerer-sitzt
(27) https://derstandard.at/2000084754013/Frauenvereine-bekommen-2019-noch-weniger-Geld
(28) https://www.oegb.at/cms/S06/S06_0.a/1342593401052/home/die-neue-arbeitszeit
(29) https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/963950_Kumulationsprinzip-endet-2020.html
(30) https://www.profil.at/oesterreich/sozialversicherung-reform-oevp-fpoe-10087497
(31) http://www.onesolutionrevolution.at/index.php/archiv/klassenkampfundpolitik/530-regierung-nimmt-lehrlingen-die-vertretung-jugendvertrauensrat-verteidigen
(32) http://www.jugendnetzwerk-ooe.at/ak-kritisiert-kuerzungen-bei-der-ueberbetrieblichen-lehre-die-regierung-raubt-den-jungen-menschen-ihre-perspektiven/
(33) https://derstandard.at/2000070494894/regierungsprogramm-oevp-fpoe-kurz-strache-ueberwachung
(34) Mit einer Einheitsfront meinen wir ein klar politisch abgegrenztes Bündnis verschiedener Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung für die Aktion. Darüber sollte einerseits eine möglichst schlagkräftige Front, größtmögliche Einheit für deren Ziele geschaffen, andererseits die politische Unabhängigkeit und Freiheit der Kritik aller Beteiligten – auch untereinander – ermöglicht werden.
(35) Unter Reformismus verstehen wir bürgerliche Politik in der ArbeiterInnenbewegung. Sie zielt einerseits bestenfalls auf die utopische Überwindung der Klassengegensätze durch Reformen innerhalb des bürgerlich-demokratischen Systems, verteidigt dieses jedoch andererseits gegen einen drohenden Umsturz durch die LohnarbeiterInnenklasse.
(36) https://www.profil.at/oesterreich/umfrage-mehrheit-streiks-12-stunden-tag-10193160
(37) Als Übergangsprogramm bezeichnen wir ein Programm, das die Brücke schlägt zwischen den unmittelbaren Kämpfen innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems und der politischen Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zur Überwindung des Kapitalismus. Dabei geht es vor allem um den Aufbau von ArbeiterInnenkontrolle über die verschiedenen Bereiche des gesellschaftllichen Lebens bis zu einer Situation der Doppelmacht, die der ArbeiterInnenklasse den Weg zur Revolution bahnt.




Buchtipp: „… und unsere Fahn‘ ist rot

Michael Eff, Infomail 1029, 14. November 2018

Na endlich! Nach fast 40 Jahren ist die politische Autobiografie von Oskar Hippe: „…und unsere Fahn` ist rot“ neu aufgelegt worden. Dem Manifest-Verlag sei ausdrücklich gratuliert und für dieses verlegerische und politische Geschenk gedankt.

Worum geht es? Im Klappentext der Erstausgabe aus dem Jahre 1979 heißt es dazu:

„Diese Erinnerungen eines revolutionären Arbeiters sind ein Dokument der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die mehr als sechs Jahrzehnte politischer Aktivität dieses Kommunisten aus dem ,roten’ mitteldeutschen Industrierevier umspannen die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der sechziger Jahre. Die Herausbildung des Spartakusbundes und der KPD; ihr Kampf um die Macht in der Periode 1918–1923; die Stalinisierung der KPD und der Kampf der linksoppositionellen Kräfte dagegen; die Machtergreifung der Nationalsozialisten, Illegalität, und Verhaftung; Neubeginn organisierter politischer Tätigkeit nach 1945; Verhaftung durch die sowjetische Militärverwaltung, acht Jahre Zuchthaus und Arbeitslager in der DDR; fraktionelle Arbeit auf dem linken Flügel der SPD in den Jahren des Kalten Krieges; Wiederbelebung einer sozialistischen Linken in den sechziger Jahren … Oskar Hippe, Jahrgang 1900 verbindet in diesen Erinnerungen die Erfahrungen eines Aktivisten an der Basis mit der kritischen Verarbeitung entscheidender Perioden der jüngeren deutschen Vergangenheit.“

Noch im April 1916, in chauvinistischer Hurra-Stimmung, als er mit dem Zug in Berlin ankommt, trägt er eine schwarz-weiß-rot gestreifte Krawatte als Ausdruck seiner „nationalen“ Gesinnung. Seine ältere Schwester nimmt ihm diese Krawatte ab und wirft sie ungehalten auf die Schienen. Am 1. Mai 1916 nimmt er an der berühmten Anti-Kriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz teil, auf der Karl Liebknecht sprach. Im Oktober 1916 tritt er dem Spartakusbund bei. Später wird Mitglied der Reichsleitung der trotzkistischen „Linken Opposition“ – ein Revolutionär der ersten Stunde, der seiner Gesinnung bis zu seiner letzten Stunde treu blieb.

Er schildert die Kämpfe und Niederlagen (vor allem diese) aus der Sicht eines Teilnehmers „von unten“, ohne dabei den Blick für das Ganze zu verlieren und ohne auf den analytischen Zugriff zu verzichten. Was in mir persönlich immer am meisten Bewunderung hervorrief – ich kannte ihn bis zu seinem Tode –, war seine ungebrochene Menschlichkeit. Zweimalige Verhaftung und Folter durch die Nazis, seiner Frau Gertrude wurden zwei Rückenwirbel „kaputt geschlagen“ , acht Jahre Haft in Bautzen in der DDR und die Niederlagen der deutschen Arbeiterbewegung konnten ihn nicht brechen und machten ihn auch nicht zu einem „verbitterten Alten“.

 

Zwei, drei kritische Anmerkungen zur Neuauflage seien aber gestattet.

Erstens hätte man das „Geleitwort“ von Hans Querengaesser für die erste Ausgabe durchaus wieder aufnehmen können. Es ist nach fast 40 Jahren selbst ein historisches Dokument und durchaus lesenswert.

Zweitens hatte die Erstausgabe ein sehr nützliches Personenregister. Warum hat man jetzt darauf verzichtet? Zu aufwendig?

Drittens aber, und wichtiger: Es ist nicht ganz klar, warum sich das Vorwort von Steve Hollasky und Lucy Redler in den historischen Ausführungen weitgehend auf die Novemberrevolution beschränkt. Jubiläumsbedingt?? Das wäre eine sehr dünne Begründung. Wenn man schon in einem Vorwort Ausführungen zu historischen Abläufen macht, worauf hier m. E. durchaus hätte verzichtet werden können, denn Oskar Hippes Text wäre auch so verständlich, dann erscheint eine Beschränkung auf die Novemberrevolution fragwürdig. Die Ereignisse 1923, der Kampf gegen die Stalinisierung der KPD, aber auch die Zeit nach1945 nehmen in Oskars politischer Biografie durchaus breiten Raum ein. Oder gibt es für die Beschränkung politische Gründe, weil man dann z. B. auch Ausführungen zur Taktik des Entrismus für die Zeit nach 1945 hätte machen müssen?

Sei’s drum! Ich freue mich ungemein, dass die Autobiographie eines Genossen, der mich in meiner politischen Jugend beeindruckt und beeinflusst hat, wieder greifbar ist (Oskar unterstützte die „Kommunistische Jugendorganisation Spartacus“). Die Neuauflage dieser politischen Autobiografie eines revolutionären Arbeiters bleibt ohne Wenn und Aber verdienstvoll. Und Oskars Schlussbemerkung behält ihre Gültigkeit: „Ich glaube, dass dieses Buch auch heute, wo eine kritische Jugend dabei ist, die Oktoberrevolution zu studieren und kritisch zu untersuchen, was nach ihr kam, dazu beitragen kann, den Klärungsprozess im Sinne des wahren Marxismus und Leninismus weiterzuführen. Sollte das der Fall sein, so war meine Arbeit nicht umsonst.“

 

Bibliografische Angaben:

Oskar Hippe, …und unsere Fahn` ist rot, Manifest Verlag, Berlin 2018, 264 Seiten, Preis 12,90 Euro, ISBN 978-3-96156-061-5




Brasilien: Der Aufstand der LKW-FahrerInnen

Markus Lehner, Neue Internationale 229, Juni 2018

Ende Mai ging in Brasilien fast nichts mehr. Entscheidende Lebensnerven der Ökonomie wie Autobahnkreuze, Häfen, Flughäfen und Raffinerien wurden durch etwa 500 Blockaden mit jeweils um die 150 LKWs lahmgelegt. Der größte Hafen Südamerikas, der Hafen von Santos nahe Sao Paulo, wurde ebenso stillgelegt wie mehrere große Flughäfen. Schulen und Universitäten mussten durch den Zusammenbruch des Transportsystems schließen. Ebenso gab es Probleme in der Versorgung der Supermärkte und natürlich der Tankstellen.

Überraschenderweise war und ist diese Aktion der LKW-FahrerInnen populär und findet viel Zuspruch in der Bevölkerung (laut Umfragen liegt die Zustimmung bei 87 %), da sie ein zentrales Problem des Alltagslebens der Masse der BrasilianerInnen aufgreift: Die Preiserhöhungen bei Benzin und Diesel seit Antritt der Temer-Regierung treffen nicht nur die LKW-FahrerInnen, sondern sind Preistreiberinnen für alle Güter des täglichen Lebens (auch das viel verwendete Haushaltsgas wurde immer unerschwinglicher).

Hintergrund ist der politische Kampf um die Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns Petrobras (der mit etwa 250.000 Beschäftigten größte Industriekonzern Brasiliens), der von der Temer-Regierung weiter betrieben wird. Sofort nach ihrer Amtsübernahme wurde ein neuer Petrobras-Chef ernannt (Pedro Parente), der unter anderem die Preise der Produkte an „Weltmarktpreise“ angleichen sollte. Dies führte seit Juli 2017 z. B. zu einer Erhöhung der Dieselpreise um 50 %.

Entwicklung der Auseinandersetzung

Die Bewegung der LKW-FahrerInnen begann absonderlicher Weise eigentlich als Aussperrung durch die Transportunternehmen. Auch in Brasilien hat die Art der aktuellen kapitalistischen Arbeitsteilung zu einem enormen Anstieg von Transportleistung und Konzentration zu großen Transportunternehmen mit vielen Subunternehmen geführt. Den 6 Verbänden der großen Unternehmen ging es vor allem um Druck auf die Regierung wegen deren Pläne zur Aufhebung von Steuererleichterungen. Als Verhandlungsmasse kündigten sie die Einstellung der Transportleistungen an – was einer Aussperrung gleichkam. Doch als es zu einem Abkommen am 24. Mai mit dem Großteil der Verbände zu diesem Thema kam, war die Aktion schon längst deren Kontrolle entglitten. Die selbstständigen FahrerInnen hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon über soziale Medien zu selbstorganisierten Blockadeaktionen verabredet. Insbesondere der Verband der autonomen FahrerInnen stellte die Forderungen nach Dieselpreissenkungen und der Streichung der Autobahnmaut für Leerfahrten in den Vordergrund der spontan immer mehr um sich greifenden Aktionen.

Inzwischen ist ein Kampf um die politische Führung dieser Bewegung entbrannt. Einerseits versucht die politische Rechte, Einfluss zu nehmen. Ein Kern von rechten FahrerInnen hatte schon in der Bewegung zum Sturz der PT-Regierung eine unrühmliche Rollte gespielt. Jetzt fallen sie wieder auf durch Sprüche und Transparente, die das Hinwegfegen der „korrupten PolitikerInnen“ durch eine Regierung der „Ordnung“, durch das Militär fordern. Faschistoide Gruppierungen wie die MBL versuchen, sich zu verankern, indem sie den LKW-FahrerInnen Lebensmittel und Kaffee zu den Blockadepunkten bringen, so wie sich auch der faschistische Präsidentschaftskandidat Bolsonaro öffentlich mit den FahrerInnen solidarisiert. Andererseits gab es auch linke Unterstützungsaktionen bei Blockaden und Solidarisierungen durch die Gewerkschaften anderer Bereiche. Insbesondere hat die CUT-Sektion bei Petrobras, die FUP (Föderation der ÖlarbeiterInnengewerkschaften) für den 30. Mai zu einem dreitägigen Solidaritätsstreik aufgerufen. Dieser wurde als politischer Streik kurz vor Beginn vom obersten Arbeitsgericht verboten. Als typisch legalistische Gewerkschaft hat daraufhin die FUP-Führung den Streik zunächst ausgesetzt. Dabei ist auch für viele LKW-FahrerInnen die Solidarisierung mit den ÖlarbeiterInnen das zentrale Anliegen.

Die Regierung hat auf die Blockaden mit Nervosität reagiert. Temer kündigte den Einsatz des Militärs an (daraufhin wurde er in Karikaturen als Panzerfahrer dargestellt, der feststellen muss, dass er kein Benzin mehr hat). Am 26. Mai wurde eine Senkung des Dieselpreises per staatlicher Subvention um 0,46 Real (portug.: Reais) zugestanden sowie eine monatliche Preisberatung. Auch bei der Autobahnmaut gab es Zugeständnisse. Trotzdem setzte der Großteil der LKW-FahrerInnen, denen die Zugeständnisse nicht weit genug gingen, den Streik fort. Am 30. Mai schließlich wurde der Hafen von Santos durch das Militär unter heftigen Straßenkämpfen geräumt. Die Auseinandersetzung wird sich sicherlich in den nächsten Tagen und Wochen weiter zuspitzen.

Hier die Erklärung unserer GenossInnen der Liga Socialista vom 26. Mai 2018 zu den Aufgaben der Linken.

 




Brasilien: Die Aufgaben der Linken

Erklärung der GenossInnen der Liga Socialista, 26. Mai 2018, Neue Internationale 229, Juni 2018

Diese Bewegung begann als Aussperrung der Transportunternehmen, diese verloren aber schließlich die Kontrolle über die ArbeiterInnen. Es wird heftig diskutiert, um was für eine Art „Streik“ es sich hier handelt. Es gibt auch Ablehnung der Bewegung, da sie Elemente der Anti-Dilma-Putsch-Bewegung in ihren Reihen hat, die heute eine militärische Intervention unterstützen und mit dem extrem rechten Kandidaten verbunden sind. Aber wir können nicht leugnen, dass sich die Mehrheit der FahrerInnen um eine legitime Forderung organisiert, die alle erreicht: die Senkung der hohen Treibstoffpreise.

Der Bewegung ist es effektiv gelungen, viele Bereiche der brasilianischen Ökonomie und des öffentlichen Lebens lahmzulegen und gleichzeitig große Unterstützung zu bekommen. Die Frage der Treibstoffpreise ist mit der allgemeinen Verteuerung des Alltagslebens verbunden. Der Protest verbindet sich für viele BrasilianerInnen mit der allgemeinen Unzufriedenheit über die soziale Lage: die Arbeitsmarktreformen, die Rentenreform, die Schuldenbremse bei den öffentlichen Haushalten, die Misere an Schulen und Universitäten, die hohe Arbeitslosigkeit, das dramatische Sinken der Reallöhne, die Einsparungen im Gesundheitsbereich etc. Die objektiven Gründe für die Ausweitung dieser sektoralen Aktionen zu einem Generalstreik liegen auf der Hand!

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was gerade passiert: Natürlich versuchen mehrere Sektoren der Rechten, die TransportarbeiterInnen-Bewegung zu nutzen, um ihre demagogischen Parolen gegen die „korrupten PolitikerInnen“ und für eine Militärdiktatur an die Streikenden zu bringen (bzw. das „Chaos“ zu nutzen, um das Militär zu rufen). Auf der anderen Seite hat sich der prekär beschäftigte Teil der LKW-FahrerInnen von den rechten Verbänden gelöst, akzeptierte das mit der Regierung ausgehandelte Abkommen nicht und hat begonnen, sich für die Fortsetzung der Blockaden selbst zu organisieren. Die Szenerie der Bewegung verändert sich beständig. Unternehmen und Regierung haben die Kontrolle über die Situation verloren. Die Regierung hat nun die Sicherheitskräfte zu gewaltsamen Aktionen autorisiert – Autobahnpolizei, Bundesarmee und Militärpolizei haben die Aufgabe, die Straßen zu räumen. Das heißt, jetzt beginnt die Bewegung, Repressionen zu erleiden – und kann für eine Radikalisierung in verschiedene Richtungen gewonnen werden.

Die Führung der ArbeiterInnenklasse muss jetzt dringend handeln.

Angesichts der Situation, in der wir uns befinden, muss sich die Bewegung der LKW-FahrerInnen in eine allgemeine Bewegung des Kampfes gegen die Krisenpolitik verwandeln. Auch wenn der Streik der ÖlarbeiterInnen am 30. Mai vorerst ausgesetzt wurde, ist die Vereinigung des Kampfes von LKW-FahrerInnen und Petrobras-Beschäftigten zentral für den Erfolg des Kampfes. Es ist dringend notwendig, eine Einheit aufzubauen. Der Generalstreik ist das Instrument, um Übergangsforderungen der ArbeiterInnenklasse in sich vereinigenden Kämpfen verankern zu können.

Es ist eine grundlegende Aufgabe der Führung der ArbeiterInnenklasse, insbesondere des CUT, der größten Gewerkschaft in Lateinamerika, alle Basisorganisationen aufzurufen, einen Generalstreik zu organisieren!

Wir dürfen uns nicht auf Fragen der Wahltaktik beschränken. Für uns ist es nicht genug, Temer zu stürzen und Lula zu wählen bzw. für dessen Freilassung einzutreten. Es ist notwendig, einen effektiven Kampf mit unseren Forderungen und unter unserer Flagge zu führen, um diese Angriffe abzuwehren und in die Offensive überzugehen.

Jede Bewegung der ArbeiterInnen muss als ein Funke verstanden werden, der den Kampf im ganzen Land verbreiten wird, um dieses System zu stürzen. Die Führungen der linken Parteien, der Gewerkschaftszentralen und der sozialen Bewegungen müssen die ArbeiterInnenklasse zum vereinten Kampf rufen.

Der CUT weigert sich jedoch, den Generalstreik auszurufen. Er unterstützt die Bewegung der Lkw-FahrerInnen, kritisiert die Politik von Temer/Parente bei Petrobras, fordert aber keinen Generalstreik. Ungeachtet des genauen Charakters der derzeitigen Bewegung ist sie ein Moment der Agitation und des sozialen Umbruchs, bei dem es auf das Eingreifen der großen ArbeiterInnenorganisationen ankommt.

Es ist von grundlegender Bedeutung, den durch den Streik der FernfahrerInnen eröffneten Raum zu besetzen, die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu organisieren, mit allen Sektoren zu diskutieren, die Diskussionen der ArbeiterInnen auf die Tagesordnung der Linken zu setzen! Wir müssen die vielen Kämpfe zur Abwehr der Sparmaßnahmen vereinen und ausweiten. Wir müssen Klarheit und Ruhe haben, um zu verstehen, dass das, was heute auf dem Spiel steht, alle ArbeiterInnen betrifft. Wir können uns nicht in Eitelkeiten und Rache verlieren. Es ist Zeit für den Kampf. Entweder wir handeln jetzt oder wir werden den Zug der Geschichte verpassen und eine riesige Chance, diese Putschregierung zu besiegen, die Verluste, die uns auferlegt wurden, zu überwinden und den Weg für den Aufbau einer gerechten, egalitären und demokratischen Gesellschaft, einer sozialistischen Gesellschaft zu öffnen!

  • Für die Einheit der ArbeiterInnenklasse!
  • Weg mit allen Angriffen der Putschregierung!
  • Verteidigung von Petrobras und Elektrobras, 100 % staatlich und unter Kontrolle der-ArbeiterInnen!
  • Weg mit Temer! Allgemeine Wahlen!
  • Generalstreik, jetzt!



USA: Labor Notes-Konferenz – Erfolge stellen GewerkschaftsaktivistInnen vor neue Aufgaben

Dewar (Red Flag), M. Otono (Workers Power US), Infomail 1003, 10. Mai 2018

Dreitausend GewerkschafterInnen versammelten sich vom 8. bis zum 11. April in Chicago zur zweijährlichen Konferenz von Labor Notes. Viele dort behaupteten, es sei die größte Labor-Notes-Konferenz aller Zeiten gewesen. Aber Zahlen allein können die Energie, die Vielfalt, die Militanz nicht wirklich wiedergeben.

ArbeiterInnenkämpfe

Bei der Eröffnungskundgebung am Freitag hörten wir unter anderem von den Verizon-KommunikationsarbeiterInnen, deren 40-tägiger Streik im Jahr 2016 ebenso wie die kürzlich siegreichen LehrerInnen in West Virginia ein Muster für innovative Militanz abgaben.

Ein Streikender von Verizon erinnerte sich, dass er bei eBay die „Mutter aller Megaphone“ kaufte, als er Wind davon bekam, wo die angekarrten StreikbrecherInnen residierten, und die BewohnerInnen der Hotels um 4.00 Uhr morgens mit Pfeifen, Trommeln und Stimmen aus den Betten jagte – bis schließlich alle Hotels ihre Streikbrecherkundschaft ausgeloggt hatten.

Eine Lehrerin aus West Virginia erhielt zu Recht enormen Zuspruch. Und als sie sagte: „Unsere Arbeitskraft wird ausgebeutet, unsere Arbeitskraft wird weggenommen“, schloss sich der ganze Saal an. In einem späteren Workshop erfuhren wir mehr über den Streik sowie über die Streiks in Kentucky und in Arizona. LehrerInnen aus Oklahoma waren auch da.

Alle sagten, sie hätten auf Facebook und Twitter mobilisiert, trotz der damit verbundenen Gefahren, einschließlich der Tatsache, dass die meisten Streiks illegal waren. Aber die Vorteile überwogen bei weitem die Risiken. Diese wuchsen schnell zu Massenkampagnen mit 30-40.000 TeilnehmerInnen an. Entscheidend war, dass die AnführerInnen der AktivistInnen nicht versuchten, nicht beleidigende Kommentare und Threads (Diskussionsfäden) abzuschalten, wobei die Leute mit großartigen Ideen aufwarteten und das Gefühl verbreiteten, dass „dies unsere Gewerkschaft ist“. Sie veröffentlichen Live-Videos, die zeigen, wie man Aktionen durchführt, und rekrutierten Delegierte von Arbeitsstellen.

Die erste Aktion in Kentucky war einfach: am Freitag rote Kleidung tragen. Aber es hat funktioniert. Bei der Vorbereitung auf die Arbeitsniederlegungen gaben MitarbeiterInnen Zusagen und veranstalteten „Besuche“, bei denen LehrerInnen, Eltern, Gemeinde und SchülerInnen vor der Schule protestieren, bis die Glocke ertönt, dann gehen sie alle gemeinsam hinein.

Sobald sie, sagen wir, 30.000 Zusagen erreichen, verkünden sie einen Ausstand: in West Virginia vier Bezirke, um anzufangen, dann im ganzen Staat für den neuntägigen Streik. Im ganzen Land Kentucky gab es 30 Tage nach der ersten Aktion Arbeitsniederlegungen – so können die Dinge schnell gehen.

Die „LastwagenfahrerInnen für eine Demokratische Gewerkschaften“ (TDU) waren anwesend und ihr Kandidat für den Gewerkschaftsvorsitz, dem nur 44 Stimmen zum Sturz des Amtsinhabers fehlten, sprach bei der Abschlusskundgebung. Aber er enthüllte sein Programm nicht, das heißt, was eine von der TDU-geführte Gewerkschaft tun würde, um die Macht der Bürokratie zu brechen.

Einer der Lehrer erklärte den optimistischen Ansatz von Labor Notes gut: „Die Gewerkschaft ist unser Unterstützungsnetzwerk, aber wir fahren diesen Bus.“ Das Problem ist, Busse sind sehr gut für lokale Streitigkeiten und Fahrten, aber wer fährt die Hochgeschwindigkeitslokomotive des Intercitys, damit er endlich das landesweite oder bundesstaatliche Tarifabkommen erreicht? Es ist zutreffend, dass militante Kräfte Abschlüsse zurückgewiesen haben, die von den FunktionärInnen vorgeschlagen wurden, aber sie kontrollieren nicht die Verhandlungen. Eine weitaus grundlegendere demokratische Neuorganisation der Gewerkschaften ist erforderlich, einschließlich einer nationalen Führung unter der Kontrolle der Mitgliederbasis.

Diese Schwäche in ihrer Analyse ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Kim Moody und seine MitdenkerInnen aus der britischen SWP „Basis“-Tradition der 1970er und frühen 1980er Jahre stammen, als Tony Cliff eine Theorie der Spontaneität vertrat, die die Bürokratie als eine dünne Kruste auf einer brodelnden Lava der Militanz betrachtete.

Es ist klar, dass es neben der lokalen Organisation und Militanz während des Höhepunkts der Streiks unerlässlich ist, eine nationale, gewerkschaftsübergreifende Basisbewegung aufzubauen, die alle brennenden Unzufriedenheiten entfacht und vereint. Wir brauchen einen Klassenkampf – und da braucht man Politik.

Treffen für schwarze Arbeitskräfte

Ein weiterer denkwürdiger Moment am Freitagabend war eine Videolinkansprache von Pfarrer William J. Barber II, der am fünfzigsten Jahrestag der Ermordung von Dr. Martin Luther King Jr., drei Tage zuvor, eine zweite Kampagne der Armen mit 40 Tagen gewaltfreier direkter Aktion (NVDA) und Wählerregistrierung startete. Eine Zusammenfassung verschiedener Bewegungen wie Labor Notes, Black Lives Matter und #MeToo wäre – explosiv und schwer zu überwachen.

Wir waren von der offenkundigen Armut in Chicago, auf der Westseite und sogar in der Innenstadt beeindruckt. Barber kann viele Tausende dieser Menschen mobilisieren. Aber der wichtigste Teil seiner Rede war seine Forderung nach einer von unten nach oben gerichteten Führung, nicht nach einer „Hubschrauberführung“ und nach einer „Fusionsbewegung, nicht nach einer Koalition“.

Die letzte Sitzung, „Schwarze ArbeiterInnen kämpfen um Arbeit“, setzte sich tiefer mit den Bedingungen für schwarze ArbeiterInnen auseinander. Die Gentrifizierung verdrängt schwarze Familien aus Chicago, 200.000 Menschen in den letzten 15 – 20 Jahren. Häuser in diesen, ehemals von diesen Familien bewohnten Gebieten (Chicago ist die am meisten segregierte Stadt in den USA) verkaufen sich für 400.000 – 500.000 US-Dollar. Wenn also schwarze Menschen durch die hohen Lebenshaltungskosten verdrängt werden, ziehen nicht-schwarze Familien ein. Die durchschnittliche weiße Familie in Chicago ist zehnmal reicher (170.000 USD) als die durchschnittliche schwarze Familie (17.000 USD), wobei Wohneigentum eine entscheidende Rolle spielt.

Fünfzig Schulen haben in West- und Südchicago geschlossen, und der Anteil der schwarzen LehrerInnen wurde von 40 auf 20 % halbiert. Und das in einer Stadt, die ehedem zu einem Drittel von Schwarzen bewohnt war. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor gibt es Diskriminierungen bei Beschäftigung, Beförderung und Gehältern. Die schwarzen Caucusse (gesonderte Treffen) in den Gewerkschaften beleben sich dadurch wieder.

Offensichtlich sprachen sich einige TeilnehmerInnen, die sich frustriert und verraten fühlten, weil die Gewerkschaften nicht bereit waren, alles zu tun, um diesen Rückgang der Rechte der schwarzen ArbeiterInnen, ja ihre Verarmung, zu bekämpfen, gegen jedes Bündnis mit den Weißen aus, zumindest nicht, bis sie einen Kampf gegen Diskriminierung und Vorurteile gezeigt hätten. Auf der anderen Seite winkte eine Frau mit dem Arm durch den Raum und sprach: „Wie kannst du sagen, dass weiße Menschen keine Verbündeten sein können? Sieh dich um, hier sind weiße Leute“.

Diese Selbstbeschränkung durch SeparatistInnen ist potentiell schädlich für die Bewegung, egal wie man mit ihren Gefühlen sympathisieren kann. Bündnisse mit der weißen ArbeiterInnenklasse, also nicht mit der Demokratischen Partei, können die Bewegung erweitern und vertiefen und gleichzeitig die RassistInnen am Arbeitsplatz und in der Wohngemeinde schwächen. Sie verweisen auch auf einen gemeinsamen Feind, den Kapitalismus, der letztlich der Hauptbegünstigte des Rassismus ist, der die ArbeiterInnenklasse spaltet und unsere Ausbeutung vertieft.

Ein weiteres zentrales Thema im Raum, trotz aller Diskussionen über militante Taktiken zur Organisation und zum Gewinn von Streiks, war die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie. Dies ist die kastenähnliche Schicht von FunktionärInnen, die die Gewerkschaften regieren und großzügige ManagerInnengehälter als Gegenleistung für ausgehandelte Tarifvereinbarungen erhalten. Ihre Rolle bei der Vermeidung, der Nichtausschöpfung von Kampfkraft oder dem Ausverkauf von Streiks, ihre Verantwortung für den katastrophalen Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaft, insbesondere im privaten Sektor, wurde kaum und auch dann nur am Rande erwähnt.

Politik

Workshops, die explizit der Politik gewidmet waren, gab es nur wenige. Einer zu „Medicare für alle“ war eine Geschichte des endlosen Lobbyismus mit der Demokratischen Partei und auch ausgeweitet auf die Republikanische Partei; dieser kulminierte in einem Gesetzesentwurf, der zu einer Verordnung wurde, aber ohne Änderung des Gesetzes!

Der Workshop der „Democratic Socialists of America“ (DSA) war vergleichsweise klein. Ein anderer, „Was ist Sozialismus?“, machte seine Ankündigung wahr und die TeilnehmerInnen mit den grundlegenden sozialistischen Zielen, Konzepten und Taktiken vertraut, ohne jedoch die Notwendigkeit einer Partei zu erwähnen, geschweige denn die Kluft zwischen Revolution und Reform vertiefend zu behandeln.

Als nächstes fand ein Treffen über die Corbyn-Bewegung statt, das gut besucht war. Neben Jeremy Dewar, der von der Gewerkschaft Unison in Lambeth, einem Londoner Stadtteil, delegiert war, sprachen Charlotte Bence (eine Organisatorin von Unite) und Phil Clarke (Brighton District Labour Party) auf dem Podium. Phil, ein Mitglied der Linken, der schließlich die Kontrolle über Brighton gewann, erzählte eine lebhafte Geschichte, in der es um die Suspendierung von Einzelpersonen und einen massiven Zustrom in die Partei ging. Alle unsere Vorträge wurden von den rund 100 TeilnehmerInnen gut angenommen.

Dewar sah Anzeichen dafür, dass sich die amerikanische ArbeiterInnenklasse ihrer eigenen Unterdrückung bewusst wird und sich für Lösungen öffnet, die über „Verhandlung“ und „Schlichtung“ hinausgehen und sich für militantere Aktionen wie Streiks öffnen. Er sah eine ArbeiterInnenbewegung, die sich für die Unterstützung der Gemeinschaft einsetzt und darüber nachdenkt, wie man die Opfer der sozialen Unterdrückung unterstützen könnte, von denen viele Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien sind. Er habe gesehen, wie die Bewegungen für soziale Gerechtigkeit erkannt haben, dass gewerkschaftliches Handeln ein Weg ist, um ihre Unterdrückungsbedingungen zu verbessern. Unsere Aufgabe als SozialistInnen ist es, weiterhin auf diese militanteren Aktionen zu drängen, um diese Kämpfe zu einem übergreifenden Klassenkampf gegen das System zu verbinden, das jede dieser Unterdrückungen kontrolliert und aus ihnen Vorteile zieht, entweder direkt oder indirekt.

Die GesinnungsgenossInnen von Red Flag in den USA, Workers Power, glauben, dass die Voraussetzungen für eine historische Wiederbelebung des militanten Massengewerkschaftswesens gegeben sind. Sie mag wohl selbst schon im Gange sein. Dies muss in breite Bewegungen aller Kräfte eingebettet sein, die Trump wirklich bekämpfen. Dazu gehören Frauen, die gegen die republikanischen Angriffe auf Abtreibungsrechte kämpfen, ImmigrantInnen, die DREAMers (Kampf um Anwendung des Development, Relief and Education for Alien Minors Act der Obama-Administration) usw., gegen Verhaftung und Deportation, schwarze Jugendliche, die gegen Polizeimorde, Massenhaft und Entrechtung kämpfen. Lokale Aktionsräte, die militante GewerkschafterInnen vor Ort und Gemeindekampagnen vertreten, können sich gegenseitig massiv unterstützen, indem sie ihre Kämpfe koordinieren. Aber letztendlich ist die große Frage die nach der Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenpartei, einer sozialistischen Partei.

Einige Schlussfolgerungen

Die Labor-Notes-Konferenz 2018, vor allem die TeilnehmerInnen an der Basis, waren sicherlich ein Zeugnis für die reiche Ader der Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, die derzeit durch die amerikanische Gesellschaft laufen. Jüngstes Beispiel sind 50.000 rote T-Shirts tragende LehrerInnen, die Phoenix (Arizona) am 27. April zum Stillstand brachten.

Aber mit solchen großartigen Mobilisierungen kommen neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Wie können wir die Bewegung auf eine nationale Ebene bringen, wie können wir die Erfolgschancen erhöhen? Was sind die nächsten Schritte? Wie können wir aus quantitativen Verbesserungen einen qualitativen Sprung machen? Welche Charta der Gewerkschaftsrechte muss auf die politische Tagesordnung gesetzt werden?

Labor Notes sollte in Verbindung mit Gewerkschaftsbasis-Kampagnen, wie der TDU oder der Chicago Teachers’ Alliance, und militanten lokalen Gliederungen und Verbänden wie den LehrerInnen oder der Communications Workers of America (CWA) einen Arbeits- und Abstimmungskongress einberufen, um eine Basisbewegung zu bilden.

Was sollte eine solche Bewegung tun? Nun, sie sollte die Führung übernehmen, und sich nicht nur mit der Förderung des militanten Sozialgemeinde- und Gewerkschaftswesens, der Organisation von unten nach oben, der Missachtung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze und der Rechenschaftspflicht von Gewerkschaftsbürokraten befassen. Ihre globale Aufgabe wäre die Kritik und das Lernen aus 40 Jahren Gewerkschaftsverfall, aber auch dem Kampf dagegen. Sie sollte darauf abzielen, ein Aktionsprogramm für die Wiedergeburt der Gewerkschaften zu schaffen, insbesondere im privaten Sektor, von dem sie so gut wie ausgeschlossen sind.

Dies sollte nicht nur die Verbrechen des Klassenfeindes, sondern auch die der Gewerkschaftsbürokratie geißeln und für Maßnahmen zur Auflösung ihrer Funktionen in die Basis kämpfen: durch die Wahl aller FunktionärInnen, denen der Durchschnittslohn eines/r Facharbeiter/In/s gezahlt werden sollte; alle Entscheidungen in Streitfällen und Verhandlungen sollen von Massenversammlungen und direkten Vertretungen der KämpferInnen getroffen werden; jährliche Wahlen und das Recht auf Rückruf aller FunktionärInnen.

Labor Notes und die verschiedenen Formationen der militanten Minderheit der Gewerkschaften, die aus lokalen Kämpfen hervorgehen, müssen sich an die Spitze des Kampfes für eine ArbeiterInnenpartei stellen. Wenn wir eine sozialistische Partei und nicht die verschiedenen Formen des Populismus wiederholen wollen, denen schließlich die Ideen oder die Energie ausgehen und die am Ende in die bürgerliche Demokratische Partei zurückkehren, dann kommt der organisierten ArbeiterInnenbewegung eine entscheidende Rolle zu.

Die Bedingungen für den Aufbau einer solchen Partei und einer Basisbewegung in den Gewerkschaften sind reif, ja überreif, das heißt, entscheidende Momente, zum Beispiel unmittelbar nach der Bewerbung von Bernie Sanders im Präsidentschaftswahlkampf, sind bereits verpasst worden.

Organisierte RevolutionärInnen werden auch in jeder Phase des Kampfes dringend gebraucht, auch in dem Anfangsstadium, in dem wir uns jetzt befinden. Workers Power USA kämpft mit unseren internationalen GenossInnen in der Liga für die Fünfte Internationale für diese Ideen in der Bewegung. Wenn ihr mit uns einverstanden seid, setzt euch mit uns in Verbindung!

 




Das Elend der deutschen Sozialdemokratie – Große Koalition ohne Ende?

Brief eines SPD-Mitgliedes und Antwort der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1002

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Briefwechsel zwischen einem SPD-Genossen und der Gruppe ArbeiterInnenmacht. Da die darin aufgeworfenen und diskutierten Fragen (Große Koalition, Zustand und Charakter der Sozialdemokratie usw.) für die Linke und die ArbeiterInnenbewegung insgesamt von Interesse sind, haben wir uns entschlossen, die Texte zu publizieren. Wir danken dem Genossen (Name der Redaktion bekannt) für die Zustimmung zur Veröffentlichung der Korrespondenz.

1. Brief eines SPD-Mitgliedes

Der hier vorliegende Text soll den Versuch einer Art Replik auf die von Martin Suchanek formulierte Stellungnahme der GAM mit dem Titel „Große Koalition gerettet – SPD kaputt?“ darstellen. Im Grunde genommen könnte die Antwort recht kurz und einfach ausfallen – nämlich in der Hinsicht, dass dem Autor leider beo vielen Aussagen zugestimmt werden kann, manche davon jedoch überraschenderweise die Dinge optimistischer einschätzen als sie möglicherweise sind – und in der Quintessenz noch eine erhebliche Menge an Diskussionsbedarf offenbaren.

 

Die Zahlen und ihre Auslegung

Richtig ist natürlich die Feststellung, dass vor allem die Befürworter der Großen Koalition schon gleich nach der Bekanntgabe des Auszählungsergebnisses mit Stolz die angeblich hohe Zustimmungsrate von 66,02 % betont haben, von der sie die Legitimation ableiten, sich erneut – wie von ihnen gewollt – auf eine Bundesregierung mit CDU/CSU einzulassen. Diese Mehrheit ergibt sich freilich nur aus dem Verhältnis aus Ja-Stimmen zu den abgegebenen gültigen Stimmen. Tatsächlich mit gültigen Stimmen an der Entscheidung teilgenommen haben aber nur knapp 82 % der Mitglieder. Legt man die Gesamtheit aller stimmberechtigten Mitglieder zu Grunde, verringert sich die Zustimmungsquote auf gerade einmal 51,7 %. Das ist zwar immer noch eine Mehrheit, sie fällt aber ganz erheblich geringer aus als die „offizielle“ – und sie zeigt, dass fast die Hälfte der Mitglieder – nämlich 48,3 % – nicht für die GroKo gestimmt haben.

Dieser Umstand wir meiner Ansicht nach in der allgemeinen Bewertung des Ergebnisses viel zu wenig gewürdigt. Dabei sollte mit berücksichtigt werden, mit welch einem enormen Aufwand die Befürworter um den Parteivorstand versucht haben, die Mitglieder von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen oder notfalls auch nur zu überreden und mit „Ja“ zu stimmen. Es spricht durchaus einiges dafür, dass viele von denen, die sich nicht an der Abstimmung beteiligt haben, einer GroKo kritisch gegenüber gestanden haben – und die Abstimmung boykottiert haben, weil sie glaubten, der Vorstand werde „seine GroKo“ doch sowieso schon irgendwie bekommen.

Bewertet man die Zustimmung auf der Basis der Gesamtheit aller stimmberechtigten Mitglieder, schrumpft die so viel beschworene große Zustimmung doch recht deutlich zusammen. Von einem überwältigenden, geradezu haushohen Sieg der GroKo-Befürworter innerhalb der SPD wird man vor diesem Hintergrund kaum sprechen können – und das gilt natürlich auch für die Stimmung in weiten Teilen der SPD, die die jetzt anstehende GroKo zwar hinnimmt, ihr aber alles andere als himmelhoch jauchzende Begeisterung entgegen zu bringen.

Gewinner und Verlierer

Tatsächlich hat nämlich nicht nur die ArbeiterInnenklasse ausgesprochen wenig von den folgenden vier Jahren Regierungsarbeit zu erwarten. Am ehesten können sich in dieser Hinsicht noch diejenigen freuen, die für sich selbst den direktesten Profit daraus ziehen. Gemeint sind damit die zukünftigen MinisterInnen und StaatssekretärInnen, von denen ein großer Teil schon der alten Regierung angehörte – sie verdienen im Grunde genommen nicht schlecht und können zudem weitermachen wie bisher.

Auch die Abgeordneten der AfD im Bundestag haben Grund zur Freude. Sie werden so zur stärksten Oppositionspartei im Hause und dürfen die Oppositionsführung stellen. Und sich darauf freuen, aus privilegierter Position heraus die Regierungspolitik medienwirksam unter verbales Trommelfeuer nehmen zu dürfen. Über die Folgen, die ihnen die damit verbundene, von den Medien entgegen gebrachte Aufwertung bringen wird, soll an dieser Stelle nicht weiter spekuliert werden. Sicher ist nur: Wir in Schleswig-Holstein werden dies als erste und in geballter Form zu spüren bekommen, wenn am 6.Mai 2018 zwischen Nord und Ostsee die Zusammensetzung unserer Rathäuser, Kreistage und Gemeindeversammlungen neu bestimmt wird.

Ebenfalls profitieren werden von der Pro-GroKo-Entscheidung alle ZeitgenossInnen, die ein Interesse daran haben, dass politisch und an ihren Vermögensverhältnissen alles so bleibt, wie es bisher gewesen ist, oder die für sich sogar spürbare Verbesserungen erhoffen können. Nicht dazu gehören dagegen die weitaus meisten Personen, die nicht das Glück haben, der schmalen Schicht der Besser- und vor allem Bestverdiener anzugehören. Die finanziellen Verbesserungen, die sich aus der GroKo-Vereinbarung und dem sich davon abgeleiteten Regierungsprogramm für die weitaus meisten ergeben werden, dürften erheblich magerer ausfallen als von den Protagonisten der GroKo in Aussicht gestellt wird. Wer das bezweifelt, mag sich nur ein paar ganz einfache Beispiele vor Augen führen, wo dies jetzt schon abgesehen werden kann. So werden die geringen Zuwächse beim Kindergeld schon durch die nächste Erhöhung der Beiträge zu den Krankenkassen bzw. zur Pflegeversicherung wieder aufgezehrt, und auch von den öffentlichen Zuschüssen zu den Kita-Gebühren wird letztendlich nicht viel übrig bleiben, wenn die chronisch klammen Kommunen prompt die Gebühren für die öffentlichen Kindergärten heraufsetzen werden. Nicht nur die verbalen Gift-und-Galle-Absonderungen des designierten Gesundheitsministers Spahn belegen, dass die BezieherInnen von Leistungen nach dem SGB II außer sehr geringfügigen Erhöhungen der Regelsätze kaum weitere soziale Verbesserungen zu erwarten haben; insbesondere die zahlreichen gesetzlich verordneten Hartherzigkeiten und Ungerechtigkeiten in der Anrechnung von Einkommen und Vermögen der Bedarfsgemeinschaften werden weiterhin bestehen bleiben. Und die durch die Einstellung neuen Pflegepersonals in den Krankenhäusern und Pflegeheimen zu erwartenden erheblichen Kostensteigerungen werden zum weitaus größten Teil von den Patienten zu tragen sein, zumal weder an der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens noch an den von der Pflegestufe abhängigen staatlichen Zuschüssen kaum signifikante, die Patienten entlastende Verbesserungen zu erwarten sind.

Bis hierher gilt erst einmal festzustellen: So weit, so schlecht. Aber so, wie die Spitze eines Eisberges nur seinen geringsten Teil darstellt, soll auch in der hier behandelten Hinsicht das eigentlich Dramatische erst noch kommen.

Zu den Hauptverlierern der neuen GroKo wird darüber hinaus sehr wahrscheinlich auch zumindest eine der beteiligten Akteure selbst gehören. Während man eine solche Gefahr – mit einem gewissen Fragezeichen – durchaus auch für die Union prognostizieren kann, stellt sie sich für die SPD noch ungleich dramatischer dar. Mittel- bis langfristig könnte die Partei sogar in einem Maße Schaden erleiden, das für sie existenzbedrohend werden kann.

SPD: Regieren oder verändern? Oder beides?

Vollkommen zu Recht haben die Kritiker einer GroKo hervorgehoben, dass die in den zurückliegenden Jahren erlittenen dramatischen Wahlverluste der SPD nicht von ungefähr gekommen sind, sondern eine Folge eigener Fehler gewesen sind. Weil sich die Partei immer mehr von ihrem einstigen Markenkern – als ursprünglich einmal politischer Selbsthilfeorganisation der gesellschaftlich Benachteiligten sowie der wirtschaftlich und materiell Pauperisierten – entfernt hat, sehen sich immer weniger Personen aus ihrer eigentlichen Zielgruppe von ihr noch vertreten. Entsprechend frustriert wenden sich die Menschen vonb ihr ab – und werden zu Nicht- oder im schlimmeren Falle sogar zu AfD-Wählern. Die so erlittenen Stimmenverluste in Millionenhöhe waren letztendlich so groß, dass sie auch durch gelegentliche Stimmengewinne aus den Kreisen von eigentlich Grün- oder Unionswählern bei weitem nicht ausgeglichen werden konnten.

Diese Defizite machen die Notwendigkeit einer inhaltlich-programmatischen Neuausrichtung der SPD nicht nur wichtig, sondern wahrscheinlich sogar überlebensnotwendig. Erkannt haben das die Ablehner der GroKo um die Jusos, die diese Frage zu Recht in das Zentrum ihrer Argumentation gerückt haben.

Neuausrichtung – aber wie?

Interessanterweise wurde dieses Erfordernis auch von den meisten GroKo-Befürwortern durchaus geteilt. Allerdings erfolgte dies stets mit dem Einwand, eine solche Erneuerung könne nicht nur in der Opposition erfolgen, sondern ließe sich ohne Weiteres auch in Übereinstimmung mit einer gleichzeitigen Mitwirkung in der Bundesregierung realisieren lassen.

Diese Argumentation der Pro-GroKo-Vertreter scheint bei vielen Mitgliedern verfangen zu haben. Abgesehen davon, dass dies in Verbindung mit einer bereits genannten strategisch angelegten systematischen Benachteiligung der Kritiker erfolgte, könnte sich diese Haltung als verheerend erweisen.

Dafür sprechen schon zwei sehr gewichtige Gründe.

Eigentlich müsste jedem bewusst sein, dass ein solcher Prozess eine gewaltige politische Kraftanstrengung bedeutet, die nicht nur einen langen Atem benötigt, sondern auch und vor allem die Motivation einer sehr hohen Anzahl aktiv beteiligter Mitglieder der Partei erfordert. Jedem, dem noch einigermaßen die sich über Monate und Jahre hinziehende Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms (auf der Basis des damaligen Irseer Entwurfs) in Erinnerung geblieben ist, dürfte sich darüber im Klaren sein, dass dies nur gelingen kann, wenn die führenden Vertreter der Partei nicht in eine auf Bundesebene agierende Regierungskoalition eingebunden ist, in der weitere Konflikte vorprogrammiert sind – die jetzt bevorstehehende GroKo dürfte diese unbedingt erforderliche Voraussetzung wohl kaum erfüllen können.

Der zweite Aspekt ist, dass die von den GroKo-Befürwortern vorgesehene Neuausrichtung und die von den Kritikern anvisierten Veränderungen nur auf den ersten Blick in die gleiche Richtung gehen. Tatsächlich haben sie miteinander kaum mehr als die Bezeichnung „Neuausrichtung“ oder „Neuorientierung“ gemein:

Die – bekanntermaßen überwiegend aus dem linkeren Mitgliederlager der SPD kommenden – GroKo-KritikerInnen verstehen darunter eine programmatisch-inhaltliche Kehrtwende nach Links, die zudem von einer allgemeinen Verjüngung und Verweiblichung der Partei begleitet wird. Beide Aspekte sind eng miteinander verbunden, denn eine entsprechende inhaltliche Erneuerung muss auch durch glaubwürdige politische VertreterInnen verkörpert werden – und ganz allgemein gilt nun einmal, dass unter SPD-Mitgliedern der Anteil links-progressiv eingestellter Personen bei den Jüngeren höher als unter den Älteren und bei den Frauen etwas höher als bei den Männern ist.

Die Befürworter der GroKo dagegen halten eine Neuausrichtung schon dann gegeben, wenn mehr Frauen und junge Menschen in die Politik einbezogen werden – an den inhaltlichen Positionen sieht man dagegen kaum Handlungs- bzw. Korrekturbedarf. Mit anderen Worten: Die von ihnen angestrebte Neuausrichtung soll sich so weit wie möglich auf eher kosmetische Veränderungen beschränken, die kaum Auswirkungen auf die inhaltliche Ausrichtung haben.

Vor diesem Hintergrund sehen sich die GroKo-Apologeten durch die jetzt erfolgte personelle Besetzung der Bundesregierung bzw. ihres sozialdemokratischen Anteils mehr als bestätigt: Es ist absolut unstrittig, dass die sechsköpfige SPD-Mann-/Frauschaft insgesamt weiblicher und auch jünger ausfällt als die ihrer Vorgängerinnen.

Eine tatsächliche inhaltlich-programmatische Neuorientierung, die mit entsprechenden Reformen an Haupt und Gliedern verbunden wäre, ist unter diesen Umständen allerdings gegenwärtig – auch in Ansätzen – kaum erkennbar. Und die Personen, die für die SPD als MinisterInnen benannt worden sind, lassen tatsächlich wenig Hoffnung aufkommen, dass sie für Veränderungen im Sinne der GroKo-Kritiker stehen würden. Das gilt in besonderem Maße für den Hamburger Olaf Scholz und den Niedersachsen Hubertus Heil, die sich beide bisher weder als Verfechter einer die Reichen und Superreichen stärker belastenden Steuerreform noch als Streiter für signifikante soziale Verbesserungen an der gesetzlichen Behandlung langzeitarbeitsloser LeistungsbezieherInnen einen Namen gemacht haben.

Vor diesem Hintergrund ist der – etwas zugespitzten – Aussage Martin Suchaneks nur zuzustimmen, der das Versprechen einer „gemeinsamen Erneuerung“ unter den Vorzeichen einer Großen Koalition als Betrug oder bestenfalls eine Täuschung entlarvt – und auch für das weitere Mitmachen der Mitglieder an der Basis nur wenig freundliche Worte finden kann. Die von ihm geforderte Opposition und der im gleichen Atemzug postulierte Bruch mit dieser Politik wirkt insofern konsequent – geht allerdings an einem gewichtigen Faktor, nämlich der sozialdemokratischen Identität der Parteimitglieder vorbei. Das ist ihm keineswegs vorzuwerfen, denn er ist ja schließlich weder Mitglied der SPD noch mit deren alltäglicher Arbeit vertraut.

Bleibt die Frage: Was tun?

Die geäußerte Vorstellung, die Jusos zu einem innerparteilichen Antriebsmotor für inhaltliche und programmatische Erneuerung der SPD werden zu lassen, zielt allerdings durchaus in die richtige Richtung – im Gegenteil wäre eher zu fragen, wer diese wichtige Rolle außer dem Jugendverband übernehmen könnte. Das scheint im übrigen auch der Parteiführung zu schwanen – anders kann man die Spekulationen, den Juso-Chef Kevin Kühnert zukünftig stärker „in die Verantwortung mit einbeziehen“ zu wollen, kaum verstehen. Erfreulicherweise hat der Genosse früh insofern reagiert, sich nicht kaufen lassen zu wollen.

Problematischer wird der Prozess wahrscheinlich aber in den Gremien der SPD – in den Tausenden Ortsvereinen, Kreisen und Unterbezirken, Bezirks- und Landesverbänden ist die Neigung nicht allzu stark ausgeprägt, sich einem solchen Veränderungsprozess über einen langen Zeitraum zu stellen – nur allzu sehr ist man dort traditionellerweise darauf fixiert, über die Bordsteinkanten und Ampelphasen im jeweiligen Aktionsgebiet zu diskutieren (was zudem bei den jeweiligen Stadtteil- AnwohnerInnen häufig als „bürgernäher“ empfunden wird). Und – auch in dieser Hinsicht kann ich dem Martin Suchanek noch einmal zustimmen – nicht zuletzt trifft es natürlich zu, dass auch das beste, unter langwierigen und nicht selten auch schmerzhaften Geburtswehen zur Welt gebrachte antikapitalistische Programm einer im Kern nach wie vor reformistischen Partei allein nicht hilft, sich auf Dauer am Markt der politischen Beliebigkeiten behaupten zu können – das hat man leider nur allzu bitter beim „Berliner Programm“ erleben müssen, das aus dem „Irseer Entwurf“ entstanden und nur allzu schnell wieder von der politischen Bühne verschwunden ist, weil Bevölkerung und WählerInnen nach mehr „Konkretem“ verlangten.

Die Idee einer diskussionsorientierten Vernetzung mit außerhalb der SPD stehenden linken Gruppen und eventuell sogar erscheint vor diesem Hintergrund attraktiv. Erfahrungen aus der hohen Zeit der Friedensbewegung in den frühen Achtzigern lassen allerdings vor einer realen, praktischen Umsetzung ein wenig Skepsis im Raum stehen. Nicht zuletzt die verschiedenen politischen Partikularinteressen unterschiedlicher Akteure können eine konstruktive Zusammenarbeit erheblich behindern und sogar vereiteln, selbst wenn dies von keinem/keiner der beteiligten Akteure gewollt wird – gerade auf der Linken ist das traditionelle Misstrauen gegeneinander tief in den roten Seelen verwurzelt. Das schließt gelegentliche gedankliche Austausche nicht aus, denn neue sinnvolle Ideen kommen bekanntlich häufig von außen. Die Vorarbeit muss allerdings aus der SPD selbst erst einmal geleistet werden – indem Jusos, Vertreter der parlamentarischen Linken und progressiver Ortsvereine und Gremien gemeinsam politische Zielvorstellungen konkretisieren, sie zu einer Art Programm bündeln und mit anderen, grundsätzlich dafür offenen linken Kräften und Strömungen in Form themenbezogener Workshops zur Diskussion stellen.

Mittelfristiges Ziel einer solchen politischen Strategie müsste eine schließliche Überwindung der aktuellen GroKo sowie ein nachhaltiges politisches Zurückdrängen der konservativen, restaurativen und reaktionären Kräfte sein. Davon könnten letztendlich alle Kräfte gewinnen, denen daran gelegen ist, die Lebensumstände der vielfach beschworenen einfachen Bevölkerung signifikant und nachhaltig zu verbessern. Langfristige Optionen dagegen lassen sich in Anbetracht der immer dynamischer wendenden globalen Veränderungen in zunehmendem Maße schwer bestimmen. Auch diese Erkenntnis zu akzeptieren ist für linke, a priori auf Veränderung drängende gesellschaftliche Kräfte ausgesprochen schwierig – und noch schwerer ist es, diese Einsicht in konkrete politische Vorstellungen reifen zu lassen. Letztere können sich vermutlich erst im Laufe der verschiedenen Diskussionsprozesse entwickeln lassen.

Auf höherer politische Ebene schließt dies natürlich eine verstärkte transnationale Zusammenarbeit mit fortschrittlichen Parteien und Strömungen innerhalb der Europäischen Union mit ein.

 

2. Antwort der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2018

Lieber Genosse!

Vielen Dank für Deinen Leserbrief zu unserem Artikel „Große Koalition gerettet – SPD kaputt?“ („Das Elend der deutschen Sozialdemokratie – Große Koalition ohne Ende?“).

Entschuldige, dass unsere Antwort leider etwas länger auf sich warten ließ. Wir hoffen, Du findest nach dem Parteitag Zeit, den Austausch fortzusetzen.

Vorweg vielen Dank für die Angaben zu den Zahlen beim Mitgliederentscheid. Wir wollen uns jedoch nicht länger damit aufhalten, sondern werden uns vielmehr auf einen anderen Punkt Deines Briefes konzentrieren – nämlich die Frage, wie überhaupt eine Opposition formiert werden kann bzw. welche Faktoren dem entgegenstehen. Du führst „die sozialdemokratische Identität der Parteimitglieder“ als Hindernis für die Veränderung der Partei an, wenn wir Dich richtig verstehen, sogar als das zentrale Hindernis. Daran liegt nicht nur ein Stück Ironie, sondern wohl auch ein wahrer Kern.

Der innere Zustand der deutschen Sozialdemokratie

Auch wenn wir nicht innerhalb der SPD arbeiten und sie daher von innen nicht kennen, so verwundert uns das eigentlich nicht. Es entspricht vielmehr dem, was wir von der Mitgliedschaft einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei erwarten würden. Wir verwenden diesen Begriff, um die innere Widersprüchlichkeit der SPD zu fassen. Ähnlich wie die Linke (und im Gegensatz zur Union, AfD, FDP und auch den Grünen) stützt sich die SPD sozial und historisch („organisch“) auf die Massenorganisationen der organisierten ArbeiterInnenbewegung.

Hinsichtlich des gesellschaftlichen Systems, das die SPD verteidigt, also – um in marxistischen Begriffen zu sprechen – hinsichtlich ihres Klassencharakters, ist sie eine bürgerliche Partei. Aber sie ist eine „besondere“ bürgerliche Partei, weil sie sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt. Dieser Widerspruch prägt sie auch – und er macht es daher auch möglich, dass die Mitgliedschaft und die AnhängerInnen der Partei mit der Führung (und deren bürgerlicher Politik) nach links brechen können.

Dem steht aber vieles entgegen – nämlich nicht zuletzt auch die Geschichte und Identität der Sozialdemokratie selbst. Führung/Vorstand, FunktionärInnen wie Mitglieder teilen letztlich beide eine mehr oder minder reformistische, gradualistische Vorstellung von Umgestaltung der Gesellschaft (sofern sie nicht mit dem Dritten Weg beim Neoliberalismus light angekommen sind). Die Vorstellung, mit der herrschenden Klasse (oder deren VertreterInnen) zum Wohl aller zusammenarbeiten zu können, prägt die Kommunalpolitik (die Ampel- und Bordsteinkanten) ebenso wie die GroKo.

Gegenüber den „Tagesaufgaben“ bleibt das strategische Ziel (eine andere, sozialistische Gesellschaft) zurück und erscheint auch „abstrakt“, losgelöst von den „konkreten“ Fragen und „realistischen Verbesserungen“.

Krisen wie die aktuelle bergen auch die Möglichkeit in sich, den inneren Widerspruch der Sozialdemokratie offen hervortreten zu lassen – dazu braucht es aber eine politische Formierung und Aktionsangebote der „Opposition“, d. h. ein Programm, Strukturen und konkrete Aktionen gegen die Zumutungen der GroKo.

Wir werden uns weiter unten noch genauer damit beschäftigen.

Für RevolutionärInnen außerhalb der SPD ist das natürlich auch deshalb von größter Bedeutung, weil der Aufbau einer neuen kommunistischen Partei ohne die Gewinnung (zunächst) der fortschrittlichsten Mitglieder von Linkspartei und SPD erfolglos bleiben wird, eine proletarische Revolution ohne die Gewinnung der Mehrheit innerhalb der organisierten ArbeiterInnenbewegung ebenso.

Allein von daher sind uns Insiderinformationen eines langjährigen SPD-Mitglieds sehr viel wert, wie Du sie mit genauen Zahlen über die Urabstimmung geliefert hast. Wir sollten unbedingt weiter in Verbindung bleiben und bitten Dich herzlich, uns weiterhin über den inneren Zustand der Partei auf dem Laufenden zu halten. Besonders interessiert uns natürlich der Zustand der linken Opposition. So versuchen wir, Juso-Veranstaltungen zu besuchen, wenn wir denn zugelassen werden. Wir wissen, dass es außer den Jusos eine Initiative „Progressive Soziale Plattform“ um den Dortmunder MdB Bülow gibt. Wie aber sieht es in den Ortsvereinen und sonstigen Gliederungen der SPD aus? Wie in den Parlamentsfraktionen auf örtlicher, Kreis-, Landes- und Bundesebene? Vor allem würde uns interessieren, ob es eine oppositionelle Strömung in den Gewerkschaften gibt. Spielt die AfA eine solche Rolle? Besonders wichtig scheint uns auch zu sein, ob zwischen diversen Oppositionsgruppen Vernetzungen existieren, also z. B. zwischen Jusos und PSP? Gibt es überhaupt ein Konzept über Anträge an den Parteitag am 22. April hinaus? Wir würden uns sehr auf Deine Antwort im Lichte der Ergebnisse dieses Parteitags freuen.

Programmatische Erneuerung nach links – aber wie?

Nach Deiner Einschätzung nehmen weite Teile der Mitgliedschaft die GroKo zwar hin, bringen ihr jedoch alles andere als himmelhoch jauchzende Begeisterung entgegen. Du betonst hierbei zu Recht die eigenen Fehler, sich vom SPD-Markenkern entfernt zu haben. Ebenso richtig finden wir dein Insistieren auf der Notwendigkeit einer inhaltlich-programmatischen Neuausrichtung im Gegensatz zu dem, was die GroKo-BefürworterInnen darunter verstehen: lediglich mehr Frauen und jüngeres Personal in den Parteigremien.

Du schreibst, dass eine Regierungsbeteiligung einer programmatischen Rückbesinnung auf den Markenkern hinderlich sei. Das finden wir zu kurz gegriffen. Die SPD August Bebels und Karl Kautskys verurteilte Regierungskoalitionen mit bürgerlichen Parteien prinzipiell oder auch den Eintritt vereinzelter SozialdemokratInnen in eine bürgerliche Regierung noch völlig korrekt als Millerandismus, als Verrat an marxistischen Grundsätzen. Aber sie tat dies selbst auf Grundlage einer passiven Vorstellung von sozialer Umwälzung. Die Partei müsse nur abwarten, bis die herrschende Klasse abgewirtschaftet hätte, und würde dann aufgrund ihres zahlenmäßigen Gewichts übernehmen. Die „Revolution“ wurde mehr oder weniger offen als parlamentarischer, gradueller Übergang gedacht – nicht als Kampf zweier Klassen auf Leben und Tod.

Doch es steckt noch eine zweite Achillesferse hinter Deiner Argumentation. Du schreibst: „…, dass dies nur gelingen kann, wenn die führenden Vertreter der Partei nicht in eine auf Bundesebene agierende Regierungskoalition eingebunden…[sind], in der weitere Konflikte vorprogrammiert sind.“

Wieso eigentlich nur auf Bundesebene? Warum v. a. aber erhoffst Du Dir die entscheidende Initiative dazu ausgerechnet von den „führenden Vertreter“[Innen]? Bedeutet das nicht, das Werk, zu dem sich die Opposition erst aufraffen soll, in die Hände der GroKo-EnthusiastInnen und –ProfiteurInnen zu legen? Bedeutet das nicht, es auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben? Bedeutet das v. a. nicht, der sog. Opposition nur mit dem Segen der Parteiführung zu „gestatten“, an die programmatische Erneuerung heranzugehen?

Dahinter steckt unserer Meinung nach die Angst vor einem Bruch mit der Führung, evtl. sogar mit der Partei, vor einem zu frühzeitigen Start im Programmwettlauf ohne den Schreckschuss des Schiedsrichters Parteiführung. Eine solche Opposition wird enden wie der Schulzeffekt!

Unserer Auffassung nach ist ein Bruch in der SPD zwischen der rechten Parteiführung und einer linken Opposition unvermeidlich – nur so kann eine „Erneuerung“ gelingen, die diesen Namen auch verdient.

Der Kampf um die Erneuerung der SPD und die Notwendigkeiten des Klassenkampfes

Dazu muss sich die linke Opposition in der SPD organisieren, d. h. nicht nur vernetzen, sondern eine Bilanz der SPD-Politik ziehen, sich auf einen Programmentwurf einigen sowie der Mitgliedschaft klar und deutlich ein alternatives Führungspersonal präsentieren. Erst mit der Herausbildung eines solchen Flügels kann allen Ernstes von der Möglichkeit einer Linkswende gesprochen werden.

Du schreibst im Kapitel „Bleibt die Frage: Was tun?“, dass die Gremien Probleme haben werden, „sich einem solchen Veränderungsprozess über einen langen Zeitraum zu stellen“. Müssen die Gremien denn überhaupt ihre Bereitschaft zeigen, sich auf einen langen Prozess einzustellen, bevor die sog. Opposition ihn überhaupt beginnen darf? Hier lugt unserer Meinung nach der alte Objektivismus hervor, den es leider schon in der SPD vor 1914 gab. Muss nicht vielmehr die Opposition selbst einschließlich der Gremien, in denen sie über eine Mehrheit verfügt, die Initiative ergreifen? Oder ist die Warnung vor der Gefahr, dass die Partei mit „Weiter so!“ dauerhaften Schaden nähme, nicht doch falscher Alarm?

Schaden nimmt die Partei (und noch vielmehr die ArbeiterInnenklasse) aber ohnehin jeden Tag, an dem die GroKo im Amt ist. Sicherlich wird in der SPD jeder Opposition vorgehalten werden, sich „nicht konstruktiv“ zu verhalten, der Partei an der Regierung „keine Chance“ zu geben oder gar die „Erneuerung“ zu gefährden. Damit wird die Spitze immer an die Basis appellieren – und eine Aufgabe der Opposition besteht darin, diese Lügen zu entlarven und auch die Bereitschaft der sozialdemokratischen Mitglieder zur (mürrischen oder auch passiven) Gefolgschaft zu schwächen und zu kritisieren.

Eine zentrale Stärke der Parteiführung besteht darin, dass sie sich die Passivität der Masse der Mitglieder – eine typische Erscheinung sozialdemokratischer Parteien – zunutze machen kann. Auf scheinbar günstigere Bedingungen zur Oppositionsbildung zu warten, ist selbst eine Verlängerung dieser Passivität unter aktiven Mitgliedern.

Ohne Überwindung dieser Haltung wird es in der Tat fast unmöglich, eine politische Opposition zu formieren, geschweige denn die Partei zu ändern. Es wird aber unweigerlich dazu führen, dass unzufriedene Mitglieder oder AnhängerInnen einfach austreten oder der SPD als WählerInnen den Rücken kehren, wobei zu befürchten ist, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen davon vor allem die AfD profitiert.

Du schreibst, dass einerseits ein Hindernis für die notwendige Programmdebatte die Fixierung der SPD-Gremien auf ihre Probleme im jeweiligen Aktionsgebiet ist (z. B. Ampelphasen und Bordsteinkanten), andererseits das beste „unter langwierigen…Geburtswehen zur Welt gebrachte antikapitalistische Programm einer im Kern nach wie vor reformistischen Partei allein nicht hilft,…“ Wir erheben Einspruch, dass es sich bei den von Dir als Beispielen genannten Programmen (Irseer Entwurf, Berliner Programm) um antikapitalistische handelt. Aber darum geht es uns nicht in erster Linie.

Das Unbehagen breiter Kreise der Mitgliedschaft mit ihrer Partei existierte doch erst gar nicht, würde sich die aktive Basis wirklich für nichts anderes interessieren als Bordsteinkanten. Das große Misstrauen in die Fortsetzung der GroKo hat doch reale Gründe im Versagen der Partei im Angesicht der Krise. Und hier bedarf es anzusetzen. Beginnend mit den aktuellen Problemen wie Hartz IV, Kriegsgefahr, Mieten usw. usf. gilt es, unmittelbare Antworten darauf und Forderungen zu entwickeln und Organisationsformen vorzuschlagen, die die ArbeiterInnenbewegung zunächst zur Kontrolle und dann zur Macht führen können. Dies ist die Methode des Übergangsprogramms. Die der SPD ist: alltags Bordsteinkanten und Ampelphasen, feiertags Berliner Programmreden von „demokratischem Sozialismus“.

Ob in Regierung oder Opposition, ob lang- oder kurzfristige Debatten daraus resultieren werden, halten wir für nachrangige Fragen im Vergleich zur Verantwortung der linken innerparteilichen KritikerInnen, den Kampf für ihre Ideen endlich aufzunehmen. Er wird auch höchstwahrscheinlich nicht mit einer Erneuerung der gesamten Partei, sondern mit einer Abspaltung nach links einhergehen wie zuletzt 2004/2005 (WASG). Und hier sind wir beim letzten Punkt: Letzteres wäre ein Fortschritt für den Klassenkampf, ein Schritt in Richtung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei auf dem möglichen (Um-)Weg über die Bildung einer neuen, breiten Klassenpartei links von der SPD – und hoffentlich auch der Linkspartei.

Unserer Klasse wie einer ernsthaften linken Opposition kann es nur dienlich sein, wenn letztere bei aller Bedeutung des innerparteilichen Konflikts die drängenden Aufgaben des Klassenkampfs nicht aus den Augen verliert: der Aufstieg der Rechten im Gefolge der historischen Krise des kapitalistischen Weltsystems seit 2008, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt und wachsende Kriegsgefahr, der virulente Rassismus gegen Geflüchtete und ArbeitsmigrantInnen, schließlich die Politik der Großen Koalition auf diesen und anderen Feldern. Das zarte Pflänzchen linker SPD-Opposition ist gut beraten, sich für eine Aktionskonferenz aller zu dieser Abwehrschlacht bereiten Linken für die Bildung einer notwendigen Aktionseinheitsfront dagegen einzusetzen. Diese wäre ein entscheidender Schritt vorwärts nicht zuletzt auch, weil sie die Diskussion darüber erleichtert, welche Programmatik eine zukünftige neue ArbeiterInnenpartei zum Kampf gegen diese Übel braucht, damit aus der Abwehreinheitsfront heraus die Offensive im Kampf um den Sturz des Kapitalismus aufgenommen werden kann. Deine letzten Passagen gehen durchaus in diese Richtung bzw. schließen sie nicht aus.

Die nächste Gelegenheit, die Truppen in der Partei zu mustern, die sich für eine solche Perspektive erwärmen könnten, wäre eine Unterstützung für Simone Lange, verknüpft mit der Aufforderung an sie, dafür zu kämpfen.

Deine Skepsis vor einer „diskussionsorientierten Vernetzung mit außerhalb der SPD stehenden linken Gruppen“, so attraktiv sie auch erscheinen mag, angesichts einiger Erfahrungen aus der Vergangenheit können wir nachvollziehen. Aber die Erfahrungen mit der SPD sind weiß Gott nicht bessere! Uns geht es nicht nur um Diskussionsvernetzung, sondern um ein Aktionsbündnis für gemeinsame praktische Ziele (siehe oben). Einheit in der Aktion – Freiheit der gegenseitigen Kritik (auch an den BündnispartnerInnen) muss eine Selbstverständlichkeit sein. Um sektiererische (Verweigerung der Aktionseinheit) wie opportunistische (fauler Propagandablock auf kleinstem gemeinsamen programmatischen Nenner) Fehler zu vermeiden, gilt das Prinzip der Einheitsfront, wie es von der noch revolutionären Kommunistischen Internationale auf ihren ersten vier Weltkongressen entwickelt wurde: vereint handeln, aber keine Vermischung von Programmen und Fahnen – getrennt marschieren, vereint schlagen!

Wir verbleiben in der Hoffnung auf Antwort und weitere Zusammenarbeit. Gern wären wir auch bereit, zu einem persönlichen Treffen, solltest Du und sollten auch weitere GenossInnen an einer solchen Diskussion Interesse haben.